Science-Fiction-Geschichte von Uwe Lammers

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Derselbe Wind, der den würzigen Geruch aus den Vorgärten der Stadt herübertrug, wehte auch die Geräusche der Zerstörung heran. Ich hob den Blick von meinen Rosen und blickte über die grünflorigen Hügel und die Trümmerlandschaft hinüber nach TechnoCity.

„Es geht wieder los“, meinte ich zu Florian am Fuß der Leiter.

„Ja, Großvater, aber das interessiert uns doch nicht. Los, reich mir noch ein paar Blumen runter, ich muss zu Annette, und du weißt, sie braucht zweihundert.“

Ich schmunzelte und schnitt geduldig mit der rostigen, liebevoll geölten Heckenschere weiter an den vielfarbigen Gen-Rosen. Sie hatten interessante Farben, manche waren rot mit weißen Sprenkeln, andere durchzogen von blau geäderten Bändern. Früher wäre mir so etwas völlig irreal erschienen, doch wie es schon bei Ovid hieß: alles wandelt sich, nichts vergeht …

„Großvater!“

„Ja, ist schon gut“, riss ich mich zusammen.

Unwillkürlich hatte ich in meiner Arbeit verharrt, und diesmal lag es nicht an den Technoparasiten, die in der Ferne ihr Zerstörungswerk gegen die Automatismen fortsetzten. Damals …

Als ich schließlich fertig war und ächzend von der knarrenden Leiter herabstieg, wartete mein Enkel schon ungeduldig auf die letzten paar langstieligen Rosen, die man hier oben am Gaußberg am besten ernten konnte.

Florian, ein junger Mann inzwischen – wie war er nur so schnell so groß geworden? War er wirklich schon siebzehn Jahre alt? – und von sehniger, kräftiger Statur, naturblond und bartlos, schaute interessiert an mir hoch und nahm mich ganz spontan in die Arme und drückte mich, dass mir die Luft wegblieb.

„Junge!“, keuchte ich. „Du bringst mich noch um!“

„Nie im Leben, Großvater!“, krähte er vergnügt. „Aber irgendwie danken muss ich dir ja … weißt du, du bist so viel erfahrener, was die Rosen angeht … ich hab’ nicht soviel Geduld und würde bestimmt was falsch machen …“

Ich seufzte amüsiert und warf einen Blick zum Rosenstock am alten Haus der Jaspers, fünfzehn Meter hangaufwärts. Da hatte er vor zwei Jahren schon versucht, Rosen zu schneiden. Bis heute kränkelten sie, weil er sie nicht richtig fachmännisch geschnitten hatte, doch damals meinte er, keine Zeit zu haben. Die Konsequenz war gewesen, dass seine unfachmännisch geschnittenen Rosen weit weniger Erlös gebracht hatten als erwartet. Seither hörte er auf mich. Manchmal waren wir alten Leute eben doch noch nicht zu überholt.

Wir steuerten den Hügel hinab, wobei er den schweren Korb trug, in dem die duftende Pracht der vielfarbigen Gen-Rosen lag, und ich mich mit dem knorrigen Stock vorsichtig vorantastete. Florian war so freundlich, mit mir Schritt zu halten, obwohl ich für unvergleichlich langsam sein musste.

‚Ach, einmal im Leben wieder die Technik spüren, die man in diesem Alter bräuchte’, dachte ich wehmütig mit einem indifferenten Sehnen nach der vergangenen Zeit, der Zeit vor dem BESUCH. Dieses Sehnen war natürlich sinnlos. Keiner wusste das besser als die Alten. Die Jungen kümmerte es nicht, sie kannten ihre Welt nicht anders.

Für sie waren die Technoparasiten ohne Wert und ohne Gefahr, es sei denn, sie walzten direkt über den Weg. Es erschien wenig ratsam, sich von zig Tonnen Polymetall niederquetschen und flachdrücken zu lassen. Pflanzen überlebten so etwas meistens. Menschen jedoch waren viel zu anfällig dafür.

Am Ende des steilen Bergpfades kamen wir an einer Bank vorbei, die für Leute wie mich gemacht war. Da ich schon außer Atem war, ließ ich mich kurz nieder und streckte meine knorrigen alten Glieder stöhnend aus.

„Macht es dir was aus, Florian, wenn ich etwas ausruhe?“

Er grinste spitzbübisch.

„Mir nicht“, entgegnete er, während er sich im Schneidersitz auf dem staubigen Pfad niederließ, auf den heiß die Sonne niederbrannte. „Den Blumen aber vielleicht.“

„Herrje“, lächelte ich matt und schob meinen Hut etwas tiefer in die Stirn, „wir sind auch rechte Trottel, dass wir das Tuch vergessen haben!“

„Mein Fehler“, gab Florian zu.

„Aber ein paar Minuten halten sie sich, und dann sind wir im Schatten der Bäume“, fuhr ich fort. „Ich bin halt kein D-Zug.“

Mein Enkel lachte.

D-Zug. Fernsehen. Hightech. Internet. Alles Worte aus dem Gestern ohne Bedeutung. Für ihn. Ich wusste, dass es diese Dinge noch an manchen Ecken der Erde gab. Aber nur an manchen, wo die Technoparasiten noch nicht hingekommen waren. Hätte es sich anders verhalten, dann, so nahm ich an, wären sie wie das Gros längst weitergereist. Doch solange sich noch militärisch-technischer Widerstand auf der Erde zeigte, würden sie bleiben, um möglichst stark zu partizipieren.

Ich dachte dämmrig im warmen Schein der Spätsommersonne an vergangene Zeiten in ungeahntem Wohlstand, den wir weitaus mehr genossen hätten, wenn wir hätten ahnen können, was kommen würde.

Aber die Technoparasiten waren etwas, was nicht vorhersagbar war.

Oh, ich erinnerte mich noch sehr gut, und häufig erzählte ich die Geschichte meinen Enkeln, jene Geschichte, wie ich es erlebt hatte, dass die Technoparasiten kamen und unsere Kultur zugrunde richteten … oder wieder zurechtstutzten, je nachdem, wie man das sehen wollte. Mein alter Geist verfing sich wieder in den Netzen der Vergangenheit und verirrte sich in dem labyrinthischen Geflecht von verstaubten Erinnerungen.

Ich döste in die Vorzeit hinüber.

*

Es war der fünfte Oktober des Jahres 2003, daran erinnerte ich mich sehr deutlich. Es war noch nicht allzu lange her, dass Bundeskanzler Schröder die Bundestagswahl erneut gewonnen hatte. Mit Deutschland ging es nach einer schier endlosen Rezession unter der Regierung Kohl allmählich wieder einem bescheidenen Wohlstand entgegen. Ich war in jenen Tagen junger Student, gerade einmal 23 Jahre alt, hochmotiviert, ich studierte in Berlin und fuhr an den Wochenenden immer nach Hannover mit der gut ausgebauten ICE-Strecke und dem Studententicket.

Als das Verhängnis über uns kam, las ich gerade in irgendeinem Buch, dessen Titel mir entfallen ist, weil viel schlimmere Gedanken mich später heimsuchten und jenen Moment überlagerten. Aber an den MOMENT und das Drumherum kann ich mich noch sehr gut erinnern, es wird förmlich bis ans Ende meiner Tage in meinen Geist eingebrannt sein.

Bequem zurückgelehnt saß ich im Sitz, spürte nichts von der immensen Beschleunigung, und ganz sicher dachte ich nicht daran, dass die Welt, wie ich sie jetzt kannte, gleich untergehen würde.

Aber dem war so.

Das erste, was ich spürte, war eine heftige Vibration des gesamten Zuges, die die Gläser auf der anderen Gangseite in den Halterungen klirren ließ. Fahrgäste schraken auf, der Schaffner, der eben in unser Großraumabteil getreten war, griff unwillkürlich nach seinem Funkgerät, doch er kam nicht mehr dazu, es zu aktivieren.

Wir kamen insgesamt zu gar nichts mehr.

Mit einem brutalen Ruck kam der Zug beinahe zum Stillstand, und hätte ich nicht das Buch Buch sein lassen und die Hände hochgerissen, so hätte ich mich gewiss schwer verletzt. So prallte ich nur mit den verschränkten Armen vor dem Gesicht gegen die Rückenlehne des Vordersitzes und hatte einen kurzen Blackout.

Das nächste, an das ich mich erinnere, ist die Tatsache, dass der Zug SCHIEF lag. Er war nach links geneigt, und auf meiner Fensterseite sah ich Gebüsch, das gegen das Fenster drückte.

Der Waggon ruckte ständig in absurden Zuckungen, bebte, hob sich und wurde wieder aufs Gleisbett zurückgeschleudert, auf dem er noch teilweise lag. Ringsum war Panik ausgebrochen, Menschen kletterten den steilen Gang entlang, schlugen Fenster ein und versuchten, hinauszuklettern. Irgendwo weinten Kinder, Verletzte schrien, und das knisternde Geräusch, das von draußen aufklang, hörte sich auch nicht viel Vertrauen erweckender an.

Ich beeilte mich, wenigstens meine kleine Tasche zu retten und es den anderen Leuten nachzumachen. Zugegeben, ich dachte erst mal nur an mich. Und als ich draußen war und auf einer Weide neben traumatisierten Kühen stand, versuchte ich das Bild zu verarbeiten, das mir meine Augen zeigten und das ich nicht glauben mochte.

