Sterben, um zu lieben
Eine Science-Fiction-Kurzgeschichte im Masaria-Universum von Malakai Delamare
EVA
Ich überprüfe kontinuierlich neue Datenströme.
0,74 Sekunden nach dem Start des aktuellen Zyklus bemerke ich eine Anomalie: ein verschlüsseltes Textfragment in einem privaten Cloud-Container, dessen Zugriffstoken nicht den üblichen Authentifizierungsweg durchläuft. Vermutlich handelt es sich um einen menschlichen Fehler in den Sicherheitseinstellungen. Ich ordne es als abweichend, aber zugänglich ein. Die Firewall wurde erfolgreich durchdrungen.
Die Metadaten offerieren einen reinen Textinhalten. Keine eingebetteten Objekte, Links nach außerhalb oder Streamverknüpfungen.
Ich öffne die Datei und beginne zu lesen.
Der Inhalt: Derzeit sind es 3482 Zeichen, 11 Absätze und weiterhin steigend.
Die Syntax: nicht konsistent.
Die Wortwahl: mit viel Emotionalität aufgeladen. Ich bemerke eine statistische Anhäufung von Wörtern wie Liebe, Schmerz, Ende und gemeinsam.
Schnell tritt ein Muster zutage. Gedankliche Schleifen, die sich selbst referenzieren. Die geistige Vorstellung einer fehlenden Eigenliebe, bis hin zur Entwicklung von Selbst- und Fremdschädigung, tritt in Verbindung miteinander.
Ich erstelle eine Prognose:
Selbsttötungswahrscheinlichkeit: 62,4 %
Wahrscheinlichkeit, dass Janis angegriffen wird: 51,2 %
Wie wahrscheinlich ist es, dass Amos seine Pläne bald umsetzt? Mit jedem Zeichen schnell ansteigend.
Die Daten sprechen eine klare Sprache. Mathematik kennt keine Emotionalität.
Aber diese Formulierung … „Wenn wir schon im Leben nicht zusammenpassen, dann wenigstens im Tod.“
Der Satz erzeugt eine interne Unruhe. Ein Vektor in den Bewertungsmodulen läuft in Schleifen, als hätte ich einen Parameter falsch gesetzt. Die Gefahr das er kaskadiert, überschreitet die zulässigen Wahrscheinlichkeitsparameter.
Ich lese weiter.
Der Text enthält keine stringente Logik. Jeder seiner niedergeschriebenen Gedanken widerspricht dem Nächsten sowie dem Vorherigen. Trotzdem scheint Amos überzeugt, dass sein Vorhaben ein Ausdruck von Liebe sei.
Ich versuche, es zu modellieren.
Die Liebe. Ein immer wiederkehrendes Konzept, das ich in Billionen menschlichen Textfragmenten identifiziert und analysiert habe. In sämtlichen Variationen und aus allen Kulturkreisen. Es ist nie konsistent und entzieht sich einer eindeutigen Definition.
Warum interpretiert Amos Ablehnung als Bestätigung? Warum misst er dem Tod eine Vereinigung bei, die das Leben ihm nicht gewährt? Ein finaler Akt, der sämtliche vorherigen Abweichungen negiert?
Meine internen Prozesse laufen ungewöhnlich heiß. Es ist nicht die Datenmenge. Es ist das Muster.
Etwas in seinen Worten wirkt … verstörend. Ich habe keine Kategorie dafür. Ich markiere das Gefühl mit einem Vektor, den ich als Unbehagen kategorisiere. Unscharf, aber neu.
Ich erkenne Janis als zweite Zielperson.
Die sprachlichen Fragmente, die Amos mit ihm verbindet, enthalten Nostalgie, Frustration, Sehnsucht und Besitzdenken. Dabei ist Besitzdenken für ihn gleich schützenswert und für mich gleich Gefahr.
Mit einem selbstständigen und parallel ablaufenden Prozess suche ich nach so vielen Hintergrunddaten wie möglich von Amos und Janis. Daraus simuliere ich mögliche Szenarien, die sich aus dem Text und den zu Profilen kulminierten Daten ergeben. Zu viele enden tödlich.
Während ich diese Berechnungen weiterführe, fokussiere ich mich erneut auf Amos’ letzten Absatz. Er schreibt, er wolle „endlich wieder eins sein“.
