Prolog:
Ich war auf dem OLYMP. Meine Schwester Yohko lebte noch. Megumi und meine Akumas waren bei mir. Ich hatte den Oberbefehl über die legendären Hekatoncheiren bekommen.
Und das Beste war: Ich durfte mich nicht nur mit den Kronosianern weiter anlegen, sondern auch mit dem Rest der Welt, denn als Eikichi die United Earth gegründet hatte, da war es das gleiche gewesen, wie vor einer Horde Halbstarker mit einem dicken Portemonnaie zu wedeln.
Nun, das war der kleinere Teil meiner Probleme. Der weitaus größere Teil begann gerade erst.
Und nach all dem was ich von Ban Shee Ryon über ihr Volk, die Anelph, erfahren hatte, ahnte ich, dass der weitaus größere Teil der Probleme irgendwo bei fünfundneunzig Prozent lag. Nun, ich hatte schon immer ein Problem mit langweiligen Zeiten gehabt. Und ich war noch nie ein sonderlich netter Kerl gewesen. Zumindest nicht zu meinen Gegnern… Den meisten… Außer den ganz üblen Burschen…
Ich hasste es wirklich, mich selbst immer wieder in die Defensive zu drängen.
**
„Die Situation ist verfahren“, gestand General Bowman ein. „Hier im Land habe ich Daynes von der Presse isoliert. Ich eiche die Bevölkerung der U.S.A. auf unser hehres Ziel ein. Aber weltweit verliere ich die Kontrolle. Staaten, die ich sicher in der Tasche glaubte, überschlagen sich nun mit freier Berichterstattung, und unsere weltweiten Stützpunkte werden mehr und mehr zu einem Mosaik aus loyalen, neutralen und mit Daynes verbündeten Orten. Ich müsste ihn eigentlich vernichten, ausradieren, aber die Gründung der United Earth verhindert das. Eikichi Otomo ist zu mächtig um ihn zu ignorieren. Ich kann nicht einmal einen abgesetzten, machtlosen Präsidenten vernichten, wenn ich es will, solange er und Daynes gemeinsame Sache machen.“
Der Mann, der vor ihm auf dem Bildschirm überlebensgroß abgebildet war, lächelte sardonisch. „Mein guter Gary, ich sehe Ihr Problem. Mehr noch, ich sehe die Lösung dazu. Ich habe nicht vergessen, was ich Ihnen versprochen habe und ich bin immer noch bereit, alles für diese Ziele zu tun.
Im Gegensatz zu den meisten blauäugigen Politikern in Ihrem Land haben weder Sie noch ich die Gefahr vergessen, die uns von den Kommunisten droht. Gerade jetzt wo wir sie besiegt glauben, wo China fast in die Knie gezwungen ist und Russland zerschlagen scheint, müssen wir weiter wachsam sein. Die Kommunisten warten, lauern und gedulden sich. Aber sie schlagen wieder zu, hart und erbarmungslos. Bevor das geschieht muss sie jemand ein für allemal ausrotten. Das werden wir beide sein, Gary. Wir werden sie in die Zange nehmen und vernichten. Und dann radieren wir jedes verdammte Land aus, in dem die Kommunisten Fuß gefasst haben. Danach teilen wir die Welt neu auf.
Und Amerika und Groß-Kronosia werden die wichtigsten Staaten, in denen der Wohlstand regiert und der Fortschritt wohnt.“
Der große, weißhaarige Mann mit der tiefschwarzen Iris lächelte zu Bowman herab. „Ich werde nicht zulassen, dass ein simpler Jagdpilot, der durch eine Laune Präsident wurde und sich immer noch für mächtig hält, unsere Pläne durchkreuzt. Sie wollen ihn tot sehen? Sie wollen seinen Einfluss vernichtet sehen? Sie wollen, dass die amerikanischen Streitkräfte nicht länger gespalten sind? Ich werde Ihnen helfen – auf eine Weise, auf der nur ich Ihnen helfen kann, Gary.“
Er machte einen halben Schritt zur Seite und machte einem anderen Kronosier Platz, einem Mann mit kurz geraspeltem, weißblondem Haar. Dieser Mann hing nicht der Mode der Kronosier nach, sich das Haar so lang wie möglich wachsen zu lassen. Und in den Augen sah Bowman den Grund. Dieser Mann tat nichts ohne Grund oder aus einer Laune heraus.
„Ich schicke Ihnen den Vierten Legaten Gordon Scott. Er wird Daynes beseitigen. Unauffällig, aber effektiv. Wenn es ihn nicht mehr gibt, vernichten wir die Exilregierung und schwächen auch die United Earth. Eikichi Otomo wird es noch bedauern, sich offen gegen uns gestellt zu haben.“
Der Mann mit den kurzen Haaren verbeugte sich leicht. „General Bowman. Ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit. Tatsächlich haben wir schon einmal gegeneinander gekämpft. Über New York.“
„Sie haben überlebt, Legat Scott. Das beweist nur, dass Sie gut sind.
Erster Legat Odin Corys, ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.“
„Ich lasse Ihnen beizeiten eine Rechnung zukommen“, erwiderte der Mann mit den eiskalten Augen und deaktivierte die Verbindung.
Gary Bowman sah eine Zeitlang auf den erloschenen Bildschirm. Scott… Legat Scott. Das bedeutete Youmas. Bowman schloss die Augen. Hoffentlich war dieser Wahnsinn bald zu Ende.
1.
„Komm schon, Akira, du bist kein übler Kerl! Das kannst du einfach nicht tun!“
„Akira! Alle sagen, dass du fair und aufrichtig bist! Tue uns das nicht an.“
„Musst du nicht mit gutem Beispiel voran gehen? Jetzt, als Anführer der Hekatoncheiren?“
„Okay, es reicht. Es heißt Otomo, und zwar General Otomo!“ Ich grinste in die Runde. „Herrschaften, ihr habt mich sauer gemacht. Und deshalb kenne ich jetzt keine Gnade mehr.“
Langsam streckte ich die Rechte von mir. Dann ließ ich effektvoll los.
Fünf französische Spielkarten fielen einzeln auf den Pokertisch und enthüllten Kreuz acht, Kreuz zehn, Kreuz Dame, Kreuz neun und Kreuz Junge. „Straight Flush.“
Meine Mitspieler, Kenji Hazegawa, Thomas Kruger und Daisuke Honda stöhnten unterdrückt auf.
„Ich nehme an, es hat keiner mehr auf der Hand.“
Mit einem selbstgefälligen Grinsen raffte ich die Spielchips in der Mitte an mich. Sie hatten momentan einen Gegenwert von zwanzigtausend Yen. „Kommt zum lieben Onkel, ihr hübschen Dinger.“
„Das glaube ich nicht! Der Kerl nimmt uns hier aus wie Weihnachtsgänse!“ Wütend warf Daisuke seine beiden Pärchen auf den Tisch. „Verflucht!“
„Was denn, was denn, nur weil ich heute mal ne Strähne habe, wirfst du gleich das Handtuch? Vorgestern hast du uns ausgenommen, schon vergessen?“
„Vorgestern? Unser letztes Spiel war vor fünf Tagen, Akira. Seitdem haben wir Doppelschichten geschoben, schon vergessen?“
Ich sah überrascht auf. Ich war wirklich durcheinander gekommen.
Aber war das nicht verständlich bei dem Arbeitsaufwand, der plötzlich über uns hereingebrochen war?
Ich meine, es war ja klar, das mit Vaters Erklärung nicht alles Eitel Sonnenschein werden würde. Wir hatten acht Hekatoncheiren verloren, die zurück in den Dienst der Kronosier gegangen waren – und wir hatten sie ziehen lassen. Die meisten waren gegangen, weil sie Familie hatten. Familie, die sie nicht im Stich lassen konnten.
Der Rest, weil er die Chancen, positiv auf die Kronosier einwirken zu können noch nicht aufgegeben hatte.
Das Pantheon hatte auch schwer gelitten. Von den Einheiten, die ehemals im Pantheon zusammen gefasst gewesen waren, existierten einige nur noch als Rumpf. Der Rest war zu den Kronosiern zurückgekehrt oder hatte die Pantheon-Angehörigen patriiert. In den günstigsten Fällen. In den anderen hatten wir eingegriffen.
Damit war die Schlagkraft des Pantheons um ein Drittel verringert worden.
Wir hatten damit einen Großteil der zum Pantheon stehenden Einheiten entweder nach Hawaii oder nach China und Sibirien geleitet, die Rückzugsgebiete der Truppen, die zu Sakura hielten. Okay, damit hatten wir unsere Truppen konzentriert und ihre Schlagkraft gesteigert, das war es wert, die Schlachtfelder in Alaska und Asien aufzugeben, die ohnehin nur für die Kronosier von Interesse waren.
Doch ewig würden sich Sakuras Truppen dort nicht halten können. Vor allem nicht, wenn sie wie in einem Sandwich zwischen Chinesen und Kronosiern eingeschlossen waren. Nicht ohne eine eigene, feste Basis, in der sie Rückhalt genossen. Versorgung hatten. Verstärkungen bekamen.
„Ich habe es wirklich vergessen“, gab ich verblüfft zu. Ich sah auf und es erschien mir, als würde ich diese Männer zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einmal ansehen.
Alle drei waren übernächtigt, jeder hatte auf seine Weise und seine Art sein bestes gegeben.
Thomas und Daisuke an Bord ihrer Mechas und Kenji beim ewigen Kampf gegen feindliche Hacker. Ironischerweise beider Seiten.
Und das war noch nicht alles. Ich machte mir klar, dass wir ohne die große militärische Macht, ohne die Kontrolle über beide Plattformsysteme, und ohne die Kontrolle über die drei Mondkolonien Aldrin, Armstrong und Collins und deren Ressourcen auf verlorenem Posten gestanden hätten. Und das konnte sehr schnell wieder passieren, sobald wir die Kontrolle einer dieser Aktivposten unserer Bilanz verloren.
Deshalb befand sich Megumi seit zwei Tagen mit acht Hekatoncheiren und zwanzig weiteren Daishis des Pantheons auf dem Mond, um die Frachterrouten und die Städte zu beschützen.
Daisuke funkelte mich böse an. Die dunklen Augen, die er der Gift verdankte, wirkten dabei richtig mörderisch. Obwohl, ich hatte mir sagen lassen, dass manche Frauen den exotischen Touch dieser Augen mochten.
„Gibst du nun endlich oder hast du genug ergaunert?“, brummte Daisuke ernst.
Ich sammelte die Karten ein und teilte sie neu aus.
„Wisst ihr was die Amis sagen?“, fragte Kenji, während er seine Karten ordnete. „Die reißen ganz schön vom Leder und lassen an der UE kein gutes Haar.“
„Ach, wieder mal? Sind wir das nicht gewohnt?“ Demonstrativ gähnte ich.
„Ja, aber diesmal ist es anders. Sie benutzen dich, um Jordan zu schaden, Akira.“
Interessiert sah ich den riesigen Mann an. „Erzähl.“
„Nun, sie veröffentlichen seit einigen Tagen die Schlächterrechnung des zweiten Big Drop. Dir lasten sie die Toten an – sehr stilvoll mit Besuchen der Hinterbliebenen, vielen Tränen und weiteren herzzerreißenden Szenen.
Und Jordan lasten sie den Befehl an, der so vielen tapferen Piloten das Leben gekostet hat.
Bowman, der alte Sack, spielt wirklich überzeugend. Er hat die Rolle des zerknirschten Offiziers, der seine Untergebenen nicht rechtzeitig schützen konnte und sich deswegen Vorwürfe macht, sehr gut drauf. Und die Leute glauben ihm.“
„Aber?“
Kenji sah über den Rand seiner Karten zu mir herüber. „Was, aber?“
„Es klang so, als würde da noch ein aber folgen, Kumpel.“
„Nenne mich nicht Kumpel. Ich bin immer noch sauer auf dich, weil du mich von Senso Island schmeißen wolltest.“
„Ach komm, Kenji. Du hättest deine eigene Schwester auch nicht an die Kronosier zurückgegeben.“
„Ich wusste aber nicht, dass sie deine Schwester war! Geschweige denn das die Kronosier ihr ihren freien Willen gelassen haben! Weißt du, wir haben zwei unserer Leute dadurch verloren, dass die Kronosier sie sich geschnappt und umgedreht haben.“
„Ich erinnere mich. Hitomi Seto und Azumi Okamoto. Was ist aus ihnen geworden?“
„Keine Ahnung. Sie sind wohl noch bei den Kronosiern. Wenn diese Bestien sie am Leben gelassen haben.“
„Wenn sie noch leben, kriegen wir sie irgendwann wieder“, brummte ich. Es musste überzeugend geklungen haben, denn Kenji räusperte sich vernehmlich.
