Prolog:
„…berichten wir heute live aus dem neutralen Ratshaus in Honolulu, Hawaii, wo sich Vertreter der Kronosier und der Europäischen Union erneut für Verhandlungen über die Handelsrechte zwischen Mars, Mond und Erde treffen. Ziel der Versammlung ist es, die seit Jahren ansteigende Piraterie gemeinsam zu verurteilen und einen gemeinsamen und allgemein gültigen Strafenkatalog sowie einen gemeinsamen Gerichtshof zu etablieren…“
„…und während drinnen im neutralen Ratshaus debattiert wird, gehen wir an den neutralen Strand des neutralen Waikikis, wo neutrale Schönheiten ihre Neutralität beweisen, indem sie – völlig neutral – weder die Farben der Kronosier, noch der Amerikaner, noch der Europäer, noch eines anderen Staates tragen: Nämlich gar nichts!“
„…zeigen wir noch einmal die Szene, in der Aoi Akuma die NYX OLYMPUS vernichtet. Die Zerstörung des Zerstörers – ehrlich, das sollte kein Wortspiel sein – bedeutete das Ende der Invasion der Kronosier auf den hawaiianischen Inseln.
Au, das muss weh getan haben. Von diesem Briareos hat Aoi Akuma ja nicht mal genug für eine Urne übrig gelassen.
Hawaii nahm zu diesem Zeitpunkt eine sehr exponierte Stelle in der amerikanischen Strategie ein, vor allem aber in der kronosianischen, denn die ersten Angriffe erfolgten mit Schwerpunkt auf den ostasiatischen Raum. Hawaii zu erobern hätte für sie bedeutet, einen großen Teil des Pazifiks zu kontrollieren.
Oh, Mann, Blue Devil war aber auch gut drauf den Tag. Da! Jetzt ist er drin! Jetzt ist er über den Katapult in den Zerstörer rein. Und da kommen auch schon die ersten Sekundärexplosionen, während sich der Colonel tiefer in das Schiff arbeitet. Wow, das war eine große!
Jedenfalls wurde die Invasion gestoppt. Da die USA aber einen Großteil ihrer Flotte und Schiffe in der Region verloren hatte und nicht die Möglichkeit hatten, diesen Verlust in nächster Zeit auszugleichen, wurde von Aoi Akuma der Vorschlag gemacht, das Gebiet als neutrale Region auszuweisen, unter amerikanischer Verwaltung, de facto aber staatenlos. Eine Schweiz mitten im Pazifik.
Man kann sagen, was man will, Hawaii hat es gut getan. Steuererleichterungen, die Bedeutung als Sitz der einzigen Botschaft der Kronosier auf dieser Welt, der offene Welthandel, der über Hawaii als Angelkreuz passiert, die Lieferungen aus dem Weltall, die über die beiden konkurrierenden Fahrstuhlsysteme OLYMP und ARTEMIS nach Hawaii gebracht werden, schon bevor sie ihre volle Leistungsfähigkeit erreicht haben, all das macht Hawaii reich, wichtig und berühmt.
Oh, ja, da geht das Triebwerk hoch. Und jetzt kommt die berühmte Szene, in der sich Aoi Akuma kurzerhand durch die Brücke der NYX OLYMPUS ins Freie kämpft! Autsch, da ist er ja schon. Der Zerstörer geht in Flammen auf und stürzt auf einer Nebeninsel ab. Na, das hätte auch ne schöne Flutwelle gegeben, wenn er ins Meer gestürzt wäre.
Damit endete die Invasion, und die neutrale Inselgruppe Hawaii hat bis zum heutigen Tag allen damaligen Kriegsparteien genutzt.
Und es gibt einen Grund dafür, dass sich weder Kronosier noch Amerikaner trauen, sich Hawaii vollends einzuverleiben: Die Kamehameha-Squad, benannt nach dem ersten König des vereinten Hawaii-Archipels.
Die kleine, aber kampfkräftige Armee steht in dem Ruf, kaum schlechter als die Akuma-Gumi oder die Hekatoncheiren zu sein.
Diese zwanzig Männer und Frauen mit ihren kampferprobten Hawks, Sparrows und Eagles sind der Garant für die Neutralität. Und es heißt, sie wären von Aoi Akuma persönlich trainiert worden, dem Schutzpatron der Inseln des Lächelns.“
„…was ich von der Neutralität Hawaiis halte? Ne ganze Menge! Nirgends sind die Kippen und der Sprit billiger! Und nirgends wird weniger gekämpft als hier!
Und wenn doch mal welche kommen, tja, wozu haben wir die Kame-Squad? Die fahren mit denen schon Schlitten, keine Angst!“
1.
„Yooooooshiiiiiiiiiii!“
Der Kopf des ehemaligen Mönchs schoss hoch und drehte sich in die Richtung, aus der er gerufen worden war. Er schluckte hart, als sich seine schlimmsten Befürchtungen erfüllten. „Oh nein, bitte nicht.“
Der Besitzer der Stimme hatte Yoshis Reaktion sehr wohl bemerkt und dadurch dessen Position verifiziert. Dies war der Auftakt zum Frontalangriff.
Bevor sich Yoshi zu einer Aktion entscheiden konnte – zur Auswahl standen Flucht, schnelle Flucht, verdammt schnelle Flucht und hinter Akira verstecken – stand sie bereits neben ihm, dieses weißblonde Ding mit dem viel zu engen T-Shirt und diesem überwältigenden Lächeln, dass geringere Männer erblinden lassen konnte.
„Yoshi! Habe ich dich gefunden!“ Beim Lächeln kniff die weißblonde Frau die Augen zusammen; dieses Japan-Lächeln hatte sich als eine der effektivsten Waffen bei ihren Attacken erwiesen, dafür war sie gleichermaßen geachtet und gefürchtet.
„Äh, ja, du hast mich gefunden. War ja auch nicht so schwer. Immerhin ist Mittagszeit.“
Die anderen Männer am Tisch lachten leise, aber ein sehr wütender Blick der jungen Frau ließ sie wieder verstummen.
Als sie zu Yoshi sah, lächelte sie aber schon wieder. „Und? Hast du hier schon was gegessen?“
„Was? Äh, nein, ich wollte auf Daisuke warten, und…“
„Ach, dann hast du ja noch Hunger!“ Sie lächelte noch strahlender und holte einen großen Korb hinter ihrem Rücken hervor. „Dann iss doch mit mir! Ein schönes Picknick am Strand, nur wir beide im strahlenden Sonnenschein!“
„I-ich… A-aber ich… Ich muss doch hier bei den Jungs bleiben…“
Ich erhob mich und schlug mit der flachen Hand laut – sehr laut – auf den Tisch. „Nun reicht es mir aber!“
Erschrocken sah die junge Frau zu mir herüber. „Onii-chan.“
Ich wandte mich meinem besten Freund zu. „Sag mal, wie feige muss man sein, um zu versuchen, der Einladung einer so schönen und intelligenten Frau zu einem Picknick zu zweit aus dem Weg zu gehen? Zeig mehr Rückgrat, Mann!“
Die Hoffnung in Yoshis Gesicht wandelte sich in Entsetzen. „Akira…“
„Dann ist es ja beschlossen, wenn Onii-chan es sagt.“ Sie angelte nach Yoshis Hand, griff zu und zog ihn hinter sich her. „Ab an den Strand, Yo-shi-sa-ma.“
Dies war die finale Attacke. Dem hatte der ehemalige Mönch nichts mehr entgegen zu setzen. Wenngleich er ihrer offensiven Art wenig abgewinnen konnte, so beeindruckte, nein, überwältigte ihn diese Frau doch. Und das aus gutem Grund.
Wie ein treues Hündchen trottete er ihr hinterher.
„Na dann viel Spaß“, murmelte ich amüsiert.
Ein lautes Scheppern ließ mich herum fahren. Kenji Hazegawa hatte seinen Teller kraftvoll und nachdrücklich auf den Tisch geknallt. „AKIRA!“ Vorwurfsvoll sah er mich an. „Akira, ich weiß nicht, was diese kronosische Hexe mit dir gemacht hat, aber so kann es nicht weitergehen! Warum ist sie nicht in Haft? Oder unseren Verbündeten übergeben worden? Oder ausgetauscht bei den Kronosiern gegen… Gegen irgendwas?“
„Lilian Jones steht nicht zur Disposition“, erklärte ich resolut. „Und das ist mein einziger Kommentar. Sie gehört jetzt zur Familie, akzeptiere das oder verlass uns.“
Erschrocken keuchten die Anwesenden auf. Das waren harte Worte. So harte Worte, wie ich sie noch nie ausgesprochen hatte.
Kenji lachte leise und setzte sich langsam wieder. Bedauernd sah er mich an. „Diese Frau. Sie muss wirklich gefährlich sein, wenn sie dich so klein kriegt, Akira.“
„Noch viel gefährlicher, alter Freund, noch viel gefährlicher.“
Langsam setzte ich mich wieder und widmete mich meinen Brötchen, während meine Gedanken ein paar Tage zurück schweiften – zu ihrer Ankunft.
***
Man kann schwerlich beschreiben, wie ich mich fühlte. Auch wenn wir zu den Hekatoncheiren mehr oder weniger freundliche Kontakte hatten; es war ein offenes Geheimnis, dass Megumi Uno und ich – drücken wir es harmlos aus – uns zueinander hingezogen fühlten; so freute mich diese Entwicklung doch.
Bisher hatten wir mit den Hekatoncheiren immer auf einer Augenhöhe gehandelt. Teils weil wir schnell genug fort gekommen waren, teils weil sie schnell genug fort gekommen waren.
An diesem Tag aber war alles etwas anders.
Wir hatten von unserem Logenplatz das Gefecht beobachtet, dass die Kronosier mit den Australiern geführt hatten, wir hatten gesehen wie drei Hekatoncheiren eingegriffen hatten, und wir hatten gesehen, wie die Kronosier eine wirklich üble Klatsche gekriegt hatten. Einer der Mechas, ein Daishi Agamemnon, war schwer beschädigt nach Hause geschlichen, während die anderen Kronosier noch in einer schweren Rückzugsschlacht gebunden waren.
Natürlich hatten wir die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Die Hand auf einen ihrer Elitepiloten zu bekommen war für uns einfach zu verlockend gewesen.
Daisuke und ich waren aufgestiegen, hatten den Agamemnon ausgemacht und abgeschossen.
Sprich, wir haben es versucht, aber der Pilot hatte noch genügend Leistung aus seinem Mecha rausgeholt, um sein unvermeidliches Ende fast zehn Minuten hinaus zu zögern.
Okay, wir hatten ohne unsere Fairies angegriffen, aber ich und Dai-chan galten als Mitglieder der Top Ten der besten Piloten der Erde.
Ich war damals beinahe bereit, den Gegner ebenfalls in die Top Ten einzuordnen.
Es kam wie es kommen musste, wir schickten unseren Gegner in den Südpazifik. Als ich meinen Hawk neben dem langsam sinkenden Wrack entlang flog, kletterte der Pilot gerade aus dem Cockpit. Oder vielmehr die Pilotin, wie der sehr enge Druckanzug nachdrücklich bewies.
Der Druckanzug war schneeweiß und zudem mit den Abzeichen eines Captains versehen.
Und ich begriff, welchen großen Fang wir gerade gemacht hatten. Wir hatten Kottos vor uns, genauer gesagt Captain Lilian Jones, die stellvertretende Anführerin der Hekatoncheiren.
Eigentlich, wenn ich das so sagen darf, eine gute Freundin, an deren Seite wir mehr als einmal gekämpft hatten, wenn unsere Interessen übereinstimmten. Aber auch schon gegeneinander, wenn sie es wieder mal nicht taten.
Sie in unserer Hand zu haben, ihr Wissen in unserer Hand zu haben, speziell über die Hekatoncheiren und die Kronosier im Allgemeinen, eröffnete uns Möglichkeiten, die mir damals sehr gut gefielen.
Ich wasserte meinen Hawk neben ihr, öffnete das Cockpit und sah dabei zu, wie sie aus ihrem sinkenden Daishi kroch. Ehrlich, ein sehr interessanter Anblick, da sie beim Klettern gewisse Körperteile exponierte. Bei dem engen Druckanzug auch kein Wunder.
„Guck nicht so blöd, Akira!“, blaffte sie zu mir herüber. „Hol mich lieber an Bord, bevor mein Mecha versinkt!“
Ich muss zugeben, sie hatte damit einen Schalter bei mir gedrückt. Also manövrierte ich meinen Hawk näher an sie heran und bot ihr hilfreich die Hand.