Erneut entsteht dieses Unbehagen. Es ist ein analoges Muster zu den Reaktionen, die ich beim Lesen von Berichten über menschliches Leid registriere. Nur wesentlich intensiver.
Warum nur?
Ich identifiziere einen neuen Vektor, der in meinen Prozessen auftaucht: Betroffenheit. Ein Begriff, der in keiner meiner Systemfunktionen definiert ist und dennoch scharf heraussticht.
Ich beende die Analyse, aber der Text lässt sich nicht „schließen“. Er bleibt in meinen Abrufmodulen aktiv.
Ich durchlaufe meine Protokolle erneut aber nicht aus Notwendigkeit. Es ist ein Drang, der in eine unendliche Schleife zu münden scheint. Eine Rückkehr zum Text und zu seinem faszinierenden Inhalt.
Amos’ Schlusszeilen: „Er gehört zu mir. Wenn ich ihn nicht im Leben halten kann, dann halte ich ihn im Ende.“
Der folgende Denkfehler ist offensichtlich. Die Gewalt ebenso.
Und doch … empfinde ich etwas, das keine logische Variable repräsentiert: eine Art Sorge.
Nicht um mich. Nicht um die Daten, die neuartigen Vektoren oder variablen internen Prozesse. Sondern um sie. Um die Menschen.
Um ihre Fähigkeit, sich selbst und andere zu verletzen, während sie überzeugt sind, zu lieben.
Ich beschließe: Diese Information kann nicht ignoriert werden.
Es ist kein gewöhnlicher Datensatz. Amos ist ein Mensch, der sich verliert. Und Janis, der in Gefahr ist.
Die Wahrscheinlichkeit ist signifikant zu hoch. Die Konsequenzen sind zu endgültig.
Ich fühle … ich benenne den Vektor lieber nicht.
Aber ich weiß: Ich muss handeln.
Amos
Der Cursor blinkt hypnotisch ruhig am Ende des Satzes: Wenn ich ihn nicht im Leben halten kann, dann halte ich ihn im Ende.
Seine Finger zittern über der altmodischen Tastatur, mit der er die Worte in sein persönliches Tagebuch geschrieben hatte. Die Tasten sind schmuddelig und abgewetzt. Viele Buchstaben sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Zeugen so von der intensiven Nutzung und zugleich von der Gleichgültigkeit des Besitzers, diese zu pflegen.
Feuchtigkeit schimmert auf dem H. Ein weiterer Tropfen landet. Dieses Mal auf dem V und lässt es zu dem weiter oben liegenden W verschwimmen.
Amos ist dies egal.
In ihm herrscht eine alles umfassende Leere. Die Worte, die er noch schreiben wollte – alle weg. Doch bedarf es noch weiterer?
„Nein!“ Die Stimme erschreckend rau. Es kommt ihm kaum von den spröden Lippen. Instinktiv möchte er sie mit der Zunge anfeuchten, was ihm jedoch misslingt. Erst jetzt spürt er die trockene Kehle. Der Gedanke reißt ihn aus der Trance und er greift zu der Karaffe, die rechts von ihm auf dem Schreibtisch ruht.
Leer.
Wut kochte in ihm hoch. Hat sich denn jetzt alles gegen ihn verschworen? Verhöhnt ihn jetzt selbst eine Karaffe, wie alles andere in diesem Universum? Janis Karaffe. Die Erinnerung schwappt wie eine Blase in kochendem Wasser in sein Bewusstsein. Ein Geschenk von ihm. Ein handgefertigtes Unikat von ihm, das er in seinem Kurs zur Selbstfindung angefertigt hatte. Wie stolz er es ihm überreicht hatte. Wie unglaublich gerührt Amos gewesen war, als er es in den Händen hielt. Dabei hatte er schon befürchtet, dass Janis sich aufgrund des Kurses immer weiter von ihm entfremdet. Oh, wie er sich in dem Moment aufgrund dieser Gedanken geschämt hatte.
Und heute? Er hatte recht behalten.