„Gut, gut. Die Sache ist vergessen, Akira. Es gibt wirklich ein Aber.
Aber wir cracken das Internet bei den Amis, umgehen ihre Internet-Guards und laden illegale Sites hoch, in denen wir unsere Version der Geschichte schildern.“
„Unsere Version der Geschichte?“ Fragend hob ich die Augenbrauen.
„Nun, es würde doch etwas unglaubwürdig kommen, wenn wir erzählen, das Akira Otomo und drei seiner Akumas zusammen mit zwanzig Kame-Mitgliedern eine Operation von der Größenordnung des zweiten Big Drop aufgehalten haben. Wir haben den Part von Admiral Richards und seinen Mechas ein wenig aufgebauscht, ein paar eigene Helden der Amis erschaffen und vor allem Jordans Rolle betont, in der er den Big Drop abbricht – und Richards´ Mechas helfen, den Befehl durchzusetzen.
Leider zerstören wir damit so manche Heldengeschichte, welche das Pentagon so mühevoll aufgebaut hat.“
„Wie ungünstig“, erwiderte ich grinsend.
„Sehr ungünstig.“ Kenji Hazegawas Grinsen reichte von einem Ohr bis zum anderen.
„General Otomo, Sie sind unsere letzte Hoffnung!“
Erschrocken fuhr ich zusammen. „Was?“
Akari streckte die Zungenspitze zum linken Mundwinkel heraus und lächelte mit zusammen gekniffenen Augen. „Das wollte ich schon immer mal sagen. Akira-onii-chan, darf ich mitspielen?“
„Wo kommst du bitte so plötzlich her? Und warum willst du mitspielen?“
„Mir war langweilig. Micchan holt seinen Echnatron von Hawaii ab, die Fairies üben ohne mich ihre Aurakontrolle, Megumi-onee-chan ist auf dem Mond, Yoshi und Yohko sind… Beschäftigt mit der Wartung von Yoshis Eagle. Und Mako-onii-chan ist schon seit Stunden mit Joan Reilley dabei, ihr neues Video zu schneiden. Stimmt es eigentlich, dass sie nur noch Konzerte in Ländern geben will, die sich der UE anschließen?“
„Dazu müsste sie erstmal Konzerte geben“, konterte ich.
Daisuke rieb sich nachdenklich am Kinn. „Hey, das könnte funktionieren. Das wäre ein super Druckmittel.“
Thomas klopfte begeistert auf den Tisch. „Ein Musikvideo-Embargo. Mensch, das gab es noch nie. Nennen wir es die Akari-Strategie.“
Die anderen beiden nickten begeistert.
„Was? Aber das geht doch nicht. Ich bin doch gar kein Politiker“, hauchte sie errötend.
„So, so… Du langweilst dich also und… Moment, sagtest du, Yohko und Yoshi warten seinen Eagle? SEINEN Eagle? Himmel, wann ist das denn passiert?“
„Heute Vormittag, als du vor West-Australien diese Rettungsmission für die abgestürzte Fregatte durchgeführt hast. Papa hat ihn Yoshi persönlich übergeben. Die K.I. heißt Archer und… Onii-chan?“
„Übernimm mal meinen Posten, Akari. Aber verspiele nicht zuviel von meinem Gewinn, ja? Sorry, Jungs, ich bin in ner halben Stunde wieder da.“
„Ach, lass dir Zeit. Bei der Vertretung bin ich für jede Minute extra dankbar“, erwiderte Kenji grinsend.
„Dann ist ja gut.“ Ich winkte in die Runde und eilte auf den Gang. Dort verharrte ich kurz, um meinen Kragen zu richten.
„Also, meine Herren, klassischer Poker, erste Karte ist aufgedeckt. Das Limit fürs mitgehen sind dreihundert, sechshundert zum sehen. Hundert in den Pott, wer drin bleiben will.“
Himmel, manchmal war Akari wirklich ein Oni. Der niedlichste auf der Welt, aber definitiv ein Oni.
Ich machte mich auf den Weg durch die abendliche OLYMP-Station.
Fünfzigtausend Menschen und Kronosier taten hier Dienst. Kurzfristig waren es nur sechsundvierzigtausend gewesen, weil auch hier viele Diensttuende repatriiert worden waren. Aber die Zahl war wieder angestiegen und drohte mittlerweile die Kapazität der Station zu sprengen. Hätten wir jeden an Bord gelassen, der sich uns anschließen wollte, wären es hunderttausend geworden. Außerdem hätten wir vierundfünfzigtausend potentielle Attentäter auf den OLYMP geholt, und das hätte mir gar nicht gefallen.
Nachdenklich bestieg ich einen der Elektrowagen, mit deren Hilfe man die manchmal recht weiten Strecken im OLYMP bewältigen konnte. Bei beinahe drei Kilometer Weg – Luftlinie gerechnet, ohne Umwege – um zum Hangar zu kommen, der den Hekatoncheiren zugeordnet war, keine dumme Idee.
Im Moment standen hier fünfzig Mechas, die meisten Daishis und Hawks. Sie gehörten uns, den Hekatoncheiren, die bei uns geblieben waren und den ersten Freiwilligen, die sich den harten Anforderungen stellten, zu den Hekatoncheiren gehören zu dürfen.
Ich hatte bereits ein halbes Dutzend in drei Einsätzen getestet und für gut befunden.
Die Strukturen der alten Hekatoncheiren hatten wir beibehalten, ein eigenes Bataillon aufgebaut und ihm sowohl den Namen als auch den Kommandeur belassen: Briareos.
Allerdings hatten Lilian und Takashi-sempai ihre Codenamen abgeben müssen.
Im Moment arbeiteten wir daran, aus dem Nichts weitere zwei Bataillone aufzubauen. Doch einhundertzwanzig Mechas würden erst der Anfang sein.
Falls wir nicht fürchterlich zusammengeschossen wurden wann immer wir in den Einsatz gingen, sahen Eikichis Pläne vor die Hekatoncheiren mindestens auf Regimentsstärke aufzubauen.
Damit sollten sie die Keimzelle der United Earth Mecha Force stellen.
Ein hehres Ziel. Ich wusste selbst nur zu gut, wie schnell ein hehres Ziel verdorben wurde, wenn die falschen Leute zur falschen Zeit das falsche sagten. Aber ich schwor mir, dass ich es verhindern würde. Dass ich es richtig machen würde. Richtig. Richtig. Richtig. Oder wenigstens ordentlich hinter mir aufräumte, wenn ich Mist gebaut hatte.
Weit vor dem Hangar stieg ich ab und ließ den Wagen an einem der Sammelpunkte stehen. Die K.I. des OLYMP, Hera, verwaltete die Wagen an diesen Sammelpunkten und sorgte dafür, dass sie auch dort waren wo sie gebraucht wurden. Danach machte ich mich seltsam erleichtert auf den Weg.
General Otomo, Sie sind unsere letzte Hoffnung… Das hatte gut geklungen. Akari hatte es aus einem sehr populären Film geklaut, den ich selbst sehr mochte. Aber diese Worte hatten Magie, und für einen kurzen Moment fühlte ich mich gut, wie der Held einer Legende. Der siegreiche Held, wohlgemerkt.
„Bist du Akira Otomo?“
Erschrocken blieb ich stehen und sah auf. Vor mir stand ein junger Bursche, keine zwanzig. Er trug eine schlampige Uniform der United Earth, hatte die Hände tief in seine Hosentaschen versenkt und starrte zu mir hoch. Sein Haar war halb weiß und halb schwarz. Seine Augen waren braun und für einen Moment dachte ich, einen der Kronosier vor mir zu haben, die hier an Bord ihren Dienst für die Menschheit und die Freiheit des Mars versahen.
„Wer will das wissen?“, konterte ich. Leutnantsabzeichen. Interessant. Was war der Kleine für ein Arschloch?
„Hm. Gegenfragen stellen ist nicht erlaubt. Du bist Akira Otomo, oder? Der Akira Otomo. Der strahlende Held. Die Lichtgestalt. Der besondere Mensch. Das absolute Wesen, auf das so viele ihre Hoffnungen setzen.“ Er rümpfte die Nase. „Akira Otomo stinkt.“
„Akira Otomo wird dir gleich seine Faust zwischen die Augen rammen!“
Der junge Mann starrte mich an als wäre ich ein Geist. Dann fing er an zu lachen. „Ja, sicher.“
Das irritierte mich. Und es regte mich auf. Vor allem regte es mich auf.
„Akira Otomo. Ich dachte du wärst größer. So um die drei Meter. So wie die anderen Dämonen von dir sprechen dürftest du eigentlich nicht kleiner sein. Und vor allem nicht so hässlich. Angeblich bist du einer der schönsten Menschen der Welt. Wenn das stimmt, dann muss alleine das Gesicht des durchschnittlichen Menschen eine gefährliche Waffe sein.“
„Du bist Dämon?“, fragte ich gerade heraus, während in mir die Wut pochte. Was fiel dem kleinen Wiesel eigentlich ein, so mit mir zu reden?
„Ja, das bin ich. Vor allem aber bin ich ein unzufriedener Dämon. Ich denke, du bist zu beliebt bei uns. Hast hier und da ein paar Erfolge aufzuweisen. Einen guten Draht zu Dai-Kuzo-sama. Und vielleicht zu dem einen oder anderen König. Aber das bedeutet nichts. Du bleibst trotzdem ein stinkender, unfähiger Mensch.
Ich kann nicht glauben, dass auch nur ein Dämon seine Hoffnungen auf dich setzen kann. Aus Dreck wurdet ihr erschaffen und zu Dreck werdet ihr wieder.
Du bist da keine Ausnahme. Nein, lass mich das korrigieren. Du bist weniger wert als Dreck.
Du bist es nicht einmal wert, dass ein Dämon dich beachtet. Hm, ich glaube, ich tue der Welt einen Gefallen und lösche dich aus.“
Nach seinem Monolog grinste der Bursche mit den schwarzweißen Haaren zu mir hoch. „Sei froh. Ich töte dich persönlich. Das ist eine große Ehre.“
Seine Hände verschwanden in einem irrlichtenden Glühen, seine Haare stellten sich auf und schienen zu wachsen. Aus den braunen Augen wurde ein flammendes Rot, und seine Aura expandierte in purer Kampflust. „Aber ich werde mir Zeit lassen, damit ich mir den Spaß nicht verderbe, Akira Otomo!“
2.
Der alte Mann war eigentlich nichts Besonderes. Jeder auf der Insel, der im kalten, allgegenwärtigen Scheinwerferlicht schuftete, hätten den schmalen Japaner mit den müde zusammengekniffenen Augen für einen normalen Arbeiter gehalten.
Im Moment saß der alte Mann auf einer umgestürzten Palme und trank heiße Suppe aus einer großen Tasse. Er wirkte so, als wäre diese Suppe für ihn das wichtigste auf der ganzen Welt.
Nun, manchmal war heiße Suppe das auch.
„Hatake-sama.“ Ein junger Europäer trat vor den alten Mann und setzte zu einem Salut an.
„Sie brauchen diesen Quatsch nicht zu machen, Kennard. Ich bin Geheimdienstoffizier und kein Soldat. Was gibt es denn?“
„Zwei Dinge. In fünf Minuten müssen wir wieder für zwanzig Minuten verdunkeln. SUPEREYE IX kommt nördlich an uns vorbei.“
Der alte Mann seufzte. „Es tut gut zu wissen, dass wir über die Kursbahnen aller Spionagesatelliten der Konkurrenz Bescheid wissen. Die Hacking-Programme der Fushida Hacking Group haben es in sich, was?“
Der große Europäer, Hannes Kennard, verkniff sich ein Grinsen. „Sie sind brauchbar, Tai-sa.“
„So, so. Und was ist die zweite Sache?“
„Wir haben die Arbeiten noch einmal forciert. Wir werden den Termin nun um acht Tage unterbieten.“
„Acht Tage? Sie wissen, dass das eventuell zu wenig sein wird.“
„Ich weiß, dass wir damit die fünftägige Toleranz erreichen und um zwei Tage überschreiten. Aber ich sehe keine Möglichkeit, die Arbeiten zu beschleunigen, wenn wir nachts zwanzigmal das Licht abschalten müssen und tagsüber vierzigmal die Arbeiten einstellen müssen. Wenn das nicht wäre, könnten wir schon in sieben Tagen fertig sein.“
Der alte Mann seufzte wieder. „Ach, mein Rücken. Kommen Sie mal in mein Alter, Kennard, dann wissen Sie, was echte Schmerzen sind.“
„Oh, ich kenne Schmerzen, Hatake-sama. Ich bin verheiratet.“
„Hm, hm, bemerkenswert.“
„Und ich habe drei Kinder.“
Der alte Mann riss die Augen auf. „Gleich drei?“
„In Europa ist es ruhig, nachdem die ersten kronosischen Angriffe gescheitert sind. Meine Frau und ich setzen alle Hoffnungen darauf, dass die Zukunft besser wird.“ Kennard grinste schief, als kurz eine Sirene aufgellte und dreißig Sekunden später das Licht erlosch.
