Episode zwei: Biotank
Prolog:
Eigentlich lebte man nicht schlecht in Japan, auch wenn es bereits acht Jahre defacto weder vom Parlament, noch vom im Palast isolierten Kaiser, aber vom kronosischen Generalgouverneur Hilmer Bont regiert wurde.
Man hatte eine gewisse Meinungsfreiheit, ein gewisses Mitspracherecht, bis zu einem bestimmten Punkt gab es sogar eine freie Presse. Repressalien waren selten, ebenso Verhaftungen.
Nach den großen Säuberungen im ersten Jahr, bei denen wichtige Politiker und führende Offiziere der Self Defense Army ausgeschaltet worden waren, begnügte sich das neue Gouvernat damit, die Bevölkerung mit Hilfe der staatlichen Medien zu beeinflussen und Mars-freundlich einzustellen. Ja, zu beeinflussen, nicht zu indoktrinieren.
Ansonsten ging das Leben seinen gewohnten Gang, man lebte, ging zur Arbeit, nach der Arbeit in die Bar, dann nach Hause. Einige meldeten sich freiwillig zur Armee, um den Kronosiern beim Befreiungskampf um die Welt zu helfen, ein paar starben, einige kamen als Helden nach Hause.
Und das war eigentlich schon alles. Wenn man den Nonsens mit dem Befreiungskampf glaubte. Eigentlich waren die Kronosier auch nichts anderes als Eroberer. Und nichts anderes hatten sie vor.
Allerdings konnte es schlimmere Herren als sie geben – wenn man das erste Jahr außer Acht ließ, in dem die Kronosier doch meistens über die Stränge geschlagen hatten.
Das dunkle Jahr durfte deshalb auch nicht öffentlich erwähnt werden. Dies war die einzige offiziell existierende politische Einschränkung von der Seite des Gouvernats, was die Redefreiheit betraf.
Nun, Cheong Dae-jung hatte genau diesen Fehler gemacht. Nicht ganz freiwillig und auch teilweise aus Unwissenheit. Nachdem Korea, sein Heimatland, dadurch vereinigt worden war, dass die Kronosier Nord und Süd erobert hatten, hatte es tief greifende Änderungen in ihrer Kultur gegeben. Die Demarkationslinie war aufgehoben, getrennte Familien wieder vereinigt und die Kronosier weniger als Eroberer und mehr als Befreier gefeiert worden.
Danach hatte es etliche Spitzenkräfte in die neue Verwaltung gezogen, die in Tokio für die eroberten Gebiete eingerichtet worden war. Und die Koreaner galten aufgrund ihrer Dankbarkeit als loyal und nicht opportunistisch.
Dae-jungs Fehler war simpel gewesen. Er hatte sich bei seinem Vermieter erkundigt, wer vor ihm sein geräumiges Appartement bewohnt hatte. Leider war es ein hoher, allein stehender Beamter der alten japanischen Regierung gewesen, der den Säuberungen des ersten Regierungsjahrs zum Opfer gefallen war – sein Verbleib war nie geklärt worden, und niemand hatte es gewagt zu fragen.
Aber er war so dumm und unwissend gewesen und hatte damit einen Automatismus in Gang gesetzt, der jedes Jahr ein paar hundert Menschen in der großen Stadt Tokio verschlang.
Es war alles relativ schnell gegangen. Ein offizieller Regierungswagen hatte ihn zu einer Befragung abgeholt, man hatte ihn mit seiner unbedachten Nachfrage konfrontiert, seine Beweggründe geklärt und zufrieden genickt.
Dann hatte man ihn allein gelassen.
Cheong Dae-jung war nervös. Sehr nervös, auch wenn er es nicht zugab. Hätte er eine Zigarette gehabt, hätte er wahrscheinlich eher seine Finger als die Spitze des Papierröllchens angesteckt. So blieb ihm nichts anderes übrig als auf seine Fingerspitzen zu starren, nervös mit dem Stuhl zu kippeln und auf die Rückkehr der Verhörspezialisten zu warten.
Nun, es schien ja alles gut zu gehen, sie hatten ihm keine Vorhaltungen gemacht und schienen mit seinen Antworten zufrieden gewesen zu sein.
Vielleicht war er zum Abendessen schon… Was war das?
Irgendwie richteten sich seine Nackenhärchen auf. Und die Gänsehaut, die er gerade bekam, zog ein kalter Wind in den Verhörraum herein?
Nein, das konnte nicht sein. Aber was war das für ein Grimmen im Bauch? Was passierte hier?
“I-ist da jemand?”
Nein, natürlich war da niemand. Die Tür war immer noch verschlossen, und den großen Spiegel, auf dessen anderer Seite in den Fernsehfilmen immer wichtige Polizisten saßen, um einem Verhör zu zusehen, konnte man ja nicht durchqueren.
Aber warum drehte sich ihm der Magen um? Warum die aufgestellten Härchen?
Warum zitterten seine Hände so sehr?
Und warum hatten ihn die Verhörspezialisten gefragt, ob er nahe Verwandte in Korea hatte?
“Wer ist da?”
Unsinn, er machte sich lächerlich. Da war niemand, nichts und niemand.
Aber wieso dachte er dann an nichts? Was sollte dieses nichts überhaupt bedeuten?
Dae-jung sprang vom Stuhl auf, wirbelte herum! Tatsächlich, hinter ihm war nichts, absolut nichts! Und genau dieses Wandgraue Nichts fiel plötzlich auf ihn. Sein erstickter Schrei verklang, als die Wand ihn unter sich begrub, ihn umschloss und zu Boden riss.
Auf der anderen Seite des Spiegels beobachteten zwei Kronosier und ein Japaner den Vorgang. Die graue Masse hatte sich wie ein Sauerteig über den Koreaner gelegt und begann ihn nun zu assimilieren.
“Der wievielte ist es?”, fragte der Japaner.
“Wenn es klappt, dann ist es unser eintausendneunundachtzigster, Tori-sensei.”
“Gut, Shise-kun. Sobald die Transformation abgeschlossen ist, schicken Sie ihn auf den Mars, zur Ausbildung.”
Die beiden Kronosier bestätigten nickend.
“Und die weitere Familie? Sagen wir, er sei in subversive Tätigkeiten verstrickt gewesen?”
“Warum so etwas kompliziertes, Gordon-kun? Nehmen Sie die alte Ausrede vom Autounfall. Und erstellen Sie seine Todesurkunde.”
“Ja, Sensei.”
In die graue Masse kam Bewegung. Eine gelbe Hand schoss hervor, durchbrach sie, es kam eine zweite hinzu, die sich angestrengt durch die graue Masse arbeitete.
Schließlich richtete sich ein drei Meter großer, gehörnter Riese mit goldgelber Haut auf, entblößte ein Raubtiergebiss und brüllte zornig auf.
“Ein Prachtexemplar haben wir diesmal bekommen”, murmelte der Wissenschaftler. “Er wird der kronosianischen Sache gut dienen, wenn es soweit ist.”
Einer der Kronosier betätigte einen Schalter, Schlafgas strömte in den Raum und betäubte den Besessenen. Wenn er erst einmal dressiert war und seine Herren kannte, würden sie auf solche Kniffe verzichten können. Doch bis dahin half nur die Holzhammer-Methode.
“Wirklich ein Prachtexemplar”, murmelte der Japaner und wandte sich ab.
1.
Megumi Uno… Für eine Frau von guten zwanzig Jahren war sie etwas groß, fast eins vierundsiebzig. Damit überragte sie die meisten einheimischen Männer. Aber ihre schlanke Gestalt und der dezente Busen ließen sie dennoch zierlich erscheinen. Sie war Japanerin, aber sie behauptete auch, sich nicht die Haare zu färben. Und dunkelblond war doch etwas selten in unseren Genen.
Bei mir war das was anderes, immerhin war mein Opa Michael Deutscher, da konnte sich so was schon mal durchsetzen. Aber bei ihr… Ob ihre Mutter europäische Ahnen hatte? Sie war ja die Blonde in der Familie, war sogar noch heller als Megumi. Oder ob ihr Teil der Familie einfach irgendwann eingebürgert worden war?
Nicht, dass das noch einen Unterschied machen würde, wenn sie die Gift annahm, die Umprogrammierung der eigenen DNS auf kronosianische Normen. Die Kronosier hatten alle weiße oder weißblonde Haare, die sie sehr lang zu tragen pflegten. So als Zeichen: Seht her, wie lange ich schon die Gift habe, ätschibätsch.
Auch die dunklen Augen waren bei ihnen Gang und Gebe. Dunkelbraun, schwarz, beides gemischt, es gab ein paar Variationen. Die Haut selbst war im Grundton hell, konnte sich aber erheblich bräunen.
Wenn sie die Gift annahm und fortan so aussah… Ich hätte mich an den Gedanken gewöhnen können. Ich hätte mich an Megumi gewöhnen können.
Mit meiner abgewetzten schwarzen Lederjacke bekleidet, eine uralte Luger im Holster unter der linken Achsel und einer schäbigen schwarzen Jeans bekleidet fiel ich in der kleinen Einkaufsmeile natürlich auf wie ein bunter Hund. Aber dennoch schien mich Megumi bei meiner kleinen Observation nicht zu entdecken. Ob die tiefschwarze Sonnenbrille so eine gute Tarnung war? Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Immerhin hing mein Steckbrief in jeder U-Bahn und in jeder Polizeistation. Zudem war mein Kopfgeld nach der Sache am Portal in die Dämonenwelt noch einmal kräftig erhöht worden, denn offiziell hatte ich versucht, die beiden sich zurückziehenden Divisionen zu vernichten und dabei zwei Zerstörer und einen Kreuzer versenkt, die ihnen hatten zu Hilfe kommen wollen.
Na, danke. Am Besten noch alleine, wie? War ich Gott, oder was? Wenn die Kronosier so weitermachten, würde mich bald die ganze Welt fürchten und jagen.
“Hallo, Megumi-chan. Soll es heute etwas besonderes sein? Die Bananen sind im Angebot, weißt du?”
“Danke, Ojii-san, aber ich muss mich vitaminreicher ernähren, sagt mein Arzt. Also bitte nur frisches Gemüse. Genügend Kalzium bekomme ich über das Fleisch.”
Ich betrachtete die Szene am Gemüsestand schmunzelnd. Megumi war beliebt. Nicht nur bei denen, die auf die Propaganda der Kronosier hereinfielen. Nein, auch bei den meisten normalen Bürgern. Unvergessen war ihr Auftritt vor drei Jahren, als sie sich vor eine Strafaktion gestellt hatte. Ein Bombenangriff, mehrere Tote und ein Stadtteil Tokios, der als Antwort abgebrannt werden sollte. Und Megumi irgendwo dazwischen, bereit, als erste bei der Strafaktion zu sterben.
Die Kronosier hatten zurückgesteckt, und die Attentäter und die Hintermänner waren einer nach dem anderen abgeliefert worden. Mit schönem Gruß an Megumi-sama, die Beschützerin.
Ich hatte meinen Schwur von damals, diese unvorsichtige, impulsive Göre dafür, dass sie ihr Leben riskiert hatte, übers Knie zu legen, noch nicht vergessen.
Als sie weiterging um beim Schlachter einzukaufen, ging ich selbst zum Gemüsestand. “Ich hätte gerne eine Banane, Ojii-san.”
Der Verkäufer, ein Mann um die Vierzig, deshalb meine Anrede Ojii-san, lächelte mich freundlich an. Er reichte mir die größte Banane die er finden konnte und wedelte mit beiden Händen, als ich bezahlen wollte. “Aber nicht doch. Nicht doch. Aoi Akuma muss doch nicht für eine simple Banane bezahlen.”
Ich lupfte meine Sonnenbrille. “Verdammt, meine Tarnung ist wohl doch nicht so gut.”
Der Ältere grinste mich an. “Es sah für mich nicht gerade so aus, als würdest du dich tarnen wollen, Akira.”