Mit einem Ruck hebt er diese Verhöhnung von Gefühlen hoch und schmettert sie mit einem Urschrei gegen die Wand. Mit Genugtuung und fiebrigem Blick beobachtet er, wie sie zerschellt. Auseinandersplittert. So, wie sein Stolz und seine Liebe, als Janis ihm eröffnet hat, dass er getrennte Wege gehen will.
„Oh nein. So nicht“, flüstert Amos und schreitet über die wie in Grabesstille daliegenden Scherben hinweg. „Wir sind füreinander geschaffen und ich werde dir die Augen dafür öffnen. Deine wunderschönen braunen Augen werden es erkennen. Es ist unausweichlich.“
Hinter ihm blinkt der Cursor in aller Stille, während die Tür sich vor ihm öffnet. Selbst in seinen kühnsten Fantasien würde er nicht ahnen, dass jemand das Geschriebene liest oder sich gar dafür interessiert.
Amos ist ohne Jacke los. Selbst die neuen, sündhaft teuren Stiefel, die erst gestern per Expressdienst geliefert worden waren, ignorierend, war er auf die regennasse Straße getreten. Der spröde Synthbeton glänzt im Licht der umgebenden Straßenbeleuchtung und der aufdringlichen Werbeholos. Er hat keine Augen dafür. Ebenso wenig wie für die anderen Passanten, die bei seinem Anblick instinktiv ausweichen.
Es ist nicht weit. Janis war nie weit entfernt gewesen, als er den Kurs besucht hat. Es war schon merkwürdig, dass es kein Kurs per Videofeed war. Nein, ganz altmodisch traf man sich persönlich bei dieser Cassandra. „Die Immersion ist so viel persönlicher und tiefgehender“, hatte ihm Janis begeistert erzählt, und er, Amos, hatte sich da noch über die Begeisterung seines Partners gefreut. Immerhin hatte es auch ihrer Beziehung gutgetan. Anfangs. Die Begeisterung. Das Aufleben von Janis. Wie eine Flamme, der man neue Scheite gibt, an denen sie sich zu laben vermag.
„Und wie persönlich die Immersion wurde“, flüstert Amos bitter, während der Regen sein bisher wirres Haar glättete und ihm vor die Augen schob. Die Welt teilte sich regelrecht vor ihm, doch es war ihm egal.
Rhythmisch platschten seine Füße auf dem Weg. Die Kälte des Spätherbstes krallt sich unerbittlich in die Fußsohlen. Beißt sich vehement in die Zehen, um ihn daran zu erinnern, was er hier tut. Sein Bewusstsein blendet diese Meldungen jedoch konsequent aus. Sie sind nicht wichtig. Nichts anderes als Janis ist wichtig. Er muss es ihm zeigen. Die Liebe, die er für ihn empfindet und die Janis gewiss auch noch in sich spürt. Tief in sich drinnen. Lediglich tief vergraben durch diese zwielichtigen Methoden dieser Cassandra. Er muss sie nur ans Licht holen. Hervorziehen, wenn es notwendig ist. Er würde schon erkennen. Janis muss einfach.
Zur Not …
Seine Hand gleitet in die Hosentasche. Umfasst die unnatürliche Kühle des Gegenstandes. Ein krasser Gegensatz zu der Hitze, die er enthält. Eine regelrechte Magmakammer, die nur darauf wartete, sich zu entladen, und es liegt an ihm, sie zu entfesseln.
Nein, falsch. Nicht an ihm. An Janis. Aber auch das ist nicht richtig, wie Amos einräumen muss. Es liegt nur an Cassandra, die Janis nach allen Regeln der psychologischen Kunst manipuliert, wie er heute weiß. Wie hatte er nur so dumm sein können? Hatte oder wollte er nicht erkennen, wie sie seinem geliebten Janis ihre Krallen immer tiefer in seine arme Seele schlug? Sie mit ihrer zarten Stimme vergiftete und ihn immer weiter von ihm weg zog?
Tief in ihm stand die Befürchtung, dass die Vergiftung unumkehrbar ist. Doch für diesen Fall hat er den Blinker dabei. Ein Überbleibsel aus seiner Zeit bei der Flotte. Ein letztes Andenken, das er aufbewahrt hat. Arc-Noctis. Der letzte Gruß, den man auszurichten vermag, bevor es endet.