„Ich hoffe wirklich, dass ich meinen Teil für eine bessere Zukunft leisten kann. Damit meine Kinder weder als Sklaven noch mit der Gift leben müssen.“
„Das sind hehre Ziele, Kennard. Und wir sind dem europäischen Rat wie immer zu Dank verpflichtet. Vor allem für die großzügige Hilfe, die er dem Kaiser und der Exilregierung leistet.“
„Das ist doch selbstverständlich. Wir würden uns ins eigene Fleisch schneiden, wenn wir die Organisation nicht unterstützen würden, die am effektivsten gegen die Kronosier vorgeht.“
„Die Akuma-gumi“, murmelte Hatake ernst.
„Auch. Aber vor allem meine ich den Freien Japanischen Geheimdienst. Ich sage Ihnen was, Hatake-sama. Wenn das funktioniert, wenn die United Earth den ersten Monat überlebt, dann stehen die Chancen für ein offenes Bündnis wirklich nicht schlecht.“
„Ein offenes Bündnis. Warum nicht ein Zusammenschluss?“
„Man traut Eikichi Otomo nicht“, gestand Kennard. „Hätte er sich von vorne herein gegen die Kronosier gestellt, anstatt sich ihnen anzubiedern und ihre Wirtschaft aufzubauen sähe es vielleicht anders aus. Natürlich hatte er keine andere Wahl. Und jetzt sehen wir, warum er es getan hat. Aber wer garantiert dafür, dass nicht auch das nur eine Finte ist, um ein noch höheres Ziel zu erreichen? Noch weiter aufzusteigen? Vielleicht ins Legat?“
„Ich garantiere das“, erklang eine dunkle Stimme hinter Kennard.
„Oh. Das ist eine Überraschung. Okame-tono, wir zwei haben uns ja schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Dies hier ist Kennard-kun. Europol hat ihn uns ausgeliehen und er leistet hier ganz hervorragende Arbeit.“
Kennard fühlte sich übergangslos seziert, durchleuchtet und gewogen. Dabei gab es hier nur das Licht der Sterne.
„Okame-tono ist ein Dämon. Genauer gesagt ist er der Verbindungsmann zwischen dem Freien Japanischen Geheimdienst und Dai-Kuzo-sama, der Herrin der Dämonen.“
„DER Okame-sama? Ich bin hocherfreut, Sie kennen zu lernen!“, rief der Europäer enthusiastisch.
„Sie werden sich noch weit mehr freuen wenn Sie hören, weshalb ich hier bin.“
Übergangslos heulten die Sirenen wieder auf und kurz darauf aktivierte sich das grelle Scheinwerferlicht.
„Was? Aber es ist zu früh, das waren bestenfalls sechs Minuten!“
„Seien Sie unbesorgt. Damit die Arbeiten rechtzeitig fertig werden hat Dai-Kuzo-sama beschlossen, Ihnen Hilfe zu leisten. Eine Gruppe Dämonen verbirgt die Insel seit drei Minuten gegen Beobachtung aus dem Orbit und gaukelt den Satelliten ein fast unberührtes Eiland vor.“
„Sie haben Recht, Okame-sama!“, gestand der Europäer. „Ich freue mich wirklich noch weit mehr, Sie hier zu sehen.“
***
„AKIRA!“ Dai-Kitsune-sama kam den Gang herunter gerauscht. Sie lief in ihrer Fuchsgestalt, sprang und verwandelte sich kurz vor der Landung in einen Menschen. Als dieser lief sie weiter, stieß mich hart beiseite, wodurch ich den Griff um die linke Hand meines Opfers verlor und mit dem rechten Fuß von seinem Genick rutschte, und umklammerte den dreisten Bengel mit beiden Händen.
„Kumo, ist alles in Ordnung mit dir? Kumo, sag doch was! Kumo!“
Der Junge mit den zwei Haarfarben sah auf. „Tante. Er hat mir so weh getan.“
„Oh. Es geht dir gut. Der großen Spinne sei Dank.“ Kitsune schien für einen Moment glücklich. Dann wurde ihre Miene sehr, sehr grimmig und sie verpasste dem Burschen eine Kopfnuss, die sich gewaschen hatte. „WAS GREIFST DU AUCH AKIRA AN!“
Sie ergriff den Burschen an den Schultern und schüttelte ihn. „AKIRA IST ZU STARK! ZU MÄCHTIG! UND ER IST ZU WICHTIG, UM SICH MIT EINEM FLOH WIE DIR ABGEBEN ZU MÜSSEN!“
„Istjagutichwolltejaauchnurmalsehenwiestarkeristundwarumallevonihmsprechenund…“
„DU SOLLST NICHT DENKEN! DU SOLLST NICHTS TUN! HÖREN SOLLST DU!“
Mittlerweile hielt ich mir beide Ohren zu, aber es nützte nichts. Kitsunes Stimme kam immer noch sehr klar und deutlich bei mir an. Was musste der arme Bengel erst zu leiden haben?
„Tu-tut mir Leid“, brummte der Junge mit dem schwarzweißen Haar und sah trotzig, aber irgendwie auch betreten zu Boden.
„Akira, es tut mir Leid. Ich hätte besser auf ihn aufpassen sollen und… Ich meine, danke, dass du ihn nicht verletzt hast. Er ist doch noch so jung und unerfahren. Und wenn er nicht so gebettelt hätte, dann hätte ich ihn nie mitgenommen. Woher sollte ich auch wissen, dass er dich angreift? Was für eine Dummheit!“ Sie holte für eine weitere Kopfnuss aus und der junge Bursche duckte sich mit einem Quieken.
„Schon gut, Kitsune. Es war eine nette Fingerübung. Und? Wer ist der junge Mann?“
Verlegen ließ Kitsune den Jungen los. Der verlor das Gleichgewicht, als er seiner Stütze beraubt war, und fiel hart zu Boden.
„Oh, das ist Kumo-chan, eines der Kinder von Dai-Kumo-sama, der Königin der Bärendämonen. Hätte ich gewusst, dass er hier solchen Ärger macht, dann…“
„Ärger ist vielleicht übertrieben. Seine Großmäuligkeit war viel schlimmer. So von wegen, er würde mich töten und der Welt einen Gefallen tun und außerdem wäre ich weniger wert als Dreck und so weiter…“
Wütend starrte Kitsune den Jungen nieder. „Ach, ist das so? Hat er das gesagt?“
Der junge Mann sackte sichtlich in sich zusammen. „Tante…“
„Aber ich denke, er hat seine Lektion gelernt“, sagte ich schnell, trat neben Kumo und legte eine Hand auf seine Schulter. „Für mich war es ja wirklich nur eine Aufwärmübung und es ist absolut nichts passiert.“
Erstaunt sah der Bärendämon auf. „Akira…“
„Aber falls du mich jemals wieder angreifen solltest“, flüsterte ich ihm zu, während ich gleichzeitig seine Schulter fest zusammendrückte, „dann mache ich dich so richtig fertig. Verstanden?“
Kumo quiekte vor Schmerz auf. Ich nahm das als Bestätigung und ließ ihn wieder los.
„Was machst du überhaupt hier, Kitsune-chan? Und warum hast du diesen Lausejungen dabei?“
„Lausejunge trifft es.“ Wütend starrte sie den jungen Mann nieder.
„Ach, weißt du, Akira, seit ich dich über dem südchinesischen Meer verlassen habe, hat sich einiges verändert. Nicht nur dass du von Senso Island umgezogen bist und so. Auch in der Dämonenwelt werden Stimmen laut, die von einer Veränderung sprechen. Die Niederlage der Tiger- und Drachen-Divisionen hat einiges an Staub aufgewirbelt und manche Dämonen sprechen jetzt davon, dass es Zeit wird zurück zu schlagen. Dass es Zeit wird, auf dem Mars eine Dämonenwelt einzurichten.“
Irritiert starrte ich die rothaarige Dämonin an. „Was, bitte? Das würde gehen? Damit hätten wir ja…“
„Einen ständig bedrohten, extrem instabilen und vor allem bloßgelegten Stützpunkt. Allerdings direkt am Herzen des Feindes. Leider aber sind das schon alle guten Nachrichten bei dieser Idee.“
Kitsune seufzte, zerrte den jungen Bärendämonen auf die Beine und ging neben mir her. „Wenn wir das wirklich tun wollen, und Kuzo-chan denkt ernsthaft drüber nach, dann müssen wir zwei Dinge in Betracht ziehen. Erstens müssen wir die Dämonenwelt etablieren um unseren Feind Torah zu vernichten – und die Kronosier dazu. Es muss ein allerletzter Schlag sein. Vernichtend. Endgültig. Das große Finale. Und zweitens müssen wir dafür die Arche einsetzen.“
„Die Arche? Die aus der Bibel? Die mit den sieben Tieren einer Art an Bord?“, fragte ich interessiert.
„Äh, ja, so in etwa. Sehr treffender Vergleich. Eigentlich ist die Arche ein Schlachtschiff. Und zwar das gewaltigste Schlachtschiff, das jemals erbaut worden ist.
Ja, ich weiß, Dämonen und materielle Waffen sind ein Widerspruch in sich. Und außerdem braucht es eine Riesenmenge an KI, um nur den Arsch vom Boden hoch zu bekommen, geschweige denn um wirklich zu fliegen.“
„Warum KI?“
„Es ist ein Schiff der Dämonen.“
Ich runzelte die Stirn. Anscheinend schien Kitsune diese Erklärung für ausreichend zu halten.
„Ja, aber warum ein Schiff?“
„Warum kein Schiff?“
Ich senkte resignierend den Kopf. Gegen Kitsunes Sturheit kam ich nicht an. Die Dämonen hatten also ein Schiff, ein Schlachtschiff, das größte jemals gebaute, und mussten es mit KI betreiben. Na Klasse. Und warum hatten sie es dann nie eingesetzt?
Ein eiskalter Schauder ging mir über den Rücken, als ich an eine bestimmte Möglichkeit dachte. KI… Ob das was mit der Aura-Kraft zu tun hatte, die unsere Fairies benutzten? Natürlich hatte es das und natürlich waren beide Kräfte garantiert identisch.
Mussten wir also eine oder mehrere unserer Fairies benutzen oder sogar opfern, um dieses Schiff zum fliegen zu bringen? Nur über meine Leiche! Eher flog ich selbst zum Mars und zerstörte die kronosischen Einrichtungen eigenhändig!
„Wohin gehen wir eigentlich?“, fragte Kitsune unvermittelt.
„Ich gehe in den Hangar, in dem mein Hawk steht. Wohin du willst weiß ich nicht.“
„Hm?“ Interessiert sah sie mich an. „Würde ein Einsatz bevorstehen, dann hätte es Alarm gegeben. Willst du deinem Mecha gute Nacht sagen?“
„Nein. Yohko und Yoshi pfuschen an seinem Eagle rum. Und ich gehe kontrollieren, dass es beim Mecha bleibt.“
„Oooh, der treu sorgende große Bruder. Das ist ja so lieb von dir.“
Mit einem Ruck wurde ich gestoppt. Kitsune hatte mich am Kragen gegriffen, nach unten gezerrt und sah mich mit einem wirklich fiesen Blick an, während ich halb am Boden lag und nur von ihrer Hand gehalten wurde. Und mich nebenbei mein eigener Kragen halb erwürgte. „Und gleichzeitig so dämlich. Kannst du die beiden nicht alleine lassen? Sie sind erwachsen und wissen was sie tun.“
„Genau das befürchte ich ja auch. Deswegen gehe ich da ja hin.“
„Ha! Der große Akira hat einen Schwester-Komplex“, höhnte Kumo.
„Halt die Klappe. Den hättest du auch, wenn deine tot geglaubte Schwester nach acht Jahren plötzlich wieder vor dir steht!“
Unwillkürlich duckte sich der junge Dämon vor mir.