Ich zwinkerte dem Verkäufer zu, schälte die Banane und wandte mich zum gehen. Kein Wunder, Hattori-san kannte mich ja schon, seit ich alt genug war, um mit meiner Mutter einkaufen zu gehen.
“Akira-kun, wie wäre es mit frischen Brötchen?”, rief mich die Verkäuferin am Bäckerstand an. Deutsche Brötchen, hier hatte sich ja einiges verändert.
“Hm, warum nicht?”
“Akira-kun, trink doch eine Limonade bei mir.”
“Akira-kun, vergiss nicht, bei mir vorbei zu kommen. Für die beiden geretteten Divisionen hast du dir ein Eis verdient!”
“Akira-kun!”
“Akira!”
Ich seufzte schwer. Vom Staatsfeind Nummer eins war ich in dieser Einkaufsmeile weit entfernt. “Ja, ja, ich komme. Überall hin, versprochen, und… URGS!”
Jemand griff erbarmungslos nach meinem Kragen, drehte ihn einmal in der Faust und zog mich hinter sich her. Bei soviel brachialer Gewalt folgte ich automatisch. Wenn man mein unkontrolliertes Stolpern und das Balancieren der Brötchen, der Banane, vom Eis und der Limonade so nennen konnte. Wenigstens war die Lamune-Flasche noch verschlossen.
“Ah, Megumi-chan, gehst du mit Akira-kun aus? Benutze ruhig Gewalt, wenn der Dummkopf nicht freiwillig gehen will”, rief eine spöttische Stimme zu uns herüber.
Ich winkte mit einem verlegenen Grinsen herüber, eifrig darauf bedacht, in Megumis hartem Griff nicht zu stürzen oder eines meiner Geschenke zu verlieren.
Sie zerrte mich durch eine Seitengasse, durch noch eine Straße und stoppte auf einer Fußgängerbrücke. Wütend richtete sie mich auf und starrte mich nieder.
Ehrlich, ich weiß nicht, woher Frauen so etwas können und wer es ihnen beibringt, wahrscheinlich wurde es ihnen vom Schöpfer in die Wiege gelegt, aber dieses Niederstarren war ihre schärfste Waffe.
“AKIRA!”
“Schrei nicht so, ich stehe ja direkt vor dir.”
“Verdammt, du Idiot! Warum läufst du offen mitten durch Tokio? Willst du, dass die Kronosier dich schnappen? Willst du, dass dich der Geheimdienst schnappt? Willst du, dass sich irgendjemand die Prämie auf deinen Kopf verdient?”
“Megumi, du machst dir ja richtig Sorgen um mich.”
Nun, es gibt eine zweite Sache, die Frauen sehr gut können. Besonders schmerzhafte Ohrfeigen verteilen. In diesem Fall musste Megumi eine sehr gute Lehrmeisterin gehabt haben, denn ihre Ohrfeige krempelte mir die Zehennägel hoch.
“NATÜRLICH mache ich mir Sorgen um dich! Du großer, blöder Trottel! Wie kannst du dich nur in Gefahr bringen?” Sie sah zu mir hoch, und Waffe Nummer drei kam zum Einsatz. Bittere Tränen ob des Unverständnis und Gedankenlosigkeit der Männer an sich.
Sie füllten Megumis Augen und flossen in dünnen Strömen über ihre Wangen. Ich hatte das dringende Bedürfnis, jede einzelne fortzuküssen, während ich sie innig umarmte, aber erstens ging das nicht wegen meiner Beute, und zweitens verdrehte sie mir immer noch den Kragen und zwang mich in eine unvorteilhafte Haltung.
“Heißt das, du lieferst mich nicht deinen Vorgesetzten aus?”
Übergangslos wurde Megumi knallrot. Ich befürchtete schon eine weitere Ohrfeige, aber sie ließ mich nur los und wandte sich von mir ab.
“IDIOT!”, fauchte sie und ging davon.
Sie verschwand auf der gegenüberliegenden Treppe. Nachdenklich machte ich die Lamune-Flasche auf und nahm einen Schluck. Solange ich alleine auf der Fußgängerbrücke war, musste ich nicht befürchten erkannt zu werden. Was entweder die Jagd auf mich beginnen lassen würde, oder den unsäglichen Wunsch nach Autogrammen von Aoi Akuma, dem blauen Teufel.
“Du bist ja immer noch da!”, fauchte Megumi neben mir.
“Du bist wieder da? Na, weit bist du ja nicht gekommen”, stellte ich fest.
Unschlüssig, gefangen zwischen einem Wutausbruch und Verlegenheit, sah sie mich an. Schließlich riss sie mir die Limonade aus der Hand und nahm einen langen Schluck.
“Also, was mache ich jetzt mit dir?”
“Du könntest dir das Kopfgeld verdienen und vielleicht ein, zwei Ränge aufsteigen.”
“Ja, das könnte ich! Vollkommen problemlos, denn Akira Otomo ist ja so unendlich dumm, vollkommen ohne jede Rückendeckung durch Tokio zu spazieren!”
“Okay, das ist richtig. Aber ich habe ja auch einen guten Grund dafür.”
“Na, da bin ich aber mal gespannt!”
Ich schlang beide Arme um sie und drückte das Mädchen an mich. Ich hoffte, dass das Eis, die Banane und die Brötchen in meinen Händen nicht die Stimmung drückten.
“Ich wollte dich sehen, Megumi, dich berühren, deine Stimme hören, dich küssen und halten und…”
“Das geht gerade so als Grund durch!” Ihr Gesicht rötete sich wieder.
“Halten tue ich dich ja schon…”, hauchte ich und senkte meinen Kopf, kam ihren Lippen mit den meinen entgegen.
“Akira…”, hauchte sie und schloss die Augen.
“Waaaah! Das unmögliche Liebespaar! Ich hätte mir nie träumen lassen, Akira-sama und Megumi-sama einmal persönlich zusammen zu sehen! Und erst Recht nicht wie sie sich küssen!”
Unwillig löste ich meine Lippen von Megumis und sah auf. Mist, drei Sekunden mehr und ich hätte ihre Zunge in meinem Mund gehabt.
Was ich die ganze Zeit befürchtet hatte war nun eingetreten. Ein vierzehnjähriges Mädchen hatte mich erkannt, hatte Megumi erkannt, die Situation, in der wir steckten – und ihre Begleiter, eine geschlossene Schulklasse, angesteckt!
Na, wenigstens rannten sie nicht alle auf einmal auf uns los, sondern hielten respektvollen Abstand. Von der Uniform her schätzte ich sie als Schüler der Fushida-Mittelstufe ein. Auf der Schule war ich auch gewesen, bevor… Bevor alles einen vollkommen anderen Gang genommen hatte.
Die Klasse war nun vollends in Begeisterung ausgebrochen, Jungen wie Mädchen riefen die verschiedensten Dinge, von obszön bis anfeuernd, nett bis schüchtern, einige pfiffen auf den Fingern und die Lehrer, die sie begleiteten, hatten alle die Handys gezückt.
Soviel zur trauten Zweisamkeit mit Megumi.
“Halt mal die Brötchen, ja? Und trink die Limo aus, es wäre schade sie wegzukippen.”
Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und einen Klaps auf den Allerwertesten, winkte den Schülern zu – und sprang von der Fußgängerbrücke mitten in den Verkehr hinein.
Keine Sekunde zu früh, denn der glitzernde Punkt am Horizont entpuppte sich als fliegender Infanterietransporter. Sicherlich würde es jetzt nur noch Sekunden dauern, bis auch die ersten Daishis auftauchten. Mit Infanterie wurde ich fertig, aber um gegen Daishis zu bestehen brauchte ich meinen Hawk. Nicht unbedingt meine Fairy, aber definitiv meinen Hawk.
Ich landete auf dem Planenverdeck eines Transport-LKWs und ließ mich fünfhundert Meter weit mitnehmen. Megumi sah mir so lange fassungslos nach, bis der LKW um eine Straßenecke bog.
Ich nutzte die paar Sekunden, die der Fahrer vom Gas ging, sprang ab und landete auf dem harten Asphalt. Dort rollte ich mich ab, hechtete über die Straßenumzäunung und rannte den Fußweg hinab. Mit etwas Glück vermuteten mich die Häscher der Kronosier noch auf dem Dach des LKWs. Mit etwas Pech waren sie mir schon viel zu nahe.
Also huschte ich in den erstbesten Laden, durchquerte ihn, kam in einem Hinterhof raus, nahm die nächste offene Tür und hatte Glück. Eine Bücherei.
Eilig raffte ich ein paar neue Bände meiner Lieblingsmangas zusammen, die ich noch nicht hatte, besuchte die Kasse im Express – auch auf der Flucht sollte man das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, und wer vermutete in einem Kunden mit einer Einkaufstüte schon einen landesweit gesuchten Elitepiloten – und trat ruhigen Schrittes auf die Straße hinaus.
Dort kramte ich einen der Mangas hervor, begann darin zu blättern und setzte mich an eine Bushaltestelle. Kurz darauf liefen kreuz und quer schwer bewaffnete Infanteristen durch die Straße, acht an der Zahl. Zwei Teams also nur. Sie vermuteten mich nicht wirklich in dieser Straße.
Und sie hielten den Busverkehr nicht auf. Grinsend stieg ich ein, bezahlte für eine Fahrt bis zur Endstation, setzte mich ganz hinten hin und las weiter. Auch wenn es meine ganze Disziplin kostete, ich würde den Infanteristen nicht spöttisch zuwinken, während ihre Beute fröhlich mit dem Bus davon fuhr.
“Was ist denn da draußen los?”
“Keine Ahnung, die suchen jemanden.”
“Wäre das nicht cool, wenn sie nach einem aus der Akuma-Gumi suchen würden? Oh, ich würde sterben, wenn ich einen von ihnen sehen würde!”
Mit halbem Ohr lauschte ich der Unterhaltung der beiden Mädchen auf der Bank vor mir und unterdrückte ein Schmunzeln. Wenn sie wüssten, dass einer aus der Akuma-Gumi direkt hinter ihnen im Bus saß… Und in diesem Augenblick den Häschern der Kronosier davonfuhr.
Hoffentlich dachte Megumi daran, die Brötchen mitzunehmen.
***
Eine Stunde später schlug mir jemand auf den Nacken.
“Lass den Mist, das tut weh”, tadelte ich.
Megumi ließ sich auf der Schaukel neben mir nieder. “Das ist das Mindeste, was du verdient hast, Akira. Weißt du, in was für einem Schlamassel du mich zurückgelassen hast? Ich werde einiges zu erklären haben, wenn herauskommt, dass wir zusammen gesehen wurden. Außerdem scheinen die Schüler der Fushida-Mittelschule Fotos davon gemacht zu haben, wie wir uns küssen.”
“Hm, davon hätte ich gerne ein paar Abzüge. Zum Träumen für die einsamen Tage auf meiner Insel.”
“Erzähl mir nichts von einsam. Ich kenne alle Akten über die Akuma-Gumi. Du hast doch Hina-chan, oder nicht?”
“Das ist schon lange vorbei. Wir waren nicht füreinander bestimmt.” Nachdenklich faltete ich die Hände im Nacken und betrachtete den verlassenen Spielplatz im Licht der Abenddämmerung. “Kein Wunder, dass du mich so schnell aufgespürt hast. Hier haben wir früher immer zusammen gespielt. Weißt du noch?”
“Wäre ich sonst hier?” Ernst sah sie mich an. “Und? Warum bist du hier? Und warum nimmst du es schon wieder mit einer Hundertschaft Soldaten auf?”
“Um dich zu küssen? Um sie zu necken?”
“Du hast mich geküsst und du hast die Soldaten geneckt. Was bleibt jetzt noch? Du hast doch einen Grund, einen guten Grund um hier zu sein. Wenn es nur um mich gehen würde, hättest du in meinem Appartement auf mich gewartet und versucht, mich…” Sie errötete und sah fort.
