Buchbesprechung von Alexander “Tiff” Kaiser
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Also, Leute, ich rezensiere heute mal was, kommt ja nicht so häufig vor. Warum? Ich will das erläutern. Senex hat mir eine Geschichte von Heinlein ans Herz gelegt, irgendwas mit Sonnenwind und einer Unsterblichen, die in die Ewigkeit segeln will. Davon hängengeblieben ist bei mir Sonnenwind, und bevor ich mich versah, hatte ich Second Hand fünf Bücher von Jack Vance ersteigert.
Ich will ehrlich mit Euch sein: Wer ist Jack Vance? Ich kenne ihn nicht, kannte ihn nicht, und habe nie etwas von ihm gelesen. Auch der Rückentext, in dem steht, dass er nicht nur den Hugo-Award, sondern auch den Edgar Allan Poe-Preis bekommen hat, war nicht hilfreich. Allerdings verstehe ich nach der Lektüre, warum das so ist.
Ich will auch überhaupt nicht auf Vance selbst eingehen. Ich lasse seine Stories über ihn sprechen.
Das Segel im Sonnenwind ist eine Sammlung aus vier Novellen von Jack Vance, die unterschiedlicher nicht sein könnten und nicht sein dürften. Jede einzelne spielt in einem eigenen Szenario und erzählt ganz eigene Geschichten. Ich möchte sagen, ich habe nicht bereut, alle vier gelesen zu haben, und bin gerade erst mit der letzten fertig geworden.
Ich will alle vier Geschichten vorstellen und anschließend jeweils zur Geschichte und dann zu allem anderen einen Kommentar abgeben, ohne Jack Vance’ Biographie auch nur anzusehen. Später vielleicht.
Wir beginnen mit “Minuspunkte”
Die Erde ist interplanetar geworden. Zwischen den Planeten und Stationen verkehren Leichter, welche mit Hilfe des Sonnenlichts auch die entferntesten Punkte des Sonnensystems ansteuern. Die Auswahl, um als Raumfahrer auf einem der Sonnenwindschiffe Dienst tun zu dürfen, ist knallhart. Und der härteste der Auswählenden der ist der alte Henry Belt. Zwölfmal ist er mit je sechs hoffnungsvollen Adepten für zwei Jahre hinaus gefahren, und nach eigener Aussage hat er weder immer alle zurückgebracht, noch sind die Überlebenden alle Raumfahrer geworden. Aber wer es geschafft hat, wer den Tyrannen, den Trinker, den Hasardeur, das menschgewordene Monster überlebt hat und heimgekehrt ist, wechselt vielleicht die Straßenseite, wenn er den alten Raumfahrer kommen sieht, aber er sagt stets stolz: „Ich habe bei Henry Belt gelernt.“
Und so trifft Belt sich mit acht Raumfahrern und sortiert noch vor dem Flug zwei aus. Mit sechs macht er sich auf die Reise zum Mars – und durch einen Computerfehler fliegt der Leichter nach der Entladung der Fracht nicht die nächste Position an, sondern den Jupiter.
Belt verweigert jede Hilfe, sodass die sechs Kadetten selbst herausfinden müssen, wo der Fehler liegt – bei ihrer Ausbildung eigentlich kein Problem. Aber den Lagerschaden, den der Bordrechner hat, zu finden, zu kompensieren, kostet sie so viel Zeit, dass das Schiff am Jupiter vorbei segelt und die Chance verpasst, seine Gravitation zum Schwung zurück zur Erde zu nutzen. Nun fliegt das Schiff auf Kurs Richtung Pluto und droht, in der Unendlichkeit zu verschwinden. Die sechs Anwärter sind auf sich allein gestellt, denn Belt würde eher sterben, als sie zu retten. Oder sich verantwortlich nennen für das fehlerhafte Lager. Einer der Kadetten nimmt den leichten Weg und kommt von einer Außenmission auf dem Sonnensegel nicht mehr zurück. Die anderen fünf müssen um ihr Leben kämpfen, um zurück zu kommen.
Mein Fazit: Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Alte Science Fiction ist immer tricky, wegen der Technologie. Was man vor vierzig, sechzig, achtzig Jahren für möglich hielt, ist teilweise heute schon erreicht und wirkt altbacken. Bei Jack jedoch macht alles, irgendwie, immer, einen echten Sinn. Diese Geschichte um eine besonders harte Trainingsauswahl, oder aber einen tödlichen Unfall für sieben Personen, ist jedenfalls von vorne bis hinten logisch und gut durchdacht. Und sehr gut erzählt. Ich nehme hier nichts vorweg, sage aber, diese Vorbereitung, dieses Ineinandergreifen der verschiedenen Fakten, bis ein Räderwerk entsteht, das die gesamte Geschichte trägt, ist typisch für alle vier Geschichten.
