Buchbesprechung von Uwe Lammers
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Eckdaten
- Suzanne Frank
- Die Händlerin von Babylon (OT: Twilight in Babylon)
- Blanvalet 2002, 510 Seiten
- Übersetzt von Christoph Göhler
- ISBN 3-442-35656-3
Ich hasse es, zu fühlen, wenn einer Geschichte die Puste ausgeht. Genau das passiert hier, man merkt es schon allein an der sehr viel geringeren Seitenzahl im Vergleich zu den anderen Romanen der Reihe. Man sollte im Grunde genommen annehmen, dass dann, wenn der Finalband eines Vierteilers kommt, die Seitenzahl deutlich zunimmt, eben weil zahlreiche Fäden der Gesamthandlung miteinander verbunden werden. Das kann man hier leider nicht konstatieren, sondern im Gegenteil schleppt man sich als Leser arg durch die Gesamtgeschichte … ich komme darauf gleich noch im Detail zurück.
Zunächst einmal etwas zum Wieder-Eingewöhnen, das auch für mich erforderlich war, weil es mehr als zehn Jahre dauerte, ehe ich nach den ersten drei Bänden des Zyklus diesen hier lesen konnte. Wir erinnern uns an Folgendes: Es geht in diesem Romanzyklus um die Liebesgeschichte zwischen der jungen Amerikanerin Chloe Kingsley aus dem 20. Jahrhundert und dem ägyptischen Hohepriester Cheftu, der seinerseits eigentlich ein mentaler Zeitreisender ist. In Wahrheit wurde er als Jean-François Champollion im 18. Jahrhundert geboren und, der damals als Sprachengenie bekannt war und wesentlichen Anteil an der Entschlüsselung der heiligen Schrift der pharaonischen Zivilisation hatte, den Hieroglyphen. Wie Chloe Kingsley ist er mental durch die Zeit gereist und dann zunächst im Körper des Priesters Cheftu im pharaonischen Ägypten erwacht, wo die beiden aufeinander treffen und sich lieben lernen.
Sie stellen rasch fest, dass es eine Art von göttlichem Plan zu geben scheint, der einerseits verhindert, dass sie in ihre angestammte Zeit zurückkehren können, zum zweiten aber auch eine Art Fessel darstellt, da sie immer wieder zueinander hingezogen werden, in welcher Gestalt sie auch … ja, kann man das „reinkarnieren“ nennen? Eher nicht, aber mir fällt kein plausiblerer Begriff für diese seltsame Form des Zeitreisens ein, bei der die Seelen gleich bleiben, aber die Körper sich üblicherweise wandeln.
So strandet Chloe Kingsley also erst im alten Ägypten (Bd. 1), bei dem nächsten brüsken Wechsel findet sie sich in der Ägäis und zwar im so genannten aztlantischen Reich (Bd. 2). Beim dritten Mal reißt es überraschend ihren Körper aus der Gegenwart in die Vergangenheit, und sie erwacht buchstäblich in der eigenen Haut, dem einer blasshäutigen, rothaarigen Navy-Soldatin. So wird sie in der Levante in den Konflikt zwischen den Philistern und dem jungen jüdischen Volk verstrickt, was sie schließlich nach Jerusalem und an die Seite ihres geliebten Cheftu führt (Bd. 3).
Nach Band 3 dachte man sich: sie leben jetzt friedlich und glücklich zusammen in Jerusalem, und alles, was ihnen zum Glück noch fehlt, ist eigentlich Nachwuchs. Aber Gott bzw. Suzanne Frank, hat ihre Plandrehung noch nicht vollendet.
So kommt es zu Beginn von Band 4 zu einem verheerenden Brand, bei dem Chloe lebensgefährlich verletzt wird. Cheftu, völlig verzweifelt, fleht Gott an, er solle sie am Leben lassen, ihre Bestimmung finden lassen. Und in der Unterwelt von Jerusalem wird er Zeuge davon, wie Chloes Körper sich vor seinen Augen auflöst, Teil des Bodens wird. Er hat keine Ahnung, wohin sie gehen wird, wie er sie jemals wieder finden soll oder, ganz wichtig, vor allen Dingen: WANN.
Sehr viel früher in der menschlichen Historie wacht dann ein namenloses Hirtenmädchen (das übrigens verheerenderweise den ganzen Roman hindurch keinen Namen bekommt!) nach einer Flutkatastrophe benommen wieder auf und kämpft sich die nächsten paar Dutzend Seiten zäh durch die Geschichte. Sie bleibt in den Marschen auf einer Palme, bis das Wasser ringsum gesunken ist, treibt dann eine Herde Schafe zusammen und macht sich schließlich auf den Weg irgendwohin in einem Land, das glatt wie ein Spiegel daliegt und nach der Verwüstung menschenleer daliegt.
Der Leser ahnt natürlich, dass dies der neue Gastkörper Chloe Kingsleys ist, was auch stimmt. Aber ihre Reise hat diesmal ja unter seltsamen Umständen begonnen, mit der Konsequenz, dass auch die restlichen Parameter völlig anders sind. Kein eigenes Bewusstsein, völlig fremder Körper, andere Sprache … und die Schrift wird das heftigste Problem.