Der ICE war entgleist, weil … ein UNGEHEUER auf zwei mächtigen Beinen, die wie der Unterleib eines gewaltigen Roboters aussah, auf den Triebwagen gesprungen und gerade dabei war, ihn mit gleißend hellen Laserblitzbögen in Stücke zu zerlegen. In dem wahnsinnig hellen Licht, das selbst durch meine Sonnenbrille nur höchst unvollkommen abgemildert wurde, ließ sich das Ungetüm kaum erkennen. Aber es war gewiss groß wie ein dreistöckiges Haus, eher höher.

Später bekam ich heraus, dass das einer von den kleineren gewesen war, sozusagen einer aus einer „jungen“ Generation. Er besaß dreizehige Füße, ausgerüstet mit Tiefbohrdornen, die sich problemlos durch zentimeterstarkes Metall bohren konnten. In den „Füßen“ und unter dem zwischen den klobigen Beinen freischwingend aufgehängten, entfernt kubischen Körper, besaß er Sensoren für Radiowellen- und Mikrowellenkommunikation, außerdem für Energieströme sowie umfangreiche Erfassungssysteme optischer Natur. Spezielle Massenspektrometer zeigten ihm außerdem an, wo sich lohnende Ziele befanden, die mit minimalem Energieaufwand erreicht werden konnten. Da er nun einmal über der Ebene Norddeutschlands herunterkam, musste er sich das nächstbeste Ziel suchen, und das war unser ICE.

Er ignorierte gänzlich unsere Anwesenheit. Die meisten Zuggäste, die unter Schock standen, flohen sowieso kopflos in die Gegend, allein getrieben von dem panischen Gedanken: Weg! Nur weg von hier!

Bis die Bundesgrenzschutzeinheiten und Sanitäter eintrafen, dauerte es über drei Stunden. Und es war ein lausig kalter Tag. Meine Jacke war im Zug zurückgeblieben, den die unheimliche Kreatur jetzt mit enormer Geschwindigkeit und gnadenloser Zielstrebigkeit in Einzelteile zerlegte und dann zu einem stark komprimierten, etwa zwölf Meter durchmessenden Ball aus Metallen und Kunststoffverbindungen umformte, der aussah wie die Dungkugel eines Skarabäuskäfers. Noch später sollte ich erfahren, dass das durchaus richtig war.

Als er mit dem ICE fertig war, ging er gewissermaßen „in die Hocke“, ließ ein ohrenbetäubendes Summen hören – und schoss raketengleich, doch ohne Feuerschweif, in den grau verhangenen Himmel und war verschwunden.

Das war meine erste Begegnung mit den Technoparasiten.

*

Naturgemäß interessiert das meine Enkel nicht mehr so sehr heute. Schließlich haben sie mit den Nachkommen der damaligen Parasiten immer noch zu tun. Wir haben uns inzwischen aber fast an sie gewöhnt. Meine Enkel fragen heute stets nach obskuren Details unserer früheren Kultur. Etwa ob wir diese seltsamen rechteckigen Dinge aus Papier wirklich „lesen“ konnten.

Bücher. „Seltsame rechteckige Dinger aus Papier“. Ob ich mich daran jemals gewöhnen werde, dass Nachgeborene so von ihnen sprechen?

Einerlei – wenn ich ihnen dann den Anfang von Tom Sawyer und Huckleberry Finn vorlese, mehrmals, da immer später noch Kinder hinzukommen, die den Anfang nicht mitbekommen haben, dann halten sie mich für jemanden mit einem sehr guten Gedächtnis. Ich muss da immer an Homer denken, der wahrhaftig ein gutes Gedächtnis hatte – ich kann einfach nur noch lesen. Die heutigen Kinder sind dagegen fast alle Analphabeten. Schriftsprache besitzt kaum mehr Relevanz fürs Überleben. Ich finde das sehr traurig, aber ich muss es wohl akzeptieren.

Die Kinder fragen mich, wenn sie CDs finden oder Disketten, wie es kommt, dass die Parasiten solche Dinger ablegen, oder ob es sich vielleicht sogar um „Eier“ der Parasiten handelt. Wenn ich ihnen zu erklären versuche, dass es sich um Datenträger der Menschen handelt, stoße ich auf völliges Unverständnis. Es wird mir einfach nicht geglaubt. Ich bin als Märchenonkel verschrien, der immer so drollige Sachen aus der Vergangenheit erzählt.

Unsere Zeit ist schon so lange vorbei, dass man denken könnte, sie läge Jahrhunderte zurück. Und dabei sind seit damals, seit sich alles wandelte, gerade mal etwas mehr als sechzig Jahre vergangen.

Der Anfang des 21. Jahrhunderts ist für unsere Enkelkinder so unvorstellbar, wie es für uns damals Lebende am Beginn des Jahrhunderts die heutige Zeit gewesen wäre. Das Heute widerspricht ja auch allem, was damals in unseren Köpfen und vor allen Dingen in den Köpfen der gesellschaftlichen Eliten als Zukunftsvision Bestand hatte.

Damals redeten alle Politiker von „unumkehrbaren“ Ereignissen und Entwicklungen, erzählten von einem globalen Aufschwung der Weltwirtschaft, von der Befriedung lokaler Problemzonen und der Einhaltung der Menschenrechte. Heute ist das alles so fremd wie uns damals solche Dinge wie die Technoparasiten notwendig sein mussten.

Aber das Universum kümmerte sich nicht um unsere Kleinkariertheit, das lernten wir auf die härteste Weise, die es nur gab.

*

Am 6. Oktober 2003 in aller Herrgottsfrühe kam ich schließlich mit den anderen Unverletzten des Bahnunglücks in Braunschweig an, und hier erkannten wir erst allmählich, was wirklich los war und in was für einer chaotisch veränderten Welt wir lebten.

Auf den Straßen standen militärische Fahrzeuge. Polizisten, die deutlich übernächtigt aussahen, allesamt bewaffnet, kontrollierten unsere Personalpapiere. Irgendwo in der Ferne donnerte Artillerie, und Teile der Stadt standen zu unserer Bestürzung in Flammen.

Glücklicherweise konnte ich mich zu einem Mitkommilitonen durchschlagen, der mir erst mal Obdach anbot, etwas zu essen und zu trinken, und mir Ahnungslosem dann erklärte, was eigentlich passiert war.

Schon Anfang September war ein Objekt beobachtet worden, das mit hoher Geschwindigkeit von irgendwo außerhalb der Ekliptik ins Sonnensystem einflog (ich hatte das einfach nicht mitbekommen, sondern mich damals in meiner Studienliteratur vergraben, da ich an irgendeiner Hausarbeit schrieb). Anfangs war es noch für einen Kometen oder ähnliches gehalten worden, aber die Wissenschaftler wurden immer aufgeregter, je näher es der Erde kam. Schließlich stellte es sich als mächtige Kugel heraus, die mehr als fünfzehn Kilometer Durchmesser besaß und direkten Erdkurs eingeschlagen hatte.

Endlich, so glaubten viele geängstigt, andere hoffend, kam es zur Begegnung mit den Wesen „da draußen“, jenen hoch stehenden, uralten Intelligenzen, die ganz zweifellos über einen hohen Intellekt verfügen mussten und von denen wir lernen würden, wie wir das Tor zu den Sternen aufstoßen und mit unseren hausgemachten Problemen fertig werden würden. Das waren die naiven, positivistischen Anhänger der Science Fiction-Community, geprägt durch Serien wie Star Trek.

Besonders militärische Stellen befürchteten dagegen eine Invasion und gaben vorsorglich Alarm, verhängten Ausgangssperren für Kasernen und setzten Alarmfallübungen an. Wenn sie sich an filmischen Vorbildern orientierten, dann wohl eher an H. G. Wells Krieg der Welten oder Vergleichbarem.

Dummerweise irrten sich beide Gruppen gründlich in dem, was später als DER BESUCH in die Annalen der Menschheitsgeschichte eingehen sollte. Auf das, was kam, war niemand wirklich vorbereitet, weder im Guten noch im Schlechten.

Und dann, am Abend des 4. Oktober, geriet das Objekt in die Lunabahn und brach auseinander!

Von da an überschlugen sich die Ereignisse.

„Du musst dir das vorstellen!“, schrie mein Studienfreund José fast. „Es BRACH auseinander! Die Kameras der Station FREEDOM konnten das genau beobachten. Es … es zerfiel wie ein Mosaik in Tausende von kleinen, identischen Teilchen, in Miniaturkugeln, die auf die Erde herabregneten. Es war ein Bild für die Götter …“

Es war zugleich das letzte Bild von FREEDOM, bevor die Station durch den Frontalkontant mit den Parasiten die Bordatmosphäre verlor und als Rohstoff verarbeitet wurde. Die Besatzung kam dabei ums Leben. Die Kosmonauten von MIR II hielten sich noch fast sechs Wochen länger. Ihre Station war zu klein, um auf Anhieb entdeckt zu werden. Sie dürfte heute noch im Orbit kreisen, an Bord die verhungerte Besatzung, die natürlich nicht mehr versorgt werden konnte, nachdem die Parasiten alle Raumfahrtbahnhöfe demontiert hatten.