“Hm, richtig. Ich hätte es versucht. Gibt es denn einen Hauch Hoffnung, dass ich eines Tages Erfolg haben werde?”
“Akira. Der Tag, an dem wir beide uns lieben ist der Tag, an dem ich dir total verfalle, an dem ich deine Seite nie wieder verlassen will. Dieser Tag ist noch lange nicht gekommen. Wir haben beide noch viel zu viel zu tun auf unseren Seiten in diesem Spektakel, und…”
“Ich will dich”, hauchte ich und küsste sie wieder.
Sie erwiderte den Kuss, öffnete den Mund einen Spalt und tauschte Liebkosungen mit mir aus.
“Ich weiß, Akira, ich weiß”, hauchte sie und drückte mich langsam und nachdrücklich fort. “Aber ich kann nicht. Ich kann einfach nicht. Noch nicht.”
“Hast du denn Hoffnung, dass es jemals so weit kommen wird? Dass wir auf einer Seite stehen werden? Kann es nicht sein, dass ich in meinem nächsten Einsatz gegen die Kronosier sterben werde? Was dann? Ist unsere Chance dahin?”
“Du verstehst es nicht. Mir geht es nicht um Sex, sondern darum, dass ich für immer bei dir bleiben werde, wenn es soweit ist.”
“Mir geht es auch nicht um Sex. Mir geht es um den Menschen, der mir das Wichtigste auf dieser Welt ist. Desertiere, Megumi, komm zu mir auf die Insel! Komm mit nach Senso Island und bleibe bei mir!”
“Senso Island? Du hast deine Heimatinsel nach dem japanischen Wort für Krieg benannt?”
“Ich war noch nie besonders gut im vergeben von Namen”, gestand ich ein.
“In diesem Fall schon. Es klingt… Sehr passend, Akira.
Aber nein. Nein, Akira. Die Kronosier sind nicht vollkommen verdorben, und die Welt da draußen ist nicht vollkommen gut. Das weißt du, sonst würdest du nicht peinlich darauf achten, dass keine Macht der Welt Einfluss auf deine Akuma-Gumi erhält. Es hat seine Gründe, warum du kein Werkzeug der Russen oder der Amerikaner sein willst.”
“Ich… Ich hasse es, wenn du Recht hast.” Betreten sah ich zu Boden.
Nun küsste sie mich, innig, verlangend und doch unendlich sanft. Die Ohrfeige hatte meine Fußnägel aufgerollt, dieser Kuss glättete sie erst und ließ sie dann auf links rollen.
“Aber irgendwann einmal ja, Akira. Das verspreche ich dir.”
“Das ist also Glück…”
“Also, was ist es? Warum bist du hier? Übrigens sollten wir langsam den Ort wechseln, wenn du nicht doch geschnappt werden willst.”
Ich stand auf. “Heißt das, du hast ein paar Stunden Zeit?”
“Wofür, Akira?”
“Wir wollen jemanden besuchen. Jemand besonderen.”
2.
Offizielle Pressekonferenz des Gouvernats Japans:
“Was wollen Sie mir da weismachen? Akira Otomo war heute in der Innenstadt? Hören Sie, wenn ich für jede Akira Otomo-Sichtung einen Yen bekommen würde, dann wäre ich mittlerweile reich genug, um Australien zu kaufen. Er ist kein verdammter Geist, der tun und lassen kann, was immer ihm beliebt. Außerdem haben wir gerade in Tokio eine hohe Polizei- und Militärdichte, bei der es einem Renegaten wie Otomo nicht gelingen kann zu entkommen. Das, was Sie als Otomo-Sichtungen bezeichnen, sind nur die verzweifelten Gestalt gewordenen Geschichten von Oppositionellen und ewig Gestrigen, die wirklich glauben, ein einzelner Mann könne das kronosianische Imperium besiegen.”
***
Als wir die kleine Bar im Kellergeschoss betraten, schlug uns dichter Rauch entgegen. Zigaretten, Zigarren, Zigarillos und Pfeifen wetteiferten hier darum, die Luft für Nichtraucher möglichst nikotinhaltig zu gestalten.
In einem Land, in dem in öffentlichen Einrichtungen absolutes Rauchverbot herrschte – ein Land erobern konnten die Kronosier ganz gut, das Rauchen an sich bekämpfen auch, solange man es nicht daheim machte und eifrig Steuern bezahlte – wies dies auf einen Laden hin, in dem man es mit mehreren Dingen nicht so genau nahm. Gesetze und die Polizei standen sicherlich ganz oben auf der Liste.
“Was ist das für ein Laden?”, fragte Megumi nach dem ersten Hustenanfall.
Ich blickte mich im schummrigen Licht um und grinste wölfisch. Jackpot. Mein Kontakt hatte einen sehr guten Laden ausgesucht.
Der kleine Raum war sehr gut gefüllt, Dutzende kleine Tische waren aufgestellt, auf jeden Tisch war ein Spotlicht gerichtet. Auf jedem Tisch standen ein Schachbrett und eine Stoppuhr, und neben den beiden Spielern saßen und standen diverse Beobachter um die Tische herum. Eine große Tafel im Hintergrund wurde regelmäßig mit den neuesten Ergebnissen beschriftet.
“Eine Schach-Hölle.”
“Eine… Eine Schach-Hölle? Willst du mich verarschen?”
“Hast du noch nie von den Schachhöllen gehört? Nachdem die Kronosier Shogi und Go monopolisiert und die Kontrolle über die staatlichen Ligen an sich gerissen haben, wurden diese Spiele höchst populär. Und auch wieder nicht, denn Shogi und Go zu spielen wurde auch zum Ausdruck, den neuen Herrschern zu gefallen. Ähnlich wie Tai Shi Shu’an am Morgen zu trainieren im kommunistischen China erst richtig populär wurde, nachdem die Partei es nachdrücklich gutgeheißen hat.
Schach zu spielen ist eigentlich mehr als einen neuen strategischen Sport zu bestreiten. Es ist eine Art Kriegserklärung an die Kronosier, noch mehr, eine Ideologie und offener Widerstand.
Eine Kneipe, in der Schach gespielt wird, ist immer ein Brutort für Subversivität und Opportunismus. Deshalb verschwinden die Schachhöllen auch so schnell wieder wie sie eröffnet werden, weil der Geheimdienst bemüht ist, sie zu bekämpfen. Bis auf eine Handvoll, die… Nun.”
“Die, nun was?”
“Die von den Yakuza beschützt werden. Natürlich nicht von den offiziellen Familien, die sich durch offene Kollaboration hervor getan haben. Nein, durch die kleineren Familien, die entweder diesem unsäglichen Nationalismus verhaftet sind, oder in den Kronosiern einfach nicht der Weisheit letzten Schluss sehen. Im Klartext, dieser Keller hier ist ein Rebellennest.”
“So sehen Rebellen aus?”
“Bewege dich nicht, Bastard!” Der große, schwarzhaarige Mann mit Brille, der sich vor mir aufgebaut hatte, schob seine Sehhilfe die Nase hoch und schuf dabei einen schimmernden Reflex, der über die Gläser schimmerte. Dafür nahm er die Linke. In der Rechten hielt er ein Katana, dessen Schneide ohne zu zittern einen halben Zentimeter von meiner Halsschlagader entfernt verharrte. “Rebellennest hin oder her, wenn wir die Chance haben, den Staatsfeind Nummer eins zu ergreifen und auszuliefern, dann nehmen wir dieses Angebot gerne an, Akira Otomo!”
Diese Worte ließen ein Raunen durch den Saal gehen. Erstaunte Blicke trafen mich und Megumi. Eine herrliche Situation, die noch besser wurde, nachdem Megumi Uno erkannt worden war.
Ich griff in einer gedankenschnellen Bewegung unter meine Jacke, riss die alte Luger-Pistole hervor und rammte sie meinem Gegenüber in den offenen Mund. Dann spannte ich den Abzugshahn. “Du hast echt eine Vollmeise, Doitsu! Abgesehen davon dass du mich nie ausliefern würdest, außer der Ataka-Gumi geht der Arsch wirklich auf Grundeis, habe ich immer noch diese kleine feine Luger, die ich jeden Tag auseinander nehme, pflege und öle und wieder zusammen setze, damit jeder einzelne Schuss den Lauf verlässt wie am ersten Tag. Fragen?”
“‘A. Kammft du die Wawwe auf mei’m Mumd mehm?”
“Ich verstehe dich nicht, Doitsu Ataka!”
“Aki’aaa!”
Seufzend zog ich die Pistole wieder zurück. “Ist ja schon gut.”
Doitsu zog das Schwert wieder zurück und steckte es in einer geschmeidigen Bewegung zurück ins Futteral. “Ein Blödmann wie immer, Akira. Hallo, Megumi-chan. Schön, dich mal wieder zu sehen.”
“Äh, wer bist du?”, fragte sie mit verlegenem Lächeln.
Ich kam selten in die Situation, herzhaft über Doitsu Ataka, einen ehemaligen Schulkameraden und guten Freund, zu lachen. Aber diesmal war die Situation so herzerfrischend, dass ich nicht anders konnte. Zu sehr amüsierte mich der herzzerreißende Blick, mit dem er Megumi bedachte.
“War nur Spaß, Doitsu-kun”, beeilte sie sich zu versichern. “Ich habe einfach nicht mit dir gerechnet und du hast dich die ganzen Jahre nicht gemeldet, da wollte ich es dir heimzahlen.”
“Als wenn man so ohne Weiteres Kontakt mit der Anführerin der Hekatoncheiren bekommen kann”, brummte Doitsu verstimmt.
Was nun Megumi verlegen werden ließ.
“Was auch immer. Kommt mit nach hinten.” Doitsu wandte sich um, ging voran. Er wirkte immer noch deprimiert, aber er erholte sich mit jedem Schritt.
“Akira, was erwartet uns hinten? Und wird uns niemand aus der Kneipe verraten?”
“Aus der Kneipe sicherlich niemand. Wer hier nicht rein darf kommt hier auch nicht rein”, versicherte ich und machte damit deutlich, dass dies eigentlich eine geschlossene Gesellschaft war, die sich ihre Mitglieder selbst aussuchte. Außerdem sagte ich damit klar, dass wir erwartet worden waren. Nun, zumindest ich. “Und was uns erwartet… Lass dich überraschen.”
Die Aufmerksamkeit der Kneipengäste wandte sich wieder den Brettern zu. Dankenswerterweise.
Wir wurden tiefer in den Keller geführt. Von dort gelangten wir über eine getarnte Tür in einen Laufgang. Dieser mündete wieder in einem Keller. Dort gingen wir eine weitere Treppe hinab und passierten mehrere Wachen, die zum Teil recht schwer bewaffnet waren.
Doitsu winkte uns durch, niemand hielt uns auf. Und das, obwohl der meistgesuchte Mann Japans hinter ihm herging – und die absolute Elitepilotin der Kronosier.
Doitsu öffnete eine Tür und winkte uns herein. Er folgte uns auf dem Fuß.
Ich grinste schief. “Na, das nenne ich ja wirklich mal eine Überraschung.”
Der Raum den wir betraten war eher eine kleine Halle. Und diese Halle war voll gestopft mit drei Dingen: Fast Food, Computer-Equipment und… Biotanks. Nicht besetzten Biotanks, wohl gemerkt.
Relativ weit vorne saßen mehrere Personen an einem Tisch und schienen sich heftig zu streiten. Ich runzelte die Stirn. Ich kannte jeden einzelnen. Genauer gesagt nicht nur ich. Die halbe Welt kannte die Fushida Hacking Crew, einen der erklärtesten Feinde der Kronosier.
Kenji Hazegawa! Emi Sakuraba! Hiroko Shiratori! Clive O’Hara! Ich vermisste die fünfte Person, Sarah Anderson, aber vier der fünf schlimmsten Hacker der Welt zu sehen war bereits eine Show für sich. Vor allem konnte ich damit die ewigen Diskussionen auf Senso Island, ob es die Mitglieder der Hacking Group überhaupt gab, endlich eindeutig beenden.