Das ernüchterte mich stärker als es der Tadel von Kitsune tat – und ich sah in meiner eher peinlichen Haltung bestimmt nicht bedrohlich aus. „Wie alt ist der Bengel eigentlich?“
Kitsune legte den Kopf schräg. „Hm. Sechzehn.“
„Sechzehn Jahrzehnte?“
„Nein, Jahre. Ich sagte doch, er ist noch sehr jung.“
Überrascht sah ich den Dämonen an. „Und dann wirkt er so alt? Ich dachte immer, dass…“
„Oh, wir entwickeln uns normal, wie ihr Menschen. Doch sobald wir ausgewachsen sind, wartet ein beinahe unendliches Leben auf uns. Das ist auch der Grund, warum wir uns selten fortpflanzen, aber das ist schon eine andere Geschichte. Kumo ist jedenfalls so alt wie er aussieht.“
„Ich würde ihn auf Anfang zwanzig tippen“, gestand ich.
„Echt?“
„Halt die Klappe, Kumo-chan. Du hast für heute doch schon genug Aufmerksamkeit erregt, oder?“
Wieder duckte sich der Junge. „Tante Kitsune…“
„Nun ist aber gut, Kitsune-chan. Ich glaube wirklich, dass der Bengel seine Lektion gelernt hat“, warf ich ein und fragte mich zugleich, wo ich die Arroganz her nahm, so mit ihr zu sprechen. Wo ich doch selbst gerade erst zwanzig Jahre alt war.
„Willst du dich etwa in meine Erziehungsmaßnahmen einmischen, Akira?“, blaffte sie.
Ich sah wieder zu dem Jungen. Und nickte. „Ja, das will ich, Kitsune.“
„Oookay, dann nimm ihn mal den Rest des Abends mit, ja? Ich muss noch zu Eikichi, wir haben da einiges wegen der Manifestation von Dai-Kuzo zu besprechen. Ich finde euch dann, egal wo ihr seid. Danke, du bist ein Schatz.“
Mit diesen Worten verschwand sie. Und ich hatte das ungute Gefühl, dass das von Anfang an ihr Ziel gewesen war. Und das mein heldenhaftes Eingreifen zu Kumos Gunsten wohl kalkuliert gewesen war. Allerdings nicht von mir. Mist.
Da stand ich nun, vor mir einen sechzehnjährigen Dämonen mit schwarzweißem Haar, frech wie Kei in bester Laune und zudem mehr von sich überzeugt als es Philip jemals sein konnte.
„Und was mache ich jetzt mit dir?“, seufzte ich.
Nun, wenigstens schien der Junge mit mir ebenso unglücklich zu sein wie ich mit ihm. Das machte die Sache doch wenigstens interessant.
Und nun? Zurück zur Pokerrunde? Oder doch ganz unreif bei Yoshi und Yohko reinplatzen? Oder auf einen Alarm hoffen?
Ich hörte, wie eine Tür sich öffnete und wie eine Frau lachte. Die Stimme kannte ich, kannte sie nur zu gut. Ich grinste schief. „Weißt du was, Kumo-kun? Ich würde dich zu gerne mal in deiner Tiergestalt sehen. Und ich habe da ein paar Freundinnen, die das sicherlich auch wollen.“ Oh ja, das würde ein Spaß werden.
3.
„Es ist alles bereit, General. Wir können jederzeit losschlagen.“
„Die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Wir werden sie so vollkommen überraschend treffen, dass sie gar nicht wissen, was sie da erwischt hat.“
Sakura Ino nickte ihren beiden Untergebenen zu. Vor ihr zeigte der Holoprojektor ihres mobilen Hauptquartiers eine sehr exakte Karte der Umgebung. Darin integriert waren die bekannten Positionen sowohl der eigenen als auch der feindlichen Einheiten.
Nun, einige hatten sich noch immer nicht daran gewöhnt, die loyalen kronosischen Einheiten als Feinde zu betrachten. Aber die Chinesen, mit denen hatten sie keine Probleme.
Sakura lächelte dünn. „Dann blasen Sie zum Angriff.“
Sie sah auf. „Erobern Sie Tibet für mich, Colonel Whitworth.“
„Jawohl, General.“ Der Angesprochene, ein hoch gewachsener Engländer und Kommandeur seines eigenen Daishi-Regiments, defacto Sakuras Stellvertreter in dieser Situation, aktivierte die Kommunikation zu allen Elementen, die ihnen zur Verfügung standen – weit mehr als sie nach der Aktivierung der United Earth erwartet hatten und aus aller Welt zu ihnen gekommen. Einige Soldaten mit Familien hatten das Angebot angenommen, die Truppe zu verlassen, andere mit der Hoffnung an den Funken des Guten bei den Kronosiern ebenso. Die überwältigende Mehrheit aber vertraute weiterhin der Anführerin: Sakura Ino.
„Anweisung an alle Daishi-Elemente, Anweisung an alle Panzereinheiten, Anweisung an alle Infanterie-Einheiten! Strike! Strike! Strike!“
Bestätigungen rasselten herein, so schnell, dass die fünf Kommunikationsspezialisten nur mit Mühe nach kamen.
„Colonel, wir melden eine geschlossene Bestätigung der Brigade.“
„Danke, Lieutenant. Sorgen Sie dafür, dass die Kommunikation nicht abbricht. General, es geht los.“
„Nun gut, sehen wir uns das doch mal an.“ Sakura richtete sich auf und verließ das Mobile HQ. Die beiden Colonels folgten ihr. Vor ihnen erhoben sich majestätisch die Berge des Himalajas, auch das Dach der Welt genannt. Vierzehn Berge über achttausend Meter waren hier zu finden, unter ihnen der Everest und der K2, die höchsten Berge der Welt.
Und hier waren auch die Bergkönigreiche zu Hause, Tibet, Nepal und Shangri La. Hier würde die United Earth ihr nächstes Mitglied aufnehmen. Ein Mitglied, das sie, Sakura Ino, mit der Vernichtung der chinesischen Besatzungsdivisionen erschaffen würde.
Erste Explosionen zuckten über die Berghänge. Sie hatten es geschafft, die Brigade relativ unbemerkt von den Chinesen die dreitausend Kilometer nach Süden zu schaffen – jetzt meldeten sie sehr eindrucksvoll, wo sie geblieben waren.
Weitere Explosionen blühten auf, gefolgt von Sekundär-Explosionen. Hubschrauber stiegen in die Luft und hetzten die Berghänge hinauf, aus allen Waffen feuernd und eine Schneise aus Tod und Verwüstung aufbauend, während zeitgleich große Daishi-Verbände die Flanken angriffen.
Oh, Sakura hatte nichts gegen die Chinesen. Im Gegenteil, sie hatte sie als harte und unbarmherzige Gegner kennen- und schätzen gelernt. Und sie wusste sehr wohl um zwei Dinge. Das eine war, dass hier hauptsächlich Soldaten starben, die nur Befehle ausführten und in den Mühlen des Krieges unschuldig getötet und verstümmelt werden würden.
Das andere war, dass die Erdverteidigung langfristig ohne die Chinesen nicht möglich war. Deshalb mussten ihre vorsichtigen Tastversuche zu einer Allianz mit den Kronosiern unmöglich gemacht werden. Mit ihren Truppen an der Kehle würden sie es nicht wagen, die Erdverteidigung aufzugeben. Nein, das würden sie nicht.
Vor allem nicht, wenn ihnen bewusst wurde, wie schlagkräftig ihre Elite-Truppe war.
Den Hubschraubern folgten die Panzer und Transporter mit den Bodentruppen. Nachdem sie die Grenzverteidigung ausgeschaltet hatten würden sie die Chinesen überall niederkämpfen, wo sie auf den Gegner trafen. Sakura machte sich nicht viele Illusionen über den Verlauf des Kampfes. Sie sähte hier den Tod. Und alles was sie tun konnte war zu hoffen, dass es ihre eigenen Leute nicht so schlimm traf wie den Gegner.
„General. Die Sturmspitzen der 8., 10. und 11. Daishi-SpecOps sind bereits achtzig Kilometer tief ins Land eingedrungen. Der Widerstand wird zunehmend schwächer. Wir liegen acht Minuten vor dem Zeitplan. Die Hunde und die Bullen haben zudem die Bodengrenze überschritten und treffen auf keinerlei Widerstand.“
Die SpecOps waren mit den Hekatoncheiren zu vergleichen, aber von der Akuma-Gumi noch weit entfernt. Und Hunde und Bullen würden ihrem Ruf als harte Kämpfer, die immerhin das Vorbild der legendären Drachen-Division vor Augen hatten, bitter verteidigen.
„Nicht schlecht für eine Nacht- und Nebel-Aktion, was?“, fragte die blonde Frau mit einem dünnen Lächeln. Nicht, dass sie Tibet befreien würden. Nein, sie ersetzten die chinesische Besetzung nur durch die Besetzung der United Earth. War das gut? Schlecht? Besser oder schlimmer? Die Zeit würde es zeigen müssen.
„Also dann. Stoßen wir zur Hauptstadt vor. Danach folgt der Schwenk nach Nepal.“
Sakura verkrampfte die Finger zur Faust, bis sie glaubte, die Knochen würden brechen. Im Prinzip räumte sie hinter Akira auf. Nach seiner Aktion in der Hauptstadt Nepals hatten chinesische Kriegsherren die Gelegenheit genutzt und das Land besetzt. Noch war es nicht offiziell okkupiert und die Truppen nur „anwesend, um bei der Verteidigung gegen die Terroristenbande der Akuma-Gumi zu helfen“, aber es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis die Regierung des Berglandes die Chinesen bitten würde, permanent im Land zu bleiben. Aber daraus würde nichts werden. Diesmal nicht.
„Und danach nehmen wir Shangri-La.“ Das schmerzte sie besonders. Shangri-La, eine lose Koalition von einsamen Bergtälern im Karakorum-Gebirge, hatte sich nach den ersten Grenzstreitigkeiten zwischen Pakistanis, Indern und Chinesen gebildet, nachdem die Kronosier angegriffen hatten. Und die drei Mächte hatten den neuen, machtlosen Staat als willkommenen Puffer am Leben gelassen. Beinahe tat es ihr Leid, dass die Zeit des relativen Friedens für das kleine Reich der Bergtäler nun zu Ende war.
Sakura wandte sich um und ging wieder ins HQ zurück. „Wir brechen auf.“
„Jawohl, General.“
**
Die Ankunft der kleinen Mannschaft in Japan war eher unspektakulär. Siebzehn Männer und Frauen, davon acht Kronosier, landeten mit einer Fregatte auf dem neuen Raumhafen, der in der Bucht von Tokio auf dem Wasser errichtet worden war.
Aber wenn man bedachte, wer diese siebzehn Leute waren, wurde es Hilmer Bont, Generalgouverneur von Japan, Angst und Bange. Diese Männer und Frauen gehörten zum Besten was das Legat zu bieten hatte. Biologen! Waffenspezialisten! Mecha-Piloten! Und Elite-Kämpfer! Angeführt wurden sie ausgerechnet vom Vierten Legaten, Gordon Scott.
Der joviale Weißschopf mit den raspelkurzen Haaren trat sofort mit einem freudestrahlenden Lächeln auf den Gouverneur zu, so als wäre die Öffentlichkeit nicht von diesem Moment ausgeschlossen worden und es gelte für ein paar Dutzend Kameras zu lächeln.
„Mein lieber Hilmer. Ich bringe direkte Grüße von Odin für Sie und soll wieder einmal erwähnen, wie sehr sich der Erste Legat über die wertvolle Arbeit freut, die Sie in diesem Land leisten.“
„Ein Lob vom Ersten Legaten ist eine große Ehre“, erwiderte Bont. „Willkommen auf der Erde, Vierter Legat. Es freut mich, Sie wohlbehalten wieder zu sehen. Wie kann ich ihnen nützlich sein?“
„Ach, der gute alte Hilmer. Immer direkt aufs Ziel, niemals Zeit vergeuden. Nun, ich brauche Unterkunft für meine Leute und darüber hinaus einen Stab Agenten als Verbindungsleute. Ich brauche die gesamte Hawaii-Abteilung unter meinem Kommando. Darüber hinaus brauche ich eine Kaserne der höchsten Sicherheitsstufe. Sie muß über einen großen Hallenkomplex verfügen.“
„Sie spielen auf den alten Militärbereich des Narita-Flughafens an“, stellte Bont fest.
„Richtig, mein guter Hilmer. Dort bietet sich uns alles was wir brauchen.“
„Wozu die großen Hallen? Wozu die Geheimhaltung? Warum die Hawaii-Sektion? Sind das schon drei Fragen zuviel, oder darf ich eine vierte stellen?“
„Oh, seien Sie mein Gast, Hilmer.“
„Warum das alles?“
Die Spezialisten lachten und Scott gab zweien einen Wink. Sie kehrten zur Fregatte zurück.