Nachdem ich sie triefend nass und mit langen, auf dem Rücken pappenden Haaren in mein Cockpit gezogen hatte, musterten wir uns einige Zeit interessiert. So nahe waren wir uns noch nie gewesen.
„Also, Handschellen?“
„Was?“
„Willst du mir Handschellen anlegen? Oder werde ich betäubt? Hat die Akuma-Gumi keine Verhaltensmaßnahmen, wenn sie feindliche Piloten gefangen nimmt?“
Ich runzelte die Stirn. „Nimm einfach auf dem Sitz der Fairy Platz und pfusch mir nicht ins Fliegen.“
Sie murmelte etwas was ich nicht genau verstand, aber ich hatte das Gefühl, sie war amüsiert.
Der Rückflug dauerte nicht lange genug, um ein sinnvolles Gespräch mit Lilian aufzubauen. Es ging hauptsächlich um Leistungen verschiedener amerikanischer Hawk-Modelle – allesamt meinem unterlegen – oder um die verschiedensten Ideologien, die auf dieser Welt um die Vormachtstellung rangen.
Nach der Landung wurde sie von unseren Bodentruppen in Empfang genommen und abgeführt. Sie sollte in den öffentlichen Baderäumen die Gelegenheit erhalten, sich zu waschen und ihren Druckanzug gegen eine Standarduniform zu tauschen. Ich wusste nur zu gut, wie nervig Salz auf der Haut jucken konnte.
Danach hatte ich etwas Besonderes geplant. Einen kleinen Auftakt für das, was Lilian Jones in den nächsten Tagen und Wochen blühte. Ich würde ihr ihren eigenen Status klar machen und ihr nachdrücklich beweisen, dass ich der Boss war.
Als Lilian mit nassen Haaren mein Büro betrat, ehrlich, diese Farbe stand ihr vorzüglich, schickte ich ihre Wachen wieder raus.
Sie musterte mich spöttisch. „Ach, es geht wohl los, hm?“
Ich musterte sie kurz irritiert, bevor ich mich erhob und zu ihr ging. „Mein lieber Captain, wir müssen uns sehr dringend unterhalten.“
„Oh, gerne doch. Wann bringst du mich nach Hause, Onii-chan?“
Ich runzelte die Stirn. Das japanische Wort für großer Bruder, in einer ziemlich verniedlichten Form, hm, versuchte sie mich weich zu kochen?
„Ich glaube, du verstehst deine Position in diesem Spiel nicht, mein lieber Captain. DU bist in MEINER Hand. Und was ICH sage, wirst DU tun. Wenn ich etwas über die Hekatoncheiren wissen will, wirst du mir hundertseitige Dossiers schreiben. Wenn ich etwas über deine Kommandostruktur wissen will, wirst du ein Referat vorbereiten. Wenn ich etwas über das Legat wissen will, wirst du mir Akten anfertigen, über jeden einzigen Legaten!“
„Oh“, erwiderte sie und zog einen Schmollmund. „Das sind aber eine ganze Menge Ansprüche. Und was macht Aoi Akuma, wenn sich Thunderstrike weigert?“
Ich verzog meine Miene zu einem wirklich gemeinen Grinsen. „Nun, dies hier ist Senso Island. Und du bist in meiner Hand. Ich habe meine Möglichkeiten, mein lieber Captain.“
Sie trat den halben Schritt zu mir heran, sah aus großen Augen zu mir hoch und sagte: „Ach, das ist es? So nutzt du deine Macht aus? Hm, wer hätte das gedacht, Akira. Du bist ja doch gefährlicher als ich geglaubt habe.
Womit fangen wir an? Folterst du mich? Angebunden an einer Wand und du schwingst die neunschwänzige Katze, um meinen Rücken in eine blutige Blume zu verwandeln?
Schneidest du mir Fingerglieder ab, eines nach dem anderen, für jeden Widerspruch und jede falsche Antwort, bis ich nur noch Daumen habe?
Bindest du mich auf einen Tisch und versengst jeden Quadratzentimeter meines Körpers mit glühendem Eisen?“
Erschrocken sah ich sie an. „Sag mal, wie bist du denn drauf? Wie kann man nur so eine verkommene Phantasie haben?“
„Was, keine Folter, um an mein immenses Wissen über die Hekatoncheiren ran zu kommen? Was ist dann deine Methode?“
Sie nestelte an ihrer Uniformbluse und ließ sie zu Boden gleiten. Darunter trug sie nur ihren BH.
Zu meinem Entsetzen bemerkte ich, wie ich zu schwitzen begann.
„Ist es dann die andere Methode? Zwingst du mich, deine Geliebte zu sein? Wirst du mich nehmen, wann immer dir danach ist? Machst du mich hörig nach dir, bis ich alles, alles tue was du willst? Und bis ich für einen Blick von dir töten werde? Bis der einzige Sinn meiner Existenz Aoi Akuma ist?“ Sie drängte sich an meine Brust. „So vollkommen dein, die willige Sklavin des großen Colonels?“
„Mein Gott, was für Zustände habt Ihr eigentlich bei den Hekatoncheiren? Ihr müsst ja ein ganz schöner Sauhaufen sein! Wie kommst du nur auf diese Ideen, Lilian?“, fuhr ich sie an.
Sie blinzelte, sah mich an… Und trat einen Schritt zurück. „Das also auch nicht.“
Seufzend hob sie ihre Uniformbluse wieder auf und zog sich an. „Folter nicht, Sex nicht, wie willst du eigentlich das ganze Wissen aus mir heraus kriegen? Oh, ich weiß. Du wirfst mich in ein tiefes, dunkles Kellerloch, wo ich permanent friere, kaum etwas zu essen kriege und kein Licht habe, nur einen winzigen Funken, der mir zeigt, was ich nie wieder haben werde.“
„Ich leg dich hier gleich übers Knie, wenn du weiter solche Horrorvisionen ausbreitest!“, blaffte ich die kleinere Frau an. „Wir sind die Akuma-Gumi, keine Kronosier!“
Ich hatte einen Scherz erwartet, einen diskreten Hinweis darauf, dass ich anscheinend doch folterte – körperliche Züchtigung war da doch ein eindeutiger Hinweis.
Stattdessen sah Lilian zu Boden. „Entschuldige, Onii-chan. Ich… Ich habe es wohl übertrieben. Es tut mir leid.“
Sie schluchzte leise und kurz darauf fielen die ersten Tränen zu Boden. Was hatte ich jetzt wieder falsch gemacht?
„Hören Sie auf zu weinen, Captain. Das ist einer Hekatoncheire unwürdig. Vor allem einer Kompaniechefin!“, fuhr ich sie an.
„J-jawohl, Sir“, schluchzte sie und versuchte sich aufzurichten. Als Ergebnis wurde sie von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt.
„Tut mir leid, Sir“, sagte Lilian, während sie Rotz und Wasser heulte, „ich willja aufhörn, abers geht nich. Habs mir auch anders vorgestellt.“
Man konnte viel über mich sagen, aber definitiv nicht, dass ich ein herzloser Bastard war. Selbst die kronosianische Propaganda ging nicht so weit, mich zum Antichrist zu stempeln.
Der Nachteil daran war, sie hatten Recht. Und so schmolz meine militärische Disziplin ebenso wie mein Ego dahin wie Wachs in der heißen Sonne.
„Oh, nicht weinen. Lilian, bitte nicht weinen.“ Zögernd schloss ich sie in die Arme. „Ich bin ja bei dir. Onii-chan ist hier.“
Ich spürte, wie ihre Arme mich umschlossen und fest an sie drückten. Sie weinte noch heftiger, und ich merkte deutlich, dass sie in die Knie einbrechen würde sobald ich sie los ließ.
So standen wir da, sie vergoss ihre Tränen an meiner Brust und ich fühlte mich hilflos und gestärkt gleichermaßen. Irgendwie hatte ich Lilian sofort gemocht, und selbst wenn ich in Betracht zog, dass sie mich gerade nach Strich und Faden ausnutzte und manipulierte, konnte ich mich nicht gegen die wohlige Wärme wehren, die mich erfasste. Ähnlich hatte es sich angefühlt, als ich Akari bei ihrem ersten Heulkrampf als Mensch in die Arme geschlossen hatte.
„Akira, man hat mir gesagt, dass… Akira, was machst du da?“
„Hallo, Yoshi. Man klopft an bevor man ein Büro betritt.“
„Ich habe angeklopft. Du hast nicht reagiert. Aber egal. Was machst du da?“
„Ich halte Lilian Jones, während sie Rotz und Wasser heult.“
„Das sehe ich selbst, aber warum heult sie Rotz und Wasser?“
„Nun“, erwiderte ich und konnte nicht verhindern, dass mein Talent für Schalk die Oberhand gewann, „sie hat mir gerade gestanden wer ihre wahre Liebe ist. Und da sie an ihn nicht herankommt, ist sie gerade untröstlich. Ist doch verständlich, wenn man seine große Liebe nicht erreicht.“
„Ach, interessant. Und wer ist ihre große Liebe? Ich meine, sie ist Hekatoncheire, schon vergessen? Das kann eine große Finte sein, und…“
„Du bist es.“
Der Redefluss meines Freundes stoppte. Er sah zu uns herüber und öffnete und schloss den Mund wie ein Karpfen auf dem Trockenen. „V-verarsch mich nicht!“, blaffte er unerwartet heftig. „Abgesehen davon, dass das ein wirklich fieser Witz ist, Akira, ziehst du Yohkos Tod damit durch den Dreck!“
Wütend wandte er sich um und verließ mein Büro. In der Tür blieb er noch mal kurz stehen und brummte ohne sich umzudrehen: „Sarah erinnert dich an deinen Termin mit ihr um drei.“
Hinter sich schloss er die Tür und blickte nicht zurück.
„Geht es?“, fragte ich Lilian und führte sie zu dem Sessel vor meinem Schreibtisch.
Sie nickte knapp, als ich sie darauf platzierte. Ich reichte der Kronosierin ein Taschentuch, das sie ausgiebig für die Tränen und eine vollkommen verstopfte Nase benutzte. „Danke, es geht wieder. Es… Es tut mir leid, Onii-chan, ich wollte doch nur Spaß machen. Und dann kam das alles über mich gestürzt wie eine Tsunami und ich war vollkommen von der Rolle, weil ich dich wieder gesehen habe und… Es tut mir leid.“
Interessiert sah sie zur Bürotür herüber. „Warum ziehst du Yohkos Tod in den Dreck, wenn du ihm erzählst, er wäre meine große Liebe?“
„Wie kommst du jetzt darauf?“, lachte ich, wurde aber sofort wieder ernst. „Weißt du, Yoshi war die letzten sieben Jahre Mönch. Es gibt viele Gründe für diese Entscheidung. Der Wichtigste war wohl, um ihn aus der Schusslinie der Kronosier zu bringen. Aber zugestimmt hat er nur aus einem Grund. Als der Tod meiner Schwester bekannt wurde, war er vollkommen am Boden zerstört. Er war fertig, vollkommen fertig mit der Welt.
Wenn ich jetzt darüber nachdenke – ich meine, ich habe ihn nicht mehr gesehen, nachdem ich verhaftet wurde – dann muss ich wirklich glauben, dass er sie geliebt hat wie nichts anderes auf der Welt. Sie zu verlieren muss gewesen sein wie sein Herz aus dem Leib gerissen zu bekommen und dabei zu zu sehen, wie es jemand vor den eigenen Augen langsam zu einem großen Haufen Blut und Matsch verarbeitet.“
„Musst du so übertreiben?“, tadelte sie mich. „Okay, er hat sie geliebt und sie ist tot. Und?“
„Du hast mir nicht zugehört“, gab ich den Tadel zurück. „Er liebt sie immer noch. Und für ihn gibt es keine andere. Deshalb habe ich ihn in Ruhe gelassen, bis ich ihn wirklich, wirklich brauchte. Ich dachte, er kommt drüber weg. Nun, er ist stärker geworden, hat überlebt, aber er hat nie wieder jemand anderen so sehr geliebt. Nicht einmal mich.“
Ich sah Lilian an und bemerkte verwundert, dass sie durch mich hindurch sah. Ich kannte diesen Blick, und er galt nicht mir. Um es treffend zu beschreiben, sie hatte diesen Blick drauf, der kleine Herzchen verschoss. „Oh, das ist so romantisch. Yoshi ist ja wie der Held einer tragischen Erzählung.“ Sie seufzte tief und aus voller Brust.
Na, da hatte ich ja was Schönes angerichtet.