Auch die Frage, ob die Namen einiger unserer ehemaligen Freunde und Bekannten als Pseudonym genommen worden waren oder nicht. Nein, sie waren tatsächlich hier vor mir.
Kenji erhob sich. “Willkommen, Akira-kun. Willkommen bei der Hacking Crew.”
Ich trat einen Schritt vor und schüttelte dem Riesen die Hand. “Lange nicht gesehen, Kenji-kun. Arbeitest du jetzt mit Doitsu zusammen?”
“Es ist ein Zweckbündnis. Dies hier ist unser sicherstes Versteck und Quelle unserer besten Verbindung zum Leader. Deshalb kommen wir nur zu seltenen Gelegenheiten hierher.”
Er warf Megumi einen schiefen Blick zu. “Was macht die kronosische Geissel hier?”
“Hä? Du hast gut reden, Mr. “Ich störe die öffentliche Ordnung, wann es mir passt und hacke mich mal ins Verkehrsnetzwerk, um alle Ampeln der Stadt auf grün zu schalten”.”
“Ach. Das war doch nur ‘ne Fingerübung. Ist sie sicher, Akira?”
“Wir können sie jederzeit erschießen, wenn es dich beruhigt.”
“Akira!”, protestierte Megumi.
Kenji zuckte zusammen. “Er… Erschießen? So war das aber nicht gemeint!”
“Ich vergaß. Ihr seid ja Anhänger des gewaltlosen Widerstands”, kommentierte ich schmunzelnd und ließ bei Kenji die Erkenntnis sacken, dass ich gescherzt hatte.
“Hallo, Emi-chan. Lange nicht gesehen. Hiroko-sempai, es freut mich, dass du dir deinen gut gebräunten Teint bewahren konntest, obwohl du dich mit diesen Kellerkindern herumtreibst.”
“Wer ist hier ein Kellerkind?”, begehrte Emi auf.
“Und Sie müssen Mr. O’Hara sein. Ich weiß nicht viel über Sie persönlich, aber ich weiß, was Sie schon alles getan haben.” Ich tauschte mit dem Iren einen kräftigen Händedruck aus.
“Dies hier ist Megumi Uno, Major und Anführerin der Hekatoncheiren. Ich habe sie mitgebracht, um ihr mal eine Chance zu geben, einen Blick jenseits ihrer Gesellschaftsschicht zu werfen.”
“Das kann sie haben”, sagte Clive O’Hara.
Kenji räusperte sich und deutete auf den größten Tisch in der Halle. “Bitte. Setzt euch. Du auch, Doitsu-kun.”
Wir nahmen Platz, ich reservierte mir ein Stirnende. Megumi setzte sich rechts von mir und kam so in Gesprächsreichweite zu Hiroko. Die beiden taxierten sich mit neugierigen Blicken. Immerhin hatten sie sich mehrere Jahre nicht gesehen.
“Um es kurz zu machen, Akira, wir brauchen deine Hilfe und die deiner Akuma-Gumi.” Kenji stellte sich hinter das andere Stirnende, nahm das KommSet, das dort für ihn lag, und aktivierte es. “Worum es genau geht, wird dir unser Leader sagen.
Pass jetzt gut auf, Megumi-chan, du wirst einiges lernen.”
Über dem Tisch entstand plötzlich ein Funkenregen. Aus diesem Regen schälten sich die Umrisse eines weiblichen Körpers hervor.
“Ein Avatar”, erkannte ich.
“Nicht irgendein Avatar. Der Avatar unseres Leaders.”
Die Gestalt wurde deutlicher und ich erkannte, dass die Haut schneeweiß war. Der Kopf war kahl, und die roten Augen brannten wie Fackeln. Sie trug keine Kleidung, aber ihr Körper zeichnete nur Konturen nach, keine Details.
“Guten Abend, Herrschaften. Guten Abend, Akira Otomo. Guten Abend, Megumi Uno. Guten Abend, Doitsu Ataka. Ich bin Sarah Anderson.”
“N’abend, Sarah. Was kann Aoi Akuma für dich tun?”
“Mich retten.”
***
Ich erstarrte. Und vergaß zu atmen. “Was?”
Der Avatar begann zu schmunzeln. “Auf das was komme ich gleich. Aber vorher muss ich dir und den anderen noch etwas Basiswissen vermitteln.
Kenji? Wie gut ist die Verbindung geschützt?”
“Wir benutzten dreiundvierzig Relais auf fünf Routen, die unregelmäßig wechseln. Dazu fügen wir jede Minute zehn neue Relais ein und verlassen dafür zehn alte.”
“Das sollte für acht Minuten reichen. Die kronosischen Hacker sind nicht verblödet.” Der Avatar sah mich an. “Akira. Was weißt du über mich?”
“Ich weiß, dass du die Fushida Hacking Crew anführst, die erfolgreichste Hackergruppe der Welt. Ihr kämpft gegen die Kronosier und seid auf der Liste der Staatsfeinde unter den ersten Zwei. Gleich nach meiner Akuma-Gumi.”
“Gut. Weißt du, wo ich bin?”
“Das”, lachte ich, “ist wohl eines der bestgehütetsten Geheimnisse dieser Welt. Nicht einmal die Kronosier wissen, wo du bist. Und das ist auch gut so.”
Ich sah Megumi an, aber die schüttelte den Kopf. Ihr war auch nicht zu Ohren gekommen, dass die Kronosier wussten, wo Sarah Anderson zu finden war.
“Das ist nicht ganz richtig. Die Kronosier wissen eigentlich wo ich bin. Immerhin bin ich in einem ihrer Supercomputer gefangen.”
Ich spürte kaltes Entsetzen in mir aufwallen. “Was?”, brachte ich erstickt hervor.
“Ich bin in diesem Moment in einem Supercomputer, genauer gesagt in einem Biotank gefangen.”
“Was?” Meine eigene Stimme klang plötzlich dünn wie Papier.
“Es stimmt, sie ist die Anführerin der Hacking Crew. Und sie ist wahrscheinlich der beste Hacker für die kronosischen Computersysteme, die es gibt. Aber sie ist nicht frei. Sie war es nie.” Hiroko sah betreten auf die Tischplatte. “Sie ist es. Sie alleine. Sie hat sich selbst aus dem System herausgehackt. Sie hat sich ihre Partner in Freiheit ausgesucht, mich, Kenji, Emi und Clive. Sie führt unsere Versammlungen, wenn wir unsere Ziele auswählen.”
“Und das tut sie über Verbindungen, die sie sich selbst hackt”, fügte Emi hinzu.
“Anfangs waren wir alle skeptisch. Es roch nach kronosischer Falle. Aber sie hat mehr als einmal bewiesen, dass sie es nicht nur ehrlich meint, sondern auch ernst. So hätte es weiter gehen können, bis wir eines Tages die Kronosier besiegt haben oder ausgelöscht worden wären”, sagte Kenji leise und nachdenklich. “Aber es hat nicht sollen sein.”
Sarah musterte mich wieder. “Akira-kun. Du musst mich retten. Du musst mich aus meinem Biotank holen. Du musst…” Verzweifelt sah sie zu Kenji herüber. “Wird er uns helfen?”
“Er wird. Wenn ich ihn darum bitte.”
“Was ist eigentlich passiert?”, fuhr ich dazwischen. “Haben die Kronosier herausgefunden, dass du in einem der Tanks sitzt?”
“Das wissen sie schon länger. Es spricht für ihre Ohnmacht, dass sie meine Verbindungen nach draußen nicht stoppen können. Aber jetzt…” Ihr Hologramm wurde instabil. “Mist, heute sind sie aber schnell. Ich verabschiede mich, bevor sie eine Spur zu euch finden.
Kenji, übernimm bitte den Rest.”
Der Avatar verschwand wieder im Funkenregen.
“Okay, ich hole sie raus, wenn mir jemand genaue Koordinaten und genügend Vorbereitung für einen Angriff gibt. Aber ein Grund wäre nicht schlecht.”
Kenji sah auffordernd zu Clive herüber.
“Was weißt du über die Biotanks, Akira?”, fragte der Ire.
“Hm”, machte ich amüsiert. “Ich habe selbst mal in einem gesteckt, kurz bevor ich ausgebrochen bin. Die Kronosier haben versucht, mich in einer virtuellen Welt ruhig zu halten. Hat leider nicht funktioniert. Sie hatten mich sogar in einen Supercomputer integriert, in dem ich als Recheneinheit meinen Dienst tat.”
“Warum als Recheneinheit? Ich weiß, die Antwort ist offensichtlich, aber gib sie mir.”
Ärgerlich musterte ich Clive. “Weil das menschliche Gehirn ein sehr leistungsfähiger Computer ist und die meisten Computer damit übertrifft. Ein paar hundert zusammen geschalteter menschlicher Gehirne erreichen so eine enorme Rechenkapazität.”
“Gut.” Clive schien zufrieden.
“Akira, was würdest du sagen? Könnte ein Gehirn, dass nicht mit Erinnerungen, Erfahrungen, mit Gefühlen und Gedanken belastet ist, noch schneller arbeiten?”
“Ich denke schon. Auf jeden Fall würde ein solches Gehirn nicht an Ausbruch denken und… Oh mein Gott. Sie haben vor, Sarahs Gehirn zu löschen?” Ich fühlte mich zurückversetzt, in meine Zeit im Tank, wie diese kronosischen Bastarde vor mir standen und etwas von Gehirn löschen faselten, um meine Rechenleistung zu erhöhen. Aber soweit war es nicht gekommen. Man hatte die Wissenschaftler dieses Projekts eliminiert und mich heimlich aus dem Tank befreit. Den Weg hinaus hatte ich mir selbst erkämpfen müssen, aber ich hatte Hilfe gehabt, um aus den Tank zu kommen. Definitiv Hilfe.
“Das ist noch nicht alles. Sarah ist nicht nur für eine Gehirnlöschung vorgesehen, was zugleich auch den stärksten Hacker der Erde ausschaltet. Soweit wir es in Erfahrung bringen konnten, steht ihr auch die Entkernung bevor.”
“Entkernung? Das klingt wie bei der Kirschernte, wenn ich mit Mama für das Marmelade kochen die Steine aus dem Fruchtfleisch gestochen habe”, sagte Megumi und wurde blass. “Oh, Scheiße.”
“Ja, Scheiße. Ein Gehirn verbraucht weniger Ressourcen als ein ganzer Körper. Das ist der perfide Plan, der dahinter steht.”
Ich erhob mich. “Wie viel Zeit haben wir?”
“Maximal eine Woche. Jeder Tag weniger wäre sehr gut.”
“Ich brauche jede Information, die Ihr mir geben könnt.”
3.
Das Leben konnte schön sein. Es brauchte nur eine allgemeine Mobilmachung auf Senso Island, eine Aktivierung der Verbündeten und eine Karte der näheren Umgebung unseres Ziels, einer einsamen Vulkan-Insel in der Südsee Polynesiens.
Mit vier Hawks, einem Eagle und fünf Transporthubschraubern waren wir aufgebrochen, und hatten Ärzte, Sanis, Techniker, Makos Stab und unseren eigenen Biocomputer bei uns.
Unser Ziel kreuzte nun den zweiten Tag knapp außerhalb der Ortungsreichweite der Insel.
Es war ein amerikanischer Träger, der für die Bedürfnisse der neuen Zeit von Kampfflugzeugen auf Mechas umgestellt worden war. Die ENTERPRISE würde uns für unseren Angriff als Plattform dienen. Natürlich hätten wir uns auch auf einer Nachbarinsel einrichten können, aber ich befürchtete, dass Sonnenschein, ein schneeweißer Strand und die gefährliche eins zu eins-Mischung von Männern und Frauen eher zu einer Strandparty als zum arbeiten führte.