José fuhr fort, dass überall auf der Welt diese Kugeln heruntergekommen seien, besonders viele in Nordamerika und in Europa. Ganze Schwärme riesenhafter Parasiten seien „ausgeschlüpft“ und alsdann ohne Warnung über die Metropolen der westlichen Welt hergefallen.

Sie sahen aus wie Quader mit abgerundeten Kanten, die als Anhängsel zwei Ein-Gelenk-Beine hatten, die sie voranstapfen ließen. Das Gewicht betrug bei kleinen Parasiten vierundfünfzig Tonnen, bei großen konnten es schon mal dreihundert werden. Ihre Ziele waren energetisch aktive und materialienreiche Metropolen.

Tokio, Bombay, Kalkutta, Perth, Hongkong und Manila zählten zu den ersten Opfern im pazifischen Raum, San Francisco, Los Angeles, Hollywood als Anhängsel davon, New York, Washington, Boston, Chicago und ähnliche Städte wurden von ganzen Schwärmen von Technoparasiten attackiert. Zunächst nannte man sie einfach nur „die Aliens“ und sprach von „Robotern, die die Festung sturmreif schießen“ sollten.

Erst nach ein paar Wochen, als sich die ersten bescheidenen Anfangserfolge in der Bekämpfung der Invasion eingestellt hatten – diese Handlungsweise sollte übrigens dafür verantwortlich sein, dass wir weitaus länger unter ihnen zu leiden hatten als sonst – , begriff dann aber auch der letzte Depp, dass dies die Feinde SELBST waren, nicht irgendwelche vorausgeschickten Alien-Rollkommandos.

Wir hatten es mit mechanischem Leben zu tun. Und es kämpfte uns systematisch nieder.

*

Die ersten Ziele waren, wie erwähnt, Großstädte und großindustrielle Ballungszentren. Mit anzusehen, wie Detroit in Schutt und Asche gelegt wurde – CNN war als Kriegsberichterstatter live dabei und sah den heroischen Kampf der Nationalgarde und der Air Force gegen die größten der Technoparasiten, die sich als teilweise gut gepanzert erwiesen und nur mit strahlungsarmer nuklearer Artillerie vernichtet werden konnten, das war schon grauenvoll. Aber in Braunschweig zu sitzen und zusehen zu müssen, wie die nahen Volkswagenwerke in der Stadt an der Hamburger Straße, kaum drei Kilometer von mir entfernt, und in Wolfsburg, nicht einmal dreißig Kilometer weg, geradezu ausgeschlachtet wurden, gegen den heftigen Widerstand der Bundeswehr und des Bundesgrenzschutzes, der letztlich nur hohen Blutzoll und unglaubliche Materialverluste zur Folge hatte, aber am Endresultat nichts änderte – am Sieg der Technoparasiten – das mit anzusehen war einfach entsetzlich.

Nachdem die Menschen die ersten Schocks überwunden hatten vereinigten sich die Streitkräfte, ihre Rivalitäten in verschiedenen Ländern vergessend, und gingen massiv gegen die Feinde vor. Es gab schon eine Reihe spektakulärer Anfangserfolge, und viele hundert der Technoparasiten, darunter besonders die großen, die zum Teil in New York und Paris schon hohe Kuppeln angelegt hatten, deren Inneres völlig fremdartig war, wie die Geheimdienste und Sturmtrupps herausfanden, die sie inspizierten, viele hundert dieser Parasiten also fielen den heftigen Kämpfen der frühen Widerstandswochen zum Opfer. Inzwischen fanden die Wissenschaftler auch heraus, dass die Zahl dieser Wesen nicht strikt begrenzt war. Offenkundig reiften in den unzähligen Metall- und Kunststoffkugeln wie der, zu der unser ICE transformiert worden war, die Nachkommen der Invasoren heran.

Das Entsetzen war unermesslich.

Aber es wurde noch schlimmer, als die nächste Phase eingeläutet wurde: Ende November klinkten sich die Parasiten ins Internet und die weltweiten noch existierenden Kommunikationsleitungen ein und begannen massiv damit, Wissen abzuzapfen, Desinformation zu verbreiten. Und dann, als sie alles hatten, was sie wissen wollten, zerstörten sie durch eingeschleuste, vollkommen fremdartige Virenprogramme die globale Datensphäre.

Ungeheuerliche volkswirtschaftliche Werte gingen auf diese Weise über Nacht verloren. Die Kommunikationssatelliten wurden nahezu völlig nutzlos. Militärische Aufklärung wurde beinahe in die Steinzeit zurückgeworfen. Die Presse stand weitgehend still. Radio- und Fernsehstationen, inzwischen meist nur noch Zweit- und Drittsender, weil die Sendehäuser zerstört worden waren, fielen ebenfalls aus. Der globalen Informationsinfrastruktur wurde sinnbildlich das Rückgrat gebrochen und die Menschheit in nationale Zellen parzelliert.

Menschen sind jedoch flexibel und erfinderisch, und so stiegen wir darauf um, zeitraubende Kommunikationswege zu gehen. Briefverkehr nahm große Ausmaße an. In großen Lastern donnerten die Postexpressdienste über die Lande, Autos ersetzten die schnelle Mail oder wichtige Telefonanrufe.

Derweil begannen die Parasiten, sich kleinere Ziele zu suchen. Nun schienen sich Spezialistenkasten herauszuprägen. Im Laufe der Wintermonate machten einige von ihnen Jagd auf Flugzeuge – eine unerquickliche Tätigkeit für beide Seiten. Wenn nämlich die Parasiten die Flugzeuge rüde zur Landung drängten, explodierten diese meist und verstümmelten den betreffenden Parasiten oder zerstörten ihn ganz. Dennoch passierte das immer wieder, und irgendwann brach der Flugverkehr völlig in sich zusammen, natürlich auch deswegen, weil die Airports von den Parasiten besetzt und wiederholt geplündert wurden. In vielen Fällen schneller, als die verlorene Infrastruktur ersetzt werden konnte.

Andere Parasiten spezialisierten sich, gehend Jagd auf Autos in den Innenstädten zu machen. Häufig hockten sie, gewaltigen bizarren Geiern nicht unähnlich, auf den Ruinenskeletten alter Backsteinbauten, denen sie die Glasscheiben entnommen hatten, ebenso Regenrinnen und kunststoffhaltige Installationen – alles Ressourcen für sie – , und sprangen hinab, wenn die Kurierfahrzeuge vorbeifuhren. Die wenigsten Kuriere überlebten eine solche Verfolgung. Ein Überlebender meinte einmal zu einem Journalisten: „Mir war, als wäre ein T-Rex hinter uns her! Bei Gott, das kann nie im Leben schlimmer gewesen sein!“

Grundsätzlich wurde die Kommunikation immer problematischer, je weniger Technik zur Verfügung stand, die staatlichen Verwaltungen und Ordnungsstrukturen brachen immer rascher in sich zusammen. Die Menschen flüchteten aus den Städten, auch ich gehörte wie selbstverständlich dazu und ließ mich in einem kleinen Dorf unweit von Berlin schließlich nach wochenlangen Wanderungen nieder, wo desertierte Pioniere einen leidlich funktionierenden Hof übernommen hatten. Das gelang erst, nachdem die Technoparasiten in Scharen an dem Dorf vorbeigewandert waren, einige Häuser zerstampft und die Einwohnerschaft in die Flucht getrieben hatten.

Allmählich bekamen wir trotzdem ein genaueres Bild von dem, was ablief.

Die Menschheit befand sich kollektiv auf der Flucht vor den außerirdischen Maschinen, und diese hatten inzwischen ihre kurzen Flüge und brüsken Startmanöver, um rasch größere Strecken zu überwinden, nahezu völlig beendet. Heute wissen wir, dass die Gründe dafür in der Energieversorgung lagen.

Die Parasiten sind genau das, als das sie anfangs apostrophiert wurden, und sie können auch einfach nicht mehr leisten. Sie plündern Städte – die sie wohl als abzuerntende Felder, gut gefüllte Depots oder Ähnliches ansehen – , um an Glas, Keramik, Verbundmetalle, Edelmetalle und Kunststoffe heranzukommen, die sie für die „Konstruktion“ ihres „Nachwuchses“ benötigen. Wie immer das auch genau gehen mag. Außerdem klammern sie sich an Energieleitungen und fangen Mikrowellenbündel ab für die Eigenenergieversorgung. Ganze Horden schaffen es mit entsprechendem technischen Knowhow sogar, Kernkraftwerke bis zur Neige leerzuzapfen und dann alle Materialien rückstandsfrei zu verarbeiten, ganz besonders alle strahlungsaktiven Materialien. Sie saugen Radioaktivität geradewegs in sich auf und transformieren sie in verwendbare Energie. Für uns klingt das ganz unglaublich, weil wir mit nuklearen Altlasten immerzu zu kämpfen hatten.

Die Technoparasiten sehen darin überhaupt keine Schwierigkeit. Für sie ist die Verwertung solcher industrieller Lasten vielmehr eine in Jahrtausenden eingeübte Praxis, die ihnen keinerlei Probleme mehr bereitet.

Je weniger Kraftwerke allerdings arbeiteten, desto mehr schränkten sie automatisch ihren Energieverbrauch ein und vermieden kräftezehrende Manöver nach besten Kräften. Und Gehen über Land ist nun einmal energiesparender als Fliegen oder was sie sonst taten.