Das letzte Kastell
Jahrzehntausende sind vergangen, die Erde wurde entvölkert, wieder bevölkert, und irgendwann kamen ihre fernen Nachfahren von den Sternen und errichteten mächtige Kastellstädte auf terranischem Grund, in denen sie in Saus und Braus lebten und in ewigem Luxus schwelgten, der sie kalt, ignorant und überheblich gemacht hat. Um dies zu gewährleisten, haben die Herren mit den klangvollen Namen und Stammbäumen wie Isseth, Aure, Beaudry verschiedenste Rassen in der Galaxis eingesammelt und sich untertan gemacht: Die Bauern, welche die Landwirtschaft für die menschlichen Herren übernehmen; die Energiewagen, große Monstren, die als Zugtiere, Planierwalzen oder Traktoren verwendet werden; die Phäne, Insektenabkömmlinge, welche auf absolute feminine menschliche Schönheit gezüchtet wurden; die Vögel, eigensinnige Biester, welche die Herren schnell reisen lassen, wenngleich sie launisch und unfair sind; und zuletzt die Meks, ihre Techniker. Ihre Ingenieure, Raumfahrer, Schmiede und Architekten, welche so gut wie alle technischen Arbeiten abnehmen.
Ihnen allen ist gemein, dass die Herren der Kastelle ihnen die „Säcke“ eingepflanzt haben, ein zusätzliches Organ, mit dessen Hilfe sie den Sirup zu sich nehmen können, eine energiereiche Fertignahrung, die auch dafür sorgt, dass keines der Hilfsvölker etwas anderes verwerten kann und sie allesamt abhängig bleiben.
Das System funktioniert für die Herren, bis sich die Meks erheben und das Kastell Janeil erobern. Im Zuge dessen, und größtenteils ignoriert von den Hohen Herren, die es für unter ihrer Würde hielten, dem drohenden Tod durch die Meks auch nur einen Hauch Aufmerksamkeit zu schenken, radieren die ehemaligen Diener die gesamte Einwohnerschaft aus, liquidieren alle Hohen Herren, alle Namen, Männer, Frauen, Kinder.
Und darauf folgt bereits das nächste Kastell, bis zusammen mit dem ersten Kastell Hagedorn nur noch zwei weitere existieren.
Einzig im Kastell Hagedorn finden sich unter den Hohen Herren einige, die sich zumindest mit dem Gedanken befassen, dass es Sinn machen würde, die Bedrohung durch die Meks zumindest zu registrieren. Einer der Edlen, Xanten aus dem sehr angesehenen Haus der Xanten, bricht sogar auf, um die Hangars mit den interstellaren Raumschiffen zu überprüfen, ihrer einzigen Verbindung zum Rest der interstellaren Zivilisation. Denn, Ihr ahnt es schon, deren Wartung, Nutzung und Steuerung war komplett den Meks überlassen worden.
Auf der Reise warten allerlei Überraschungen auf Xanten, nicht nur die Erkenntnis, dass das Delegieren der Herren an die Sklavenrassen und besonders die Meks nun ihr ganz großes Problem ist. Abgesehen davon, dass die Meks während seiner Erkundung das drittletzte der verbliebenen Kastelle überrennen.
So erlernt er, dass sowohl die Nomaden, direkte Nachfahren der letzten Einwohner der Erde, als auch die Aussteiger aus der Gesellschaft der Hohen Herren, die Sühneverfechter, ihre ganz eigene Meinung zur Bedrohung durch die Meks haben.
Und so dämmert es Hagedorn, als einen der wenigen Herren, dass es ein großer Fehler sein könnte, die Bedrohung durch die Meks als unter der Würde der Bewohner Hagedorns abzutun. Das macht ihn eigentlich schon zum Sühneverfechter. Was also ist besser? Als Sühneverfechter zu leben und vielleicht zu sterben, oder als Herr im Kastell von Hand der Meks garantiert zu sterben? Am Ende dieser Frage wird nichts mehr so sein, wie es zuvor je war.
Mein Fazit: Vance ist ein Lego-Bauarbeiter. So wirft er den Leser erst mal in die Geschichte um die Meks und die Hohen Herren hinein und klärt viele Dinge erst später, setzt sie als gegeben. Bei dieser Geschichte bringt er relativ zum Anfang eine Menge Begriffe, die er erst später erklärt, aber er schlüsselt für Kastell Hagedorn die großen Familien und ihre obersten Vertreter auf und sortiert ihnen Farben zu. Fun Fact: Die Farben der Familien spielen in der ganzen Geschichte absolut keine Rolle mehr.