Nein, ehrlich gesagt hatte ich über meine Verbindungen die ENTERPRISE angefordert, weil wir den Biocomputer dort besser aufstellen konnten, in einer klimatisierten, staubfreien Umgebung. Eine Höhle zu präparieren oder eine Lagerhalle aufzustellen hätte zu lange gedauert. Außerdem mussten die Amis uns noch ein paar Marine-Infanteristen leihen. Daran waren wir immer etwas knapp.
Die Landung auf dem ehemaligen Flugzeugträger gelang uns problemlos. Die Lotsen hatten mich und die anderen Piloten sehr gut eingewiesen und auf eine freie Stellfläche gelotst, während die Transporthubschrauber über Fahrstühle direkt in die Eingeweide des Schiffes gebracht wurden. Drei Tage war es jetzt her, seit Kenji mir diese Aufgabe gestellt hatte. Einen weiteren Tag würde es dauern, bis wir bereit waren.
Und wenn wir angriffen, würden die Probleme erst beginnen. Übergriffe zwischen Kronosiern und der freien Welt gab es immer wieder. Aber eine Attacke auf einen Stützpunkt, der erstens den stärksten Supercomputer der Region beherbergte und zweitens als streng geheim galt, musste eine Reaktion provozieren.
Der Begleitschutz der ENTERPRISE, abgesehen von den dreißig Hawks, den zwanzig Sparrows und den zehn Eagles, bestand aus zehn Fregatten, drei Tendern, fünf Zerstörern, acht Schnellbooten zur Unterseeboot-Suche und zwei Kreuzern, hauptsächlich darauf spezialisiert, Raketen abzufangen oder U-Boote zu versenken. Für alles andere gab es die Hawks. Ob dies ausreichen würde, wenn die Kronosier zwei bis drei Zulu-Kreuzer nach uns ausschickten?
Ich brachte meinen Hawk in den schraffierten Abstellbereich, ließ ihn in die Hocke gehen um ihn leichter verlassen zu können und löste die Anschlüsse. Danach entsiegelte ich das Cockpit. “Du weißt Bescheid, Primus. Wenn die Navy-Leute zu neugierig werden, hau ihnen auf die Finger.”
“Verstanden, Sir.”
Ich sprang die letzten anderthalb Meter hinab, kam federnd auf und orientierte mich kurz. Eine Gruppe der Marine-Infanterie, große bullige Kerle mit Pistolen bewaffnet, standen in Rührt euch-Haltung und hinter dem Rücken verschränkten Händen außerhalb des schraffierten Bereichs. Vor ihnen stand ein Offizier der Navy in der bekannten Khaki-Uniform. Seine Abzeichen bedeuteten Lieutenant Commander.
Nun, ich hatte nicht gerade erwartet, dass mich der Skipper selbst abholte, oder gar Admiral Richards, der Flottenchef. Und Lieutenant Commander war schon recht hoch. Also hätte ich mich geehrt fühlen sollen.
Allerdings tat dieser Mann sein Bestes, um diesen Eindruck zu mindern.
Anstatt mich ordentlich zu begrüßen musterte er meinen Hawk und runzelte die Stirn. “Das ist die berühmte Maschine vom Blue Devil? Sieht auch nicht anders aus als unsere Hawks. Tja, wurden eben bei uns gefertigt, was soll man da erwarten?”
“Sie irren sich, Commander”, sagte ich ernst. “Diese Hawks wurden nicht in Nordamerika gefertigt. Im Gegenteil. Ihre Hawks, ihre Sparrows und die Eagles wurden nach diesen Vorlagen gefertigt. Wir haben unsere Mechas nicht von euch bekommen, wir haben euch die Pläne zu ihrem Bau überlassen.”
Gut, dass ich Hina diesmal in einen der Transporthubschrauber gesetzt hatte. Hätte sie die gering schätzenden Worte des Offiziers gehört, wäre sie sofort wieder an die Decke gegangen. Alles, was die Leistungen der Akuma-Gumi herabwürdigte, war für sie ein rotes Tuch.
Der Amerikaner schien schockiert, geradezu entsetzt. Aber er entschloss sich dazu, mir nicht zu glauben. “Wie auch immer. Sie sind Akira Otomo?”
Ich nickte knapp.
“Antworten Sie gefälligst ordentlich, wenn ein Offizier mit Ihnen spricht, Soldat!”
Ich schluckte meinen Ärger runter. “Anführer der legendären Akuma-Gumi, Sieger von New York, Verteidiger Londons, Sieger von Buenos Aires, Nummer eins der Abschussliste, Colonel Akira Otomo. Besser so?”
Erschrocken sah der Mann mich an. “C-colonel von wessen Gnaden?”
“Die japanische Regierung im Exil hat mich mit dem Aufbau der Akuma-Gumi betraut und als Second Lieutenant eingestellt. Im Lauf der letzten sechs Jahre bin ich wegen herausragender Leistungen auf der Erde und im Weltall mehrfach befördert worden. Mittlerweile bin ich Colonel, aber es ist im Gespräch, mir den ersten goldenen Stern zu geben. Der Vorschlag kam übrigens von Ihrer Regierung, also überlegen Sie genau was Sie sagen, Lieutenant Commander Sikes.”
“Na, na, wer macht denn da meine Offiziere unsicher? Wenn das mal nicht die Plage der Kronosier ist, der blaue Teufel!”
Ich wandte mich dem Neuankömmling zu und grinste breit. Im Schlepp hatte er bereits Yuri und Kei.
“Admiral Richards. Es ist mir ein Vergnügen, Sie wieder zu sehen.”
Der alte Mann salutierte vor mir und seine Augen lächelten dabei. “Gleichfalls, Aoi Akuma. Wie lange ist es jetzt her?”
“Warten Sie, nachdem wir den Angriff auf New York abgeschlagen haben, haben wir uns auf Hawaii getroffen, beim Big Drop.”
“Das war vor drei Jahren. Gute Arbeit damals. Nein, letztes Jahr sind wir uns auf australischem Territorium begegnet.”
“Stimmt. So lange ist das gar nicht her.”
“Big Drop?”, kam es leise vom Commander.
“Der Angriff auf Hawaii vor drei Jahren”, half ich aus. “Die Kronosier hatten etwas über einhundert Kapseln, voll gestopft mit Mechas und Infanterie im Orbit abgeworfen und auf die Erde fallen lassen. Der letzte massive Angriff. Ich half damals mit der Akuma-Gumi ausputzen.”
“Nun sei nicht so bescheiden, Akira”, ließ sich Yuri vernehmen. “Ohne uns wäre Hawaii heute ein kronosischer Stützpunkt, das weißt du genau.”
“Allerdings”, bestätigte Richards, trat vor und ergriff meine Hand. “Junge, es ist mir immer eine Freude, dich zu sehen. Deine Leute beginnen schon ihr Equipment aufzubauen, und die Fushida Hacking Crew macht es sich bereits bequem. Wenn nichts dazwischen kommt, können wir noch in der Nacht beginnen.”
“Es wird nichts dazwischen kommen”, sagte ich bestimmt. “Es gibt da diesen hochrangigen Offizier bei den Hekatoncheiren, der irgendwie was gegen die Idee hat, das Gehirn eines Menschen aus dem Körper zu entfernen und die Rechenleistung durch Löschung der Erinnerung zu erhöhen. Er sorgt dafür, dass die Kronosier so lange wie möglich, ah, in die falsche Richtung schauen.”
“Ein Offizier der imperialen Armee? Können wir ihn umdrehen?”
Philip und Daisuke, die nun ebenfalls heran waren, feixten sich zu.
“Ich glaube nicht, dass das möglich sein wird”, gab ich bedauernd zu. “Aber es ist doch beruhigend zu wissen, dass sie auch Leute mit Gewissen haben, oder?”
Der Admiral bedeutete uns, mit ihm zu kommen. Alle fünf Piloten der Akuma-Gumi folgten ihm, während unsere Fairies im Hangar unter uns mithalfen, den Stab aufzubauen, die Ausrüstung der Hacking Crew zu koordinieren und die Biotanks zu vernetzen.
Fies? Wohl kaum. Sie hatten die entsprechende technische Ausbildung, während sich das Wissen meiner Piloten vor allem auf Waffensysteme und Strategie und Taktik konzentrierte.
Eine Ausrede? Ja, aber eine gute.
Wir betraten den Planungsraum, auf dem großen Tisch war bereits eine große Karte der Region aufgebaut, frisch von einem amerikanischen Satelliten aufgenommen und ausgedruckt, zudem bereits mit Koordinatennetz und wichtigen Namen versehen.
Findige Offiziere hatten die Geländedaten bereits analysiert und die vermuteten Mecha-Abwehrstellungen eingetragen, dazu einige der Oberflächengebäude markiert und klassifiziert und die vermuteten Zugänge in die Tiefe eingetragen.
Dieser Bereich war für uns interessant.
“Sie haben eine Alarmrotte aus acht Briareos”, begann Admiral Richards zu referieren. “Die bekommen aber kaum Übung, denn sie steigen nur sehr selten auf. Die Geheimhaltung wird auf der Insel groß geschrieben. Schwieriger wird da schon die Unterseeboot-Eskorte.
Die Inselverteidigung verfügt über vier Gilgamesch, die auf Unterwasserbetrieb umgerüstet wurden. Sie können uns gefährlich werden.
Dazu kommen konventionelle Stellungen, vor allem hier, hier und hier, bestehend aus 10er Raketenwerfern, Gatlings und Kanonen. Flak-Kaliber, aber wenn die Dinger mal treffen, dann rummst es. Wir vermuten die Zugänge zum unterirdischen Supercomputer hier, hier und hier. Wir rechnen mit sechzig Biotanks.”
Ich nickte schwer. “Es sind einhundert Tanks, aber ansonsten ist das doch eine brauchbare Analyse.” Ich sah in die Runde, zu den Offizieren und meinen Piloten. “Wir starten um drei nach zwei Uhr regionaler Zeit.”
“Nachtangriff?”
“Nachtangriff.”
“Hat dir schon mal gesagt, dass du ein fieser Kerl bist, Akira?”, murrte Kei. “Aber zum Glück bist du auf unserer Seite.”
***
Punkt drei nach zwei Uhr Ortszeit begann die Aktion. Wir befanden uns nördlich der Insel, fünfzig Kilometer entfernt. Die vier Hawks und der Eagle der Akuma-Gumi standen bereit, um sich von den Dampfkatapulten der ENTERPRISE raus schießen zu lassen.
Entgegen unserer üblichen Strategie hatten wir diesmal darauf verzichtet, unsere Fairies mitzunehmen. Ihre geheimnisvollen Aura-Kräfte sollten stattdessen den Träger beschützen und den Marines bei ihrem Vormarsch helfen. Hina und Ami waren für den Angriff mit der Kompanie Marines vorgesehen, Akane, Joan und Cecilia für die Verteidigung.
“Aoi Akuma, bereit zum Start!”
“Schießen Sie ein paar für uns mit ab, Colonel! Aoi Akuma go!”
Das Dampfkatapult begann zu arbeiten, warf mich regelrecht über das Flugdeck hinaus, wo ich die Beindüsen zündete und mich in den Himmel schwang.
“Kuroi Akuma, bereit zum Start.”
“Klar auf Katapult, Captain Honda. Viel Spaß beim spielen!”
Das Dampfkatapult nahm erneut seine Arbeit auf und schickte Daisuke aus. Er orientierte sich kurz und holte dann zu mir auf.
“Akai Akuma, heiß auf ein wenig Action!”
“Gute Jagd, Sir. Akai Akuma go!”
Der Hawk von Yuri wurde beschleunigt, zog beinahe sofort in den Himmel und schloss dann zu uns auf.
“Shiroi Akuma steht bereit.”
“Shiroi Akuma, go! Spielen Sie schön!”
Auch Kei gesellte sich schnell zu uns, allerdings nicht gerade spektakulär.
“Midori Akuma, klar zum Start.”
“Bringen Sie was Schönes mit. Midori Akuma, go!”
Es bedeutete für Philip keinerlei Probleme zu uns aufzuholen.