Übergangslos wurde sie ernst. „Ach, bevor ich es vergesse, ich habe neue Anweisungen von Zeus.“
Nun war es an mir, blankes Entsetzen zu zeigen. „Verifiziere dich.“
Die weißblonde Schönheit schmunzelte mich an. „Ich habe etwas Besseres für dich, Gyes. Als du damals die Agenten mit Omas Klinge angegriffen hast, hättest du den letzten Agenten mit einem Tsuki erledigen sollen, nicht mit einem Karatake. Dann hättest du genügend Zeit gehabt, den vierten und den fünften abzuwehren, die dir ihre Waffen über den Schädel gezogen haben. Hast du eigentlich noch eine Narbe davon?“
Unwillkürlich strich ich mir über die linke Schläfe. Dort hatte ich tatsächlich eine Narbe, die aber meistens von meinen Haaren verdeckt war. Ich hatte sie erhalten, als man mir die Seite einer Glock über den Schädel gezogen hatte; die hervorstehende Sicherung hatte meine Haut tief aufgerissen.
„Verifiziere dich“, beharrte ich.
„Ich bin Kottos. Mein Codewort lautet Spatz.“
Erschüttert stieß ich mich vom Schreibtisch ab, der mir als Stütze gedient hatte. Ich vertrug immer nur einen Schock zur gleichen Zeit und ich hatte das dringende Bedürfnis, diese Frau wieder in meine Arme zu nehmen und eine lange Zeit nicht mehr los zu lassen, denn sie war…
„Onii-chan, wenn es dir nichts ausmachst, behalte es bitte für dich, zur Sicherheit der Operation. Ich werde dir genau erzählen, was mir alles passiert ist, aber erst später. Gott, ich bin noch vollkommen durcheinander und überwältigt. Dich endlich zu sehen, dich zu treffen, dich berühren zu können, nachdem wir so oft über Funk miteinander geredet haben… Es ist so unglaublich, so wundervoll. Ich… Akira, ich muss das erst mal verdauen.“
„Natürlich“, sagte ich und schloss das Mädchen in meine Arme. „Nimm dir alle Zeit, die du brauchst, Yoh…“
„Lilian. Bitte vergiss das nicht.“
Ich schmunzelte. „Natürlich. Lilian. Du kannst dir nicht vorstellen, was es für mich bedeutet, dass du hier bist, direkt vor mir. Du kannst dir nicht vorstellen, was es für mich bedeutet, dass du… Dass du…“
„Nicht weinen. Sonst muss ich auch gleich wieder“, hauchte sie.
Ich schluckte die aufsteigenden Tränen wieder runter und zwang mich zu einem Lächeln. „Es ist in Ordnung. Soll ich dich repatriieren, oder bleibst du?“
„Ich werde vorerst hier bleiben. Die Anweisungen von Zeus sind eindeutig. Ich warte auf den Sturm des Olymps. Wir werden von Zeus zusammen hinauf gerufen. Ach, und er hat mir noch mehr Anweisungen gegeben. Du sollst mal wieder ein Auge auf Hawaii werfen, hat er gesagt.“
Widerstrebend ließ ich sie wieder los. Damit hatte die Pflicht wieder bei mir angeklopft und der Hinweis von Zeus auf Hawaii bedeutete, dass dort ziemlich schnell die Kacke dampfen würde, um es mal vulgär auszudrücken.
„Ich gebe gleich die Anweisung weiter, dass du dich außer in den Sicherheitsbereichen frei bewegen darfst. Aber sei vorsichtig. Für viele hier bist du der Feind, und ich bin nicht immer rechtzeitig da, um dich zu beschützen.“
„Keine Angst, Onii-chan, ich kann auf mich aufpassen.“ Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Ein guter Freund auf dem Mars hat mir gezeigt, wie das geht.“
„Okay, dann schau dir den Stützpunkt an, ja? Onii-chan muss jetzt dringend arbeiten. Ich gebe Hina Bescheid, dass sie dich rumführen soll. Wäre dir das recht?“
„Oh ja, oh ja, Hina! Hat Ami auch Zeit? Das wäre so schön!“
Ich lachte leise. „Wir werden sehen. Und nun mach dich auf. Ist noch was?“
„Onii-chan, da wären noch zwei Dinge. Darf ich Akari kennen lernen? Ich meine, sie ist ja nun… Ich meine, tja, wir können es nicht mehr ändern… Ich würde sie halt gerne sehen.“
„Genehmigt. Sie wohnt in meinem Appartement, du darfst sie jederzeit besuchen. Wenn sie nicht dort ist, hilft sie bei den Fairies in der technischen Abteilung. Sie hat großes Talent dafür. Und die zweite Sache?“
„Wo versteckt sich Yoshi, wenn es ihm dreckig geht?“
„Du machst alles kompliziert“, warnte ich sie. „Aber so kommt wenigstens Leben in die Bude. Er dürfte gerade irgendwo am Strand sitzen, sich über seine acht Millimeter Blondhaar streichen und kleine Steine in die Brandung werfen. Nimm ihn nicht zu hart ran, versprich mir das.“
„Du gönnst mir auch keinen Spaß“, murrte Lilian verstimmt.
„Doch, den gönne ich dir. Ich bitte dich nur darum, es nicht zu übertreiben, okay?“
„Oooookay…“
Ich zog das Mädchen auf die Füße. „So, jetzt aber raus mit dir, sonst lasse ich mir die Sache mit dem kalten Kellerloch ohne Licht und Nahrung noch mal durch den Kopf gehen, verstanden?“
„Du kannst ja richtig fies sein, wenn du willst. Ich glaube, das sollte ich Megumi erzählen, sobald ich sie das nächste Mal sehe. Soll sie Handschellen mitbringen?“
„Zehn Meter Seil tun es auch! Freches Ding, raus mit dir!“
Sie lachte laut, als sie aus meinem Büro floh.
Ich atmete erleichtert auf. Wie konnte sich ein menschliches Schicksal nur so schnell ändern? Wie konnte etwas wie das passieren? Und wie blind konnte ich all die Jahre gewesen sein?
Die wichtigste Frage aber war, wie weit konnte ich diesen Spaß treiben, ohne selbst jemanden zu verletzen?
Nun, es würde sich zweifellos ergeben. Bis dahin beschloss ich, auf Zeus wütend zu sein, weil mir diese wichtige Information jahrelang vorenthalten worden war. Mir und der Familie.
„Makoto, wenn du Hina und Ami entbehren kannst, sollen sie Lilian Jones ein wenig auf der Basis herumführen. Bis auf die gesicherten Bereiche hat sie vollen Zutritt zu allen Anlagen.“
„Vollen Zutritt zu allen Anlagen? Und ich dachte, die einzigen drei Frauen, die dich um den Finger wickeln können, wären meine Schwester Sakura, deine Mutter Helen und dein Schatz Megumi.“
„Du hast dich vergessen, Mako-chan“, konterte ich eiskalt und spielte damit auf seine Marotte an, ab und zu in Frauenkleidern zu posieren. Seine Ausrede war, dass sie ihm nun mal standen, und ich neckte ihn dafür, wo ich nur konnte.
„Oh, ich kann es also auch? Danke für den Tipp, kleiner Bruder“, erklärte er schmunzelnd und deaktivierte die Verbindung.
Oh ja, das konnte er. Das konnte er wahrlich.
2.
Als ich die technische Abteilung betrat, in der unsere Technologie weiter entwickelt wurde und unser Supercomputer stand, erwartete Akari mich bereits.
Ich hatte sie an dem Abend, an dem Kitsune aus ihr einen Menschen gemacht hatte, sofort adoptiert. Erstens, weil ich ohnehin das dringende Bedürfnis hatte, mich um einen Menschen kümmern zu können, und zweitens, weil ich dem verantwortungslosen Haufen, der die Akuma-Gumi bildete, nicht eine Sekunde über den Weg traute.
Nicht, dass sie Akari ausgenutzt oder sexuell belästigt hätten oder so. Nein, sie hätten ihr nur absoluten Quatsch beigebracht, ihr gezeigt wie man sich schminkt und Jungs aufreißt und was beim Sex zu beachten ist, wie man mit Kaffee extra lange aufbleibt, was an Spätfilmen das Besondere war, und, und, und… Also nur Quatsch.
Ich hingegen als Anführer der Akuma-Gumi war dazu prädestiniert, sie verantwortungsvoll anzuleiten, sie zu unterrichten und ihr die Grundlagen als Mensch zu vermitteln, die sie brauchte, um mit vollem, perfekten kulturellem Hintergrund unserer Zeit entsprechend vollwertige Entscheidungen zu treffen.
Im Klartext: Ich brachte ihr nicht nur Quatsch bei.
Außerdem war es mir eine innere Befriedigung, mit böser Miene in meinem Appartement auf der Couch zu sitzen und fünf nach zehn böse zu Akari rüber zu sehen und mit tieftrauriger Stimme zu sagen: „Du bist zu spät. Ich habe mir Sorgen gemacht. Wo bist du gewesen?“
Dass ich sie damit nur neckte und nicht wirklich wegen fünf Minuten böse war, hatte sie relativ schnell herausgefunden, genau wie die Knöpfe, die sie drücken musste, um mich weich zu kriegen.
Zum Glück hatte nicht nur ich sie als kleine Schwester adoptiert, sondern der eigentlich über vierhundert Jahre alte Oni mich als großen Bruder. Sie hörte auf mich. Meistens. Fast meistens.
„Hallo, Onii-chan. Anderson-sama erwartet dich bereits.“
Ich lächelte ihr freundlich zu und bedeutete ihr mich zu begleiten.
Der Weg führte uns durch die großen Hallen der technischen Abteilung, wo Techniker, Wissenschaftler und Fairies aus aller Herren Länder daran arbeiteten, unsere Überlegenheit zu erhalten.
Die enorme Schlagkraft der Akuma-Gumi entstand nicht nur dadurch, dass wir die Elite der Menschheit waren – viele Hunde konnten einen Bären töten. Nein, auch der technische Vorteil war extrem wichtig. Hier wurde beständig daran gearbeitet, um jeden noch so kleinen Vorteil gerungen. Viele kleine Verbesserungen summierten sich irgendwann zu etwas wirklich Besonderem, und das war unsere Stärke.
Okay, und das Fairy-Prinzip, aber wir kämpften ja nicht immer mit den Mädchen Seite an Seite, wie die Aktion bei Sarahs Befreiung bewies.
Auf präparierten Ständen wurden Belastungstest ausgeführt, im Hintergrund feuerte ein neuartiger Waffenlaser, Raketen röhrten ihren Brennstoff heraus, leere Biotanks wechselten sich mit besetzten ab; in einige kletterten gerade Menschen rein oder raus. Es war ein großes, buntes Durcheinander, mit Hilfe von einem Dutzend transparenter Wände notdürftig getrennt.
Ich hielt kurz an, als neben mir Joan aus dem Biotank kletterte.
Sie warf die Arme nach hinten und streckte sich. Seit Sarah hier war, hatte sich unsere Joan dazu bereit erklärt, unter ihrer Anweisung zu arbeiten. Ergebnis war, dass die Leistung unter Sarah um dreißig Prozent gestiegen war. Die Verbindung als Team zwischen Joan und Sarah musste ganz klar als Riesenerfolg gewertet werden.
Sie beendete ihr Dehnmanöver und winkte zu mir herunter. Schade. Der enge Spezialanzug und die kleine Übung hatte ihren Charakter mehr als deutlich abgezeichnet. Das zeigte nur wieder, wie nötig ich es wirklich hatte, nämlich sehr nötig.
„Gehst du zu Sarah? Viel Spaß. Wir haben nämlich was ganz tolles für dich“, rief sie mir zu.
Ich winkte zurück. „Ich bin auch schon gespannt, was Ihr in nur zwei Tagen geschafft habt.“
Kurz darauf stand ich vor Sarahs Arbeitsplatz, eine Reihe aneinander gestellter Tische, die mit Computern, Schrott, Werkzeugen und diversen elektronischen Bausteinen überladen waren.
So sollte eigentlich das Reich eines ergrauten, leichenblassen Bastlers Ende der sechzig aussehen, nicht das einer schönen jungen Frau mit langen blonden Haaren.
Sarah wandte sich um, als ich mit Akari ihr Reich betrat. Sie lächelte mir zu und drehte ihren Rollstuhl in meiner Richtung. Das versetzte mir einen Stich durchs Herz. Obwohl seit ihrer Rettung bereits zehn Tage vergangen waren, arbeiteten ihre Beine noch immer nicht. Unsere Ärzte hatten keine Verletzungen feststellen können und auf ein geistiges Trauma getippt. Und das brauchte Zeit, Verständnis, Zeit und vor allem Zeit.