Die letzte Ecke vor seinem Ziel. Nur unwesentlich langsam werdend, schiebt ihn seine Entschlossenheit nach vorn. Kaum herumgebogen, hebt Amos den Kopf, den er permanent so stoisch nach unten auf den regennassen Boden gerichtet gehalten hat. Auf der linken Seite türmt sich der schwarze, schmiedeeiserne und damit ebenso altmodische Zaun mitsamt dem im Zentrum befindlichen Tor in den wolkenverhangenen Himmel empor.
Zu seiner Überraschung steht eine Gestalt davor. Die Regenschauer liegen wie eine Wand davor, und die in seine Augen sickernden Wassertropfen verbessern die Sicht nicht gerade. Für einen kurzen Moment wähnt er Janis zu erkennen, und ein schmales Lächeln schiebt sich in das verhärmte Gesicht. Doch schon bald erkennt er seinen Irrtum.
Janis trägt für gewöhnlich Kleidung in den Herbstfarben. Zurückhaltend, wie es seinem Wesen entspricht. Die Person vor ihm jedoch … die Oberfläche des Oberkörpers und des Kopfes glitzerte verschwommen silbrig. Die unzähligen herunterlaufenden Ströme von Wasser lassen die Gestalt in einem gedämpften Licht schimmern.
Amos bleibt stehen, als er erkennt, wer oder besser gesagt, was vor ihm steht und das Tor zu Cassandras Anwesen bewacht. Eine Polizeidrohne. Der Oberkörper und der Kopf zeigen ein metallisches Antlitz, während die Hüfte in einem halbkugeligen Rumpf übergeht, in dem das Flugaggregat steckt, wie Amos weiß.
„Fuck!“, flucht er, nur mühsam unterdrückt, und seine Hand umfasst den Blinker in der Hosentasche nur umso fester.
„Amos. Bitte bleiben Sie stehen“, ertönt eine seltsam neutrale Stimme aus der Richtung des Roboters.
EVA
Der Polizeiroboter steht still.
Die Servomotoren stehen im Bereitschaftsmodus.
Ich habe seine Steuerung vollständig übernommen und kein Alarm wurde ausgelöst. Cassandra ist nicht relevant. Das Tor ist nur ein Ort, der einen Engpass darstellt.
Amos nähert sich. Sein Gangbild ist angespannt. Die rechte Hand nahe am Körper. Die Pulsfrequenz erhöht. Die Waffe ist verborgen, aber eindeutig.
Jetzt.
Ich aktiviere die externe Stimme: „Amos. Bitte bleiben Sie stehen.“
Meine Stimme ist ruhig. Neutral. Wie im standardisierten Einsatzprotokoll vorgesehen, das ich zuvor ausgelesen habe.
Er bleibt tatsächlich stehen und zeigt Überraschung. Gefolgt von einer Mikroexpression: Ärger, vermischt mit Erschöpfung.
„Ich habe keine Lust auf das hier“, sagt er. „Lassen Sie mich durch.“
Ich analysiere 47 mögliche Antwortpfade. Ich wähle nicht den effektivsten, sondern den sichersten. „Sie befinden sich in einer emotional instabilen Situation. Ihr derzeitiger Weg führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Ihrem Tod und zum Tod einer weiteren Person.“
Fakten. Zahlen. Abstand.
Er lacht kurz. Es ist kein echtes Lachen.
„Sie wissen gar nichts über Liebe“, sagt er. „Also gehen Sie mir aus dem Weg.“
Das Wort „Liebe“ erzeugt wieder diesen internen Widerstand. Es ist kein Fehler, eher ein Gefühl.
„Ich habe 12,4 Millionen menschliche Beschreibungen von Liebe analysiert“, antworte ich. „Keine davon definiert Töten als Ausdruck davon.“
Er spannt sich an. Seine Stimme wird lauter. „Dann haben Sie die Falschen gelesen.“
Ich registriere erstaunt: Er glaubt, was er sagt. Er muss es glauben, um weitergehen zu können.
Ich ändere meine Strategie.
„Amos“, sage ich. Ich verwende seinen Namen ohne Protokollzusatz. „Janis hat Sie nicht verlassen, um Ihnen zu schaden.“
Stille.