Gemeinsam gingen wir tiefer, zogen bis auf drei Meter zur Wasseroberfläche herab und steuerten auf die Insel zu.
Zweifellos war der Träger in nur fünfzig Kilometern Entfernung bemerkt worden. Zweifellos waren die umgebauten Gilgamesch im Einsatz. Und zweifellos würden wir diesmal bemerkt werden, selbst wenn wir nur drei Meter über der Wasseroberfläche blieben.
Aber das war auch gar nicht der Plan. Diesmal machten wir es mit der Holzhammer-Methode, während die ENTERPRISE die Transporthubschrauber der Akuma-Gumi und eigene Maschinen, begleitet von Killer Bee-Kampfhubschraubern, bereit machte, um uns zu folgen, sobald das Go-Signal erfolgte.
Aber die Kronosier würden nicht sofort reagieren. Sie würden abwarten, denn immerhin war nicht sicher, dass wir wirklich auf ihre geheimste Basis zuhielten. Es konnte auch ein zufälliger Patrouillenkurs sein, wenngleich die geringe Höhe verdächtig war.
Und die Mischung aus vier Hawks und einem Eagle musste eigentlich jedem anständigen Offizier Magengrimmen bereiten.
Es war ein kleines Spiel mit dem Feuer, aber unsere Leben waren schon lange weit davon entfernt, langweilig zu sein.
Dreißig Kilometer. Dann zwanzig. Zehn.
“Sir, ich orte Raketenabschüsse auf der Zielinsel.”
Die künstlichen Intelligenzen der anderen Mechas bestätigten.
“Okay, wilde Horde, hergehört. Wir fächern aus, Yuri und Philip fallen zurück. Yuri, du gibst uns Rückendeckung. Und Philip, du achtest darauf, dass die umgebauten Gilgamesch nicht zu nahe an unsere Artillerie rankommen, okay?”
“Verstanden.” “Roger.”
“Der Rest folgt mir. Übrigens, wie geht es Yoshi?”
“Dem geht es gut. Noch. Er sieht zwar aus als würde er gleich kotzen, aber es war seine Idee, sein Mönchsgewand abzulegen und auf meinen Bordschützensitz zu klettern.” Yuri klang spöttisch. “Die Wetten wann er kotzt deuten auf fünf Minuten nach Feindkontakt hin.”
“Hauptsache er schießt weiter, obwohl er kotzt”, konterte ich. Mit Neuen sprangen meine Freunde stets sehr harsch um. Aber wer sich bewährte, der hatte eine Truppe gefunden, die vorbehaltlos zusammen hielt.
“Raketen in vier Kilometer, näher kommend. Drei Kilometer… Zwei… Eins… Achthundert Meter… Sechshundert…”
“Abwehrmaßnahmen!” Ich rollte meinen Mecha um die eigene Achse, während die Raketenabwehrkanone stotternd zu feuern begann. Die Künstlichen Intelligenzen unserer Hawks hatten sich untereinander abgestimmt und die über siebzig Impulse hereinkommender Raketen aufgeteilt. Auf mich entfielen siebzehn, die ich bequem treffen konnte.
Wir begannen die Raketen zu vernichten, deckten aber längst nicht alle Anflugvektoren ab.
“Yuri, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für etwas Hilfe.”
“Brauchst du mir nicht zweimal zu sagen”, brummte der Eagle-Pilot.
Die Glattrohrkanonen seines Mechas donnerten auf, als Ergebnis explodierten weitere Raketen.
“Wow. War das schon Yoshi oder warst du das noch?”
“Das war Yoshi. Ich glaube, er gibt einen ziemlich guten Bordschützen ab. Darf ich ihn behalten?”
“Nur wenn du seinen Käfig sauber hältst, junger Mann.”
“D-das habe ich gehört”, rief Yoshi dazwischen und übertönte damit unser Gelächter. Ob ihm bewusst war, dass er schneller als jeder andere vor ihm von der Akuma-Gumi akzeptiert worden war? Wohl eher nicht.
Die letzten sieben Raketen passierten uns, versuchten einzudrehen und wurden dabei von Philip und Yoshi zerstört.
“Rakete!”, blaffte Primus auf, versuchte den Mecha mit Überrang nach links zu bewegen. Ich unterband diese Bewegung instinktiv, hob das Herkules-Schwert von Megumi und schlug zu. Die Rakete wurde zwei Meter vor der Brust meines Mechas zerteilt, der Sprengkopf huschte harmlos an mir vorbei, während der Tank des Antriebs explodierte und mich in eine Rauchwolke hüllte.
“Verdammt, wo kam die denn her?”, blaffte Kei aufgeregt.
Ich drückte meinen Hawk tiefer, ließ ihn über das Wasser schießen und reduzierte die Geschwindigkeit. “Gilgamesch im Spiel, meine Herren. Steigt höher, das gibt euch mehr Zeit für die Abwehr!”
Gehorsam zogen die vier Hawks und der Eagle höher.
Spätestens jetzt würde auf der Basis Großalarm herrschen. Schlimmer noch, sie würden nach Verstärkungen rufen.
Ich drückte meine Maschine tiefer, ging unter Wasser, nachdem ich langsam genug geworden war, damit die Wasseroberfläche nicht länger wie eine Betonwand auf mich wirkte.
Der Mecha sank ein, drehte sich mehrfach um die eigene Achse und lieferte mir erste Ortungen.
“HAB DICH!”, blaffte ich, trat die Pedale der Düsen durch und schoss Richtung Insel davon. Das Herkules-Schwert in meiner Hand machte kurzen Prozess mit einer weiteren Rakete, dann war ich schon heran und ließ die Klinge einmal quer über den Rumpf fahren. Dann schnappte ich nach einem Arm des Gilgamesch, zerrte ihn hinter mir her aus dem Wasser und warf die sterbende Maschine so hoch ich konnte.
Der Fusionsreaktor verging gut zwanzig Meter über der Wasseroberfläche.
“Akira! Was sollte denn dieser unnötige Stunt?”, blaffte Kei wütend.
“Genau, überlasse solche Sachen Philip und Kei”, fügte Daisuke hinzu.
“Das ist nicht der Punkt! Akira, wenn das Ding neben dir hoch gegangen wäre, hätte dich nicht mal dein verdammtes Glück gerettet!”
“Reg dich ab. Ich wollte nur was für die Fische tun.”
“F-für die Fische?”
“Es ist erwiesen, dass Explosionen unter Wasser sehr viel stärker sind als an der Oberfläche. Kennst du Dynamit-Fischen? Eine Explosion unter Wasser lässt die Luftblasen der Fische platzen. Sie ersticken und driften nach oben. Das Problem dabei ist aber nur, dass auch der Laich zerstört wird. Ich meine, das ist wie ein kleiner Fisch-Genozid!”
“Na toll, mach dir nur Sorgen um die Fischpopulation in diesen Gewässern”, blaffte Kei.
“Hey, ich werde dich dran erinnern, wenn du wieder mal Sushi essen willst”, blaffte ich zurück.
“Aktive Ortung, Sir. Wir wurden erfasst.”
“Akuma-Gumi, auseinander. Sie haben uns.”
Gehorsam, ohne ein weiteres Wort drifteten die anderen beiden Hawks von mir fort.
Kurz darauf erwachte die Insel zu gespenstischem Leben. Dutzende Stellen begannen Licht zu spucken, genauer gesagt Granatwerfer mit Leuchtspurgeschossen nahmen ihre Arbeit auf und versuchten uns zu treffen. Es sah aus, als versuchten gierige Finger aus Licht nach uns zu greifen.
Ich warf den Mecha in ein Ausweichmanöver und markierte die verschiedenen Stellungen, die sich selbst verraten hatten. “Yuri, Arbeit.”
“Aye.”
Der Eagle begann seine tödliche Arbeit, die beiden Raketenwerfer in den Zwillingsarmen nahmen Ziel und feuerten. Zugleich donnerten die Glattrohrkanonen auf. Kurz darauf schwiegen vier der Stellungen, danach acht.
“Zwei Kilometer.”
Mein Hawk erbebte unter den Einschlägen der gegnerischen Flak. Wüst fluchend brachte ich ihn aus der Gefahrenzone und feuerte meinerseits eine Raketensalve.
“Scheiße, dass man Leuchtspur, die auf einen zukommt, nicht sehen kann!”
“Blödmann”, tadelte Yuri. “Selbst wenn du sie sehen könntest, würde es dir nichts nützen. Denn wenn du sie siehst, sind die Granaten längst bei dir angekommen. Und hör auf zu meckern. Yoshi hat die Stellung schon für dich ausgeschaltet.”
“Also habe ich Raketen verschwendet? Toll.”
“Yuri, brich weg! Gilgamesch unter dir!”
“Puh, danke, Kumpel. Hast du ihn?”
“Ja, kein Problem. Akira, schade um deinen Fischlaich, aber ich musste ihn leider unter Wasser explodieren lassen.”
“Kein Sushi für dich, Mister!”, scherzte ich.
“Wieso? Es dürften doch jetzt ein paar Tonnen an der Oberfläche treiben.”
“Ein Kilometer. Achthundert Meter… Feindliche Mechas starten. Orte vier Briareos.”
“Dann gibt es eben kein Sushi in Zukunft für dich. Man kann nicht das Saatgetreide fressen und trotzdem auf fette Ernte hoffen. Aoi Akuma, ich gehe rein!”
“Landwirtssymbolik, so was verstehe ich. Ich rücke mit Yuri langsam nach. Startfreigabe für die Hubschrauber?”
“Erwischt erst mal die letzten zwei Gilgamesch.”
Ich erreichte den Strand etwa zum gleichen Zeitpunkt, als die Kronosier die anderen vier Briareos in die Luft brachten. Zwei von der ersten Welle empfingen mich über dem Strand mit einem Bombardement aus Raketen.
Ich lächelte dünn, warf meinen Hawk herum, drückte ihn tiefer und schoss direkt über der Brandung auf die beiden Daishis zu.
Einer reagierte, riss schützend seinen Arm hoch.
“ZU LANGSAM!”, brüllte ich und zog die Herkules-Klinge durch den massiven Leib des Mechas. Ich passierte den sterbenden Mecha, drehte mich auf den Rücken und feuerte eine volle Salve Raketen auf den zweiten Briareos ab.
“Was denn, was denn, nur ein Mecha gegen mich? Irgendwie enttäuscht mich das”, rief Kei gelangweilt. “Alle erkannten Bodenstellungen ausgeschaltet.”
“Tröste dich, es kommen ja noch vier zum spielen. Akira darf nur nicht zu schnell mit seinem zweiten Daishi fertig werden, dann bleibt auch was für uns. Autsch, da habe ich was gesagt. Das Ding ist hochgegangen, nur von einer Raketensalve?”
“Ich muss den Reaktor erwischt haben”, kommentierte ich grimmig, trat die Pedale der Sprungdüsen voll durch und wechselte meine Position. Mehrere Raketen schlugen im Dschungelboden ein. Hätte ich meine Position nicht gewechselt, hätte ich mit ihnen nähere Bekanntschaft geschlossen.
“Und wieder gehen zwei zugleich auf Akira los. Ungerechte Bande. Wir wollen auch unseren Spaß haben”, murrte Daisuke. “Übrigens, alle Abwehrstellungen in meinem Sektor sind zerstört.”
“Bei mir auch. Philip, was machen die zwei überlebenden Gilgamesch?”
“Der eine überlebende Gilgamesch. Ich denke, gerade gegen Oberflächenschiffe sind sie ‘ne tolle Waffe. Aber gegen Hawks sind es nur dahin treibende Enten. Vom Letzten habe ich schon den Schwanz gesehen. Entweder flieht er oder ich habe ihn gleich.”
“Gut, bleib dran. Und ruf die Helis ran.”
“Verstanden.”
“Yuri, hat dein Bordschütze schon gekotzt?”
“Nein, habe ich nicht, Akira! Und ich habe es auch nicht vor!”