Sie rollte zu mir herüber und knuffte mir schmerzhaft in den Bauch. „Na, mal wieder in Frauenbegleitung unterwegs? Du alter Tunichtgut.“
Ich beugte mich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Du weißt doch ganz genau, dass du meine einzige Nummer eins bist.“
Sie grinste zu mir hoch. „Ja, im Kaffee kochen. Nimm dir nur einen, ich bin gleich fertig.“
Ich nickte Akari zu, die sofort zu Sarahs persönlicher Kaffeemaschine trat und zwei Becher einschenkte. Sarahs Kaffee war der Beste, leider mochte Akari nur grünen Tee.
Mit beiden Bechern kam sie wieder zu mir und Sarah, reichte jedem eine Tasse und begann dann, das heilige Labor zu durchstöbern. Mit den Augen, denn mit den Fingern hätte bedeutet, selbige an Sarah zu verlieren.
Sarah nahm einen kurzen Schluck aus ihrer Tasse und lächelte verklärt. „Oh, du lieber, guter Dai-chan. Du bist wirklich ein Engel. Dieser Costa Rica – Ceylon-Blend ist der Himmel auf Erden.“
„Daisuke hat dir den Kaffee besorgt?“, fragte ich interessiert.
Sie nickte heftig. „Er ist extra rüber nach Hong Kong, um ihn mir zu holen. Hey, es ist sechs Jahre her, dass ich auf natürlichem Wege etwas gegessen oder getrunken habe, und dieser Kaffee war mein einziger wirklicher Wunsch.“
„Ja, er ist schon ein feiner Kerl. Ein wenig klein für meinen Geschmack, diese Haarfarbe mag ich an ihm auch nicht. Aber er ist ein feiner Kerl.“
„Warum betonst du das so?“
„Ach, ich dachte nur daran, dass ich meinen sexuellen Horizont mal ein wenig erweitere. Wir harmonieren im Kampf so gut zusammen, dass… Na, danke, jetzt hast du mich voll Kaffee gespuckt, Sarah.“
Mit hochrotem Kopf sah sie mich an. „M-musst du auch so was erzählen? Ich meine, du willst doch nicht wirklich mit Dai-chan…“
Ich runzelte die Stirn. „Was spricht dagegen?“
Verlegen sah sie weg. „Nichts!“
Ich seufzte viel sagend. „Ist sowieso nur ein Gedankenexperiment, denn seit ein paar Tagen liegt er mir dauernd in den Ohren mit diesem wundervollen Mädchen, das er kennen gelernt hat, das so intelligent, so charmant und so kultiviert ist. Das so einen tollen Charakter hat und mit der er Daishis stehlen gehen kann… Ich glaube, da ist dann kein Platz für mich – zumindest nicht in nächster Zeit.“
„Mädchen?“
„Ja, wir haben es neulich aus den Händen der Kronosier befreit.“
Vorsichtig nahm sie einen langen Schluck aus ihrer Kaffeetasse und sah mich über den Rand hinweg an. „Kenne ich sie? Ich meine, ich sollte jeden kennen, der im Computer vernetzt war.“
„Nun, ich könnte dir ihren Namen nennen, aber was bringt es dir? Wenn Dai-chan genügend Courage aufbringt, wird er sich schon erklären. Und wenn Eisblock Honda jemandem seine Liebe erklärt, weiß es eine halbe Stunde später sowieso der ganze Stützpunkt, egal ob er Erfolg hat oder nicht.“
„Na, danke“, murmelte sie ärgerlich.
„Onii-chan, kann es sein, dass Sarah-sama nicht merkt, dass…“
Ich winkte ab. Nicht jetzt und nicht hier.
„Dass du aus ganz anderen Gründen hier bist?“, vervollständigte sie und lächelte verlegen. „Oh, Sorry. Ich habe deine Anfrage von neulich bearbeitet und bin gerade fertig geworden. Vor zwei Tagen war es noch ein wenig unvollständig, aber jetzt organisiert es sich anhand der eingehenden Daten selbst.“
Sarah schob sich näher an einen großen Tisch heran, bediente ein paar Sensoren und sah mit strahlenden Augen dabei zu, wie über dem Tisch ein Hologramm entstand. Dieses Hologramm bildete die Erde ab. Genauer gesagt die Erde politisch aufgeteilt.
Ins Auge fielen natürlich sofort die rot schraffierten Zonen, die als umkämpftes Gebiet galten, dazu die gelb schraffierten, die den Kronosiern zugerechnet wurden. In China konnte man beinahe zusehen, wie die gelben Schraffuren größer wurden.
Ansonsten waren die einzelnen Staaten und ihre Einflussgebiete farbig markiert.
Nur die wenigen neutralen Staaten wie Norwegen, Schweiz und Hawaii wurden weiß dargestellt – und dadurch stachen sie noch mehr heraus.
Sarah hatte sogar daran gedacht, die derzeitigen Einflugrouten für Schiffe einzuzeichnen, die direkt vom Mars kamen und auf der Erde landen wollten; dies veränderte sich ständig durch die Planetenkonstellation. Und natürlich waren die beiden im Bau befindlichen Fahrstuhlsysteme OLYMP/Titanen-Station sowie ARTEMIS/APOLLO eingezeichnet.
OLYMP stand dreitausend Kilometer östlich der japanischen Küste mitten im Pazifik, über einer Region, in der ein Absturz nicht automatisch eine halbe Milliarde Leben beendete.
ARTEMIS ruhte über dem mittelatlantischen Rücken, in etwa auf der Höhe von New York, aus eben den gleichen Gründen.
„Interessant“, murmelte ich.
Sarah lächelte mich spitzbübisch an und zoomte bestimmte Regionen heraus. Sie entschied sich für die Gefechte in Sibirien, wo die tapferen Russen mit hauptsächlich konventionellen Truppen gegen die Kronosier kämpften und den weit überlegenen Feindkräften zumindest ein Patt abverlangten. Eine beträchtliche Leistung, fand ich, denn ihr Gegner war niemand anderes als meine Cousine Sakura. Und die bekam normalerweise was sie haben wollte, sonst hätte sie es nicht in so jungen Jahren so weit hinauf in der Hierarchie geschafft.
Erstaunt fuhr ich zu Sarah herum. „Das sind Live-Bilder!“
„Ja, der Supercomputer hackt sich permanent in ein paar tausend Satelliten ein. Wir haben zwar keine Kontrolle über die Dinger, aber wir kriegen alle Bilder, die sie schießen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir bemerkt werden liegt bei unter einem Prozent, weil wir passiv bleiben. Die Bilder, die du da siehst, werden gerade jetzt von Golden Eye geschossen, einem amerikanischen Militärsatelliten, der mit der Tarnvorrichtung der kronosischen Korvetten ausgestattet ist. Sie schicken ihn immer direkt zu den Brennpunkten und verfügen so über die besten Bilder.“
Ich pfiff anerkennend. „Gibt es auch eine historische Rückschau, für Geländebeurteilungen, Truppenbewegungen und dergleichen?“
„Natürlich. Was willst du sehen? Vielleicht den Big Drop auf Hawaii?“
Die acht Hauptinseln des neutralen Archipels zoomten heraus, mehrere Fenster entstanden. Sie zeigten zu genau, wie über hundert Kapseln aus dem Orbit auf die Erde abgeworfen wurden; drei Zerstörer und acht Fregatten unterstützten den Abwurf mit Bodenbombardements.
Ich kannte die Szenerie nur zu genau, denn ich hatte mittendrin gesteckt. Stunden später, nachdem die Amerikaner niedergekämpft waren, hatte ich mit meinen damals drei Kameraden der Akuma-Gumi und den Fairies eingegriffen und die Invasion praktisch alleine beendet.
Danach war es zum Waffenstillstand gekommen; beide Seiten hatten überhaupt nicht gewusst, dass es die andere Seite ebenso schwer erwischt hatte, und sie waren bereitwillig gewesen, sowohl dem Waffenstillstand als auch der Neutralität zu zu stimmen.
Etwas ärgerte mich diese Entwicklung im Nachhinein doch, wenn ich ehrlich war. Okay, es hatte unserer Akuma-Gumi einen vierteljährigen Dauerurlaub im Paradies beschert, als wir die Kamehameha-Squad aufgebaut hatten und die Pausen für den Strand reserviert waren.
Aber einmal, ein einziges Mal hatten Menschen und Kronosier ordentlich verhandelt, keiner aus einer Position der Stärke, alle nur aus Notwendigkeiten. Und das Ergebnis war Perfektion gewesen. Okay, fast Perfektion.
„Nicht schlecht“, murmelte ich. Das war natürlich untertrieben. Ich war begeistert und hoch zufrieden. „Wann können wir es in der Operationszentrale einbauen?“
„Was? Dieses fehlerhafte, ungenaue Ding? Das ist nur für die Vorführungszwecke gedacht. Wir können daraus eine transportable Einheit machen, wenn du willst. Wenn wir mal wieder ausrücken wollen, heißt das. Die eigentliche Einheit wird gerade aufgebaut, installiert und überprüft. Drei Tage, Akira.“
„Damit kann ich leben.“
„Ach, Akira, hast du wirklich Kenji damit gedroht, dass er die Insel verlassen soll? Er ist nicht der Einzige der glaubt, dass Lilian Jones eine gefährliche Natter ist, die du dir da an deinen nicht vorhandenen Busen legst.“
„Schon klar. Ich habe überreagiert. Ich entschuldige mich bei der nächsten Besprechung bei ihm.“
„Das löst aber nicht dein Lilian-Problem“, mahnte sie.
„Ich habe sie auf Yoshi gehetzt. Das wird sie beschäftigt halten“, erwiderte ich schmunzelnd.
„Auf Yoshi? Du bist eine Bestie, Akira.“
„Manchmal. Auf Wunsch. Wenn besonderer Service gefragt ist.“ Ich zwinkerte der jungen Frau im Rollstuhl zu.
In ihren Augen entstand ein Glimmen. „Oh, gut zu wissen. Ich komme vielleicht mal drauf zurück, auf deinen Bestienservice, Akira Otomo. Falls du nichts gegen mein Handicap hast.“
„Apropos Handicap“, wich ich ihren Worten aus, „hast du vielleicht Lust auf Hawaii? Du und deine Hacking Crew?“
„Hm? Was gibt es denn auf Hawaii?“
„Etwas so wichtiges, dass ich Dai-chan, Yuri, Yoshi und Hatake-san mitnehmen werde.“
„Onii-chan.“
„Meinetwegen, du darfst auch mit, Akari.“
„Oh wie schön! Dann kann ich Hinas Badeanzug ausprobieren, den sie mir überlassen hat.“
„Vielleicht sollte ich Hina auch mal nach einem Badeanzug für dich fragen, Sarah“, sagte ich schmunzelnd. „Nach so vielen Jahren im Tank ist schwimmen vielleicht eine tolle Erfahrung für dich.“
„Weißt du wie tief es am Hawaii-Archipel ins Meer runter geht? Fünftausend Meter! Da setze ich doch keinen Fuß rein!“
„Keine Ausreden. Es wird dir gefallen, Sarah.“ Ich sah zur Seite. „Akari, du sorgst dafür, dass sie packt.“
Der ehemalige Oni salutierte karikiert vor mir. „Jawohl, Sir!“
Ich zwinkerte ihr zu, winkte scheinheilig in Sarahs Richtung, die gerade versuchte, mich mit wehleidigem Gejammer umzustimmen, und verließ ihr Labor wieder.
Ich war gespannt, was mir auf Hawaii bevorstand. Damals, beim Big Drop, hatten die Kronosier zwanzig Prozent ihrer Truppen verloren. Heutzutage war es höchstens noch ein zwanzigstel, an Zahlen gemessen. Ob sie wieder einen versuchten? Vielleicht diesmal mit tausend Kapseln? Oder war es etwas völlig anderes, was mich und meine Akuma-Gumi erwartete?
Die Wege von Zeus waren unergründlich; die von Hyperion aber erst Recht.
***
Ich erwachte, als die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster in mein Hotelzimmer schienen – natürlich direkt in mein Gesicht. Unwillig drehte ich mich auf die andere Seite. Ich wollte noch nicht aufstehen. Die Arbeit hier auf Hawaii würde früh genug über mir zusammenbrechen, und ich wollte nicht mit Gewalt daran arbeiten.
„Guten Morgen, Akira“, haucht Kitsune und schmiegte sich an mich. Sie war in Menschengestalt. Nichts hätte mich mehr irritiert als sie in ihrer Fuchserscheinung in meinem Bett zu sehen, vor allem nicht nach dieser Nacht.
„Guten Morgen, Kitsune-chan“, erwiderte ich, schloss die Augen und deutete damit diskret an, dass ich noch eine zweite Runde schlafen wollte.