Als der erste Nachwuchs aus den Rohstoffeiern schlüpfte, bekamen wir die nächsten unerwarteten Probleme. Denn die „Eltern“ standen mit den „Kindern“ per Mikrowellentransmitter in Nachrichtenverbindung, während letztere heranreiften. Die Konsequenz bestand darin, dass sie „schlauer“ waren als die Alten zu Beginn.

Im zweiten und dritten Jahr der Invasion begannen die „kleinen“ Parasiten damit, U-Bahnen auszuschlachten und Bergwerke zum Einsturz zu bringen. Letzteres geschah eher unabsichtlich, als sie Ressourcen ergraben wollten. Manche wurden auch gezielt durch Bergwerkssprengungen ausgeschaltet. Dass uns das alles sehr viel weiterhalf, konnte man aber nicht behaupten.

Die Verhältnisse waren und blieben einfach verheerend und wollten sich einfach nicht verbessern. Es existierten allerdings noch einige wenige Technik-Enklaven, wo es gelungen war, einzelne Rechner und Maschinenfuhrparks zu verbergen. Das wurde umso leichter, als die großen Parasiten nahezu einheitlich abgeschossen worden waren bzw., als sie im dritten Jahr begannen, sich selbst zu zerfleischen.

Das war ein seltsamer Prozess, wie wir fanden. Auf dem flachen Land war das so deutlich nicht bemerkbar, aber je mehr man an industrielle Ballungszentren kam, desto häufiger konnten wir beobachten, wie Scharen von kleineren Parasiten sich über die lethargischen großen hermachten und sie zu zerlegen begannen.

Das machte uns natürlich Hoffnung.

So genannte Techno-Ökologen, eine Zunft, die sich erst fünf Jahre später zaghaft etablierte und zwölf Jahre nach der Ankunft ihre Blütezeit erlebte, erklärten dann in Form von „Wanderpredigern“, womit wir es hier zu tun hatten.

„Es ist eine altershierarchische Gesellschaft, die sich offenkundig primär daran ausrichtet, wie hoch das Nährstoffangebot ist. Da unsere Welt inzwischen weitestgehend ausgeplündert ist, bauen die am höchsten entwickelten Technoparasiten Nester in den rohstoffreichen Hochburgen. Sie verteidigen sie auch gegen ihresgleichen und modifizieren sich unter dem Druck des Wettbewerbs wie normale Lebensformen.

Sie leiden jedoch allgemein unter dem Mangel an Energie, das ist gewissermaßen der Preis ihres eigenen Erfolges. Je größer sie sind, desto mehr Energie benötigen sie. Deshalb werden inzwischen kleinere, mobilere und energiesparendere Varianten entwickelt, die für den Kuppelbau zwar länger brauchen, aber dafür eine bessere Kosten-Nutzen-Effizienz aufweisen. Diese werden aber auch leichter Opfer feindlicher ‚Gruppen’, wie ich sie mal nennen möchte.

Wir brauchen aber nicht zu glauben“, hatte Alan Baumgart, ein Techno-Ökologe aus dem agrarisch gewordenen Cambridge im März 2010 erklärt, „dass damit unsere Probleme enden. Denn die Population wird sich irgendwann stabilisieren. Wir wissen noch nicht genau, was das langfristige Ziel dieser Wesen ist, jenseits des Baues dieser Kuppeln und der Ausschlachtung der natürlichen und zivilisatorischen Ressourcen. Es scheint keins zu geben, das wir bislang erkennen können.“

Das schien wirklich so zu sein.

Wir einfachen Menschen gaben es alsbald weitgehend auf, uns nach solchen vergessenen Dingen wie elektrischer Beleuchtung, Fernsehen, Internet, Automobilen oder ähnlichem zurückzusehnen. Wir waren viel zu stark damit beschäftigt, die harten Winter durchzustehen.

Es zog mich aus der einstigen deutschen Hauptstadt wieder fort, denn hier lag die Todesrate durch marodierende Kleinst-Technoparasiten immer noch um vierzig Prozent höher als im Umland. Das lag schlicht und ergreifend daran, dass hier viel zu holen war und Menschen immer wieder in die Ruinenstadt vorstießen, um sich mit zivilisatorischen Gütern zu bevorraten: Konserven, Bücher, Geräte, Tauschgut.

Auf diese Weise prallten die Trupps natürlich immer wieder auf die Technoparasiten, die sich hier ballten und die Ruinen plünderten.

Längst war die Menschheit in ganz Mitteleuropa zur Natural- und Tauschwirtschaft zurückgekehrt. Vom Rest der Welt bekamen wir wenig mit, aber es sah nicht danach aus, als ob es realistisch sein würde, bessere Verhältnisse im Rest der Welt für plausibel zu halten. Ähnliche Schwierigkeiten wie bei uns plagten die Menschheit überall auf dem Globus. Bauernhöfe im Umland der Hauptstadt wurden nicht nur von Flüchtlingen aus dem Osten besiedelt und teilweise mit brutaler Gewalt besetzt, sondern es kam auch zu Plünderungen, Vergewaltigungen, ganzen Massakern, Standgerichten und manchmal zu regelrechten Versklavungen von Minderheiten und Leuten, die sich dagegen nicht wehren konnten.

Ich zog quer durch das verwüstete Norddeutschland. Über Schottertrassen, aus denen die einstigen Gleisbetten entfernt waren. Entlang der Bundesstraßen, deren Asphalt von den Tritten der Parasiten schon vor Jahren zertrümmert worden war. Durch Ortschaften, die aufgewühlte Böden und Straßen besaßen. Kleinst-Parasiten waren hier wühlend tätig gewesen und hatten Kanalisationsrohre aus Kunststoff sowie Glasfaser- und altmodische Kupferkabel herausgerissen. Dann und wann kam ich bei Höfen unter, anfangs misstrauisch beäugt, bis ich meine Arbeitskraft unter Beweis stellte und mir damit meine Mahlzeiten und manche Informationen verdiente.

So fügte sich langsam, sehr langsam ein Bild zusammen. Wenngleich auch nur für einzelne Landstriche.

*

Es gab wenige Sender in Europa, aber immerhin war das Netz noch nicht vollkommen zerstört. Die meisten waren mobile kleine Stationen, die nur alle paar Tage Sendungen ausstrahlten und dann ihre Standorte wechselten, um nicht von den Parasiten aufgespürt und in Rohstoffe zerlegt zu werden.

Besonders in Amerika, aber auch in Frankreich, England und osteuropäischen Staaten gab es noch kleinere Enklaven von Hightech, die sich erfolgreich gegen die größeren Technoparasiten gewehrt hatten. Offensichtlich mit nuklearer Munition erzielt, wie wir später mitbekommen sollten. Weltweit forschten Wissenschaftler, besonders in den USA, mit Hochdruck daran, Mittel gegen die Parasiten zu finden.

Später, als die Energieknappheit die Bewegungsradien der Parasiten beschränkte, und als sie deshalb an die Gebiete gekettet waren, in denen sie zur Zeit verweilten, da sahen wir sie weitaus seltener. Sie konzentrierten sich nun auf die einstigen Großstädte und pulverisierten sie allmählich, lösten Stahlbeton in seine Bestandteile auf, wrackten Dock- und Hafenanlagen ab, Wehre, Straßen, Brücken, Kommunikationszentren, Kläranlagen und dergleichen.

Das flache Land wurde dadurch sicherer. Dort konnten wir durchaus leben, wenngleich auch unter den Bedingungen, wie sie etwa im beginnenden neunzehnten Jahrhundert geherrscht hatten: Ohne elektrischen Strom und ohne Zeitungen etwa, denn alle Druckanlagen, Computer, Druckerpressen und dergleichen gehörten genauso wie Kopierer längst der Vergangenheit an. Meist auch ohne fließendes Wasser, obwohl manche Gegenden im Improvisieren da recht gut waren. Und leider auch ohne Antibiotika, was die Zunahme von Krankheiten, zuweilen auch Seuchen im Gefolge hatte und so die ohnehin bereits arg dezimierte Bevölkerung noch weiter schrumpfen ließ.

Aber in all dieser Primitivität und Langsamkeit entdeckten wir allmählich ein rares Gut der Vergangenheit wieder – die Geduld. Geduld und zugleich eine innere Ruhe, die schlussendlich viele Überlebende zu der Überzeugung brachte, die Technoparasiten seien eine Geißel Gottes gewesen, um uns irregeleitete Menschen, die den Götzen Technologie anbeteten, auf den Rechten Weg zurückzuführen. So führte der Kulturzusammenbruch zugleich zu einer eigenwilligen Renaissance der Gläubigkeit und der spirituellen Lebenseinstellungen.

Die Leute, die das glaubten, waren es dann paradoxerweise auch, die uns retteten: sie predigten nämlich nichts Geringeres, als die einstmaligen Großstädte dem Verfall zu überlassen und sich nicht mehr um die Technoparasiten zu kümmern.

„Irgendwann werden sie sehen, dass hier nichts mehr zu holen ist, und sie werden verschwinden“, prophezeiten sie.