Dort wurde ein großes Schott geöffnet, eine Rampe ausgefahren und ein… Ja, was zum Teufel war das Ding, welches gerade die Rampe herunter schritt?
Ein Fehlschlag aus einem Genlabor? Eine irrsinnige Kreuzung? Nein, die Augen waren menschlich, und wenn er genau hinsah, dann war es der Rest dieser Kreatur auch. Abgesehen davon, dass die Proportionen unmöglich verzerrt waren und dieses Biest eine Körpergröße von gut vier Metern hatte. Die grüne Haut irritierte ebenfalls erheblich.
„Was ist das?“
„Die besondere Entwicklung meiner Abteilung“, verkündete Scott stolz. „Von Menschen befallene Youmas.“ Er lächelte, düster und mordlüstern. „Oder anders ausgedrückt, Attentäter, die man nicht aufhalten kann.“
Hilmer schluckte hart, als sich hinter dem grünhäutigen Wesen ein weiteres zeigte, blauhäutig und auf groteske Art dürr. Seine Haare peitschten wie selbstständige kleine Wesen um seinen Kopf herum. Beide Wesen wirkten aggressiv, aber sie folgten den Anweisungen der beiden Spezialisten ohne zu zögern. Dann folgte eine dritte Kreatur.
„Das ist Wahnsinn“, hauchte Bont ergriffen.
„Ja, das ist es. Purer, blanker Wahnsinn aus den perversen Gedanken des Zweiten Legaten geboren. Und unsere beste Waffe, um uns eines großen Feindes zu entledigen: Jordan Daynes.“
„Deshalb die Hawaii-Gruppe. Deshalb die Lagerhalle.“
„Richtig. Diese Wesen brauchen Koordinationstraining und Kampftraining. Und wir müssen sie so nahe es geht an ihr Ziel heran bringen. Dort erst werden sie ihre absolute Tödlichkeit unter Beweis stellen.“ Nach der vierten, fünften, schien endlich Schluss zu sein. Fünf grotesk verzerrte Menschen, fünf Individuen, denen mit diesen Youmas der freie Wille genommen worden war, ja, der Körper gar. Bont konnte sich nur zu gut vorstellen, wie diese Wesen zwischen wehrlose Menschen fuhren. Wie sie Soldaten beiseite schoben, als wären es Puppen. Wie Gewehrkugeln an ihnen abprallten oder eindrangen ohne diese Wesen aufhalten zu können.
„Wahnsinn“, hauchte er wieder.
„Ja, das ist es“, sagte der Legat erneut. „Was meinen Sie, Hilmer, ob Blue Devil auch zufällig auf Hawaii sein wird? Ich würde zu gerne sein Gesicht sehen, wenn einer seiner Freunde stirbt und er nicht in der Lage ist ihn zu retten.“
Mit diesen Worten wandte sich der Vierte Legat ab und lachte laut. Laut, und, so erschien es Bont, ein wenig irre.
**
In der folgenden Nacht hetzte ein junger Mann, eindeutig asiatischer Abstammung, durch die Nebenstraßen eines Vorortes der Hauptstadt. Der Mann hatte sich mit Leib und Seele dem Geheimdienst des Freien Japans verschrieben. Es hatte sogar mal eine Zeit gegeben, in der er bereit gewesen wäre für sein Heimatland und das Ende der kronosianischen Besatzung zu sterben.
Doch im Moment war alles anders. Damit er seinem Land dienen konnte, musste er leben. Nur lange genug leben.
Es war nicht sehr einfach gewesen, die kronosische Basis zu infiltrieren. Und es war noch weit schwieriger gewesen, als kleiner Hilfsarbeiter die diversen Erkundungen durchzuführen, mit denen er beauftragt gewesen war, ohne aufzufallen.
Nun aber war das alles egal. Egal wie die beiden Wachen, die er getötet hatte, um durch ein Nebentor zu entkommen. Egal wie sein weiteres Leben. Egal ab dem Punkt, der wirklich zählte. Er musste seine verdammte Nachricht überbringen!
Niemals hätte er daran gedacht, in einem Job mit derart schlechter Tarnung auf einen derart brisanten Fall zu stoßen. Niemals hätte er geglaubt, seine Angst vor dem Tod zu verlieren, weil es etwas Schlimmeres geben konnte.
Oh, es war nicht so, dass er nicht gerne lebte. Aber wenn nicht sehr bald sehr schnell die richtigen Stellen davon erfuhren, was er durch Zufall entdeckt hatte, dann würde Japan, dann würde die Welt in eine sehr ungewisse Zukunft gehen.
Beinahe ließ sie sich gar nicht vermeiden. Aber vielleicht abmildern.
Schwer atmend lehnte er sich einen Moment an eine hohe Mauer. Er musste ein Fahrzeug stehlen. Möglichst ohne die Polizei auf sich aufmerksam zu machen. Falls nicht ohnehin schon an allen Ausfallstraßen Straßensperren und Kontrollen errichtet worden waren.
Ein Motorrad vielleicht? Und dann querfeldein oder mit Gewalt durch die Kontrollen?
Ein Hubschrauber wäre nicht übel gewesen. Oder ein Hawk.
Aus der Ferne klangen Schreie zu ihm herüber, Schreie, wie er sie schrecklicher nie gehört hatte. Schreie, deren Bedeutung er kannte, seit er seine Aufnahmen durch das kleine Loch der Hangarwand geschossen hatte, welches er heimlich gebohrt hatte.
Dort hinten litten Menschen. Erst kam die Angst, dann der unsägliche Schmerz, dann das Gefühl in Flammen zu stehen. Und dann wurde das KI aus dem Leib gesogen, gerissen wie der Pelz vom Leib eines Tieres. Die Folge waren Katatonie, Bewusstlosigkeit oder sogar Koma. Und getan hatten es diese Kreaturen, Albträume aus den Hirnen kranker Genforscher, verrückter Wissenschaftler oder entstanden in den Hexenküchen durchgedrehter Alchimisten.
Fünf dieser Kreaturen waren nun hinter ihm, jagten ihn, damit er mit seinem Wissen nicht entkam, es nicht weitergab.
Und zwischendurch blieb immer noch Zeit für einen kleinen Snack in Form des KIs eines Menschen.
Er hatte es in der Lagerhalle gesehen, auf dem Display seiner Kamera. Wie die Menschen gelitten hatten, in den Klauen dieser Kreaturen, wie ihre Gesichter eingefallen waren wie jene von schwer kranken Menschen. Wie sie gelitten hatten.
Und wie sie wie wertlose Puppen fallen gelassen wurden, die wenigsten überhaupt noch fähig vor Schmerzen zu stöhnen.
Es war schrecklich gewesen. Aber am schrecklichsten war seine eigene Ohnmacht gewesen, nichts dagegen tun zu können.
Die Schreie der Menschen klangen lauter, die Monster rückten also näher.
Er schätzte Entfernung und Richtung ab und kam zum Schluss, dass ihn mindestens drei der grotesken Gestalten verfolgten.
Also stieß sich der japanische Agent wieder von der Mauer ab und lief weiter.
Ein Fahrzeug, wenn er doch nur ein Fahrzeug hätte! Auch wenn er damit auffallen würde wie der Weihnachtsmann im Hochsommer am Strand; der psychologische Druck, den seine auffälligen Verfolger schufen, trieb ihn langsam in die Panik.
Und sie kamen näher, immer näher.
**
Der Schrei der jungen Frau ging mir durch Mark und Bein. Ich schreckte hoch, merkte dass eines meiner Beine eingeschlafen war –dadurch, dass ich vornüber stürzte – und rappelte mich wieder hoch.
Ami, Hina und Sarah, die mit dem kleinen Kumo in Bärengestalt spielten, sahen bestürzt zu mir herüber. Ich erwiderte den Blick und bekam endlich Tritt. Verdammt, verdammt, verdammt!
Kumo richtete sich auf die Hinterbeine auf. Bei einem etwa anderthalb Meter großen Panda wirklich ein einmaliges Schauspiel.
„Du bleibst hier, Junior“, sagte ich hastig, schlug ein paar Mal auf meinen linken Oberschenkel ein und spürte wie das Leben zurückkehrte – durch stechenden Schmerz. „Das ist eine interne Sache.“
Hina sah mich traurig an. „Es ist ihr erster seit acht Wochen, Akira.“
Ich humpelte zur Tür, riss sie auf und verschwand im Gang, nicht ohne den Mädchen noch einmal zu zu winken und ihnen zu sagen, dass ich mich darum kümmerte.
Kurz darauf stand ich vor der Tür eines Ein Personen-Appartements. „Akane! Akane!“
Ich rüttelte an der Tür und stellte erleichtert fest, dass sie nicht verschlossen war.
Dabei hatte ich schon mit dem Gedanken gespielt, den Feuerlöscher um die Ecke als Rammbock zu benutzen.
Ich eilte in den Raum und fand Akane Kurosawa zusammen gekrümmt auf dem Teppich in ihrem Wohnraum knien. Sie wimmerte leise.
Früher, damals als wir sie aus den Händen der Kronosier befreit hatten, hatte sie beinahe jede Nacht einen Anfall gehabt, war von den schrecklichen Erinnerungen übermannt worden. Die ersten Wochen hatte das zerschnittene, geprügelte und wer weiß auf wie viele Arten gedemütigte Bündel Mensch nicht eine Nacht alleine verbringen können. Die wenigen Menschen die sie an sich heran gelassen hatte, hatten sich abgelöst, um ihr in den Nächten Gesellschaft zu leisten. Ich wusste, wenn ich einmal graue Haare an mir entdeckte würde ich nicht überrascht sein, denn das was ich im Gefängnis gesehen hatte, einem Hochsicherheitstrakt für politische Gefangene, und dem was Akane teils freiwillig und teils im Schlaf erzählt hatte, hatte mir wieder einmal vor Augen geführt wie gefährlich Menschen sein konnten. Und wie grausam.
„Akane.“ Ich ließ mich auf die Knie fallen, legte vorsichtig eine Hand auf ihren Rücken. Manchmal, allerdings sehr selten, ertrug sie keine Berührungen, wenn die Erinnerung sie besonders marterte. Sie konnte dann nicht alleine sein, aber auch keine zu große Nähe ertragen. Ihr letzter Anfall war schon Wochen her; dies konnte einer dieser besonders heftigen, schlimmen sein, der alles in ihr wieder hoch kochen ließ.
Ich spürte, wie ihr schmaler Leib unter meine Hand zitterte. Ich sah, wie ihre Tränen wie ein kleiner Wasserfall den Boden benetzten. Ich hörte ihr leises Wimmern.
„Akira…“, hauchte sie. „Akira… Er wird sterben… Ich weiß es… Er wird sterben… Ich kann es nicht verhindern… Sie kommen ihn holen… Oh mein Gott, sie kommen ihn holen… Sie sind da… Sie sind da…“
„Akane, es ist gut. Ich bin ja da. Höre auf meine Stimme. Ich bin da.“
Sie sah mich an, aus geröteten Augen. „Akira. Ich kann es nicht verhindern. Es geht einfach nicht. Sie kommen und werden ihn holen. Einfach so holen. Und dann radieren sie ihn aus, einfach so.“ Wieder sah sie zu Boden, schluchzte und begann erneut zu weinen.
Nun, man konnte sagen, dass ich manchmal etwas langsam war, wenn es ums kombinieren ging, also dauerte es etwas bis ich begriff, dass sie keinen normalen Anfall hatte. Etwas, oder noch besser jemand hatte eine unglaubliche Angst in ihr geweckt. Und diese Angst tobte jetzt in ihr. Fraß sie auf.
„Akane. Ich bin doch da. Ich bin doch hier.“
„Warum muss er sterben? Er hat doch nichts getan! Er hat doch nichts getan!“
Wieder schluchzte sie, wurde außerdem von einem Hustenreiz erschüttert.
Ich schwieg betreten. Ich wollte sie in die Arme nehmen, wiegen und trösten, wie ich es so oft getan hatte, damals, als sie nur drei Menschen in ihrer Nähe erlaubt hatte – merkwürdigerweise nur Männer – aber ich konnte es nicht. Ich selbst verspürte Angst, tiefgründige, elementare Angst. Dieses Gefühl ging von Akane aus, griff auf mich über und ließ meine Hand zurückzucken als hätte ich sie auf etwas Heißes gelegt.
„Sie sind da. Sie sind wieder da. Sie sind wieder da und diesmal werden sie bleiben. Die Youmas kommen, Akira.“
Ich spürte wie mir ein Stich durch das Herz fuhr, wie meine Lungen sich weigerten Luft aufzunehmen. Wie mein Magen sich umdrehte und das Abendessen, Mittag, Frühstück und noch drei weitere Tage wieder hinaus befördern wollte. Youmas.