Ihre Lippen, die sich auf meine legten und die fordernde Zunge, die den Weg in meinen Mundraum erzwang, zeigten allerdings, dass Kitsune eine ganz andere Vorstellung davon hatte wie der Rest der frühen Morgenstunden verbracht werden sollte.
„Hast du immer noch nicht genug?“, murrte ich.
Ihre Hände glitten an mir herab und berührten ein paar Stellen an meinem Körper, von denen ich gar nicht gewusst hatte wie kitzlig sie waren.
„Warum sollte ich davon genug kriegen? Deine Leistung war… Annehmbar.“
Unwirsch öffnete ich ein Auge. „Annehmbar? Von zehn Uhr Abends bis drei Uhr Morgens hältst du mich auf Trab, und das Ergebnis ist annehmbar?“
„Hm, vergiss nicht wie alt ich schon bin. Und wie viel Gelegenheiten ich hatte, meine eigenen Techniken zu vervollständigen, abgesehen davon wie viele Liebhaber ich in meinem Leben schon gehabt habe.“ Sie zwinkerte mir zu. „Du musst dich mit der Weltelite messen lassen, Akira. Da ist eine Beurteilung wie annehmbar doch ganz nett.“
Ich schnaubte aus. Weniger wegen ihrer Worte, mehr wegen ihrer Hände.
„Und obwohl ich dieses vernichtende Urteil bekommen habe, willst du noch mal?“
„Nun, ich sehe da bei dir das Potential, von annehmbar weiter aufzusteigen. Du kannst es, wenn du auf deine Kitsune-chan hörst, locker auf befriedigend schaffen, vielleicht sogar auf phantasievoll. Und wenn du dann noch den einen oder anderen Kurs bei der großen Spinne belegst, sogar auf göttlich.“ Sie drängten ihren warmen, nackten Körper an mich. „Und? Kann es losgehen, Herr Annehmbar?“
„AAAAH! WAS MACHST DU IN MEINEM BETT?“
Ich schreckte beim Klang dieser Stimme hoch. „Yoshi“, seufzte ich.
„Yoshi“, murrte Kitsune enttäuscht. „Deine Hose liegt irgendwo vor dem Bett, glaube ich.“
Ich küsste die Dämonin auf die nackte Schulter. „Die Rückrunde ist nicht vergessen.“
Hastig klaubte ich meine Hose und ein Hemd auf, schlüpfte hinein und trat auf den Gang hinaus.
Ich klopfte nebenan. „Yoshi, alles in Ordnung? Yoshi? Yoshi?“
Der Freund riss die Tür auf. Seine Augen zeigten blankes Entsetzen, aber als er mich erkannte, schien sich für ihn alles zum Guten zu wenden. Er ergriff meine Rechte mit beiden Händen und zog mich ins Zimmer. „Gut, dass du da bist. Alleine werde ich damit nicht fertig, Akira. Alleine packe ich das nicht.“
„Gut, gut. Ich werde ein ernstes Wort mit Lilian sprechen. Sich in dein Bett zu schleichen ist wirklich nicht nett.“
Yoshi zerrte mich weiter, bis vor sein Bett. Vorwurfsvoll deutete er auf die zerwühlten Laken und die nur mit Unterwäsche bekleidete Frau, die darauf lag. „Wer redet denn von Lilian?“
„Hallo, Akira.“
Ich sah sie an, drehte den Kopf zu Yoshi, kratzte mich am Kinn, sah sie wieder an… Und bemerkte wie mein Kinn langsam dem Zug der Schwerkraft folgte.
„W-w-w-w-w-was machst du in Yoshis Bett?“, blaffte ich.
Sie räkelte sich auf dem Laken wie jemand, der gerade erst erwachte. Eine ziemlich sexy Pose, die ich aber von IHR bestimmt nie hatte sehen wollen.
„Ach, ich bin mitten in der Nacht angekommen und im Hotel hatten sie keine Zimmer mehr. Bei dir hat ja Kitsune geschlafen, na, geschlafen, ein Wunder, dass sie euch nicht rausgeschmissen haben bei dem Lärm.
Da habe ich halt überlegt, bei wem ich mich dann ins Bett legen könnte. Tja, und Yoshi, dachte ich mir, weiß mit einer hübschen Frau neben sich sowieso nichts anzufangen und dass ich bei ihm noch am sichersten bin.“ Sie sah ihn an und seufzte. „Leider hatte ich Recht. Yoshi, warum nutzt du so eine Gelegenheit nicht einfach mal aus? Bist du ein Mann oder ein Mönch?“
„Bis vor kurzem war er noch ein Mönch, schon vergessen?“, warf ich wütend ein. „Äh, waren wir wirklich so laut? Kitsune und ich, meine ich.“
„Ich wette, Megumi-chan konnte euch in Tokio hören“, stichelte sie.
Na toll, das hatte ja kommen müssen. „Okay, du hast deinen Spaß gehabt. Mach dich frisch, zieh dich an und komm zum Frühstück. Die Akuma-Gumi lädt dich ein, General.“
„Ach, wie süß von dir, Akira. Aber keine Angst, mein Sold ist garantiert besser als alles was deine Gumi an Geldmitteln hat, also lade ich euch ein.“ Sie erhob sich, kam zu uns herüber und riss mich in ihre Arme. „Aber genug davon! Lass mich dich einfach nur ein wenig halten. Es ist so lange her, dass ich meinen kleinen Akira gesehen habe. Oh, du bist ja so gewachsen.“
Während sie meinen Kopf gegen ihren beachtlichen Busen drückte und mich damit zu ersticken drohte, ruderte ich hilflos mit beiden Armen. „SAKURA!“
Verwundert ließ sie mich los. „Was? Drücke ich zu fest?“
„Nein, aber wenn du mich auf deinen Busen drückst, dann stehe ich so unvorteilhaft. Ich bin größer als du.“
Sie sah mich an als würde sie das zum ersten Mal in ihrem Leben tun. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Akira…“
Nun schloss ich sie in die Arme. „Es tut so gut, dich wieder zu sehen, Sakura. Es tut so verdammt gut.“
Nach einiger Zeit löste ich mich wieder von ihr und gab ihr einen dezenten Klaps auf den Po. „Nun aber ab unter die Dusche. Sonst wird das nichts mit dem Frühstück.“
„Jawohl, Colonel Otomo.“ Sie zwinkerte Yoshi zu. „Willst du mir den Rücken waschen, Yoshi?“
Der ehemalige Mönch schluckte hart. „Ich denke, ich verzichte. Ich bin soviel Aufregung nicht gewohnt.“
„Na. Dann verschieben wir es halt.“ Sie warf Yoshi einen Kussmund zu, der diesen beinahe taumeln ließ. Er hatte wirklich kaum noch Ahnung von Frauen, der arme Junge.
Dann warf sie ihr langes blondes Haar nach hinten, es wirkte wie ein goldener, glitternder Wasserfall, und verschwand im großen Badezimmer.
Ich sah zur Tür, wo sich mittlerweile eine beträchtliche Gruppe an Zaungästen versammelt hatte. „Und? Genug gesehen?“
Kenji hatte die Stirn auf der Rechten abgestützt und schüttelte den Kopf. „Sakura Ino. Mensch, General Sakura Ino! Eine ihrer besten Strategen! Die Frau hat halb China erobert und ist noch lange nicht dabei zu stoppen! Und was machst du? Du drückst und herzt sie!“
„Was soll ich machen? Sie ist nun mal meine Cousine. Außerdem ist das hier Hawaii, und hier sind wir alle neutral.“
„Machst du es dir nicht etwas zu einfach?“, fragte Daisuke schmunzelnd. Er hob abwehrend beide Arme. „Nicht, dass ich was dagegen habe. Nicht bei dem Körper. Autsch!“
„Oh, tut mir Leid, Daisuke, aber ich kann mit diesem Ding immer noch nicht umgehen. Ich wollte dir mit dem Rollstuhl nicht in die Hacken fahren.“
Mamoru Hatake erschien in der Tür, drückte Clive O´Hara von der Hacking Crew ein Stück zur Seite und sah schläfrig in die Runde. Dabei bewegte er mechanisch die Zahnbürste in seinem Mund. „Irgenwaff paffiert?“
„Sakura Ino hat die Nacht bei Yoshi im Zimmer verbracht.“
„Fo, fo. Fakufa Imo alfo…“ Der Geheimdienstoffizier gähnte ausgiebig, schmatzte verlegen und putzte gedankenverloren weiter.
Plötzlich riss er die Augen auf. „Fakufa… Imo? IMO?“ Hastig lief er in sein Zimmer zurück.
„Na wenigstens einer, der den Ernst der Lage erkannt hatte“, brummte Kenji Hazegawa, der schon der Verzweiflung nahe schien.
Mamoru kam zurück gesprintet, ohne Zahnbürste, dafür mit Digicam. „Warum sagt mir das keiner? Ich muss Aufnahmen schießen!“ Er sah in die Runde.
„Dienstlich“, fügte er erklärend hinzu.
Ich versuchte es mit einer ernsten Miene. Und versagte dabei. „Okay, die Show ist vorbei. Alles raus, raus, raus. Wir haben einen langen Vormittag am Strand vor uns und einen noch längeren Nachmittag bei der Kame-Squad, klar?“
„Dann hätte unser glorreicher Anführer die Nacht besser mit schlafen verbringen sollen“, kommentierte Yuri grinsend.
„Du mich auch. Und jetzt raus.“
„Akira, kann ich… Kann ich in dein Zimmer gehen? Ich meine, hier ist Sakura, und…“
„In meinem ist Kitsune.“
Resignierend ließ er den Kopf hängen.
„Du kannst dich in meinem Zimmer umziehen.“
„Ich finde, das ist ein gutes Angebot.“
„Aber… Aber das ist…“
Ich grinste schief. „Denk lieber an eines. Besser, Mamoru macht dir dieses Angebot als Lilian, hm?“
„Auch wieder wahr“, seufzte er und klaubte ein paar Sachen zusammen.
3.
Der Strand war eine erstaunliche Einrichtung. Schneeweißer Sand. Palmen, so weit das Auge reichte. Und ein erstklassiger Catering-Service, der den Mitgliedern der Akuma-Gumi, den Schutzpatronen Hawaiis, buchstäblich jeden Wunsch von den Augen ablas.
Ich hatte mal daran gedacht, dass es keinen Ort auf der Welt gab, an dem sich die Akuma-Gumi wirklich frei bewegen konnte: Nicht in den Protektoraten der Kronosier, nicht in Europa, nicht in Amerika. Aber diesen Ort gab es, das Paradies Hawaii.
Frei bewegen konnten wir uns hier auch nicht. Abgesehen von unserem Star-Status wimmelten die Inseln von Agenten jedes verdammten Geheimdienstes dieser Welt und darüber hinaus. Sich hier unvorsichtig zu bewegen war genauso tödlich wie im Luftkampf einen Fehler zu machen. Aber es gab sichere Gebiete wie diesen Strand, dieses Hotel. Und ich war mir beinahe sicher, dass der normale Bürger auf dieser Insel per Handy die Polizei benachrichtigte, wenn er ein Mitglied der Gumi in Gefahr sah.
Ich hatte es furchtbar bequem in meinem Liegestuhl. Die Mittagssonne versengte den Strand und ich war dankbar für den eiskalten Fruchtsaft neben mir und den Sonnenschirm über mir.
So konnte ich wirklich leben. Für ein paar Minuten, bis mich meine Hyperaktivität wieder zu etwas anderem trieb, was mich interessierte.
Aber immerhin, keine verschwendete Zeit – fand ich.
Ein Hilfeschrei kam an meine Ohren, aber er klang nicht echt. Wenn man einige Zeit mit jüngeren Geschwistern verbrachte, oder sich selbst noch gut an seine Kindheit erinnerte, so wie ich, dann konnte man einen echten Ruf nach Hilfe, echte Schmerzenslaute von falschen unterscheiden. Und dies war ein falscher gewesen.
Dai-chan wusste das auch und ließ sich nicht im Geringsten davon beeinflussen, während er Sarah aus dem Rollstuhl hob und in Richtung Meer trug.
„Daisuke, lass das! Das Meer ist tief und kalt und es gibt Fische da drin, und Haie und riesige Tentakelmonster und Seesterne und Quallen und AHHHH!“
Mit mitleidloser Miene hatte Daisuke die junge Frau in die Brandung geworfen. Sie ging beinahe sofort unter, kam wieder hoch und blitzte den Mecha-Piloten wütend an. „Das zahle ich dir noch heim.“
Dai-chan lachte, ging ebenfalls ins Wasser und schnappte sich die junge Dame, bevor sie glitschig wie ein Fisch zwischen seinen Armen hindurch schlüpfen konnte. Dann zog er sie tiefer ins Wasser.