Wie er arbeitet, wird deutlich, wenn Xanten in Dorf der Sühneverfechter eine „Jungfrau“ trifft, welche einer der Herren von Hagedorn zu sich nehmen wollte, indem er sie Phäne nennt. Die Phäne, das wird später erklärt, sind jene überirdisch schönen Insektoiden, die den Menschen als Sklaven wie in Form von schönen Puppen dienen. Dadurch, dass er die Frau Phäne nennen wollte, versuchte er die streng limitierten Bevölkerungszahlen zu umgehen, die für die Hohen Herren gelten. Und so subtil geht es weiter bis zum allerletzten Satz der Geschichte.
Wer hier kurz zwinkert, verpasst ein Detail, das später wichtig wird.
Raumstation Abercrombie
Die junge Herumtreiberin Jean wird auf eine Annonce aufmerksam. Jemand bietet einer jungen Frau um die Achtzehn eine Million Dollar, wenn sie eine bestimmte Aufgabe erfüllt.
Angelockt von der gigantischen Summe spricht sie wie einige andere Mädchen vor und lässt sich auch nackt begutachten.
Ihr Auftraggeber: Der undurchsichtige Mr. Fotheringay. Ihre Mission: Den Herrn der Station Abercrombie, den Achtzehnjährigen Eark Abercrombie zu heiraten. Und ihn zu beerben, da er angeblich bald sterben wird. Seine Station ist eine Milliarde wert, und ihr Auftraggeber ist bereit, ihr diese Last für die genannte Million abzunehmen.
Jean willigt ein – für zwei Millionen – und lässt sich auf der Station Abercrombie einschleusen. Schnell merkt sie, dass es Gründe gibt, warum Abercrombie so weit draußen ist. Alle Bewohner der Station sind fett. Bis zum Anschlag überfettet. Was auf der Erde ein Problem für Gesundheit und Leben wäre, verwandelt sich in der Schwerelosigkeit von Abercrombie zum Vorteil. Das Fett der dicken Leute plustert sich bei ihnen auf und verschafft ihnen die schönsten glatten Formen und eine reine Haut.
Damit Jean den Plan durchführen kann, wird sie als Zimmermädchen angestellt. Für die Privaträume von Earl. Dabei wird es als vorteilhaft angesehen, dass sie, schlank und rank, wie sie ist, für Earl nicht von Interesse sein kann – dabei ist das genau ihr Auftrag, und laut Fotheringay steht er auf „Gravitationsmädchen“. Earl selbst leidet an einer Krankheit, die verhindert, dass er zunehmen kann. Er ist kräftig, bullig, beinahe vierschrötig gebaut, aber er kann nicht die kugelrunde Form annehmen, die alle anderen Bewohner von Abercrombie ihr eigen nennen und die sie als Schönheitsideal verehren. Und auch sein Geschmack bei Frauen ist nicht das, was Fotheringay versprochen hat. Jean sieht die Millionen in weite Ferne schwinden, und einige Eigenschaften von Earl lassen sie darüber nachdenken, dass zehn Millionen das absolute Minimum wären, um ausgerechnet diesen Mann zu heiraten. Nicht, dass er das tun würde.
An diesem Punkt verlässt sie die Station und sucht nach Lionel, dem eigentlichen Erben der Station, der nur deshalb nicht geerbt hat, weil er Abercrombie verlassen hatte, als der Erbfall anstand – und die Regeln besagen, dass der Herr von Abercrombie nie die Station verlassen darf. Der entpuppt sich als Mr. Fotheringay. So fallen alle Puzzleteile für Jean an den richtigen Platz, und für zwei Millionen ist sie bereit, den eigentlichen Erben eine Stütze zu sein.
Mein Fazit: Wieder das gleiche Bild. Vance geht in die Geschichte rein, erzählt sein Ding und erklärt vieles erst später. Es beginnt, mir zu gefallen. In diesem Fall liefert er Baustein auf Baustein und überrascht mit seinem Ergebnis sogar mich. Der Schlüssel diesmal ist Earls zoologisches, nun, nennen wir es Hobby. Alles fasst in einander, passt zusammen, ergibt allmählich ein Mosaik. Und am Ende gibt es einige Verlierer, aber auch ein paar Gewinner, und einer davon ist Jean. Eventuell. Auf jeden Fall ist sie zurück auf der Erde und zwei Millionen reicher. Aber zu einem gehörigen Preis.
In letzter Sekunde
Sirene ist eine sehr merkwürdige Welt. Sie ist zwar eingebunden in das Geflecht der interstellaren Gesellschaft, aber weder kennt sie Geld, noch scheinen die Menschen, welche die sirenische Kultur geformt haben, an Gruppenarbeit interessiert zu sein. Im Gegenteil, Individualität und persönlicher Ruhm sind ihre höchsten Güter. Aber damit enden die Merkwürdigkeiten noch nicht.