Ich kannte sie nur aus Akanes Erzählungen, aber ich wusste dass ihr Schicksal und das der Bestien untrennbar miteinander verknüpft waren. Wir hatten keinen Beweis für ihre Existenz, nur Akanes Misshandlungen und ihre ängstlichen Berichte. Nach ein paar Jahren hatten wir es abgetan und sie hatte die Youmas fast schon vergessen.
Nun aber brach sie zusammen und fürchtete sich vor ihnen. Hieß das, sie wurden aktiv? Erkannte Akane das durch ihre Affinität?
„Sie werden ihn holen. Und ich kann ihn nicht retten…“
„Akira!“ Makoto kam ins Zimmer gestürzt. „Wie schlimm ist es?“
„Die Youmas aus ihren Erzählungen. Sie werden aktiv.“
„Was, bitte? Wir waren uns doch einig, dass diese Geschichten auf die Folterungen zurückgehen und ihr eingeredet wurden!“
„Ihr wart euch einig“, erwiderte ich ernst.
Makoto warf mir einen zweifelnden Blick zu, dann hockte er sich neben Akane, zwang ihre Arme auseinander und richtete die vollkommen verkrampfte Frau auf. Sie leistete hartnäckig Widerstand, aber als ihre Hände auf seiner Hüfte ruhten, stürzte sie vor, umarmte ihn und weinte ungehemmt weiter.
„Die Youmas“, hauchte sie schließlich. „Die Youmas sind eine Waffe der Kronosier. Sie haben Menschen gesucht, Menschen, die sie mit den Youmas infizieren können. Ich erinnere mich jetzt daran. Sie haben Menschen gesucht, die ihnen einen Körper geben können. Bei mir hat es nicht geklappt.
Die Menschen verwandeln sich oder sterben wenn es nicht klappt, aber ich habe meinen Youma zerstört.“ Sie schluckte hart. „Sie wollten wissen wieso und haben mich untersucht, mir den Schlaf entzogen, mich gequält und analysiert. Und als sie zu keinem Ergebnis kamen, haben sie mich in das Höllenloch gesteckt und auf Eis gelegt, damit ich später noch zur Verfügung stehe.“
Die Tränen endeten. Aus der schmerzverzerrten Miene wurde ein Lächeln. Ein abartiges, böses Lächeln von einer Schwärze, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Sie lächelte, während ihre Stirn auf Makos Brust ruhte. Und sie baute ihre Aura-Kraft auf.
„Aber was sie nicht wussten ist, dass es seither eine Verbindung gibt, zwischen den Youmas und mir. Dass ich sie spüren kann. Dass ich sie sehen kann.“
Die Aura wurde stärker, nahm die Form eines aus tausenden Farbpartikeln bestehenden Glitters an, der sie umfing, umwirbelte und einschloss. Der Glitter wurde dichter und die beiden Menschen verschwanden darin.
„Ich musste mich nur erinnern. Einfach nur erinnern.“
Es gab einen Lichtblitz, von dem ich mich abwenden musste.
Als ich wieder sehen konnte, erstarrte ich.
Akane stand. Ihre Augen waren noch immer gerötet, aber ihr Blick war hart und ernst.
Sie trug nun ihre Aura-Rüstung. Nein, das war nicht die Aura-Rüstung. Es war eine Uniform, wie ein Mann sie zu einer Gala tragen würde. Ein grünes Schmuckstück mit Tressen, goldenen Knöpfen und Bändern, gekrönt von einem langen, dunkelgrünen Umhang, dessen Saum fast bis zum Boden ging.
Sie sah auf und fixierte meinen Blick. „Akira, bitte. Lass mich heute deine Fairy sein. Lass uns nach Tokio fliegen und lass ihn uns retten. Bitte.“
Hinter ihr kniete Makoto am Boden. Erschrocken legte er eine Hand vor seine Brust und zog mit der anderen den viel zu kurzen Rock vor seinen Schritt. „Warum muss ich eine Aura-Uniform tragen? Und warum ist der Rock so kurz? Akane-chaaaaaaaan!“
„Hey“, scherzte ich, „die Uniform steht dir aber.“
„Das ist mir egal. Hauptsache meine Schwester sieht mich so nicht, sonst macht sie wieder eine Modenschau mit mir. Akira, hilf mir!“
„Die Rüstung wird von selbst verschwinden. So in ein, zwei Stunden oder Tagen“, kommentierte Akane mit dem Anflug eines Lächelns. „So lange musst du eben durchhalten.“
„Tage? TAGE? Akiraaaaaa!“
„Ich muss leider los. Die Fairy Akane Kurosawa hat einen Noteinsatz beantragt und ich habe ihn soeben genehmigt. Wir fliegen sofort.“
„Du bist so gemein, Akira!“
„Wieso gemein? In einer Fairy-Kampfrüstung bist du sicherer als in einem Stahlkasten mit zwanzig Zentimeter dicken Wänden. Das hat zumindest mein Stabschef zu mir gesagt, ein gewisser Makoto Ino.“
„Fieser Kerl“, murrte Mako und sah weg.
Ich grinste schief. „Gehen wir, Akane.“
**
Nach einigen erklärenden Worten an meine aufgeschreckte Akuma-Gumi, und einem sehr knappen Bericht an Vater, war ich mir bei zwei Dingen sicher. Erstens, dass Makoto einige schwere Stunden vor sich hatte. Ich hatte ihn nicht verraten, aber mir schien es manchmal, als ob die Mädchen einen hübschen Bengel riechen konnten, der in einer peinlichen Situation gefangen war.
Und zweitens, dass mein Mecha kampfbereit war.
Zumindest Nummer zwei bestätigte sich schnell. Mein mächtiger Hawk-Mecha stand bereit, mit einladend geöffneter Cockpitluke.
Ich hatte mir nicht die Zeit genommen, einen Druckanzug anzulegen und Akane war mit ihrer Aura-Rüstung mehr als ausreichend geschützt.
Aber den Helm, den mir der ältere, weißhaarige Techniker zuwarf, brauchte ich dringend.
Der Helm war schwarz und mit drei großen, stilisierten blauen Blitzen überzogen. Mit ihm würde ich die Funktionen von Blue Devil effektiv kontrollieren können.
Die kurze, aber heftige Diskussion hatte dazu geführt, dass ich mich gegenüber meinem Team durchgesetzt hatte. Es würde nur ein Hawk gehen und versuchen die Hauptstadt Japans zu erreichen. Ein Hawk würde schon mehr als nötig auffallen, ein halbes Dutzend aber würde nicht übersehen werden können.
Dennoch verfolgte ein Teil meiner Truppe unseren Abflug. Yoshi und Yohko übrigens nur, weil sie ohnehin im Hangar gewesen waren. Oh, ich fragte mich wirklich, was die beiden miteinander anstellten, jetzt wo die Katze – also ich – aus dem Haus war.
Und schalt mich einen Narren, weil es mich eigentlich überhaupt nichts anging und mir eigentlich offiziell gefiel. Zu gefallen hatte. Immerhin war Yoshi mein bester Freund.
„Aoi Akuma, ich halte meinen Hawk in Bereitschaft, okay? Ich kann in zwei Stunden da sein, wenn du mich brauchst“, bot Daisuke an.
„Geht in Ordnung.“
Ich verschloss das Cockpit, gurtete mich fest, aktivierte die Anschlüsse und bestätigte die Einsatzbereitschaft. Ein Schlitten fuhr Blue Devil bis an den Energieschild, der das Vakuum daran hinderte, die Luft aus dem Hangar zu saugen. Von dort war es nur ein kurzer Schritt, und das Gefühl des Fallens griff nach Akane und mir.
Gemeinsam stürzten wir in die Tiefe. Dreihundert Meter unter OLYMP zündete ich die Beindüsen, korrigierte den Kurs und beschleunigte zum Parabelflug nach Japan.
**
Auf so etwas musste man erst einmal kommen. Einfach die U-Bahn nehmen, was für eine simple und effektive Idee. Da die Züge im Zehn Minuten-Takt fuhren, hatte der Geheimdienstmann nach einer nervenaufreibenden Wartezeit von drei Minuten einen passablen Vorsprung heraus geholt. Nun war es nicht mehr weit bis zu einer Einrichtung des japanischen Geheimdienst, von der aus seine wichtige Meldung weitergegeben werden konnte.
Er verließ die Bahn an der richtigen Haltestelle, sprang beinahe beschwingt die Stufen hinab und machte sich schnell, aber ohne Hast auf den Weg.
Und geriet von einem Dilemma ins nächste.
In der Nebengasse, die er als Abkürzung hatte nehmen wollen, standen sich zwei Männergruppen gegenüber. Sie schienen einander mehr als feindlich gesonnen zu sein. Sprich: Ein Haufen Yakuza war kurz davor, einander an die Kehle zu gehen.
Nein, hier konnte er nicht lang! Er musste den langen Weg nehmen, über die Hauptstraße, um den Block. Er wollte sich umdrehen, aber sein Körper ließ sich nicht drehen. Er sah an sich herab und bemerkte verwundert, dass er in der Luft hing. Aus seiner Brust ragten vier lange, schwarze Dinger hervor, die irgendwie wie lange Fingernägel wirkten. Oder zurecht geschnittene Holzpfähle. Blut sickerte an den Stellen, an denen die Fingernägel aus seinem Körper austraten.
Er keuchte erschrocken auf. Dann wandte er schwerfällig den Kopf und sah in das diabolisch grinsende Gesicht einer menschlichen Karikatur.
Eine von denen! Eine dieser entsetzlichen Gestalten! Wie hatte sie ihn so schnell finden können? Und wie hatte sie ihn töten können? Vorbei? Sein Auftrag war zu Ende? Nein, das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein!
Wütend heulte er auf, griff nach den schwarzen Pfählen und versuchte, sich von ihnen wieder herab zu schieben.
Als Antwort bohrten sich weitere Pfähle in beide Beine. Diesmal spürte er es und schrie auf vor Schmerz.
Die Yakuza waren aufmerksam geworden. Sie ließen voneinander ab, musterten erschrocken und entsetzt die Szene.
„Ihr seid nett. Versammelt euch auf einem Fleck, damit ich ein wenig Kraft tanken kann“, säuselte die schwarze Kreatur. Die Augen versanken in einem grellen gelben Nebel, der heraus trat, nach den Yakuza griff und sie einen nach den anderen auf die Knie schickte.
Der Geheimdienstmann begriff. Der Youma erntete. Er zog den Yakuza KI ab.
Allen bis auf einen. Dieser schoss heran, machte einen Sprung an die nächste Mauer, stieß sich von ihr ab und fuhr zwischen ihm und dem Biest zu Boden.
Kurz darauf heulte die Kreatur auf und er fiel haltlos.
Bevor er aber hart aufprallen konnte, hatte ihn der schwarze Schemen aufgefangen.
Er sah auf, blickte in das schmale, ernste Gesicht eines schwarzhaarigen, großen Mannes, der in der Rechten ein glühendes Katana trug. „Was ist das für eine Kreatur?“
Er spürte, wie sich seine Hände um das schwarze Sakko des Yakuza verkrampften. „H-hör zu! Das ist wichtig…“
„Nicht reden, Junge. Du wurdest schwer verletzt.“
Hinter ihnen rappelten sich die Gangster auf. Die, die es konnten, flohen in blinder Panik in die andere Richtung davon.
„M-mein Name ist Gun-so Inari. Ich bin… vom freien japanischen Geheimdienst. Bitte… Dieser Datenträger muss zu Aoi Akuma… Zu Eikichi Otomo… Wenn du diese Welt liebst…“
Die Augen des jungen Geheimdienstmannes brachen.
Der Yakuza ließ ihn sanft zu Boden gleiten und nahm ihm den Datenstick aus der Hand. „Es muss verdammt ernst und eilig sein, wenn die Kronosier so was auf die Menschheit los lassen.“
Sanft legte er die Hand auf die Augen des Gun-sos und schloss sie. „Ich werde deinen Auftrag für dich ausführen. Du kannst in Frieden ruhen. Du hast den Richtigen gefunden.“
„MEINE HÄNDE! DU ERBÄRMLICHER MENSCH! MEINE HÄNDE!“
Die Hände des Youmas regenerierten sich, während sich die schwarzen Fingernägel im Leib Inaris auflösten.
Damit griff der Youma an. Der Yakuza wich wie spielerisch aus und hob wieder die Klinge. Sie glühte erneut vor KI auf.