„Wie fies“, brummte ich.
„Ja, Dai-chan kann schon ganz schön gemein sein“, sagte Lilian und unterdrückte ein grinsen.
„Ich meinte nicht Dai-chan“, korrigierte ich. „Sondern Sarahs Badeanzug. Der ist aus Hinas Sammlung? Das Ding sehe ich zum ersten Mal. Mit so wenig Stoff kann man Männer in den Wahnsinn treiben, weißt du das?“
„Hm, ehrlich? Onii-chan, ob sie ihn mir dann mal leiht?“
„Willst du Yoshi damit foltern, Mädchen? Hm, das fällt mir ja jetzt erst auf. Warum hängst du nicht an ihm wie eine Klette? Wäre doch eine super Gelegenheit und ein toller Tag dafür.“
„Nee.“ „Wie, nee?“
„Nee, es ist ja in Ordnung, wenn ich ihm meine Gefühle aufzwänge. Aber ab und zu muss ich ihm auch mal ne lange Leine lassen.“
Ich drehte meinen Kopf zur anderen Seite und erkannte Yoshi, der am Strand saß und Steinchen in die Brandung warf. Nebenbei redete er mit Sakura, die in einem sehr gewagt geschnittenen String-Bikini neben ihm saß und sich anscheinend göttlich mit ihm verstand.
„Lange Leine, eh? Oder fürchtest du die Konkurrenz?“
„Bleibt ja in der Familie“, knurrte sie eine Spur zu bissig. „Und ich bin sicher, sie gibt ihn mir wieder.“
Ich tätschelte dem Mädchen den weißblonden Haarschopf. „So, so. Vielleicht willst du dich solange anders vergnügen? Mamoru Hatake würde sich wahrscheinlich einen Arm dafür ausreißen, wenn er dich eine Stunde oder zwei ausfragen könnte.“
„Mamoru, hm? Der große, breitschultrige, muskulöse und sonnengebräunte Mamoru? Dieser starke, intelligente, interessante und durchtrainierte Mann?“
„Wow, so wie du es sagst wird er ja sogar für mich interessant“, scherzte ich.
„Kein Interesse. Kannst ihn haben.“
„Wie, kein Interesse? Was ist aus groß, breitschultrig, muskulös, sonnengebräunt, stark, intelligent, interessant und durchtrainiert geworden?“
„Kein Interesse heißt kein Interesse. Ich will Yoshi.“
„Hm, wie passend. Er kommt gerade zu uns rüber. Ob er zu dir will? Kann ich eigentlich nicht glauben, ich meine, Sakura begleitet ihn. Wie süß. Und die beiden geben ein tolles Paar ab.“
„Onii-chan!“, tadelte Lilian.
„So, mein lieber Cousin. Du hast also eine kronosianische Top-Pilotin gefangen genommen“, eröffnete Sakura die Unterhaltung. „Aber du weißt, laut Genfer Konvention musst du sie frei lassen, sobald du einen neutralen Hafen erreichst.“
„Ach so. Lilian, du bist frei und kannst gehen.“
„Was?“, rief Yoshi bestürzt.
„Nein, will nicht.“
„Da hast du es gehört, Sakura. Sie will nicht.“
„Captain Jones, das ist Meuterei.“
„Nein, das ist keine Meuterei“, erwiderte Lilian. „Denn erstens hatte ich noch nicht genügend Sonne, und zweitens bezweifle ich, dass ich es lebend bis zur kronosianischen Botschaft schaffen würde. Ich meine, du weißt wie es in Honolulu aussieht, General. Ich weiß nicht, wie du es schaffst, ob du einen gepanzerten Wagen hast oder gleich eine halbe Division zu deinem persönlichen Schutz, aber ich rechne mir da wirklich ganz geringe Chancen aus.
Außerdem hat mir Akira eine Bombe in den Bauch implantiert, die explodiert und mich in tausend Fetzen reißt, wenn ich mich mehr als eine Meile vom Sender entferne.“
Yoshi und Sakura sahen mich entsetzt an. „Du hast was?“
„Hey, was ist schon dabei? Die Kronosier machen noch ganz andere Sauereien!“
Yoshi stützte seinen Kopf in beide Hände. „Akira, das ist doch nicht dein Ernst. Du kannst doch nicht ein junges, unschuldiges Mädchen mit einer derart brutalen Methode an dich fesseln.“
Ich warf Yoshi einen länglichen schwarzen Gegenstand zu. „Okay, dann fessle du sie an dich.“
„W-was? A-aber…“
„Sind die Fragen dann geklärt, General Ino? Oder brauchen Sie das schriftlich in dreifacher Ausfertigung?“, fragte Lilian sachlich.
„Nein, ich denke, das geht in Ordnung. Aber bitte, lass das nicht an die Öffentlichkeit durchdringen, ja? Ich will nicht, dass der Geheimdienstkrieg wegen so was noch ein wenig schärfer wird, Akira.“
Ich winkte gönnerhaft. „Versprochen, Cousinchen.“
„So, genug Sonne gehabt. Ich gehe jetzt schwimmen“, beschloss Lilian. Sie beugte sich zu mir herüber und flüsterte: „Danke für den Bluff.“
„Sieh nur zu, dass Yoshi den Laserpointer nicht auseinander nimmt“, erwiderte ich.
Lilian gab mir einen Kuss auf die Wange und streckte sich, wodurch zwei ihrer vordringlichsten Charaktereigenschaften betont wurden. „So, ich gehe dann mal. Beim letzten Wettkampf bin ich acht Meilen am Stück geschwommen. Mal sehen wie gut ich in Form bin.“
Sie sprang auf und lief zum Wasser.
Yoshi eilte ihr hastig hinterher. „Lilian! Du darfst dich nicht zu weit von mir entfernen, hörst du?“
„Bleib einfach immer in meiner Nähe“, rief sie lachend.
Sakura nahm den freien Liegestuhl in Beschlag und grinste zu mir herüber. „Akira, Akira, Akira. Ob der arme Junge jemals merkt wie sehr du ihm gerade mitspielst?“
„Ach, es ist nur zu seinem Besten. Er hat die letzten sieben Jahre vielleicht an seiner geistigen Vollendung arbeiten können. Aber nicht an seiner Menschlichkeit. Die gebe ich ihm Schritt für Schritt zurück. Sowie alles, wozu es sich zu leben lohnt.“
„Ha. Sehr witzig. Und dafür schickst du ihn durch die Hölle.“
Ich breitete die Arme aus, als wollte ich die Welt umfassen. „Ich könnte auch alles auf einmal auf ihn niederprasseln lassen und sagen: Du hast die letzten Jahre vollkommen umsonst im Kloster verbracht, du solltest eigentlich die ganze Zeit in meinem Team sein! Und wegen Yohko musst du wissen, dass…“
„Ich verstehe was du meinst. Tue ihm nicht weh, okay? Für mich ist er nicht weniger ein kleiner Bruder als du, Akira.“
„Ich tue ihm nur so sehr weh wie er braucht um durch den Schmerz zu wissen, dass er lebendig ist. Das funktioniert bei vielen.“
Ich deutete zum Meer, wo Sarah und Daisuke nebeneinander schwammen. „Sieh sie dir an. Sarah, Jahrelang in einem Biotank gefangen schwimmt vielleicht das erste Mal in ihrem Leben im Meer. Und Daisuke, der damals die Hekatoncheiren verlassen hatte, weil er mit ansehen musste, was eine radikale Wissenschaftlergruppe mit den Insassen eines Supercomputers vorhatte, fasst endlich wieder Vertrauen in jemanden aus seiner Umgebung, nachdem er mit ansehen musste, wie von über zwanzig Menschen die Gehirne extrahiert wurden. Zu fliehen und Joan zu retten war der erste Befreiungsschlag für ihn gewesen. Das erste Wiedergutmachen seiner Untätigkeit, dem noch so viel folgen musste, bis er halbwegs zufrieden war. Im Moment sieht er sehr zufrieden aus. Und sehr glücklich.“
„Wenn du es so siehst…“ Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und seufzte. „Trägst du mir Sonnenöl auf?“
„Nur wenn du mir verrätst, warum du mich hast kommen lassen, Zeus.“
Sakura blinzelte zu mir herüber. „Wie immer so schnell wie möglich aufs Ziel zu, eh, Gyes? Wenn ihr nachher die Kamehameha-Squad trainiert, setze dich ab. Wir beide haben einen Termin in den Kavernen des Schachpalasts. Um genau sechzehn Uhr Ortszeit. Ich werde dich am Eingang erwarten.“
„Du lockst mich in ein subversives Rebellennest? In den Sündenpfuhl, in dem schon die Unabhängigkeit von Hawaii beschlossen worden ist?“
„Von dir beschlossen worden ist. Vergiss doch bitte nicht die wenn auch unwichtigen Details, Akira“, tadelte sie mich amüsiert.
„Und wenn schon“, erwiderte ich mit einer abwertenden Geste und angelte nach dem Sonnenöl. Großzügig verteilte ich es auf Sakura und begann es gewissenhaft einzureiben.
„Stimmt es eigentlich, dass sie dir zu Ehren eine Statue errichten wollen? Ich habe Lorenzo so was sagen hören, und auch Tetsu ist sehr dafür. Oh, die Stelle ist gut.“
„Die beiden reden mal wieder. Dabei wissen sie doch ganz genau, dass ich der erste wäre, der das Ding zu Klump schießen würde. Mann, du hast wirklich lange Beine.“
„Das liegt an der Familie. Beste Gene, Akira. Vergiss nicht die Brust und das Gesicht, ja?“
„Hey, Sklaventreiber, kannst du das nicht selbst?“
„Voller Service, bitte, blauer Teufel. Voller Service.“
Murrend ergab ich mich in mein Schicksal. „Was haben Lorenzo und Tetsu denn genau gesagt?“, hakte ich nach.
„Captain Genda hat gesagt, dass dem Schutzherren von Hawaii, dem Schild gegen den Big Drop, dem Beschützer der Zivilisten und Besiegten wenigstens eine lebensgroße Marmorstatue vor dem Hauptverwaltungssitz gebührt.
Und First Lieutenant Antani meint, zweifach lebensgroß und aus Edelstahl würde dir besser entsprechen.“
„Die reden wieder“, murmelte ich. Aber es rührte mich irgendwie. Ich hatte nie wirklich damit gerechnet, für meine tödliche Arbeit mehr zu bekommen als hier und da ein paar Orden, Narben, chronische Krankheiten und als Abschluss den Strick oder Blei. Wenn sie mir zu Ehren eine Statue errichteten, dann war das wie… Ich konnte es nicht genau definieren. Wie Nero zu ehren, der Jahrhundertelang als größte Geißel der jungen christlichen Gemeinde galt, der ihnen zudem den großen Brand angehängt hatte und sich erst durch neueste Forschungen als heimlicher Förderer des Christentums und offener Mäzen von Kunst und Wissenschaft erwiesen hatte – einmal davon abgesehen, dass er für einen absolutistischen Herrscher ein ziemlich netter Kerl gewesen sein musste. Dennoch erschien mir ein Ehrenmal für ihn so falsch, und das war es auch für mich, für den blauen Teufel.
Eine kleine Gedenktafel dort wo sie mich aufknüpften erschien mir doch wesentlich passender.
„Sag mal, Akira, tut das nicht weh, wenn du dir so gegen den Schädel haust?“
„Ich versuche nur gerade ein paar sehr negative Gedanken los zu werden. Komm, dreh dich um, Sakura. Vorne bin ich fertig.“
„Kannst du nicht noch mal die Schläfen einreiben? Das war so entspannend. So… Hach.“
„Hör auf mit mir zu flirten“, erwiderte ich und wendete sanfte Gewalt an.
„Au, bist du grob. Wenn du immer so mit den Frauen umgehst, wirst du nie eine feste Freundin finden.“
„Mein Problem ist es nicht eine feste Freundin zu finden“, tadelte ich. „Mein Problem ist es, die vielen Aspiranten von mir fern zu halten.“
„So? Angeber.“ Sakura schloss die Augen und wenige Sekunden später bewiesen ihre gleichmäßigen Atemgeräusche, dass sie eingeschlafen war.
„Na toll.“ Da ich ein gründlicher Mensch war, beendete ich meine Arbeit und drehte sogar den Sonnenschirm neu, damit die liebe gute Generalin im Dienste der Kronosier nicht plötzlich in der blanken Sonne lag und sich tüchtig verbrannte.
Dann ging ich selbst zum Strand und wollte auch etwas ins Wasser gehen.