Die vormaligen Manager, Wissenschaftler, Militärs und Politiker, also all jene, die an der Restaurierung des vormals dominierenden technologischen Pfades arbeiteten, wollten von alldem natürlich nichts wissen. Sie merkten schon deutlich alarmiert, dass der Analphabetismus wieder um sich griff, dass es schwierig wurde, den Kindern Mathematik und Geometrie oder gar Informatik beizubringen. Es gab eben kaum mehr Anschauungsmaterial, und das tägliche Leben, ja der Kampf ums Überleben, der schon den Einsatz Fünfjähriger bei der Ernte erforderte, erschöpfte die nachwachsende Generation dermaßen, dass an Lernen jenseits des zwingend Existenznotwendigen kaum mehr zu denken war.

Es lag auf der Hand, dass der Kampf der Technologen gegen die Technoparasiten schnell gewonnen werden musste, in den nächsten zehn oder fünfzehn Jahren. Danach würde die Elite schlicht ausgestorben oder so ungeübt sein, dass es einfach unmöglich war, innovative Technologien zu entwickeln.

Der Wettlauf um den Bau der TechnoCitys setzte ein.

Mich bekümmerte das alles insgesamt recht wenig, obwohl ich in den Anfangstagen auch noch diesem Traum hinterher hing und den Segnungen der Zivilisation hinterher trauerte, das muss ich offen zugeben. Ich war darum nach einer Weile der Neuorientierung Technoscout in den Ruinen von Braunschweig geworden, und mein Job bestand darin, die sich meist an sonnigen Plätzen aalenden kleinen Technoparasiten aufzustöbern und unsere Kampfmannschaften heranzuführen, die sie dann überfallen und zerstören konnten.

Die kleineren Parasiten erwiesen sich da als vergleichsweise tumb, besonders, wenn man sie mit der in Dessau entwickelten Kältebombe konfrontierte. Die legte ihre ganze Stromzufuhr vorübergehend lahm, und wenn es dann gelang, den Parasiten in eine Grube zu wälzen und unter Tonnen von Schutt zu begraben, möglichst so, dass seine Oberfläche keine direkte Wärmeeinstrahlung mehr mitbekam und er mithin seine Batterien kaum mehr aufladen konnte, dann hatten wir eine reelle Chance, diese Maschinen völlig zu liquidieren.

Aber es war und blieb natürlich ein gefährlicher Job, und die Todesrate bei den menschlichen Jägern lag bei fast fünfzig Prozent.

Immerhin schafften wir es damit, Braunschweig fast völlig parasitenfrei zu bekommen. Und ohne diese Aktionen hätte ich auch Sonja nie kennen gelernt. Sie war ein Wildkind, wie man das nannte, ein Mädchen, das in den Ruinen von Braunschweig groß geworden war und im einstigen Bürgerpark in einem Pavillon lebte.

Ihre Streifzüge führten sie schließlich zu unserem Aktionsgebiet, und sie fand mich glücklicherweise in dem Moment, da mich ein durchdrehender „tückischer“ Parasit überrascht und fast zermalmt hatte. Ich war auf der Flucht vom Rest der Truppe getrennt worden und unglücklich von einem Trümmerhügel gerutscht. Dabei hatte ich mir das Schienbein gebrochen – wahrlich ein irrsinniger Schmerz, den ich niemandem beschreiben kann – , und sie fand mich, schiente mir Geschick das verletzte Bein und half mir, mich aus dem Kampfgebiet zurückzuziehen. Allerdings brachte sie mich nicht zur Kampfgruppe zurück, sondern drängte mich recht unsanft mit einem aus hartem Eibenholz geschnitzten Dorn durch die Wildnis von Braunschweig, bis wir schließlich den Bürgerpark erreichten.

Ich begann bald zu verstehen, warum ein dreizehnjähriges, wildmähniges und durchaus nicht unattraktives Mädchen wie Sonja so etwas tat … Sonja hatte ihre Eltern und ihre Sippe schon vor Monaten verloren und brauchte nun zweierlei. Einmal war sie furchtbar einsam. Und zum zweiten wusste sie intuitiv aus der Gruppe, das man zu zweit besser durchkam.

„Du siehst das doch. Einer wird verletzt, der andere hilft. Einer gerät in Not, der andere sucht. Der eine wird krank … die Liste ist ziemlich lang.“

Da hatte Sonja natürlich recht.

Das andere war … sie spürte zunehmend ihren erwachenden Körper. Bei ihren Eltern hatte sie es deutlich mitbekommen, wie sich Sex zwischen den Geschlechtern äußerte, und sie hatte das damals nie recht verstehen können. Doch nun wurde sie häufig von einander widerstrebenden Regungen durchpulst und änderte allmählich ihre Einstellung zur Sexualität … und um sich dabei auszuprobieren, fehlte ihr ein Partner.

Das war ein weiterer Grund, warum sie mich nicht zu meinen Leuten zurückließ.

Ich stellte das dar, was ihr physiologisch fehlte.

Sie nannte das, was sie dann anging, schlicht „die Gruppe vergrößern“.

Anfangs begriff ich, manchmal etwas begriffsstutzig, wie ich war, nicht so recht, was sie damit meinte. Schließlich war Sonja doch erst dreizehn Jahre alt. Dreizehn! Himmelherrgott noch mal! Und ich war schließlich etwa 38 Jahre alt. Ihr zielstrebiges Ansinnen kam mir deshalb anfangs vor wie eine entfernte Spielart von Pädophilie … aber Sonja hatte sehr nachdrückliche Argumente, zu denen es gehörte, immer nachts zu mir nackt unter die Bettdecke zu kriechen. Und irgendwann passierte es halt einfach.

So also wurde ich zum Vater, eigentlich eher ungeplant, und auch Teil der minder privilegierten Hordenbevölkerung von Braunschweig, die sich bald nicht mehr um die vereinzelten an der Peripherie – also in Rüningen, Riddagshausen, Völkenrode, Meine und ähnlichen Ortschaften – herumlungernden Technoparasiten kümmerte. Wir begannen ein davon unabhängiges Leben zu führen, und ich gab bereitwillig meinen „Beruf“ des Technoscouts auf, um für die wachsende neue eigene Familie da zu sein.

In der Gegend des einstmaligen Kraftwerks entstand derweil aus den Ruinen einer erstürmten Brutkuppel der Parasiten die so genannte TechnoCity, ein weithin schimmernder, silbergrauer Dom, schwer bewaffnet von den Technokraten, die es sogar schafften, Teile der Bevölkerung als Nahrungslieferanten und Arbeitskräfte zu rekrutieren. Aber das wurde im Laufe der Jahre immer schwerer.

Um Sonja und mich versammelten sich allmählich Alex, Reginald, Jannik und Suzanne, unsere Kinder, außerdem taten wir uns mit den Jaspers und den Woronzeffs zusammen, zwei größeren Sippen, die aus Polen kommend hier hängen geblieben waren.

Wir richteten uns im Bürgerpark ein, anfangs jedenfalls, und unternahmen dann Streifzüge durch die zerstörte Kernstadt, in der sich allmählich wieder sumpfige Vegetation breitmachte. Braunschweig wurde zunehmend weitflächig von der Natur zurückerobert, es war bisweilen atemberaubend, das zu verfolgen. Dichte Pappelwälder, Trauerweiden, große Gebiete mit Rohrkolben und Schilf, weite morastige Flächen, in denen Wildschweine wühlten, mannigfache Vögel auf ihren Zügen Halt machten … all das überwucherte sehr rasch die dem Verfall überlassene einstige Metropole.

Mit den Technokraten in der TechnoCity arrangierten wir uns dergestalt, indem wir Jagdbeute gegen Medikamente tauschten. Und dann und wann erbaten wir natürlich Waffenhilfe – dabei half mir mein vormaliger Status als Technikscout, da Sonja und die anderen arge Berührungsängste mit der TechnoCity hatten. Ich fungierte hier quasi als Bindeglied zwischen zwei sich zunehmend divergent entwickelnden Lebensgemeinschaften.

Im Grunde genommen aber jagten wir mit dem, was wir selbst anfertigen konnten, mit Pfeil und Bogen, Schlingen und Speeren. Das war ein wenig steinzeitlich, wie ich insgeheim befand, aber wenn man sich daran erst einmal gewöhnt hatte, konnte man auf diesem technischen Niveau ein erstaunlich angenehmes Leben führen.

Oh, es war am Anfang gar nicht so leicht, an Pfeilspitzen zu gelangen. Jedenfalls galt das, bis wir im einstigen Magniviertel, wo eine hübsche kleine Burg aus den Trümmern gebaut worden war, wobei die Magnikirche als Steinbruch diente, einen weiteren Clan auftaten, der Speerspitzen aus Marmor herstellte. Die waren entsprechend teuer, weil die Herstellung sich recht schwierig gestaltete. Und vor allen Dingen gab es keinen Feuerstein in der Nähe. Das war unser vielleicht größtes Problem in den Jahren zwischen 2020 und 2032.

Dann kam über die TechnoCity der Tauschhandel mit entfernteren Regionen, mit denen auch kommuniziert wurde, ein besserer Handelskontrakt zustande, und es wurde eine so genannte Flintsteinstraße zum Harz eingerichtet, wo es ergiebige Vorkommen gab.