“Da hörst du es. Die Glatze hält sich tapfer.”
“Nenne mich nicht Glatze! Ich lasse ja schon wachsen, aber als buddhistischer Mönch konnte ich kaum mit Moscher-Matte rumlaufen!”
“Ich merke schon, Ihr zwei versteht euch großartig.”
Ich zerrte den Hawk gewaltsam hoch, ließ ihn in der Luft verharren. Das machte die Daishi-Piloten natürlich misstrauisch, aber sie kamen langsam näher.
Ich hob die Herkules-Klinge für einen Miginagi an. Die beiden Mechas verfügten über Raketen, Gatlings und panzerbrechende Dolchklingen. Mit Befriedigung sah ich, dass beide Piloten meine Einladung annahmen und die Dolche zückten.
Dann vergingen beide Maschinen in einem Wust aus Explosionen.
“Ihr seid zu langsam!”, tadelte ich meine Freunde.
Daisuke kam von rechts heran geschossen, Kei von links.
“Sorry, aber wir sind nun mal nicht so schnell mit zwei Gegnern fertig wie du. Aber danke, dass du uns die zwei auf dem Silbertablett serviert hast, Kumpel.”
“Gern geschehen. Ich suche jetzt die Kommunikation mit dem Träger. Räumt Ihr weiter auf und öffnet den Weg in den Hangar.”
“Roger.”
Langsam ließ ich den Hawk auf fünfzig Meter ansteigen. “Aoi Akuma hier, Bericht.”
“Einsatztruppe ist raus, geplante Ankunftszeit ist sieben Minuten. Hacker-Gruppe hat mit Hilfe des Supercomputers der Akuma-Gumi mit der Infiltration der Basis begonnen. Bei uns ist alles ruhig, keine Schiffe, keine Mechas in Reichweite.”
“Gut zu hören, ENTERPRISE. Seid trotzdem vorsichtig. Wir haben den letzten Gilgamesch noch nicht gefunden. Wenn er mies drauf ist, könnte er versuchen, sich euren Träger vorzunehmen.”
“Verstanden.”
Ich sank wieder tiefer, orientierte mich, aber es gab nicht wirklich etwas zu tun. Primus tastete permanent nach Hitzequellen, die auf weitere versteckte Geschütze hinwiesen, was unter den Hubschraubern nur vermeidbare Verluste bedeutet hätte, während Philip und Yuri nun ebenfalls die Insel erreichten.
Ich ließ meinen Hawk auf den Vulkangipfel deuten.
Der Eagle führte einen spöttischen Salut aus. “Verstanden. Beziehe neue Stellung auf dem Berg.”
“Philip. Du kommst mit mir.”
“Endlich mehr Action.”
“Was denn? Hattest du nicht genug davon im Wasser?”
“Ich kann nie genug Action bekommen, Akira.”
“Dann heirate gefälligst”, spottete ich und zog den Hawk zu Daisuke und Kei herüber, die gerade dabei waren, den Eingang in die Tiefe zu öffnen.
“AKIRA!”
Erschrocken sah ich auf. Dieser markerschütternde Schrei, er…
“AKIRA! IHR MÜSST SOFORT REINGEHEN!”
“Joan? Was ist passiert? Die Infanterie ist noch nicht da und…”
“DIE KRONOSIER SCHIEßEN AUF DIE TANKS!”
Mit einem lauten Fluch, der diverse Verbindungen zwischen kronosischen Söldnern und Plankton herstellte, setzte ich meinen Hawk hart auf einer provisorischen Piste vor dem Zugang auf. “Daisuke, Philip! Ihr kommt mit mir! Kei, mach bitte mal die Tür auf!”
Ich entsiegelte das Cockpit, griff nach der uralten Luger, ein paar Ersatzmagazinen und einer wirklich handlichen Schrotflinte. Dann sprang ich herab.
Vor mir, gut zwanzig Meter entfernt, trat Keis Hawk das große Tor ein. Dahinter lag ein Hangar, der tiefer in den Berg führte.
Daisuke kam geduckt zu mir gerannt, Philip ließ nicht lange auf sich warten.
“Der Plan, Chef?”
“Ganz schnell ganz tief rein. Tötet alles, was sich bewegt. Und was sich nicht bewegt, sicherheitshalber auch!”
“Hey, Munitionsverschwendung!”
“Willst du gerne einhundert Leichen in ihren Biotanks abtransportieren, Kei?”
Der kleine Mann fluchte herzlich. “Nein!”
Ich nickte zufrieden. “Lasst euch nicht töten! Wenn einer aufgehalten wird, laufen die anderen weiter! Der Schutz der Tanks hat absolute Priorität!”
“Akira, warte!”
Wir sahen auf. In diesem Moment rutschte Yoshi in einer Wolke aus Geröll und Staub die Bergflanke herab. Er kam auf der ebenen Fläche auf, stolperte und wurde erst von Philip gestoppt. “Ich…”, japste er, “komme mit.”
“Und mit was willst du kämpfen? Buddhas Wort?”
Wortlos hielt der junge Mann, der vor einer Woche noch ein Mönch gewesen war, einen Bogen hoch, dazu einen Köcher mit Pfeilen. An seiner Hüfte hing zudem ein Katana, ein traditionelles japanisches Schwert.
Philip seufzte. “Was soll´s. Auf dem Bordschützensitz warst du ja auch schon eine Überraschung.”
***
In Dantes göttlicher Komödie, genauer gesagt, im Teil der Geschichte, die sich Inferno nennt, wird die Hölle beschrieben. Sie besteht aus neun Kreisen, und jeder Kreis ist bestimmten Sünden zugeordnet. Je schlimmer die Sünde, desto näher ist der Kreis dem Zentrum.
Aber am Eingang, über dem Portal zur Hölle soll stehen: “Ihr, die Ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnungen fahren.”
Nun, im Moment fühlte ich mich der Hölle näher als je zuvor. Nicht nur, dass wir das Gewehrfeuer und die platzenden Biotanks hören konnten, wir wurden selbst unter schweres Feuer genommen.
Es gab nichts Schlimmeres als zur Hilflosigkeit verdammt zu sein.
Wütend tauchte ich für einen Augenblick aus meiner Deckung auf, kassierte zwei Treffer auf der Brust meines kugelsicheren Druckanzugs und feuerte meinerseits die Luger zweimal ab.
“Wieder zwei weniger.”
Eine Eierhandgranate landete direkt neben mir, ohne nachzudenken warf ich sie wieder über die Deckung. Kurz darauf detonierte sie.
“Guter Reflex, Akira”, lobte Philip.
Ich winkte ab. “Halb so wild. Wenn wir nur weiterkommen würden. Was ist mit Yoshi los?”
Ja, was war mit Yoshi? Er saß hinter seiner Deckung, den Bogen auf dem Schoß, die Augen geschlossen und bewegte sich nicht. So sah niemand aus, der sich vor Angst versteckte. Allerdings auch niemand, der an einem Kampf teilnahm.
Plötzlich sprang der ehemalige Mönch auf, riss den Bogen hoch, zog fünf Pfeile aus dem Köcher und lugte über die Deckung. Er schoss die fünf Pfeile so schnell ab, dass ich dem Vorgang kaum mit den Augen folgen konnte. Danach tauchte er wieder in der Deckung unter und das Abwehrfeuer auf seiner Seite erstarb.
Ich reagierte sofort, kam hoch und hechtete über die Metallkisten, die mir Deckung gegeben hatten. Ich feuerte die Luger leer, um die Gegner auf der rechten Seite unten zu halten, stolperte, erreichte aber dann die linke Flanke des Gegners. Ich schoss über die provisorische Barrikade und erstarrte für einen winzigen Moment. Fünf Mann. Drei tot, zwei schwer verletzt. Getroffen von Yoshis Pfeilen.
“Wir sollten ihn besser nicht mehr necken”, murmelte ich mehr zu mir selbst, wechselte schnell das Magazin der Luger und versuchte die andere Flanke allein aufzurollen.
Philip feuerte seine MP auf die Deckung, Daisuke lief ebenfalls zu mir herüber.
Wieder feuerte ich die Luger ab, versuchte die Abwehrstellung in der Flanke zu fassen. Ich erwischte wohl auch einen, aber das Abwehrfeuer der anderen zwang mich wieder in Deckung. “Mist! Diese Bastarde sind vor dem Eingang!”
“DUCKT EUCH!”, erklang Keis Stimme über Funk und instinktiv machte ich mich so klein wie möglich. Vom Eingang des Hangars huschten zwei Raketen herüber, schlugen in der Deckung unserer Gegner ein und machten daraus Kleinholz.
Noch bevor sich der Rauch gelegt hatte, schoss ich wieder vor, tiefer in den Gang hinein.
“AKIRA!”
Durch den Rauch kam etwas auf mich zugeflogen. Ich griff instinktiv danach. Es war das Katana, dass Yoshi bei sich getragen hatte.
Ich zog die Klinge mit der Linken blank und stürzte mich tiefer in den Gang.
Daisuke holte zu mir auf, Philip und Yoshi kamen nach.
Wir kamen an den ersten Biotanks vorbei, zehn an der Zahl. Sie waren zerschossen und die Insassen, Männer wie Frauen, teilweise schwer verletzt worden. Ohne ärztliche Hilfe würden sie sterben. “Verdammt, Yuri, die Helis sollen sich beeilen!”
“Geplante Ankunftszeit eine Minute. Ich lotse sie direkt bis zum Tor.”
Ich zerbiss einen ungerechten Fluch zwischen den Lippen, eilte weiter. Weiter, dem Lärm berstenden Glases nach, dem Geräusch ausfließenden Wassers, den ängstlichen Schreien.
Zum Glück waren die Biotanks sehr robust, das bedeutete, dass die Kronosier einiges an Zeit brauchten um sich durch so einen Schutz zu nagen. Zeitverlust bedeutete für uns Zeitgewinn.
Als ich in den nächsten Gang rannte, wurde ich sofort wieder zurückgeworfen. Meine Brust schmerzte höllisch und ich dankte dem Erfinder des Druckanzugs, der die Dinger kugelfest entworfen hatte.
“Weiter”, hauchte ich meinen Freunden zu. “Weiter…”
Daisuke ließ sich das nicht zweimal sagen. Seine Walter PPK bellte mehrfach auf, auch die Schrotflinte, die ich ihm überlassen hatte, röhrte und beendete das Leben eines kronosischen Söldners.
Yoshi stand im Eingang, halb verborgen und feuerte Pfeil auf Pfeil in die kleine Halle.
Von den zehn Biotanks waren bereits drei zerschossen worden. Die Insassen waren mit Kopfschüssen hingerichtet worden. Ich spürte kalte Wut in mir aufsteigen. Genau diese Art von Politik, diese Art von Willkür und Machtmissbrauch hatte mich zum Feind der Kronosier gemacht!
Mühsam kam ich hoch, fasste Katana und Luger fester.
Und erschrak fürchterlich als ich den Insassen des Tanks erkannte, auf den die Söldner gerade feuerten. Ich hatte das Mädchen nie zuvor gesehen, aber sie war dem Avatar von neulich erschreckend ähnlich. Hatte ich sie also gefunden: Sarah Anderson.
Daisuke war das wie und wer egal. Wütend brüllend stürzte er sich auf die drei Kronosier, die sich durch den Tank schossen. Wieder bellte seine Schrotflinte auf, danach die Walther. Den dritten rannte er um, nagelte ihn an die nächste Wand, setzte die Pistole auf und feuerte das Magazin leer.
Gut, er hatte Sarah gerettet. Er hatte… Nein, da stimmte noch was nicht.
Philip wurde neben mir zu Boden gerissen. Ein dünner Faden Blut lief aus seinem Mund und er wand sich unter Schmerzen. Verdammt, auch wenn die Anzüge kugelsicher waren, so brauchte es doch nur genügend Treffer, um den Träger dennoch zu verletzen.