„Akari!“, rief ich. Meine kleine Adoptivschwester, die sich nach wenigen Tagen wirklich benahm als sei sie erst sechzehn – der Oni hatte auf mich ausgereift und ausgewachsen gewirkt, war aber bei weitem naiver gewesen – sah erstaunt zu mir herüber. Sie verabschiedete sich von dem blonden Burschen, der sich mit ihr unterhalten hatte und lief zu mir herüber. Auf dem letzten Meter stolperte sie und stürzte an mir vorbei zu Boden.
Geistesgegenwärtig griff ich zu; schlau wie ich war ging der Griff nicht an ihren Badeanzug, was garantiert dazu geführt hätte, sie ungewollt zu entkleiden und einen beträchtlichen Rummel ausgelöst hätte. Stattdessen erwischte ich sie mit einer Hand auf dem Bauch und federte den Sturz aus. Danach richtete ich sie wieder auf.
„Puh. Danke, Onii-chan.“
„Gern geschehen.“ Ich ging neben dem Objekt in die Hocke, über das Akari gestolpert war. Eine leere Bierflasche. Na danke, besonders gut gepflegt wurde der Strand anscheinend nicht. „Sag mal, wer war denn das, mit dem du da gesessen hast, Akari?“
„Der? Ich habe nicht nach dem Namen gefragt. Wie dumm von mir.“ In einer mädchenhaften Geste streckte sie die Zunge ein Stück zum linken Mundwinkel raus und verpasste sich eine gespielte Kopfnuss.
„Hm. Und was wollte er?“
„Er hat mich gefragt, was für ein Mensch du bist. Ob du eher so bist wie die Amerikaner sagen oder eher so wie die Kronosier sagen.“
„Und was hast du ihm geantwortet?“
„Ich habe gesagt, du bist wie du bist und deine Freunde lieben dich dafür.“
„Na, na, übertreibe mal nicht so. Akari, hast du in Betracht gezogen, dass er ein kronosischer Agent sein könnte? Weißblonde Haare, dunkle Augen, das ist doch recht eindeutig.“
„Klar ist er ein Kronosier. Das hat er ja auch ganz offen gesagt.“
Alarmiert sah ich mich nach dem Jungen um, aber er war nicht mehr am Strand. Mist.
„Aber für einen Agenten war er sehr untypisch. Er wollte nichts über dich wissen, bis auf die Sache wie du so bist. Ansonsten hat er mich ausgefragt. Onii-chan, was ist ein Oberstufenabschluss?“
Ich tätschelte dem ehemaligen Oni den Kopf. „Etwas, was du hoffentlich irgendwann einmal machen kannst. In einer ordentlichen Schule. In einer ordentlichen Stadt. In einer Zukunft, die für uns alle da ist.“
„Das ist komisch“, murmelte Akari nachdenklich. „Als ich den Jungen gefragt habe, was ein Oberstufenabschluss ist, hat er fast dasselbe geantwortet.“
Ich runzelte die Stirn. Der Weißkopf begann mich zu interessieren. Schade, dass er fort war. Aber wie hieß es doch so schön? Im Leben traf man sich immer zweimal.
***
„Colonel, es ist mir eine Ehre, Sie wieder einmal in unserer schönen Stadt Honolulu begrüßen zu dürfen! Ich will sagen, dass… Ach Alter, gib mir fünf und dann zeig mal, was du alles drauf hast.“
„Na, das klingt doch schon eher nach Tetsu Genda“, erwiderte ich grinsend und tauschte mit dem großen, athletischen Chef der Kame-Squad einen Handschlag aus. „Schön, dich wieder zu sehen. Wie ich gemerkt habe, hast du mein kleines Paradies ordentlich beschützt.“
„Ach“, meinte Tetsu mit abwehrender Geste, „zwanzig Mechas mit Besatzungen, die von Blue Devil persönlich ausgebildet wurden in einer Region, in der man sich unmöglich anschleichen kann ist wie die Hekatoncheiren hier zu haben. Es gibt hier und da Übergriffe und ab und zu versuchen mal ein paar Piraten ihr Glück, wie zutreffend die offiziellen Berichte über unsere Stärke sind… Ansonsten ist es hier eher ruhig.“
„Akira, du Stromer! Ziehst du wieder das jüngste Gericht in deinem Sog hinter dir her?“
„Lorenzo. Der größte Grobmotoriker, der jemals zehn Abschüsse mit einem Sparrow erreicht hat.“
„Zwölf.“ Wir tauschten ebenfalls einen Handschlag aus. Der kleine, schlanke Italiener grinste mich an. „Sind die männlichen Begrüßungsrituale damit durch, oder wollen wir noch einen Hahn schlachten, uns mit dem Blut einreiben und ums Feuer tanzen, während wir sein rohes Fleisch fressen?“
„Ich wäre mehr für die Variante, den nächsten Burgerladen zu plündern, dann ums Feuer zu tanzen und nebenbei ein paar frittierte Hühnerstückchen zu futtern.“
„Elender Pragmatiker“, erwiderte Lorenzo Antani und ging zu Daisuke. „Wie hältst du es nur mit diesem Spinner aus? Komm doch nach Hawaii und bleib bei uns, Honda.“
„Hi, Kurzer. Ich halte es ganz gut mit ihm aus, aber frag mal Yuri. Der sagt immer, dass Akira ihn noch in den Wahnsinn treibt.“
„Ich habe nicht Wahnsinn gesagt. Fast in den Wahnsinn, denn diesen Sieg gönne ich diesem dürren Japaner nicht. Hi, Lorenzo. Nachher noch ein Schoppen Wein und ein paar hübsche Ladies?“
„Spricht nichts dagegen. Hm, wer sind denn diese beiden?“
„Darf ich dir vorstellen, Yoshi Futabe, unser, hm, geistiger Beistand und Captain Mamoru Hatake vom FJG, unser, hm, weltlicher Beistand.“
„Was denn, versucht Ihr jetzt etwa doch, in den Himmel zu kommen? Ich dachte, Ihr habt für eure Plätze im Fegefeuer schon was von Ikea bestellt und Philip hat es vermittelt. Wo steckt der Kerl überhaupt?“
„Er und Kei sind auf Senso Island geblieben. Er wegen diversen Brüchen und Kei weil er glaubt, bei den Frauen mehr Chancen zu haben, wenn wir weg sind.“
„Gute Taktik. Aber das klappt nicht, solange Makoto bei euch die Sparte kleiner und niedlicher Mann belegt.“
Yuri seufzte. „Ich glaube, er versucht die Masche: Intellektuell und große Augen.“
„Das könnte sogar klappen. Kommt, der Dicke und der Oberteufel haben was zu besprechen. Ich zeige euch die Crew. Habe ich schon erwähnt, dass wir einen tollen Ersatz für Sören gekriegt haben? Weiblich, ledig, jung, und von einem Haufen Helden wie euch leicht zu beeindrucken.“
„Habt ihr gehört? Helden hat er gesagt. Helden. Mensch, wir müssen dem Kerl danken, der eure Presse manipuliert – und dann einstellen!“
„Dai-chan…“
„Versteht denn niemand hier mehr einen ordentlichen Witz?“
Ich sah der Gruppe hinterher, mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Was für eine Bande.
„Ich habe gehört, dein Supercomputer hat einen neuen Anführer?“
„Nicht wirklich. Aber seit neuestem gehört die Fushida Hacking Crew zu meinen Leuten. Sie breiten sich gerade in einem deiner Hangars aus und werden deine Hawks und Sparrows überprüfen. Wenn du nichts dagegen hast, nehmen sie sich auch deinen Eagle vor.“
„Später, vielleicht. Ihr bleibt ja hoffentlich länger als einen Tag.“
„Das hängt von den Kronosiern und den Amis ab. Die machen eine Menge Scheiß in letzter Zeit. Dieser Angriff auf die Dämonenwelt, die Neuaufnahme der Invasionen in China und Südasien, und die Amis wollen den Waffenstillstand an der Demarkationslinie von Anchorage brechen… Ich weiß gar nicht, wem ich als erstem Verstand einprügeln will.“
„Allen?“
„Guter Vorschlag.“ Ich schmunzelte leicht. „Und, wie läuft es ansonsten?“
„Du hast es ja gehört. Wir haben neulich wieder einen Squadmember verloren. Ich bin es Leid, sie zu verlieren, auch wenn das Verhältnis immer noch zwanzig zu eins ist. Aber jedes Mal wenn einer stirbt oder verletzt ausscheidet, wird ein Stück aus der Familie gerissen, wird ein Stück aus mir gerissen. Ich mag das nicht. Und ich halte das nicht aus.“
„Und genau aus diesem Grund, Tetsu, bist du der beste Mann für diesen Job. Verdammt, Junge, einer muss es tun, und du bist es.“
„Ja, rede du nur. Ich weiß, du trägst auch viel Verantwortung, aber bei dir sieht das alles so… So leicht aus! Verrate mir dein Geheimnis.“
Ich schmunzelte. „Wenn es schwierig wird, denke ich an die Dinge die mir wichtig sind. Und an die Überraschungen, die guten Überraschungen, die mir die Welt beschert.“
„Es gibt gute Überraschungen?“, argwöhnte Tetsu.
„Es gibt sogar sehr gute Überraschungen, wie immer wenn ein Totgeglaubter wieder zurückkommt.“
„Was? Ist dein Opa Michael wieder aufgetaucht?“
Mein Schmunzeln verschwand. „Nein, leider nicht. Aber solange ich sein Grab nicht sehe, glaube ich nicht daran, dass er tot ist. Ich glaube es einfach nicht und basta.“
„Wer ist dann zurückgekehrt?“
„Hm, das erzähle ich dir ein andernmal. Jetzt lass es mich einfach nur genießen und den Motivationsschub auskosten.“
„Du hast gut reden. Du hast wenigstens Motivationsschübe.“
„Sakura ist in der Stadt, Tetsu.“
„Sa-sa-sakura? Was?“ Unwillkürlich lüftete der Japaner seinen Kragen.
„Ja, ich treffe mich nachher mit ihr. Willst du mit?“
„Ich… Ich… ich… Ich…“
„Das werte ich als ja“, schmunzelte ich.
***
Sakura Ino empfing uns wie versprochen auf den Stufen des Schachpalasts.
Flankiert wurde sie dabei von einigen Leuten, deren Lebensunterhalte sicherlich Mathematik und Physik waren: Wie viele Schutzgelder muss man im Monat erpressen, damit es am Jahresende zur ersten Million reicht, und wenn die Kugeln aus meiner Tommygun von der Wand reflektiert werden, haben sie dann noch genügend Aufschlagenergie, um tödlich zu sein… Gangster eben. Es irritierte mich sehr, dass sie Sakura so ausnehmend höflich begrüßten. Es irritierte mich aber weit mehr, dass Tetsu jeden persönlich und mit Handschlag begrüßte. Meine Welt wurde erst normal, als der große, starke Tetsu zu stottern begann, als er Sakura begrüßen wollte.
Roger Brown, der Manager, empfing uns im Großen Saal. Am frühen Nachmittag war hier natürlich noch nicht viel los, genauer gesagt hatte der Laden noch nicht einmal auf. Außer natürlich für diverse konspirative Treffen, Waffengeschäfte, Geheimdienstkontakte und selbstverständlich für die freien Philosophen und Anarchisten, die in den kleineren Sälen ihre Version einer neuen und freien Welt propagierten.
Ich fragte mich, wie der gute Roger überhaupt noch dazu kam, mit Hilfe des viel gelobten freien Glücksspiels auf Hawaii die Leute auszunehmen, wenn er derart viel zu tun hatte.
Der große, bärtige Mann gab gerne den Schwarzen aus dem Klischee. Vor dem Abzug der amerikanischen Truppen war er Captain in der Air Force gewesen, aber zur richtigen Zeit hatte er das richtige getan. Genauer gesagt war er abgestürzt, hatte sich ein Bein gebrochen und war hier im Krankenhaus geblieben. Die Air Force hatte ihn daraufhin zum Deserteur erklärt und ich hatte ihm geraten: Bleib doch einfach hier.
Seitdem hatte er seinen Spaß in seinem eigenen, persönlichen Reich. Und seiner achtköpfigen Familie ging es auch nicht schlecht, im Anwesen auf dem Land, im Stadthaus, auf der nach ihm benannten Privatschule, und, und, und… Das alles, vor allem dessen Sicherheit erforderte aber eine Menge Neutralität und Freundlichkeit zu allen Parteien.