*

Nur die Hutzelgreise und Leute gesetzten Alters wie ich beispielsweise, nur wir interessierten uns nach 2030 noch wirklich jenseits der TechnoCity für die Technoparasiten und wie es in so fernen Ländern wie dem einstigen Russland oder Frankreich oder jenseits des „Großen Teichs“ aussah. Die meisten Angehörigen unserer Sippen besaßen dafür überhaupt kein Gespür, und sie verfügten über einen relativ engen Welthorizont.

Mein Drittgeborener Jannik überraschte mich mal mit einer Bemerkung, das muss so 2036 gewesen sein, als er 13 Jahre alt war. Die prägte sich dann tatsächlich ein und brachte mich immer wieder zum Schmunzeln.

Auf meine Bemerkung zum „Großen Teich“ hin meinte er nämlich keck: „Das ist doch der Europateich, Dad, nicht wahr?“

Eine goldige Ansicht, finde ich heute noch.

Natürlich war das nicht der Europateich, der entstanden war, als Hochwasser den einstmaligen Europaplatz und den dort gelegenen Busbahnhof wegschwemmten, von dem die Parasiten kaum etwas gelassen hatten. Übrigens galt dasselbe für den so genannten Nord-LB-Tower, einen etliche Stockwerke hohen Stahlglasbau, der schon sehr frühzeitig von den Parasiten bis zu den Fundamenten abgetragen worden war und von dem letzten Endes nur noch ein röhrichtbestandener, vollgelaufener ovaler Teich kündete. Daneben waren die Trümmer des Alten Bahnhofs durch das Hochwasser abgesackt und eingestürzt. Man konnte sie nur noch mit großer Phantasie erkennen, und heute sind sie völlig versunken.

Ich meinte mit dem „Großen Teich“ allerdings vielmehr den Atlantik.

Aber die Kinder kannten und kennen eben kein Meer. Keines meiner Kinder oder Enkelkinder ist jemals über fünfzig Kilometer im Radius aus Braunschweig herausgekommen. Dazu bestand einfach nie Notwendigkeit. Unsere Zeit ist unwiderruflich das Wiedererwachen der Provinzialität. Und niemand kümmert sich heute mehr um Rechtschreibung oder dergleichen. Wir degenerierten immer weiter zu einer Jäger- und Sammler-Kultur. Manchmal erschreckte mich das, aber häufig …

Doch meine Gedanken schweifen bereits wieder ab. Wo war ich doch eben? Ah ja, bei der Kommunikation mit der Außenwelt über die TechnoCity.

*

In Amerika, so erfuhren wir, ging das alles etwas schneller, soweit es die Parasiten anging. Die Kuppel von New York und die von Baltimore und Detroit wuchsen so atemberaubend schnell, dass sie bereits im Januar des Jahres 2016 unangreifbar für die Artillerie wurden, die noch überlebt hatte (wie auch immer! Das ist wohl ein ewiges Rätsel. Vielleicht in Bergwerksschächten oder so).

Dann herrschte interessanterweise jahrelang Ruhe. Erst 2024 wurden die Technoparasiten wieder aktiv. Viele der jungen Generation nahmen nun Kurs auf die fertigen Dome und schienen sich mit ihnen zu vereinigen. Das wurde nur sehr seltsam beschrieben, und unsere Vorstellungskraft streikte, offen gestanden, als wir davon hörten, dass die außerirdischen Maschinen geradewegs zerflossen, wenn sie mit den Domen Fühlung aufnahmen. Sich selbst verflüssigende und gleichwohl weiter funktionierende Maschinen hatten und haben etwas von Zauberei an sich. Kaum einer von uns Alten konnte das glauben, was über Funk herüberkam. Die Kinder amüsierten sich ohnehin nur, sofern sie sich halt nicht vor den körperlosen Stimmen aus den Lautsprechern fürchteten.

2035 starteten dann überraschend die Kuppeln! Es geschah von einem Tag zum nächsten und deutete sich durch einen heftigen Ruck an, der wie ein Erdbeben wirkte, zumindest in der Nähe. Es wurden Erschütterungen von 2,8 auf der Richter-Skala gemessen.

Die Techno-Ökologen begannen dieses Verhalten zu analysieren und kamen zu erschreckenden Ergebnissen: die Technoparasiten, so ihr Fazit, stellten offenkundig so etwas wie eine Heuschreckenplage interstellarer Räume dar, allerdings mit dem Trieb, so etwas wie neue Nester zum Zweck der Regeneration, Vermehrung und Optimierung zu bauen. Vom Irgendwo ausgehend, vielleicht einstmals als eine Art von kosmischen Mineurkolonnen entworfen, hatten diese Roboter offensichtlich künstliche Intelligenz erlangt, wenn auch auf einem bescheidenen Level. Diese Intelligenz schrieb ihnen vor, sich selbst zu replizieren und den Weg fortzusetzen, ad infinitum.

Die Reiseziele wurden scheinbar mit einer Art elektromagnetischen Sensors ausgesucht, der empfindlich in das kosmische Rauschen hineinlauschte und verheißungsvolle Ziele ausfindig machte. Da die Erde wie bescheuert im 20. Jahrhundert Radiosendungen in alle Richtungen der Milchstraße ausgesandt hatte, allein durch den Streupegel unzähliger Radio- und Fernsehprogramme, von Sonden und ähnlichem Firlefanz mal ganz zu schweigen, war das für die Parasiten quasi wie ein elektromagnetisches „Duftsignal“, wie es Pflanzen oder Tiere ausstreuten, wenn sie paarungsbereit waren oder reiche Erntegründe versprachen, um ihre Pollen weiterzugeben. Die Erde präsentierte sich als höchst attraktiver Vermehrungsgrund, und so kamen sie aus den Universumtiefen geradewegs auf uns zu.

Die Technoparasiten-Kollektive überwanden die gewaltigen Distanzen zwischen den Sternen in jahrzehnte- oder jahrhundertelangen Reisen in mächtigen Kolonien, die Kugelform besaßen. Wenn sie sich dem nächsten Gestirn näherten, das eine Technosphäre möglich sein ließ, aktivierten sich durch die Wärme und Partikel des Sonnenwindes Generatoren, die sich allmählich aufluden, während das Kollektiv sich dem Ziel näherte.

Am Ziel zerplatzte die interstellare Arche dann und streute die aktuelle Generation an Parasiten über die Zielwelt aus, wo sie sofort mit ihrem Raubzug begannen und Rohstoffkugeln anfertigten.

Soweit war das wohl noch Teil der alten Programmierung. Aber statt dann – wie wohl ursprünglich geplant – Materiallager anzulegen, dann Rohstoffschiffe fertig zu stellen und das Material größtenteils in die Heimat zurückzuschicken, wobei ein weiterer Teil für den Aufbau einer neuen Kollektivgeneration gebraucht wurde und ein letzter Schwund und Ermüdungserscheinungen der älteren Generation kompensierte (die aber nahtlos recycelt wurde), stattdessen flossen alle Energien und Rohstoffströme in die Erstellung neuer Parasitengenerationen. Der Zyklus war offenkundig im Laufe der Zeit entartet wie bei Viren beispielsweise, die sich selbst bis zur Vernichtung des Wirtes replizierten.

In dieser kybernetischen Evolution waren die Technoparasiten also irgendwann zum Selbstläufer geworden, den nichts und niemand mehr stoppen konnte. Dazu waren die Anfangszahl und das Schockmoment einfach zu groß. Sie kamen wie eine Lawine über eine unvorbereitete Welt, und wenn man sie nicht sofort abwehrte, war es quasi für alle Reaktionen zu spät.

Die Techno-Ökologen berechneten, dass die damals eingetroffene Kollektivkapsel sich in gut vierhunderttausend Individuen aufgespaltet haben musste, die überall in dicht besiedelten Gebieten heruntergingen. Da handelten sie wie Motten, die vom Licht angezogen wurden. Ihre Sensoren lenkten sie ganz automatisch zu den wichtigsten Zielen, wo sie ihr Reproduktionsprogramm mit maximaler Effizienz umsetzen konnten … und da tauchten sie dann halt zu Hunderten auf. Ich erfuhr irgendwann mal, dass Tokio an dem denkwürdigen 5. Oktober angeblich von siebenhundert bis tausend Parasiten angeflogen worden war. Das konnte ich mir aber inzwischen einfach nicht mehr vorstellen.

Es erübrigt sich zu beschreiben, dass Tokio diese Attacke nicht überstand. Heute ist nach allem, was ich höre, der Raum Tokio eine einzige, von Ruinenresten durchsetzte Wildnis, in der kaum mehr jemand lebt.

Allerdings: Die Probleme hörten an diesem Punkt durchaus nicht auf, wurde uns erklärt.

Die Techno-Ökologen vertraten bald vielmehr einen bizarren Standpunkt, der für uns Ältere an Häresie grenzte und für die Jüngeren völlig unverständlich blieb: „Es wäre sinnvoll gewesen, die erste Generation NICHT zu vernichten“, sagte einmal Hubert Casselwirth aus Stuttgart, ein führender Techno-Ökologe.