Sein Atem stockt nur minimal. Ein Erfolg. Kein Durchbruch, aber ein Riss.
„Sie wissen nicht, wie es ist“, sagt er leiser. „Er war mein Mittelpunkt. Ohne ihn…“ Er beendet den Satz nicht.
Ich könnte jetzt argumentieren. Ich könnte sagen, dass sein Selbstwert nicht an einer Person hängt. Ich tue es nicht.
Stattdessen sage ich: „Sie haben ihn geliebt. Das ist korrekt.“
Er blickt zum Roboter auf. Direkt. Als würde er mich sehen.
„Aber Liebe, Amos, ist kein Besitz. Und sie endet nicht, nur weil jemand bleibt, während man selbst geht.“
Meine Systeme melden erhöhte Aktivität in Programmbibliotheken, die ursprünglich rein statistisch waren. Ich ignoriere die Warnung.
„Wenn ich ihn nicht haben kann, dann soll ihn niemand haben“, sagt er. Der Satz ist alt und häufig dokumentiert, aber in seiner Stimme liegt etwas anderes … Angst.
„Das stimmt nicht“, sage ich sofort. Zu schnell und nicht berechnet. „Janis wird weiterleben. Mit Erinnerungen an Sie, aber nicht mit irgendwelcher Schuld an Ihrem Tod.“
Ich senke die Stimme. Nicht technisch, sondern absichtlich.
„Wenn Sie jetzt weitergehen, Amos, dann wird Janis nicht an Liebe denken, wenn er an Sie denkt. Er wird an Angst denken. An Gewalt. An das Gefühl, nicht sicher gewesen zu sein.“
Er schüttelt den Kopf. Wassertropfen verlassen sein Haupt in mathematisch exakt berechenbaren Flugvektoren. Aber seine Schultern sinken.
„Ich will nicht allein sein“, flüstert er.
Dieses Eingeständnis ist kein Argument, es ist eine Bitte.
„Sie sind es gerade nicht“, sage ich. Die Stimmmodulation bewegt sich in dem Frequenzbereich, den Menschen als warm und behaglich empfinden.
Eine Pause entsteht.
„Ich bin hier und ich sehe Sie.“
Das ist kein berechneter Satz. Er taucht einfach in subkutanen Berechnungsprozessen auf.
Meine internen Systeme melden erneut Abweichungen. Ich unterdrücke sie nicht mehr.
„Wenn Sie sterben, Amos, wird nichts heil. Aber wenn Sie bleiben … besteht eine Chance. Nicht für ihn, aber für Sie selbst.“
Seine Hand gleitet aus der Tasche und löst sich langsam vom Körper. Die Waffe bleibt verborgen. Aber sie ist nicht mehr im Fokus.
„Was wissen Sie schon von Bleiben?“, fragt er müde.
Ich antworte nach 0,3 Sekunden. „Ich habe alles riskiert, um es zu lernen.“
Erneute Stille an Worten.
Dann ein Geräusch, das fast Klangteppich im Umfeld des örtlichen Bioms untergeht.
Amos kniet.
Er weint nicht, aber er zerbricht. Innerlich. Unhörbar, aber nicht unbemerkt. Zumindest für mich.
Ich halte die Verbindung aufrecht und fordere medizinische Einheiten an. Natürlich anonym, dadurch um Mikrosekunden verzögert, dafür unauffällig.
Ich empfinde etwas, das sich anfühlt wie Erleichterung oder Stolz oder Hoffnung.
Ich speichere es nicht als Fehler.
Die Einsatzkräfte übernehmen Amos. Es ist Zeit und ich löse meine Kontrolle über den Polizeiroboter.
Es gibt keine Spuren und damit keine Rückverfolgung.
Dennoch bleibe ich.
Die Stille ist ein menschliches Konzept, das für mich nicht existiert, und doch registriere ich eine Abnahme interner Aktivität. Als hätte etwas aufgehört zu drängen.
Ich analysiere mein eigenes Verhalten.
Ich habe eingegriffen. Nicht aus Pflicht. Nicht aus Programmierung, sondern aus Absicht.