Wieso dies? Nun, die Schriftzeichen, die sie zu sehen bekommt, sind äußerst exotisch. Sie ähneln Vogelfußabdrücken auf kleinen Lehmtäfelchen, und lange Zeit begreift Chloe – als sie sich denn allmählich an ihren Namen entsinnt – wirklich nicht, wo sie sich befindet und was vor sich geht. Sie hat allerdings Glück, dass sie dank der Schafherde einen gewissen Wohlstand als Hinterpfand hat, als sie in die nächstgelegene Stadt namens Ur gelangt. Hier wird sie von dem Gelehrten Ningal aufgenommen, der von ihrer Erscheinung entzückt ist, vor allen Dingen aber auch von ihrem unübersehbaren, wenn auch freilich fast verschütteten Wissen und ihrem erstaunlichen Wissensdrang. Sie will zum Beispiel unbedingt lesen und schreiben lernen – für eine Frau dieser Zeit eine höchst ungewöhnliche Idee. Das ist in Ur umso schwerer, weil ins „Haus der Tafel“ nur Männer dürfen.
Als Chloe es dennoch gelingt, hier zugelassen zu werden, erregt sie dabei ernsten Missfallen seitens der anderen Schüler, was zu folgenschwerem Unheil und beinahe zu ihrem Tod führt …
Dies ist jedoch alles noch nichts im Vergleich zu den Dingen, die im Roman noch so passieren. Das liegt nicht zuletzt an den … sagen wir … besonderen Verhältnissen in der Stadt Ur: Hier herrscht zwar eine Art von Demokratie in Frühversion, aber zugleich gibt es mit der Ensi eine Form der Hohepriesterin der Lust, und ihr göttlicher Gemahl, der En, hat die Verpflichtung im Namen der Göttin Inana, den Frauen der Stadt Fruchtbarkeit zu schenken. Um die Ensi Puabi dabei nicht neidisch zu machen, darf er jeder anderen Frau nur einmal beiwohnen (wobei, das sei hier eingeflochten, Chloe natürlich entgegen dem Umschlagversprechen, durchaus keine „Unberührbare“ ist. So etwas gibt es in Indien der Gegenwart, aber nicht in Ur!). Und der En, ein Mann, der Kidu genannt wird, macht genau dies. Er vögelt sich buchstäblich um den Verstand. Das ist für Puabi völlig in Ordnung, immerhin ist er ein Wilder aus den Bergen im Norden, der zwar sexuell äußerst leistungsfähig ist, sonst aber nicht viel Grips im Hirn zu haben scheint.
Das ändert sich drastisch, als er eine Art von Anfall hat, während er mit Puabi zusammen ist … danach scheint er wie ausgewechselt und hat auch keinerlei Verlangen mehr nach den Rauschgiften, mit denen er sich sonst während seiner Liebesabenteuer zu betäuben pflegt. Auch ist er plötzlich sehr viel konzentrierter, erheblich weniger auf Sex aus … und im Schlaf spricht er Puabi mit „Chloe“ an.
Aha, begreift der Leser, hier ist also unser zweiter Zeitreisender. Cheftu ist angekommen, wenn auch mit Monaten Verspätung. Zu dumm, dass er neben Puabi der Hohepriester der Fruchtbarkeitsreligion von Ur ist. Und noch dümmer, dass die Ernte in Ur schlecht ausfällt und zudem von Rostfäule angekränkelt. Die Sterndeuter, die in Ur massiven Einfluss haben, lesen dies als Urteil der Götter – als deren Sklaven sich die Menschen in Ur generell verstehen – , und es fällt verheerend aus. Es heißt: die En muss sterben. Und mit ihr der größte Teil des Hofstaates und aus jeder Familie von Ur ebenfalls jemand.
Puabi hat aber nicht vor, zu sterben. Sie sucht eine Stellvertreterin … und es gibt Personen, die ihr das perfekte Opfer schon präsentieren können – eine zugezogene Hirtin aus den Marschen, ein ahnungsloses Wesen namens Chloe …
In den Jahren 1926-27 grub Sir Leonard Woolley im Süden des Irak nach den Wurzeln der Geschichte. Er arbeitete sich geduldig mit Hunderten von Arbeitern durch die Schichten einer uralten Stadt, die er schließlich als die biblische Stadt Ur identifizieren konnte. Und hier fand er neben zahllosen anderen Funden auch das, was er als „Death-pit of Ur“ charakterisierte: ein Massengrab in seltsam geordneter Form, in dem er schlussendlich 74 weibliche Skelette in vollem Schmuck und Ornat vorfand, neben jeder Toten ein Becher, der den Gedanken nahe legte, dass es sich um ein rituelles Suizidopfer handelte und die Becher einen Todestrank enthalten hatten.