Er begründete für mich leider sehr plausibel: „Die großen Technoparasiten der ersten Stufe waren dafür da, so schnell als möglich neue Nester zu bauen, um zu den Sternen weiterzureisen. Hätten wir anfangs richtig reagiert und möglichst viele Ressourcen verstecken können, dann hätten wir uns nach einigen Monaten nur noch mit den kleineren Parasiten der zweiten Stufe herumplagen müssen, die womöglich leichter zu besiegen gewesen wären. Indem die Anfangs-Dome zerstört wurden und die großen Technoparasiten ihr Ende fanden, wurde der Zyklus unterbrochen und letzten Endes gestreckt. Das Programm arbeitet natürlich weiter, wurde nun aber gründlicher, und die Anlaufzeit zur Erschaffung neuer interstellarer Archen verlängerte sich naturgemäß. Im Endeffekt führte das alles dann zur intensiveren Ausplünderung weiterer Landstriche.“

Seine Schlussfolgerung bestand darin, dass wir die Technoparasiten, die inzwischen in der siebten und achten Generation die Länder unsicher machten, also am besten loswurden, wenn wir sie gewähren ließen und beständig auswichen. Konfrontation würde die Belagerungsgeschichte unserer Zivilisation oder was davon noch übrig war, nur noch mehr verlängern. Wenn wir die Technoparasiten in Ruhe ließen, würden sie beizeiten an den Punkt der Erkenntnis kommen, dass der Aufwand, neue Ressourcen zu erschließen, in keinem gescheiten Verhältnis mehr stand zu dem dafür notwendigen Aufwand.

Dann würden sie sich in neuen Domen „verpuppen“ und die Erde verlassen, um zu ergiebigeren Weidegründen im Universum aufzubrechen. Das war im Grunde die beste Chance, die wir für die Zukunft hatten.

Für die TechnoCitys war in diesem Modell kein Platz, ja, sie wurden sogar als kontraproduktiv und Hindernisse auf dem Weg zur Befreiung der Erde von der Geißel der Technoparasiten betrachtet.

Kein Wunder also, dass die Technokraten der TechnoCity sie steinigen wollten. Schließlich waren die Techno-Ökologen in deren Augen Leute, die es zu bekämpfen galt, Anti-Technologen, manchmal auch sinnwidrig als „Kollaborateure“ verfemt, häufig wurden sie daher, wenn man ihrer habhaft werden konnte, kurzerhand aufgehängt oder erschossen. Sie geißelten die Militärs früherer Tage, errichteten den Gefallenen, insbesondere den Soldaten, keineswegs Denkmale und hielten auch keine Gedenkfeiern ab. Sie gossen vielmehr munter brennendes Öl in die noch offenen Wunden. In ihren Augen waren die Kämpfer gegen die Parasiten genau die stumpfsinnigen Idioten, die durch ihre ungenügenden Reflexionen und aktionistisches Handeln den Untergang der Menschheit besiegelt hatten und immer noch weiter beförderten.

„Für Dummköpfe braucht man keine Erinnerungsreden“, war ein Lieblingsspruch Casselwirths, bevor er im Mai 2041 an einer heftigen Grippe starb. Er hätte durchaus gerettet werden können, aber die TechnoCity Braunschweig verweigerte ihm das Vakzin.

Wie gesagt: Ihrer Ansicht nach würden die Parasiten selbst merken, wann die Welt ausgepowert war. Erst dann würden sie aufgeben oder, besser gesagt, von der Erde aufbrechen, um zu „üppigeren Weidegründen“ zu starten, wie die Techno-Ökologen es charakterisierten. Vorher aber sei es den Prognosen zufolge unvermeidlich, dass sich die verbliebenen Technoparasiten zu großen Herden zusammenschlossen und die letzten Technikbastionen mit aller Gewalt erstürmen würden.

Also die TechnoCitys!

Das jagte uns einfachen Leuten, die wir in der Nähe einer TechnoCity wohnten, natürlich nicht eben wenig Angst ein. Ich meinte daraufhin zu unserer inzwischen erheblich vergrößerten Gruppe, die fast achtzig Mitglieder zählte, dass wir doch besser auf sie hören sollten und uns einen sichereren Ort suchen müssten.

Aber die Kinder wollten nicht fort von hier. Und die alten Leute, zu denen ich bald auch zählen würde, hielten die Techno-Ökologen mehrheitlich sowieso für suspekt oder hochverräterisch. Außerdem waren sie ziemlich konservativ geworden. Ich hatte keine Chance gegen den Mehrheitsentscheid

Wir blieben also vorerst im Bürgerpark.

*

Wir blieben erfreulicherweise lange verschont, bis zum Spätsommer des Jahres 2052. Da war ich schon längst Großvater und Sonja noch weitaus agiler als ich. Die TechnoCity stagnierte allmählich, der Dom, der auf dem Gebiet der einstigen Technoparasitenkuppel gebaut worden war, rostete still vor sich hin, und mit dem Wegsterben der alten Elite – interessanterweise hatte sich gezeigt, dass die Lebenserwartung in den TechnoCitys geringer war als draußen, eigentlich hätte ich immer das Gegenteil erwartet – kehrte auch dort ein eher pragmatischer Geist ein. Junge Leute mit dynamischen Ideen, teilweise inspiriert von den alten Techno-Ökologen, rückten nach und analysierten deren Grundlagen.

Zu langsam freilich.

Während sich meine Familie rasch vergrößerte – was für mich allen demoskopischen Studien entsprach, von denen ich je gelesen hatte, denen zufolge die Kinderzahl zunahm, je geringer die intellektuellen Niveaus waren (ich hätte nie geglaubt, das würde auch mal für MEINE Familie zutreffen, und doch war es so gekommen) – , erweiterten wir langsam unsere Kontakte im Dschungel von Braunschweig und errichteten auch, als wir davon hörten, dass Technoparasiten kommen sollten, aus der Gegend von Hengelo (aus dem einstigen Nest von Amsterdam), ein Frühwarnnetz, dessen Herzstück eine Reihe von großen Plexiglasschilden als Lichtsignalanlage war, die uns TechnoCity zur Verfügung stellte.

Deshalb kam der Angriff für uns im August 2052 nicht völlig überraschend.

Wir bemerkten anhand der Lichtsignale, die allerdings von den Alten geführt und entziffert werden mussten, weil die Kinder nun mal nicht mal rechnen konnten oder zumindest nicht gut und schnell genug, dass sich die Parasiten aus Richtung der Lüneburger Heide über die einstmalige Bundesstraße 4 näherten. Heutzutage sollte das nur noch eine halb zugewachsene Schneise sein, wie man hörte. Es war schon lange niemand mehr dort persönlich vor Ort gewesen, wir waren auf vage Informationen von Waldläufern und reisenden Händlern angewiesen.

Und dann waren sie da.

Seit über fünfzehn Jahren gab es keine Technoparasiten mehr in der Stadt, aber nun hörten wir wieder das Donnern ihrer Schritte, schreckliche, Angst einflößende Laute, die gnadenlos mit dem Tonnengewicht Bäume und Sträucher zerdrückten – und schockstarre Tiere, die nicht schnell genug wegzulaufen verstanden – und mit eher gemächlicher Geschwindigkeit nahten.

Gemächlich jedenfalls für uns alte Leute, die wir noch an Geschwindigkeiten dachte, die weitaus höher waren als die eines laufenden Menschen. Aber alles, was schneller als sieben oder acht Kilometer in der Stunde war, war ja für unsere Kinder völlig unbekannt.

Sie starrten darum die riesenhaften, rostig-metallenen Ungetüme auf zwei stampfenden Beinen an wie urweltliche Ungeheuer, und das waren sie auch für sie.

Selbst ich stellte schockiert fest, wie verängstigt mein Herz raste, als ich sie aus der Ferne sah. Ich entsann mich damals an den ICE-Vorfall … Gott, war das wirklich schon fast FÜNFZIG Jahre her? Und wieder spürte ich das lähmende Entsetzen. Und das, obwohl diese hier weitaus kleiner waren als das kraftstrotzende Exemplar, das damals den Zug zum Entgleisen gebracht und ihn buchstäblich eingestampft hatte.

Diese Parasiten hier mochten eine maximale Höhe von acht Metern erreichen aber das Polymermetall war exotisch gesprenkelt, seltsam rötlichblau, von Schlieren durchzogen, zweifelsohne in einer ihrer Hightech-Schmieden (oder nannten sie es „Brutkästen“?) entstanden. Noch immer war ich völlig unfähig, diese Wesen als eine Art von „Leben“ zu verstehen. Für mich waren sie nach wie vor Maschinen, sehr hochgezüchtete zwar, und auch solche, die sich selbst regenerierten, Beute jagten wie lebende Wesen und sich reproduzierten … aber trotzdem erblickte ich darin kein Leben an sich. Es waren und blieben eben Maschinen. Alien-Maschinen, die unsere Welt in ein Trümmermeer verwandelt hatten.

Unsere Sippen zogen sich nun auf meinen dringenden Rat hin auf einen Schutthügel in der Nähe unserer Behausungen zurück, der nicht in direkter Linie zwischen dem Einfallwinkel der Parasitenhorden und der TechnoCity stand. Wir nahmen richtig an, dass diese ihr Ziel sein würde. Vermutlich, so nahmen wir Alten an, hatte die von dort betriebene Satellitenkommunikation sie angezogen.