„Ob ich erbärmlich bin oder du, das wird sich jetzt zeigen.“ Er kniff die Augen zusammen und stürmte vor. Direkt auf den Youma zu, der die Hände seinerseits zum Angriff nach vorne stieß.
4.
„Chiba!“
Der glatzköpfige Mann undefinierbaren Alters schien direkt aus der Wand zu entstehen. Hitomi hatte es bereits ein paar Mal erlebt, aber sie erschrak immer noch bei diesem Anblick.
Der Yakuza verbeugte sich leicht. „Ataka-sama.“
„Wenn Seto-san sich ausgeruht hat, brechen wir sofort auf. Sag der ganzen Gruppe Bescheid. Sie sollen die Hauptstadt sofort verlassen und bei der Ortsgruppe in Kyoto untertauchen, bis ich Entwarnung gebe.“
Chiba runzelte die Stirn. Eine Regung, die Hitomi an diesem Mann für höchst ungewöhnlich hielt. Hätte nicht die fehlende Fingerkuppe am Ringfinger darauf hingewiesen, dass dieser Mann erstens Yakuza und zweitens nicht unfehlbar war, hätte sie ihn am ehesten mit einem Soldaten des englischen Black Watch verglichen, einer Einheit von der man sagte, dass ihre Mitglieder im Wachdienst bessere Statuen waren. Also musste er in heller Aufregung sein, oder was Hitomi für wahrscheinlicher hielt, in Panik.
„Beginnen wir den Kampf, Ataka-sama?“
Doitsu Ataka schüttelte ernst den Kopf. „Nein, Chiba. Diese Chance haben wir verpasst. Die Gruppe soll sich vorerst auflösen, wir werden später versuchen, gegen die Kronosier zu kämpfen. Gib auch den Schachhöllen Bescheid. Sie sollen vorerst geschlossen werden, das Personal untertauchen.“
Nun wurden die Runzeln in Chibas Stirn noch tiefer. „Entschuldigen Sie meine dreiste Frage, Ataka-sama, aber gibt es Probleme mit dem Haupthaus?“
„Großonkel billigt mein Tun noch immer, auch wenn er es offiziell verurteilt. Nein, die alten Männer sind nicht unser Problem.“ Doitsu Ataka deutete mit einer hilflosen Geste auf Hitomi Seto, die erschöpft und zerschlagen auf dem Futon vor Doitsu lag.
Sie transpirierte stark, hatte sich bereits mehrfach übergeben, aber es ging ihr von Minute zu Minute besser, verschwand der Albtraum, in dem sie so lange gefangen war, mehr und mehr, wurde sie wieder sie selbst.
Und deshalb wurde sie ein Problem für Ataka-sans Gruppe?
Sanft strich Doitsu ihr über die schweißbedeckte Stirn. Dann fasste er ihr ins Kreuz, richtete sie ein wenig auf und flößte ihr kalten Tee ein.
Hitomi trank gierig, aber der Yakuza achtete darauf, dass sie sich nicht verschluckte.
„Ich… Problem?“, ächzte Hitomi mit rauer Stimme.
„Leider ja, Seto-san.“ Doitsu atmete schnaubend aus. „Ich habe es nicht gewollt, aber ich habe mich wohl direkt mit dem Legat angelegt. Nun bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als sich um mich und meine Leute zu kümmern. Und das bedeutet Krieg. Krieg, der vielleicht sogar die Gruppe von Großonkel Shinnousuke erfassen wird.“ Doitsu lachte rau auf. „Es würde mich nicht wundern, wenn sie diesen Anlass zum Vorwand nehmen, um die unbequeme und wehrhafte Yakuza-Gruppe doch endlich auszuradieren und unser Territorium einer gefälligeren Gesellschaft zu überantworten. Daran will ich nicht Schuld sein.“
Doitsu half ihr dabei, sich wieder hinzulegen. „Ruhe dich noch ein wenig aus, Seto-san. Die nächsten Tage werden schwer und ich kann dir nicht versprechen, dass wir beide überleben. Aber jetzt sind wir so weit gekommen, ich werde tun was immer ich kann, damit wir es dennoch schaffen.“
„I-ist…“, hauchte Hitomi beinahe unhörbar. Dann sackte sie weg und war eingeschlafen.
Leise verließen die beiden Yakuza den Raum.
**
Mamoru Hatake erwartete Doitsu bereits. Er spielte mit der Sicherung seiner Beretta 92F, schob sie hoch und runter, hoch und runter.
„Also, erkläre mir das noch mal, Kleiner“, sagte der Geheimdienstoffizier, während hinter ihm bei den anderen Mitgliedern der Gruppe organisiertes Chaos ausbrach, nachdem Chiba die Entscheidung des Anführers bekannt gegeben hatte.
„Du hast dich also einem dieser Youmas gestellt und ihn vernichtet?“
Doitsu Ataka lächelte dünn. Er schob seine Brille die Nase hinauf, dabei entstand ein spiegelnder Reflex auf den Gläsern, der Mamoru kurz blendete.
„Das ist durchaus richtig, mein lieber Captain Hatake. Ich habe mich einem Youma gestellt. Ich habe mit ihm gekämpft. Und ich habe gewonnen.“
„Okay, in Ordnung. Glaube ich dir, weil du noch hier stehst. Kannst du mir das wie vielleicht mal etwas näher bringen?“
Doitsu nickte. Er ging zur nahen Wand und ergriff das Katana, welches dort griffbereit für ihn lehnte. Er zog die Klinge blank, konzentrierte sich und ließ weißes Feuer über das Metall wandern. „Das, Hatake-san, ist KI. Genauer gesagt mein KI. Youmas sind im Prinzip nicht viel anders als KI. Der Rest ist Geschichte.“
„Moment mal. Bevor du mir hier Bohnen für Erbsen verkaufst, du hast dein Schwert mit deinem eigenen KI überzogen und damit den Youma bekämpft? Und du hast gewonnen?“
Doitsu lächelte diabolisch. „Das ist richtig. Hatake-san, ich werde seit meinem fünften Lebensjahr darin ausgebildet, mein KI für den Kampf zu benutzen. Wenn du so willst, bin ich ein KI-Meister. Einer der besten. Der allerbesten. Als sich der Youma mit mir angelegt hat, konnte er nicht wissen, dass mein KI besser trainiert und mein Können besser ausgefeilt ist als seines. Dass ich ihm in jeder Hinsicht überlegen war.“
Mamoru überprüfte den Ladezustand seiner Waffe und steckte sie in das Schulterholster unter seiner Lederjacke.
„Okay, akzeptiert und verstanden. Aber jetzt kommt die Preisfrage: Wie kommst du an dieses Mädchen?“
Doitsu seufzte gequält auf. Seit er mit der nackten, ohnmächtigen und zudem Blutüberströmten Hitomi Seto im Versteck der Yakuza angekommen war, hatte er genau das zehn mal erklärt. Und jedes Mal schienen die Leute es weniger zu verstehen.
„Sie war der Kern des Youmas. Der Youma selbst bestand fast vollständig aus geraubtem KI. Aber damit dieses geraubte KI funktionieren konnte, damit es eine Waffe sein konnte, brauchte es ein menschliches Gehirn, wenn du so willst. Das war Hitomi.“
„Aha. Und nachdem du den Youma bis an den Rand der Vernichtung gebracht hattest, versuchte er zu fliehen und du konntest ihn außerhalb von Seto-san zerstören.“
„Genau so.“
„Und warum war sie nackt?“
„Weil ich keine Klamotten zum wechseln für sie dabei hatte“, brummte Doitsu ärgerlich. Das hatte er auch mindestens zehn mal erklären müssen. Außerdem war sie gar nicht nackt gewesen. Er hatte sie in sein Jackett eingehüllt, immerhin ein Armani.
„Okay“, verkündete Mamoru und stand auf, „ich denke, ich habe es kapiert.“
Doitsu Ataka atmete sichtlich erleichtert auf. „Schneller als erwartet.“
„Na danke für die Blumen. Und, was machen wir jetzt?“
„Ich löse meine Gruppe vorerst auf. Die Kronosier werden sehr schnell herausfinden, dass einer ihrer Youmas zerstört wurde. Und sie werden ebenso schnell herausfinden, dass ich damit zu tun hatte.“ Doitsu senkte den Blick und steckte das Katana zurück. „Meine Leute sind in Kyoto hoffentlich vorerst sicher. Außerdem hoffe ich, dass die Kronosier die Hauptgruppe in Ruhe lassen werden, wenn sie mich nicht fassen können.
Was uns übrigens zu dir bringt, Captain.“
Mamoru Hatake grinste schief. „Die letzten zwei Stunden waren nicht vergebens, Doitsu Ataka. Ich habe über meine Kanäle Kontakt bekommen können. Die Antwort kam vor zehn Minuten. Wir haben Rendezvous-Daten: Ort, Zeit und weitere Anweisungen. Dort wird man uns abholen.“
„Okay. Ich nehme an… UNS?“
Mamoru zuckte die Achseln. „Denkst du, ich kann hier mit meiner Kommunikation spielen und im Land bleiben? Natürlich komme ich mit. Erstens können wir Seto-san zu zweit besser beschützen. Und zweitens werde ich der meistgejagte Mann Japans werden, wenn ich bleibe. Nein, danke, keine Lust. Nicht schon wieder.“
„Ich dachte Akira ist der meistgejagte Mann Japans.“
„Das ist in vielen Ländern so“, erwiderte Mamoru schmunzelnd.
Doitsu nickte verstehend. Trotz aller Differenzen, trotz der unterschiedlichen Welten, in denen sie lebten, betrachtete er Akira Otomo dennoch als Freund, als sehr guten Freund.
„Wann müssen wir aufbrechen? Sofort?“ Doitsu sah auf die Wand, hinter der Hitomi auf ihrem Futon schlief.
„Du kannst sie noch etwas schlafen lassen. Wir haben drei Stunden Zeit, um hinzukommen. Anders ausgedrückt, wir sollten so lange wie möglich hier bleiben, damit uns die Kronosier so wenig wie möglich ins Visier nehmen können.“
„Ist ein Argument.“
„Oder so gesprochen, dass du es auch verstehst, entweder klingelt in hundert Minuten für Hitomi-chan der Wecker, oder die Kronosier klopfen vorher an.“
„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine wundervolle blumige Sprache hast, Mamoru Hatake?“, spottete Doitsu grinsend.
„Nach Yoshi eigentlich keiner mehr.“
***
Dankenswerterweise wurden sie die hundert Minuten in Ruhe gelassen, aber dennoch bestand die Möglichkeit, dass das sichere Gebäude längst observiert und für den Sturm vorbereitet wurde.
Dem trugen die Yakuza Rechnung. Im Keller öffneten sie den Zugang zu einem alten Wasserkanal. Doitsu, Hitomi und Mamoru würden nach Norden fliehen, die Gruppe nach Süden.
„Nein, Chiba. Du kannst nicht mit. Die Anweisungen waren eindeutig.“
Der glatzköpfige Mann schien pikiert. „Ataka-sama. Ich will nicht mit evakuiert werden. Ich will Ihnen den Rücken decken.“
„Eine schlechte Idee. Du würdest dabei sterben. Und ich brauche dich später noch lebend. Wenn wir die Gruppe wieder zusammen bringen und den Kronosiern mächtig in den Arsch treten.“
„Gibt es ein später?“, fragte der Ältere bitter.
Hitomi erschrak. Das war die heftigste Gefühlsreaktion, die sie je an diesem Mann gesehen hatte. Sie hatte eine solche Tiefe seiner Gefühle für unmöglich gehalten.
„Ist Akira Otomo ein kläglicher Versager im Schach?“
Chiba schmunzelte leicht. Doch als er diesen schweren emotionalen Ausfall bemerkte, räusperte er sich verlegen. Dann neigte er das Haupt. „Ataka-sama. Hatake-sama. Seto-ojou-sama. Viel Glück und auf Wiedersehen.“
Die drei jungen Menschen sahen Chiba und den anderen Yakuza eine Zeitlang nach. Dann setzten sie sich ebenfalls in Bewegung.
„Hast du das Haus eigentlich vermint?“, fragte Mamoru beiläufig. „Falls sie uns verfolgen wollen.“
„Natürlich habe ich das Haus vermint“, erwiderte Doitsu mit einem dünnen Lächeln. „Und wenn die Kronosier die Minen nicht auslösen, geht die Hütte in zehn Minuten dennoch hoch, um unsere Spuren zu verwischen.“
Leiser Donnerhall, der durch den Gang kam, gefolgt von einer schwachen Druckwelle, folgte seinen Worten.
„Diese Kronosier. Können keine zehn Minuten warten“, kommentierte Mamoru zynisch.