Tatsächlich gibt es zwei herausragende Regeln auf dem ganzen Planeten. Die erste ist, dass niemand jemals, egal zu welchen Umständen, sein Gesicht zeigt. Alle verbergen ihre Gesichter und auch die Haare unter Masken. Diese drücken verschiedene Stati aus. Wer eine Maske von zu hohem Wert ergreift, die er nicht verteidigen kann, verliert schon mal sein Leben. Wer eine Maske mit wenig Prestige wählt, wird so behandelt wie die Maske es vermittelt.
Die zweite ist, dass Kommunikation nicht einfach über Worte erfolgt, sondern über Musikinstrumente und auch über Gesang. Dabei gibt es nicht nur ein Instrument, sondern deren viele; alleine sechs sind für die Grundkommunikation gedacht, mit denen man Rangniedrigere anspricht, Freunde, Ranghöhere, und so weiter. Weitere Instrumente kommen für höhere Kommunikation hinzu.
Auch sehr interessant ist, dass Waren nicht für einen Tauschwert hergegeben werden. Jeder produziert, was er kann und was ihm gefällt. Jeder kann nehmen, was immer ihm beliebt – wenn sein gesellschaftliches Ansehen ausreicht. Das sich im Prestige der Maske ausdrückt, welche der Träger aufsetzt, und wenn er sie verteidigen kann, oder man seinen Status allgemein akzeptiert.
Edwer Thissell ist als Botschafter neu auf Sirene, einer von vier Außenweltlern, unerfahren im Gebrauch der Musikinstrumente, und ausgestattet mit der Maske des Mondfalters, einer relativ prestigelosen Maske für Leute, die Konfrontationen scheuen. Was vielleicht in einer Gesellschaft, in der man Konflikte mit tödlichen Duellen zu bereinigen pflegt, nicht schlecht ist.
Aber ausgerechnet in seiner Eingewöhnungszeit erreicht ihn die Nachricht, dass der Mörder, Attentäter und Schwerverbrecher Haxo Angmark auf dem Planeten eintreffen wird, und er den Auftrag erhält, eben jenen Verbrecher dingfest zu machen, bevor er eine Maske wählt und unter den Menschen untertaucht. Das Problem dabei: Angmark war vor seiner Mörderkarriere auf Sirene im Handelsposten stationiert und hatte sich an den dortigen Gewinnen gütlich getan. Fünf Jahre gegen die wenigen Monate, welche Thissell dort bereits verbracht hat. Ein unmögliches Unterfangen, da es Umstände verhindern, dass er rechtzeitig zu Landung der Fähre vor Ort ist.
Angmark entkommt ihm, und die Individualismus der Sirener bringt Thissell bei seinen Nachforschungen mehrfach beinahe um. Schließlich tötet Angmark einen der drei anderen Außenweltler, um dessen Platz einzunehmen.
Aufgrund der Masken kann Thissell nicht herausfinden, wer der maskenlose Fremde ist, der ihm zur Beerdigung untergeschoben wurde. Also auch nicht, wessen Identität Angmark ursupiert hat. Aber ein Plan reift in ihm, wie er Angmarks lokales Wissen gegen ihn selbst wenden kann. Der Schlüssel sind wie immer die Masken.
Mein Fazit: Und wieder. Grandios vorbereitet, und opulent aufgebaut. Das System der verschiedenen Instrumente, der Aufbau der Kultur der Sirener, Vance macht sich richtig Arbeit, um seine Geschichten zu erzählen. Ehrlich, ich mag den Burschen. Auch hier, grandios inszeniert. So sehr inszeniert, dass ich mich frage, ob Thissell vielleicht ein absolutes Mega-Genie ist, oder ob er sich an der Gesellschaft der Sirener, die kein Geld kennt, sondern nur Prestige, einfach nur rächen will, indem er sie gegen sie selbst wendet, indem er tut, was nur er tun kann.
Auf jeden Fall eine mit lockerer Hand erzählte Geschichte mit vielen Wendungen.
Gesamtfazit: Vance steckt in eine einzige Geschichte einen Aufwand des Weltenbaus, der würde Roland begeistern. Und dann arbeitet er mit dieser Welt bis zum Exzess, aber nur im Rahmen der jeweiligen Geschichte. Ich habe alle vier Stories sehr gerne gelesen und dabei auch eine Menge gelernt.
Alles in allem habe ich hier noch vier Bücher, die ich garantiert lesen werde, und Jack Vance kann ich vorbehaltlos empfehlen.