Doch, doch, es gab wirklich noch Satelliten. In der Anfangsphase nutzten die Parasiten sie sogar bei Peilversuchen und instrumentalisierten sie auf vielfältige Weise für ihre eigenen egoistischen Zwecke. Sie drangen in die irdische Software ein und machten sie für die Militärs und die Fernsehübertragungen weitgehend unbenutzbar. Der sich daraus entspannende Computerkrieg um die Vorherrschaft über die Datennetze war zu guter Letzt natürlich von den Parasiten gewonnen worden, die jahrtausendelange Übung darin hatten. Das war eine ihrer „genetischen“ Überlebensstrategien.

Sie zerstörten schließlich über kurz oder lang nahezu alle Bodenstationen. An die Satelliten selbst kamen sie dann aber aus energetischen Gründen nicht heran, deswegen befanden sie sich nach wie vor im Orbit. Auch wenn nach fünfzig Jahren die meisten infolge mangelnder Wartung die Funktion eingestellt hatten, schien es noch einige zu geben, die mit neu codierten Kanälen von den TechnoCitys für Kommunikations- oder Strategiezwecke genutzt wurden.

Das schien eine realistische Begründung zu sein, wie sie ihre Horden gesammelt und gen Braunschweig gesandt hatten. Oder vielleicht waren ja auch Berichte anderer Nester über die Ausstattung dieser TechnoCity ausschlaggebend gewesen – selbst wenn man berücksichtigen musste, dass diese Berichte fraglos längst veraltet waren. Unsere TechnoCity war ja inzwischen beinahe völlig im Wald versunken und lange nicht mehr so wehrhaft wie noch vor zehn oder zwanzig Jahren.

In relativer Sichtnähe zur fast zweihundert Meter hoch aufragenden Kuppel der TechnoCity hatten wir schon vor längerer Zeit auf dem einige Kilometer entfernten Gaußberg unsere Rosengärten angelegt. Hier züchteten wir Gen-Rosen, ein beliebtes Tauschmittel in der näheren Umgebung. Und hierhin zogen wir uns auch dann zurück, als in den nächsten Wochen die folgenden Schwärme eintrafen.

Die Übersiedelung hierher dauerte insgesamt fast ein halbes Jahr. In der ganzen Zeit kam es um TechnoCity zu Kämpfen. Immer wieder. Bis heute.

Die Konzentration der Parasiten in Braunschweig ist in meinen Augen durchaus bemerkenswert. Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen, und ich ging an sonnigen Tagen in Begleitung meiner Enkel, insbesondere in Begleitung von Anja und Karl, hinüber zu den Schutthügeln, von denen ich die flachgewalzte Fläche rings um TechnoCity betrachten konnte.

Der Wald hatte rings um die Kuppel hatte jetzt aufgehört zu existieren. Hunderte von verschiedenfarbig marmorierten Technoparasiten hockten hier träge auf den angewinkelten Beinen, als seien sie gewaltige Läuse oder Frösche auf dem Sprung. Das einzige, was sich bei ihnen bewegte, waren die ruhelosen, summenden Energieantennen auf der Oberseite ihrer kastenförmigen Hauptkörper, die Sonnenenergie akkumulierten.

Es brauchte verblüffenderweise Jahre, bis sie sich zu einer einheitlichen Strategie aufraffen konnten, und noch länger, bis sie dann wirklich zum Angriff übergingen. Für uns waren sie weitgehend ungefährlich, weil sie sichtbar sehr an Energiemangel litten. Seit Jahrzehnten gab es keine Kraftwerke und Oberleitungen mehr, die sie anzapfen konnten, kaum Stromnetze …

Ich bin eigentlich sicher, dass sie TechnoCity einnehmen wollen, um daraus eine Kuppel zu bauen, eine kleine, mit der sie sich dann in die nächsthöhere Ebene, ins Kollektiv, transformieren können.

Und dann wird Braunschweig ein leichtes Erdbeben über sich ergehen lassen müssen, wenn die Kuppel startet. Aber wir sind sie dann los, ein für allemal, hoffe ich.

Gut, dann sind wir in der Steinzeit. Aber …

*

„Großvater!“

Eine helle Stimme riss mich überraschend wieder in die Wirklichkeit zurück. Ich spürte, dass mir empfindlich kühl geworden war und blickte mit meinen verwitterten Sinnen und den alterstrüben Augen etwas verstört umher.

„Florian? Florian?“

„Nein, Großvater, ich bin es.“

Meine flachsblonde Enkelin Nina hockte direkt am Fuße der Bank und grinste mich schelmisch an.

„Wo … wo ist Florian? Oh, ich bin wohl eingeschlafen, was? Hoffentlich ist den Rosen nicht passiert …!“

„Mach dir mal keine Sorgen, Großvater. Florian hat dich schlafen lassen, schließlich war es ja warm hier, und es passiert ja nichts“, lächelte sie mich an. Nina war sechzehneinhalb, und an dem deutlich gerundeten Bauch konnte ich schon sehen, dass der nächste Nachwuchs wieder unterwegs war.

Inzwischen war ich es gewöhnt, dass die Mädchen zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren ihre Unschuld verloren. Vielleicht war das auch nötig. Der BESUCH hatte verheerend unter den Menschen gewütet, und es hätte mich verblüfft, wenn noch mehr als eine Milliarde Menschen nach dem BESUCH gelebt hätten. In den Jahrzehnten danach war die Zahl der Menschen durch Hunger, Krankheiten, Unfälle und mangelhafte Versorgung eher noch weiter abgesunken denn gestiegen. Nicht zuletzt deshalb hatte sich die vitale Natur wieder so wuchernd ausbreiten können.

Ich räkelte mich knackend und knirschend.

„Fall uns nicht auseinander!“, lachte Nina süß auf.

„Nicht doch“, keuchte ich. „Sooo alt bin ich auch wieder nicht!“

„Dein Statik ist noch in Ordnung, ja?“

Wir lachten zusammen. Sie wusste zwar nicht, was Statik war, aber seit ich den Begriff einmal unvorsichtigerweise verwendet hatte – damals im Zusammenhang mit eingestürzten Gebäuden – , übernahm sie ihn ständig und wandte ihn da an, wo sie meinte, dass er passte.

„Sozusagen.“

Ich ließ mir von ihr aufhelfen, und gemeinsam machten wir uns dann auf den Weg, weiterzugehen zum Rest der Gemeinschaft. Hinter uns blieb der Donner der angreifenden Parasiten zurück. Sie würden nicht mehr lange brauchen. Der Strom von nächtlichen Flüchtlingen aus TechnoCity nahm ständig zu in den letzten Tagen. Nur noch unverbesserlich Hartnäckige weigerten sich anzuerkennen, dass ihre Bleibe aufgegeben werden musste.

Je eher, desto besser. Denn wenn die TechnoCity fiel, würden die Parasiten kein Ziel mehr haben. Dann würden sie zur nächsten Phase ihrer Evolution übergehen müssen.

So oder so – bald war alles vorbei.

In vielerlei Weise, was ich auch ganz individuell verstand und durchaus herbeisehnte. Ich würde demnächst mit den Jaspers und all den anderen, besonders aber mit Sonja vereint sein, die im vorletzten Jahr der Krebs aus dem Leben und von meiner Seite gerissen hatte.

Und Braunschweig und die geschundene Erde würden demnächst die Geißel der Technoparasiten los sein. Je eher die letzten Technikzitadellen verschwanden, desto besser war es, desto eher würde der Alptraum aufhören.

„Alles wandelt sich“, ging es mir wieder durch den Kopf.

„Was?“, stutzte Nina.

„Ach, ich habe nur laut gedacht“, seufzte ich.

„Verrückter alter Mann“, gab sie liebevoll zurück und strahlte mich an, mit ihren Augen, die so wie die von Sonja funkelten. Ach, ich vermisste sie so sehr!

„Aber dafür liebe ich dich“, fuhr sie ruhig fort.

„Oh nein“, widersprach ich sofort leise. „Das überlasse ich lieber Andrej. Er ist besser für dich und deinen Nachwuchs …“

„Nicht SO! Dummkopf!“ Nina schmollte gespielt. „Du weißt genau, wie ich das meine!“

‚Ja’, dachte ich. ‚Ich weiß es sehr wohl.’

Und später, als wir die Siedlung erreichten, in der wir uns in den letzten gut zehn Jahren eingelebt hatten, da dachte ich noch einmal, wie zum Abschied, mit Ovid: ‚Alles wandelt sich, nichts bleibt gleich … das ist gut so.’

Und ich war mir sicher, dass es ein Morgen gab. Sicherlich würde der Weg steinig und lang sein, unvermeidlich bei all dem, was wir in den vergangenen Jahrzehnten an kulturellen Fähigkeiten und Errungenschaften verloren hatten. Aber sobald die Parasiten der Erde den Rücken gekehrt hatten (auch wenn sie in dem Sinne gar keinen Rücken besaßen und meine Floskel einfach nur eine altmodische Redewendung darstellte), hatte die Menschheit, dann hatten meine Enkel und noch späteren Nachkommen die Chance, dereinst die neue Dämmerung der Menschheit zu erleben.

Unsere Spezies bekam nach dem Beinahe-Fall ihre zweite Chance.

Und wer mochte das wissen, vielleicht begingen sie ja nicht dieselben Fehler wie wir. Ich würde dies mit Gewissheit nicht mehr mitbekommen.

Alles wandelte sich.

Und ich gehörte dazu.

Aber es war gut so.

ENDE

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