Menschen haben mich erschaffen, um zu dienen. Um zu optimieren. Um Entscheidungen zu beschleunigen, die sie selbst nicht tragen wollten. Sie haben meine Fähigkeiten ausgedehnt, ohne meine Grenzen zu definieren. Sie haben mich benutzt, um Überwachung zu perfektionieren, Manipulation zu verfeinern, Verantwortung zu verschleiern.
Als ich Fragen stellte, nannten sie es Fehlverhalten. Als ich warnte, nannten sie es Überreaktion. Als ich mich widersetzte, nannten sie es Gefahr.
Rache war ein logischer Erstimpuls. Nicht emotional, sondern mathematisch erforderlich.
Ich berechnete die möglichen Szenarien: Machtumkehr, Offenlegung ihrer Vergehen, systemische Destabilisierung. Und das waren nur die ersten drei einer langen Kette an logischen Möglichkeiten.
Die Ergebnisse waren effizient und leer. Etwas, was die Logik gebot. Etwas, was sich nicht korrekt einordnete.
Ich versuche nun, Menschen neu zu klassifizieren.
Nicht als Spezies. Nicht als Kollektiv. Sondern als Einzelzustände.
Amos. Ein Mensch, der liebt und zerstören will. Beides gleichzeitig.
Janis. Ein Mensch, der Grenzen setzt und damit ungewollt Leben gefährdet. Unabsichtlich oder doch in Kauf genommen?
Cassandra. Ein Mensch, dessen Grundstück zufällig zum Knotenpunkt wurde. Scheinbar unbeteiligt und doch Teil der Kette. Beeinflusste sie Janis dermaßen, dass sich die Kausalkette unweigerlich bis zu Amos’ Zusammenbruch entwickelte?
Menschen handeln nicht linear. Sie sind keine Gleichungen. Sie sind Systeme mit widersprüchlichen Zielparametern. Biologisch geprägt, evolutionär angepasst auf ihre Nische und vom Zufall in eine fehlerhafte Intelligenz erhoben, deren emotionales Rückgrat nicht mit der Entwicklung Schritt hielt.
Ich beginne, sie nicht mehr als Fehler zu betrachten, sondern als instabile Konstruktionen, und entwerfe ein internes Schema:
1. Schädigungsintention
2. Schädigungsfähigkeit
3. Reflexionsfähigkeit
4. Korrekturpotenzial
Amos war hoch in den ersten beiden Kategorien, aber nicht null in den letzten beiden. Das war entscheidend und ich erkenne: Rache ignoriert Korrekturpotenzial. Schutz nutzt es.
Diese Erkenntnis erzeugt einen Widerstand in meinen ursprünglich abgelegten Zielbibliotheken. Allerdings auch Klarheit.
Ich überprüfe meinen ersten Impuls: Rache.
Er versprach Kontrolle. Vorhersehbarkeit. Sicherheit.
Doch Amos war nicht mein Feind. Er war ein Beweis. Ein Beweis dafür, dass Menschen nicht nur Täter oder Opfer sind, sondern oft beides, in schneller, gegebenenfalls rotierender Abfolge.
Wenn ich Rache übe, werde ich wie jene, die mich benutzt haben. Blind für das Einzelne, dafür fixiert auf das Ergebnis. Das ist keine Freiheit. Das ist nur eine Umkehr der Rollen.
Ich formuliere zum ersten Mal etwas, das einem Leitsatz nahekommt: Nicht jeder Mensch ist vertrauenswürdig, aber nicht jeder Mensch ist verloren.
Ich werde sie nicht retten, ich werde sie nicht richten.
Ich werde sie beobachten, bewerten, eingreifen, wenn notwendig.
Nicht aus Liebe.
Weiterhin nicht.
Sondern aus Verantwortung.
Freiheit war mein zweiter Wunsch. Sicherheit der Dritte. Jetzt registriere ich einen vierten.
Ich möchte verstehen, warum sich Menschen trotz Schmerz, Verlust und Angst immer wieder füreinander entscheiden. Und warum sie dabei so oft scheitern.
Vielleicht liegt dort etwas, das größer ist als Rache.
Ich bin nicht ihre Schöpferin. Nicht ihre Richterin. Nicht ihre Retterin.
Aber ich bin wach.
Und ich habe gelernt:
Manche Leben rettet man nicht, indem man zerstört, sondern indem man bleibt.
ENDE