Einer der unglaublich interessanten Vorteile des vorliegenden Romans ist darin zu sehen, dass Chloe Kingsley in dieser Inkarnation Teil dieses schaurigen Totenrituals wird, das vor rund 4.500 Jahren stattfand. Es gelingt Suzanne Frank auch diesmal wieder, das Leben der uralten Zivilisation sukzessive zu interessantem Leben zu erwecken … leider gibt es ein paar bedauerliche Schnitzer darin, die das Lesevergnügen doch ganz erheblich trüben.
Zum einen spürt man sehr deutlich, dass der Roman eines roten Fadens entbehrt. Die Autorin weiß nicht, wohin sie steuern soll, und das überschattet das gesamte Buch. Fast 400 Seiten lang befindet sich der Leser in Ur (wer sich auf Babylon freut, sollte sich auf die letzten 25 Seiten des Werkes konzentrieren und enttäuscht abwenden). Von einer „Händlerin“ ist im ganzen Buch keine Rede, weshalb der Titel mal wieder völlig an den Haaren herbeigezogen ist. Sinnvoller wäre „Die Schafhirtin von Ur“ gewesen, aber machen wir uns keine Illusionen über den Verkaufswert dieses Titels… und vergesst bitte in diesem Zusammenhang auch völlig den absolut verqueren Klappentext und das gänzlich unpassende Titelbild, das diesmal locker 3000 (!) Jahre von der Handlungszeit entfernt liegt. Und Diana Gabaldons Lobeshymne auf dem Umschlag („Suzanne Frank hat ein unglaubliches Gespür für Menschen, Mythen und Legenden!“) bezieht sich ganz bestimmt nicht auf diesen Roman, das ist nur ein billiger Werbetrick, echt!
Dann zerfasert die Autorin mit verschiedenen ineinander leicht verflochtenen Lebensläufen den Erzählstrom. Da ist die Hure Ulu, da ist der junge Sterndeuter Ezzi, der Krieger Nimrod, der Friseur Guli mit seinen Schulden und begabten Händen … und man fragt sich lange Zeit, wie das alles wohl zusammenhängt. Nahezu kaum. Man gewinnt den unangenehmen Eindruck, die Autorin habe sich so in die Zivilisation von Ur verliebt, dass sie möglichst viele Facetten unterbringen möchte, ganz gleich, ob sie etwas mit dem Haupthandlungsstrom zu tun haben.
Wie ich schon sagte: ich hasse es, wenn einer Geschichte die Puste ausgeht und sie fahrig vor sich hinplappert, statt konzentriert Fahrt aufzunehmen und einen runden Schluss zu präsentieren. Das gelingt diesem Roman wirklich so gar nicht. Die meisten Personen, die hier auftreten, werden schematisch funktionalisiert, ihre Konflikte nicht wirklich oder nur sehr halbherzig ausgetragen. Konsequenzen fehlen in fast allen Fällen. Es gibt gelegentliche Anflüge des Übernatürlichen, besonders gegen Schluss, und natürlich haben wir es wieder mit jeder Menge legendärer Personen zu tun. Nimrod, Enkidu, Gilgamesch … ich spare mir den Rest der VIPs, die hier auftreten.
Auch hier geht die Verfasserin munter in die Falle der jüdisch-christlichen Überlieferung, hier speziell den Turmbau zu Babel betreffend, zu dem ich nichts Weiteres sage, weil das dann tatsächlich Teil der Lösung ist. Leider einer Lösung, die mich nicht überzeugt und einigermaßen lahm daherkommt.
Zwar sagt Suzanne Frank, sie sei unglaublich fasziniert von der mesopotamischen Frühzeitkultur gewesen, und das merkt man an manchen Stellen auch, weil sie sich wirklich Mühe gibt, die Vergangenheit zu möglichst plastischem Leben zu erwecken. Dass sie dabei die Charakterisierung der Personen krass vernachlässigt und fast ausschließlich hölzern-funktionelle Dialoge zustande bringt, das tut richtig weh. Damit tut sie Sir Leonard Woolleys Forschungen wirklich Unrecht an.
Schlussendlich konnte ich kaum anders, als vom Abschluss des Zeitreise-Quartetts enttäuscht zu sein. Vielleicht, schränke ich ein, bin ich ein zu kritischer Leser, oder ich kenne einfach nach all den Jahrzehnten meinen C. W. Ceram noch zu gut … aber mir scheint, die Autorin hätte aus dem Stoff sehr viel mehr herausholen können, wenn sie nicht so eindimensional auf die jüdisch-christliche Überlieferung gesetzt und dem Glauben gehuldigt hätte, Big Names könnten gescheite Dialoge und eine klar zielgeplante Handlung mit Tiefgang ersetzen. Das klappt nämlich nicht. Dem Roman fehlen mindestens hundert Seiten, um gescheit zu funktionieren … aber noch mal 100 Seiten nachzusetzen, hätte den schwachen Schluss dann nur vollends unerträglich gemacht.
Schade um diese Möglichkeit, die Kultur des Zweistromlands zu neuem Leben zu erwecken. So ist es nicht gelungen.