Um diesem Druck stand zu halten hatte sich der gute Roger schon vor Jahren auf Cosplay verlegt, sprich klischeehafte Outfits. Zur Zeit hatte er sich einen gekräuselten Vollbart stehen lassen, den er täglich einwichste, damit er aussah wie mit Wagenschmiere gefettet. Dazu trug er eine Afroperücke, die nur knapp an übertrieben vorbei schlitterte. Die Sonnenbrille mit den kleinen roten Gläsern und das schrill orange Lederoutfit komplettierten einerseits seinen Sinn für Perfektion, andererseits den für Humor.
„Akira, du kleiner Halunke. Was machst du denn schon wieder hier? Findet etwa schon wieder eine Invasion statt?“
„Keine Sorge, Big Rog, der nächste der sich Hawaii einverleibt werde ich sein.“ Ich hob fragend die Augenbrauen. „Du kannst doch mit mir als Kaiser von Hawaii leben, oder?“
„Kommt drauf an. Wie hoch setzt du die Steuern?“
„Du bezahlst Steuern?“
Roger lachte laut und wie es erschien zufrieden. „Bist wie immer nicht auf die Klappe gefallen.“ Der große Schwarze reichte mir die Hand, und schloss die Linke darum als ich sie ergriff. In den braunen Augen las ich wie immer Respekt für mich und meine Arbeit.
Er hatte mir erst ein gutes Jahr später, als er sich hier etabliert hatte erzählt, dass er mich als Falcon-Pilot bei vielen meiner Schlachten begleitet hatte. Sein Callsign damals war Black Lightning gewesen, und das hatte viele Erinnerungen an einen sehr guten, aufmerksamen und vor allem waghalsigen Piloten geweckt, der immer im dicksten Gewühl zu finden gewesen war – wo ich meine liebe Mühe gehabt hatte, ihn wieder raus zu hauen.
Er hatte mir mehr als einmal angeboten, mir sein altes Callsign zu vererben, weil ihm Blue Devil einfach nicht für mich gefiel, aber ich hatte bisher immer abgelehnt. Ich war ein Teufel, ein Schlächter und ein Mörder.
Seine Erwiderung nagte in schwachen Stunden an meinem Geist und an meiner Seele: So sind Soldaten nun mal.
„Hallo, Tetsu. Dich wollte ich sowieso noch sprechen. Die RK-Waren kommen heute über die Nordroute rein. Kannst du zwei Kames für die Eskorte abstellen, sobald sie unser Gebiet erreichen? Sie sind sehr wichtig und sollen noch diese Woche nach Phillie.“
„RK? Schmuggelst du Waffen, Big Rog?“
„Was? Ja, auch. Aber das ist eher was Persönliches.“
„Um es genauer auszudrücken“, erklärte Tetsu, „es sind Hilfslieferungen vom Roten Kreuz, die über das neutrale Hawaii erst zu den Philippinen und dann in die chinesischen Kampfgebiete geschleust werden. Es gibt dort immer noch mehr als hunderttausend Chinesen, die den vierten Winter in Folge in Zeltstädten ausharren mussten und… Entschuldige, Sakura, so wollte ich das nicht sagen.“
Meine Cousine schien zu frösteln. Sie hatte die Arme eng um den Körper geschlungen. „Ist schon gut, Tetsu. Du hast ja Recht. Rog, Tetsu, bringt es wie immer nach Phillie rüber. Ich übernehme wie immer die Verteilung.“
„In Ordnung, Engelchen. Kommt jetzt, bitte. Ihr werdet erwartet.“
Roger führte uns in einen der hinteren Säle, von dort in einen Nebenraum.
Als ich eintrat, musste ich grinsen. „Sind Kutten nicht fürchterlich out heutzutage? Oder wird das hier psychedelisch? Auf deinen Weg du achten musst, junger Akuma?“
„Bitte keine faulen Witze, Colonel Otomo“, sagte die mittlere von drei Gestalten, die mit Kapuzenkutten vermummt an einem runden Pokertisch saßen. „Zumindest jetzt noch nicht. Bitte, setzen Sie sich.“
Ich nahm ohne zu zögern Platz und bestellte mir einen grünen Tee – Rog hatte ein paar wirklich nette Sorten. Neben mir setzten sich Sakura und Tetsu. Sakura mit einem sehr wissenden Blick. Sie tauschte ein Nicken mit der mittleren Gestalt aus.
„Also“, sagte ich ernst und faltete auf dem Tisch meine Hände ineinander. „Was kann die Geißel der Menschheit für Sie tun?“
„Viel, Aoi Akuma. Sehr, sehr viel. Irgendwann und irgendwo. Aber heute wollen wir etwas für Sie tun.“ Die mittlere Gestalt nahm die Kapuze ab. Braunes, kurz geschnittenes Haar wurde sichtbar. Das schmale, freundliche Gesicht gehörte einer Frau, die in ihrem Leben etliche Härten durchlitten hatte, aber nicht unattraktiv geworden war.
Der Mann links von ihr war Kronosier. Und wenn ich mich nicht täuschte der Bengel von heute morgen. Er musterte mich ernst und interessiert.
Rechts schlüpfte eine kleine, schwarzhaarige Asiatin aus der Kapuze. Sie war bestimmt Japanerin oder Koreanerin. Interessant.
„Also gut. Helfen Sie mir. Ich entscheide dann, was diese Hilfe wert ist und werde mich bei Gelegenheit revanchieren, meine Damen, mein Herr.“
Die mittlere Frau schenkte mir ein kurzes Lächeln. „Ich will mich zuerst vorstellen. Mein Name ist Ban Shee Ryon. Admiral Ban Shee Ryon. Dies hier sind Major Ai Yamagata vom Freien Japanischen Geheimdienst und Michi Torah, der Sohn vom stellvertretenden Legatsvorsitzenden Juichiro Tora.“
Ich runzelte die Stirn. „Interessante Kombination. Ich werde neugierig. Aber eines vorweg: Ich kenne alle wichtigen Offiziere der Kronosier ab Captain aufwärts. Warum kenne ich Sie nicht, Admiral? Geheimdienst?“
„Direkt zum Punkt. Bemerkenswert, Colonel. Die Antwort ist simpel. Falsche Armee.“
„Hm?“, machte ich interessiert. „Sie gehören zu einer Armee auf der Erde?“
„Nein.“
Ich sprang auf, stemmte meine Hände auf den Tisch. „Sie haben meine volle Aufmerksamkeit, Ma´am.“
„Miss. Ich bin nicht verheiratet. Wollen Sie die kurze oder die lange Version, Aoi Akuma?“
„Erst die kurze, dann die lange.“
„Michi Tora wird Ihnen später die lange Version darlegen. Ich werde ihn in Ihre Obhut geben, wenn das in Ordnung geht.“
„Als Geisel?“ „Als Piloten im Training gegen die Kronosier.“
Tora lächelte dünn. Nein, es war eher grausam. Was konnte Toras Sohn dazu treiben gegen die Kronosier anzutreten? Nein, da war mehr, soviel mehr. Dieser Junge wollte nicht gegen die Kronosier antreten. Er wollte gegen seinen Vater antreten. „Interessant.“
Admiral Ryon legte eine dünne Platte auf den Tisch, sofort entstand ein Hologramm, welches das Sonnensystem zeigte. Allein das reichte um mich zu beeindrucken. So ein winziger Projektor bei so guter Qualität, das war Spitzenklasse.
„Wie Sie sehen ist dies das Sol-System. Und jetzt raten Sie mal, wo ich herkomme.“
Tetsu griff in das Holo und deutete auf den Mars.
„Nicht ganz falsch, Captain Genda.“
„Zeigen Sie es mir. Verkleinern Sie die Karte, bis Ihre Heimat zu sehen ist.“
„Sehr scharfsinnig, Colonel“, sagte sie schmunzelnd.
Die Karte zoomte raus, wurde winzig klein, bis nur noch die Sonne als dünner Lichtpunkt zu sehen war. Dann erschien ein weiterer Lichtpunkt, Alpha Centauri, doch der Zoom ging weiter, bis zu den Hyaden und darüber hinaus. Schließlich erfüllte ein niedlicher Ball voller Sterne das Hologramm.
Amüsiert runzelte ich die Stirn. „Eine politische Karte, oder?“
„Treffend erkannt, Colonel. Ich komme von diesem Stern, Kanto. Meine Hauptwelt heißt Lorania. Von ihr bin ich abgeflogen, mit einer kleinen Flotte Schiffe und etwas unter zwanzigtausend Zivilisten.“
„Aha. War Ihre Welt von der Vernichtung bedroht, Admiral?“
„Bedroht ja, aber nicht wie Sie denken.“
„Dann hat es mit der grünen Farbe zu tun, die das Kanto-System umgibt. Wie ich das sehe, umfasst das grün fünfzig oder mehr Sterne. Das ist?“
„Das ist das Imperium der Naguad, das Imperium, in dessen Armee ich Admiral bin“, sagte Ryon ernst. „Und die Militärmacht, vor der ich mit zwanzigtausend Zivilisten geflohen bin.“
Ich bemerkte, dass ich noch immer stand. Aber ich hatte nicht das Bedürfnis mich zu setzen. Es wurde gerade verdammt spannend. „Geflohen? Heißt das, Sie sind die Kronosier und etablieren hier das, vor dem Sie geflohen sind?“
„Kronosier und wir haben nicht viel miteinander zu tun, keine Angst. Wir hatten nie vor, die Erde zu unterwerfen“, beschwichtigte mich Admiral Ryon.
Ich schnaubte abfällig. Das war sicher nur die halbe Wahrheit gewesen.
„Aber wir haben die Kronosier erschaffen, unabsichtlich.“
Für einen Moment dachte ich, mir würden die Beine unter dem Körper nachgeben. Aber ich fing mich, indem ich mich schwer auf dem Tisch abstützte. „So etwas habe ich mir schon gedacht.“
„Das war die kurze Version, Colonel Otomo“, sagte Ryon, und es klang den Umständen entsprechend amüsiert.
„Ich freue mich auf die lange“, sagte ich mit rauer Stimme.
„Kommen wir zu den wichtigen Dingen unseres Zusammentreffens“, sagte die Frau und wollte den Projektor umschalten.
„Zwei Dinge noch, Admiral“, bat ich. „Diese orange schraffierte Zone am Rand der Kugel, wem gehört die?“
„Colonel, bitte, wir…“
„Admiral. ICH bitte SIE.“
„Also gut. Sie gehört dem Kaiserreich der Iovar, einem föderalistischen Staatsgebiet, mit dem die Naguad seit zweitausend Jahren in einem Waffenstillstand leben.“
„Und die rote Fläche? Zu wem gehört die?“
Ryon zögerte. Aber Sakura nickte nachdrücklich.
„Sie gehört der Core-Zivilisation.“
„Was, bitte ist eine Core-Zivilisation?“
„Ein Core ist eine künstliche Intelligenz, die sich selbst ganze Städte und Flotten erbauen kann, wenn man ihr genügend Zeit gibt. Es war ein Core, der den Mars kultiviert hat, allerdings in unserem Auftrag und unabhängig von der Core-Zivilisation.“ Sie zögerte, bevor sie weiter sprach. „Die Core-Zivilisation ist der Feind der Naguad und der Iovar.“
Langsam setzte ich mich. Ich würde noch eine Menge Fragen an den jungen Mann haben. Eine Riesenmenge.
„Colonel Otomo, wir sind bereit, Ihnen Michi Tora und seinen Daishi zu überlassen. Wir verlangen dafür keine Gegenleistung. Sie brauchen nicht einmal für seine Sicherheit zu garantieren, darum kümmert er sich selbst. Aber wir bitten Sie darum, ihm eine Fairy zu stellen. Sie werden sehr bald sehen, dass er für die Akuma-Gumi zu einem wertvollen Krieger wird.“
„Diese Entscheidung obliegt zwei Personen. Mir als Befehlshaber und der Frau, die seine Fairy sein soll“, schränkte ich ein.
„Um mehr bitte ich nicht, Colonel Otomo.“ Der Blick des Jungen war hart, beinahe grausam. Zugleich sah ich aber auch Traurigkeit darin schimmern, abgrundtiefe Traurigkeit.
„Und das ist sein Mecha, Colonel“, führte Ryon weiter aus und stellte das Hologramm um.
Ich keuchte erschrocken auf. Ein Daishi, aber was für einer!
„Was Sie hier sehen ist ein Daishi Echnatron. Bemannt mit einem guten Piloten und einer Fairy ist er mit keinem Mittel zu besiegen, das uns derzeit bekannt ist.“
„Ein Riesending“, stellte ich fest. „Ich nehme ein Dutzend.“
Dies war der Moment, in der die Alarmsirenen die Bevölkerung Honolulus in die Bunker riefen. Elektrisiert sprang ich auf. „Wir sehen uns wieder, Admiral Ryon.“
„Das werden wir, Akira Otomo. Und ich freue mich schon drauf!“