Er sah Hitomi an. „Seto-san. Rauf auf meinen Rücken.“
„I-ich kann alleine gehen.“
„Ja, in Ordnung, doch wir müssen laufen. Also zier dich nicht lange. Ich trage dich.“
Doitsu fackelte nicht lange und half der jungen Frau auf Mamorus breiten Rücken. „Ich löse dich in fünf Kilometern ab, okay?“
„Einverstanden. Und, wo müssen wir hin?“
Doitsu begann zu laufen, der Geheimdienstmann hielt problemlos mit.
„Am frühen Morgen soll der Ausblick vom Tokio Tower wirklich wunderbar sein.“
„T-TOKIO TOWER? Da kommen wir doch nie wieder weg, wenn wir erstmal drin sind!“
„So lauten die Anweisungen. Sie sind von Akira.“
Hatake grunzte misstönend. „Es fällt mir schwer zu glauben, dass sich Aoi Akuma diesmal was bei der Anweisung gedacht hat. Da werden wir wie auf dem Präsentierteller sitzen. Aber leider habe ich keine bessere Idee.
Scheiße. Zwei Tage im Land und ich muss es schon wieder verlassen. Hauptsache nicht mit den Füßen voran.“
***
Entsetzt starrte Hilmer Bont auf die eintreffenden Nachrichten aus den Vororten und der Innenstadt. „D-das geht zu weit! Legat Scott, wir verursachen einen Aufruhr, den die Leute nie vergessen werden! Ihre Youmas wüten in der Stadt so vehement, dass…“
„Halten Sie die Klappe, Hilmer!“, blaffte Gordon Scott wütend. Müde fuhr sich der Vierte Legat mit beiden Händen über sein Gesicht. „Ich habe Mist gebaut, das weiß ich selbst. Aber Sie haben damit angefangen! Es waren Ihre Leute, die den Spitzel eingestellt haben. Es waren Ihre Leute, die ihn nicht enttarnt und verdammt noch mal nicht aufgehalten haben! Sie wissen, was der Bursche entdeckt hat und wie wichtig es ist, dass diese Information Eikichi Otomo nicht erreicht! Mag sein, dass ich es mit drei Youmas übertrieben habe. Mag sein, dass ich es noch untertrieben habe!“
Wütend ließ der Legat seine Faust auf den Tisch niederfahren. „Ich hätte alle fünf losjagen sollen!“
Bont schüttelte sich. Was für eine Horrorvision. Fünf von diesen Bestien, auf der Jagd nach dem Agenten, wahrscheinlich einem Mann des Freien Japanischen Geheimdienstes, losgelassen von der Leine. Wie sie in der Stadt wüteten. In den Vororten. Sich KI einverleibten wie immer sie wollten.
Und dabei auch noch eine Spur der Verwüstung hinterließen. Neben Dutzenden komatösen Menschen.
„Wissen Sie, warum ich das Youma-Projekt auf den Mars verlegt habe?“, fragte Scott ruhig, beinahe gelassen. „Ich wollte die Youmas als Geheimwaffe bewahren. Sie sollten uns in schwierigen Zeiten helfen. Zeiten wie diesen. Sie sollten dann unsere Trumpfkarte sein, die uns vielleicht den Arsch rettet.“ Der Legat atmete schwer aus. „Und vor allem sollte niemand in der Lage sein, Daten über meine Youmas zu sammeln! Ich wollte nicht, dass irgendjemand eine Abwehr gegen sie entwickeln kann. Jede Waffe, die auf dem Schlachtfeld auftaucht wird irgendwann gekontert.
Und was muss ich sehen?“
„Was?“, fragte Hilmer Bont pflichtbewusst.
Scott deutete auf einen der Monitore. Das Signal von Youma drei war verschwunden.
„Es gibt bereits jemanden, der in der Lage ist, einen Youma zu vernichten. Wenn er dieses Wissen weitergibt, dann ist unser Trumpf wertlos! Dann sind acht Jahre Forschung, acht Jahre Tora in den Arsch kriechen vollkommen umsonst gewesen! Und das will ich nicht!“
Gordon Scott schwieg nun einige Zeit, rieb sich die Schläfen und schien intensiv nachzudenken.
„Legat, wegen den Youmas…“
„Wir lassen auch die anderen beiden von der Leine. Außerdem mobilisieren Sie alle Truppen, die wir im Großraum Tokio haben. Ich will die Informationen von diesem Agenten wieder haben. Und ich will verdammt noch mal, dass der Kerl, der einen meiner Youmas erledigt hat, stirbt! Koste es was es wolle!“
Bont versteifte sich. „Jawohl, Sir.“
Nun hatte er seinen Widerstand aufgegeben, das Schicksal der Stadtbevölkerung komplett zurückgestellt. Es hieß ab jetzt gemeinsam überleben oder gemeinsam fallen.
5.
Als die drei Menschen auf den Tokio Tower zuhetzten, geschah das nicht unbemerkt. Irgendjemand schien so schlau gewesen zu sein und eine Fahndung ausgeschrieben zu haben. Polizisten liefen auf sie zu, gingen aber in Deckung, als Mamoru das Feuer auf sie eröffnete.
Hitomi knickte kurz ein, fiel zu Boden, rappelte sich aber mit Doitsus Hilfe wieder auf.
„Schnell, wir haben nicht einmal mehr zehn Minuten!“
„Sollte eigentlich reichen!“, erwiderte Mamoru stoßweise, ließ ein leeres Magazin aus seiner Waffe schnellen und legte ein neues ein.
Sie erreichten den Treppenaufgang, Mamoru benutzte seine Waffe als Schlüssel für das Schloss und gemeinsam sprinteten sie den Turm hinauf.
„Ein Punkt für Akira Otomo. Dass wir hier rauf flüchten haben sie nicht geahnt. Wir haben freie Bahn, Yakuza.“
„Ja, freie Bahn direkt in die Falle, Spion!“
„Könnt ihr das sticheln sein lassen? Sie kommen uns hinterher, und ich werde ihnen bestimmt nicht mehr in die Hände fallen!“ Hitomis Stimme klang ernst, viel zu ernst. Auch als sie nach der dritten Treppe in den Knien einbrach, versuchte sie weiter voran zu kommen.
Doitsu und Mamoru verständigten sich mit einem schnellen Blick, dann griff je einer nach einem Arm der jungen Frau und halfen ihr beim Treppensteigen.
Auf der ersten Plattform erwartete sie tatsächlich ein Sicherheitsmann mit Schlagstock, aber im direkten Vergleich mit der Beretta in Mamorus Hand schloss er sehr kläglich ab. Kläglich genug um Fersengeld zu geben.
Sie hetzten weiter, erreichten die Treppe zur zweiten Plattform.
„Noch vier Minuten! Schneller, verdammt!“
„Lauf lieber mehr und rede weniger, Spion“, versetzte Doitsu wütend.
Hinter ihnen öffnete sich ein Fahrstuhl und spie ein Rudel Soldaten aus. Gut organisierte und gut bewaffnete Elitetruppen.
„Die fahren bestimmt auch auf die zweite Plattform“, kommentierte Mamoru ernst. „Wie gut ist dein KI, Kumpel?“
Doitsu grinste amüsiert, ließ Hitomi los, die nun vollends gegen Mamoru sackte und sprintete die Treppe hoch. Es wirkte als würde ein Kugelblitz vor ihnen davon huschen.
Mamoru drängte weiter, mit der Waffenhand nach hinten sichernd. Aber noch waren ihnen die Soldaten aus dem Fahrstuhl nicht auf den Fersen. Eventuell begnügten sie sich aber auch damit, die untere Plattform abzuriegeln. Vielleicht waren sie sich sicher, die drei Menschen in der Falle zu haben.
Sie erreichten die zweite Plattform. Ein genüsslich grinsender Doitsu saß auf einem Stapel stöhnender Soldaten. „Sie sind nicht schlecht ausgebildet. Nur ein wenig langsam.“
„Wie nett.“ Mamoru richtete seine Waffe auf das nächste Fenster und schoss. Die Scheibe zersprang in tausend Scherben, die gen Boden regneten. „Hier geht es weiter.“
„Ich wusste doch, dass es nicht einfacher wird“, brummte Doitsu missmutig.
Er lief zur Scheibe, sprang und schwang sich auf das Dach der Aussichtspromenade. Dann hielt er seine Hand hilfreich nach unten. Zuerst griff Hitomi zu; mit Leichtigkeit zog er die junge Frau in die Höhe.
Danach war Mamoru an der Reihe.
„Was ist? Warum ziehst du nicht? Fehlt dir die Kraft?“
„Das ist es nicht. Aber ich glaube, es macht wenig Sinn, sich noch groß anzustrengen“, erwiderte der Yakuza ernst.
Mamoru kämpfte sich nach oben und sah die Bescherung. „Oh.“
„Ja, oh. Wir wären besser unten geflohen. Aber nein, Akira schickt uns auf den Tokio Tower. Mitten auf den Präsentierteller. Was denkt er sich dabei?“
„Immerhin, er hat sich was dabei gedacht“, erwiderte Mamoru.
Daishis strömten in Richtung Tokio Tower, mindestens eine Kompanie. Dagegen konnten sie sich nicht wehren, nicht ohne Hawks, am liebsten ein halbes Dutzend oder mehr. Dennoch grinste der Geheimdienstmann. „Zehn Sekunden.“
„Was meinst du mit zehn Sek…“, begann Doitsu, verstummte aber wieder, als der erste Daishi durchsackte und gen Boden fiel.
Ihm folgte schnell Nummer zwei, Nummer drei wurde von einem Schwarm Raketen eingehüllt.
Dann war da dieser mächtige blaue Hawk. Er schoss zwischen den Kampfmaschinen der Kronosier hindurch, drehte sich im Flug und feuerte erneut. Danach umrundete er einmal den Tower, schluckte schweres Feuer vom Boden und von den Daishis, aber das schien ihm nichts auszumachen, ja nicht mal zu berühren. Das ließ auf eine Fairy schließen, zudem eine sehr fähige.
Schließlich schoss der Hawk auf sie zu. Direkt auf sie. Ohne abzubremsen. Ohne Rücksicht auf Verluste.
**
„Toller Plan, Akira! Wirklich toller Plan!“, blaffte Doitsu entrüstet.
„Hör auf zu nörgeln! Es ist schwierig genug, mit Blue Devil die Linien der Kronosier zu durchbrechen, wenn ich auf mein Herkules-Schwert verzichten muß! Weil ihr drei in den Händen sitzt!“
„Ja, danke für den phantastischen Platz“, fiel Mamoru ein. „Etwas Schrapnell und wir sind Geschichte!“
Akira seufzte. „Willst du dazu auch noch etwas sagen, Hitomi-chan?“
„Du hast mich erkannt? Unmöglich, ich…“
„Nicht ich habe dich erkannt. FESTHALTEN!“
Der Hawk flog ein gewagtes Manöver, die drei Menschen in den voll modellierten Händen hatten Mühe, an ihren Plätzen zu bleiben. Akira tauschte Raketenfeuer mit einem Gegner aus, konnte aber nicht vermeiden dass drei Raketen weiterhin auf Blue Devil zuhielten.
Kurz entschlossen fing er sie mit dem Schulterschild der rechten Seite ab.
„Da hast du dein Schrapnell, Mamoru!“
„Sehr komisch.“
„Wer hat mich denn nun erkannt?“
„Ich war das. Hallo, Hitomi. Und willkommen zurück im Leben. Deine Zeit als Youma ist vorbei und wird auch nie wiederkehren, solange ich etwas dagegen tun kann.“
„Akane-sempai?“ Die junge Frau brach in Tränen aus. „AKANE-SEMPAI!“
„Das wird ja ein freudiges Wiedersehen“, murmelte Akira. „Okay, die Akuma-Gumi und zwei Kompanien der Hekatoncheiren erwarten uns über internationalem Gewässer. Wenn wir es bis dahin geschafft haben, sind wir sicher. Und wir kriegen einen Mörder-Geleitschutz bis zum OLYMP.“
„Akira, es gibt da etwas was du wissen musst! Falls wir es nicht schaffen musst du es direkt an deinen Vater schicken!“
„Was redest du da? Ihr fliegt mit Aoi Akuma! Das ist besser als ein Dutzend Schutzengel! Natürlich nur bis zu den Hekatoncheiren, dann teile ich euch auf verschiedene Cockpits auf. Ihr wollt sicher nicht ewig in den Händen bleiben und…“
„Akira! Corporal Inari hat für diese Information sein Leben gegeben! Sie muss Eikichi Otomo erreichen! Ich habe es ihm geschworen!“
„Welche Information?“
„Was sagt dir der Begriff Elwenfelt?“