Eine Handlungszusammenfassung und Rezension von Marc Schneider

Handlungszusammenfassung (ohne Spoiler)

Der Schachtürke – Gardez in Bombay setzt die Abenteuer um die geheimnisvolle Schachmaschine fort, die ohne Dampfkraft funktioniert und damit eine technologische Sensation des ausgehenden 19. Jahrhunderts darstellt. Hinter dem Schaustück verbirgt sich ein Agentennetzwerk des jungen deutschen Auslandsgeheimdienstes, angeführt von der resoluten Helene Muller, ihrem begabten Mündel Lexter O’Riordan und dem Geheimrat Armin Schortewitz.

Nach den Ereignissen in St. Petersburg kehren Helene und Lexter nach Berlin zurück – verfolgt von der weltweiten Aufmerksamkeit, die ein heimlich aufgenommenes Foto des geöffneten Schachtürken ausgelöst hat. Das Bild weckt Begehrlichkeiten bei internationalen Investoren und skrupellosen Geschäftemachern, die die revolutionäre Technologie in ihren Besitz bringen wollen. Besonders englische Finanziers setzen eine Söldnertruppe auf den Schachtürken an.

Der Konflikt eskaliert rasch: In Berlin kommt es zu einem brutalen Überfall auf Helene und Lexter, den sie nur mit Mühe, Entschlossenheit und unerwarteter Hilfe überleben. Dabei wird deutlich, wie gefährlich das Wissen um den Schachtürken geworden ist – und dass die Jagd nach ihm gerade erst begonnen hat. Zugleich treten mit Helenes schamanisch begabter Großmutter neue, geheimnisvolle Elemente in die Handlung, die eine größere Bedrohung andeuten.

Besprechung (kann Spoiler enthalten)

Mit der Schachtürke – Gardez in Bombay legt Alexander Kaiser den zweiten Band seiner Steampunk-Reihe vor und baut das bereits etablierte Universum konsequent aus. Der Roman verbindet alternative Technikgeschichte, Road Story, Agentenabenteuer und einen Schuss Mystik zu einer dichten, mitunter aber auch langatmigen Erzählung, die deutlich ambitionierter ist als ein reines Genre-Abenteuer.

Die größte Stärke des Romans liegt zweifellos in seiner Weltgestaltung. Der Autor entwirft eine Gesellschaft, in der Dampfkraft allgegenwärtig ist und bis in die intimsten Bereiche des Alltags reicht. Dies reicht von Luftschiffen über die Infrastruktur bis hin zu dampfgetriebenen Prothesen. Gerade vor diesem Hintergrund entfaltet der Schachtürke seine narrative Sprengkraft: Eine Maschine, die ohne Dampf funktioniert, wirkt nicht nur technisch revolutionär, sondern bedroht das ideologische Fundament dieser Welt. Diese Idee ist klug gewählt und wird im Text mehrfach reflektiert, ohne je völlig auserzählt zu werden.

Auch die Figurenkonstellation überzeugt weitgehend. Helene Muller ist eine ungewöhnliche, selbstbewusste Protagonistin, die sich glaubhaft zwischen Schaustellerei, Geheimdiensttätigkeit und persönlicher Verantwortung bewegt.

Ihr Mündel Lexter O’Riordan ist mehr als nur ein Sidekick oder ein Wunderkind. Seine technische Begabung, die dampfbetriebene Prothese und seine kindliche Direktheit machen ihn zu einer emotionalen wie thematischen Schlüsselfigur. Besonders gelungen ist, dass der Autor ihn nicht verniedlicht, sondern ihm echte Handlungsmacht zugesteht.

Armin Schortewitz fungiert dabei als politisches Gegengewicht und verankert die Abenteuerhandlung in größeren machtstrategischen Zusammenhängen.

Stilistisch ist der Roman detailreich und dialoglastig, was gut zum erzählerischen Ansatz passt, stellenweise aber auch zu Längen führt. Vor allem technische Exkurse und erklärende Gespräche nehmen mitunter viel Raum ein. Diese Passagen sind zwar inhaltlich interessant und für das Verständnis der Welt wichtig, bremsen jedoch gelegentlich den Erzählfluss. Leser, die sich vor allem für Handlung und Tempo interessieren, müssen hier Geduld mitbringen, wohingegen Leser, die sich für einen durchdachten Weltenbau faszinieren, voll auf ihre Kosten kommen.

Die Actionsequenzen, insbesondere der Überfall in Berlin, sind dagegen überraschend hart und kompromisslos geschildert. Alexander Kaiser scheut sich nicht vor drastischer Gewalt, was die Bedrohungslage ernsthaft und greifbar macht. Diese Szenen stehen in starkem Kontrast zur oft salonfähigen, fast gemütlichen Steampunk-Atmosphäre. Ein Bruch, der wirkt, aber nicht jedem gefallen dürfte. Positiv ist jedoch, dass die Gewalt nicht selbstzweckhaft bleibt, sondern die Eskalation der weltweiten Jagd auf den Schachtürken glaubhaft unterstreicht.

Ein interessanter, wenn auch nicht vollständig eingelöster Aspekt ist die Einführung der spirituellen Ebene durch Helenes schamanische Großmutter. Die Visionen, Symbole und Vorahnungen, insbesondere die Figur des „Läufers“, eröffnen neue erzählerische Möglichkeiten, bleiben in diesem Band jedoch vage. Hier zeigt sich deutlich der Seriencharakter des Romans: Gardez in Bombay ist weniger abgeschlossenes Einzelwerk als vielmehr ein Bindeglied, das auf kommende Entwicklungen vorbereitet und hoffentlich dort dann eingelöst werden.

Kritisch anzumerken ist, dass der Roman stark auf Vorkenntnisse aus dem ersten Band setzt. Neue Leserinnen und Leser finden zwar Orientierung, doch viele emotionale und politische Feinheiten entfalten ihre volle Wirkung erst mit Kenntnis der Vorgeschichte. Positiv anzumerken, ist jedoch ein Glossar am Ende des Romans, der eine kleine Zusammenfassung zu den wichtigsten Figuren bereithält.

Der Text neigt stellenweise zu einem erklärenden Ton, der weniger zeigt als erzählt und im Kontrast zu der ansonsten lebendigen Figurenzeichnung steht.

Insgesamt ist Der Schachtürke – Gardez in Bombay ein ambitionierter, ideenreicher Steampunk-Roman, der weniger auf reine Effekthascherei setzt als auf den Ausbau seines Universums. Alexander Kaiser gelingt es, Technik, Politik und persönliche Schicksale miteinander zu verweben und die Serie thematisch zu vertiefen.

Wer Freude an alternativer Geschichte, sorgfältigem Weltenbau und Figuren mit Ecken und Kanten hat, wird hier gut unterhalten, sollte aber bereit sein, sich auf ein erzählerisches Tempo einzulassen, das gelegentlich mehr erklärt als vorantreibt.