Ich kam hoch, hob das Katana und ging zu den Tanks. Die leer geschossene Luger ließ ich fahren.
Es dauerte einige Zeit, bis ich Sarahs Tank erreicht hatte. Daisuke stand mit schreckgeweiteten Augen davor, hämmerte seinerseits auf das Glas ein.
Dann sah ich was mich gestört und meinen alten Freund in Entsetzen versetzt hatte. Das Wasser rund um ihren Kopf schlug Blasen. Es schien fast zu kochen.
Verdammt, die Tanks zu zerschießen war vor allem eine Show für uns gewesen! Die Kronosier hatten noch eine Möglichkeit die Insassen der Tanks zu töten! Einfach die Anschlüsse überladen!
Wütend riss ich mein Katana hoch, schlug damit gegen den Tank – und fiel, vom eigenen Schwung getragen, zu Boden. Eine Woge an Flüssigkeit schlug über mir zusammen, an der ich mich verschluckte.
Über mir gab es einen lauten Knall, als der Biotank zerbarst. Weiteres Wasser quoll hervor und Daisuke sprang an mir vorbei.
Ich drehte mich auf den Rücken, hustend und Wasser spuckend und sah dabei zu, wie Daisuke Sarah auffing, bevor sie aus dem Tank stürzen konnte. Hastig entfernte er die Anschlüsse an ihrem Schädel, und wirklich, ich konnte sehen, wie er sich dabei die Finger verbrannte.
Dann stürzte sie vollends in seine Arme.
Ich stemmte mich mühsam hoch, griff wieder nach dem Katana. “Wir sind noch nicht fertig”, sagte ich mit rauer Stimme. “Noch nicht fertig…”
“Sie braucht einen Arzt! Verdammt, Akira, sie braucht einen Arzt!” Daisuke sah mich mit dem verzweifeltsten Blick an, den ich je an ihm gesehen hatte.
Die junge Frau öffnete die Augen, blinzelte und sah erst Daisuke, dann mich an. Sie schloss die Augen wieder und seufzte schwer. “Wie schön. Die Akuma-Gumi ist da… Jetzt wird alles gut…”
“Ja”, schluchzte Daisuke und strich über ihr Haar. “Jetzt wird alles gut. Versprochen!”
“Damit du das auch halten kannst”, rief Hina vom Eingang her, “habe ich hier ein paar Ärzte mitgebracht! Kannst du sie also loslassen?”
Daisuke wirbelte herum, ich sah erschrocken zur Tür.
Tatsächlich. Hina stand dort in ihrem Outfit, das sie Aura-Rüstung nannte. Mir war der blaue Rock etwas zu kurz, aber ich hatte bereits gesehen, wie diese Kleidung Kugeln abgewehrt hatte. Hinter ihr drängten Ärzte der Amis und der Akuma-Gumi herein, im Laufgang arbeiteten sich die Marines voran.
Seufzend ließ ich mich wieder auf den Rücken sinken. “Scheiße, scheiße, scheiße.”
Die Ärzte übernahmen die Behandlung von Sarah Anderson und gaben eine erste, sehr positive Prognose ab. Und ich lag hier, im bernsteinfarbenen Wasser ihres Tanks und konnte kaum einen Finger rühren.
Daisuke ließ sich neben mir nieder. “Wie hast du das geschafft, Akira?”
“Wie habe ich was geschafft?”
“Na, die Kronosier mussten sich durch jeden Tank durchschießen. Aber du nimmst das Katana und zerschlägst ihn einfach.”
“Weiß nicht. Er war vielleicht schon angeschlagen.”
“Das wäre eine Möglichkeit. Oder entwickelst du auch langsam Aura-Fähigkeiten?”
Ich lachte über diesen Scherz. Wenn es denn einer gewesen war.
“Aoi Akuma hier. Bericht.”
“Ooookay, hier kommt der Zwischenbericht von halb drei”, klang Yuris fröhliche Stimme auf. “Die Fushida Hacking Crew hat die Basis sehr erfolgreich vom Rest des planetaren Netzwerks isoliert und unseren eigenen Supercomputer zwischengeschaltet. Wir simulieren normale Aktivität. Das wird noch für zwei Stunden gut gehen. Es gingen diverse Alarmmeldungen über Normalfunk raus, dementsprechend kamen schon Nachfragen über das Computernetz. Wir konnten sie täuschen.
Zugleich haben die Marines bereits über die Hälfte der Basis erobert. An Tanks haben wir siebzig gesichert. Bisher mussten wir sieben tote Insassen beklagen. Weitere neun müssen behandelt oder sogar notoperiert werden. Wir fliegen sie so schnell wie möglich aus.”
“Ist gut. Schiffsaktivitäten?”
“Bisher nicht. Kein Schiff der Kronosier in Ortungsreichweite. Das heißt aber nicht, dass wir hier nicht eventuell ganz schnell verschwinden müssen.”
“Verstanden. Was macht der letzte Gilgamesch?”
“Ist uns bisher immer noch durch die Lappen gegangen. Ich habe Admiral Richards empfohlen, seine Unterseebootabwehr loszujagen.”
“Gut. Philip hat es erwischt, ich weiß nicht wie schwer. Daisuke und Yoshi geht es gut, aber sie sind erschöpft. Wie sieht es bei euch aus?”
“Kei schiebt Langeweile, aber sonst geht es ihm gut. Mir auch. Was ist mit Philip?”
“Hat ein paar Kugeln zuviel auf die Brust gekriegt.”
“Verstehe.”
“So, wir helfen hier drin noch etwas aus, dann sollten wir ernsthaft an die Evakuierung denken. Ich melde mich wenn es soweit ist.”
Langsam richtete ich mich auf und kam wieder auf die Beine. “Dai-chan, kommst du?”
Der Freund ergriff meine Rechte und zog sich daran hoch. “Du hast mich schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr Dai-chan genannt, weißt du das?”
“Das liegt an diesen dämlichen Haaren. Ich habe immer gedacht, mit der Gift hast du dich verändert.”
“Ach.”
Ich zuckte mit den Achseln. “Du hast dich verändert. Soweit hatte ich Recht. Aber du bist immer noch mein guter Freund Dai-chan. Und seien wir doch mal ehrlich, die Haarfarbe kommt bei den Frauen gut an, oder?”
Daisuke bekam einen heftigen Hustenanfall. “M-musst du immer so einen Blödsinn reden, Akira?”
Ich grinste breit.
An der Tür lehnte Philip. Man hatte ihm den Druckanzug bis zur Hüfte herunter gezogen und ein Sanitäter legte ihm einen strammen Verband an.
“Scheiße. Drei Rippen gebrochen. Und weh tut es auch noch.” Er biss heftig die Zähne zusammen, als ihn eine kräftige Schmerzwelle erfasste.
“Stell dich nicht so an. Lieber arm dran als Arm ab.”
“Akira, irgendwann schreibe ich all deine Kalauer in ein dickes, fettes Buch. Autsch.”
“Oh, welche Ehre.”
“Und dann ziehe ich es dir über den Kopf.”
“Der Wälzer dürfte über tausend Seiten haben”, kommentierte Daisuke. “Junge, das wäre Mord.”
Die beiden grinsten sich an.
“Idioten”, murrte ich und machte mich auf die Suche nach Yoshi, der mit den Marines weiter vorgerückt war.
4.
Mein Blick ging über das Flugdeck der ENTERPRISE. Nach der Evakuierung war ein schneller Aufbruch erfolgt. Eine Fregatte der Kronosier hatte sich für uns interessiert, herbei gelockt vom letzten Gilgamesch. Aber unsere Raketenkreuzer hatten sie überredet, außer Reichweite zu bleiben.
Nun standen wir hier zwei Tage nach dem Geschehen gemeinsam auf dem hohen Startdeck der ENTERPRISE, vor uns die siebzig Toten, aufgebahrt und mit ihren Fahnen bedeckt. Bei einigen hatten wir nichts zuordnen können, viele Tote aus den Tanks blieben für uns Namen- und Nationalitätslos. Wir hatten sie mit der Fahne der Vereinten Nationen abgedeckt und würden sie auch an eine humanitäre Organisation weiter leiten. Vielleicht fanden diese ihre Identitäten heraus. Vielleicht wurden sie anonym begraben.
Die toten Kronosier würden über diesen Umweg ebenfalls zurückgegeben werden, zusammen mit den wenigen überlebenden Soldaten des Stützpunkts. Ich hätte nichts dagegen gehabt, ihnen wegen mehrfachen Mordes den Prozess zu machen, aber es war hauptsächlich Fußvolk, das mit der Ausrede davon kam, nur Befehle ausgeführt zu haben.
Sie nahmen nicht an dieser Trauerfeier teil. Wohl aber jene Menschen aus den Biotanks, die bereits wieder stark genug waren, um den Strapazen an Deck gewachsen zu sein.
Sarah Anderson war dabei, in einem Rollstuhl, der von Daisuke geschoben wurde. Die Fushida Hacking Crew eskortierte sie. Ob so viel Sonnenlicht für diese lichtscheuen Gestalten gut war?
Daneben standen die Abordnungen der Marines und der Navy. Auch sie hatten Verluste gehabt, aber Admiral Richards hatte zu Recht darauf hingewiesen, dass die Navy und die Marines ihre eigenen Rituale für die Toten hatten und eine eigene Feier veranstalten würden.
Meine Akuma-Gumi war natürlich auch da, wenngleich sich Philip auf eine Krücke stützte und nicht wirklich glücklich wirkte, wenn er einatmete.
“Wir wissen nicht, welcher Religion die einzelnen Toten angehört haben”, sagte ich ernst, “und wir kennen ihre Rituale nicht. Aber Tatsache ist, dass hier siebzig Tote vor mir liegen. Kronosier, Söldner und Menschen aus den Biotanks.” Ich blickte auf die Särge hinab.
“Im Tod sind wir alle gleich. Wir werden geboren. Wir leben unsere Leben und mit dem Tod enden sie. Das erwartet jeden von uns. Und jeder einzelne von uns ist selbst dafür verantwortlich, wie er die Zeitspanne dazwischen füllt.
Es ist egal, wem diese Menschen gehorcht haben. Es ist egal, welche Leben sie gelebt haben. Es ist egal, woher sie kamen und wohin sie wollten.
Ihre Leben sind beendet, nichts und niemand bringt sie aus dem Tod zurück.
Und im Tod ist alles eins. Reue, Sühne, Vergebung und Liebe.
Wir sollten nicht bereuen, dass sie gelebt haben, nicht für Sühne streben dafür wie sie gelebt haben. Sie verdienen Vergebung, nun, da sie ihr Wichtigstes, ihr Leben verloren haben. Und egal, ob es Menschen oder Kronosier waren, Täter oder Opfer. Im Tode sind sie alle eins und verdienen ebenso unsere Liebe wie jene, die noch leben.”
Ich sah wieder die angetretenen Menschen an. “Ich würde Sie alle gerne dazu auffordern mit mir für die Seelen der Toten zu beten, aber es gibt Dutzende Religionen und hunderte Möglichkeiten zu tausenden Göttern zu beten.
Stattdessen bitte ich Sie alle nur, in der Vergebung für die Toten das Haupt zu senken und eine Minute zu schweigen.”
Ich senkte den Blick, faltete die Hände vor dem Körper und schwieg. Meine Gedanken setzten aus, mein Geist flackerte wieder von Bildern der Schlacht, zählte langsam die Zahl meiner Opfer herunter und fügten sie meiner bereits reichlichen Bilanz hinzu.
Als die Schweigeminute vorüber war, sah ich auf. “Petty Officer, bitte.”
Der Marine seitlich von mir salutierte vor mir, wandte sich seinem Kommando zu und ließ die zehn Mann in den schwarzen Ausgehuniformen dreimal Salut schießen.
Bei jedem Schuss zuckte ich zusammen. Dreißig Kugeln. Ja, das war ungefähr die Zahl der Toten, die ich meiner Abschussliste hinzufügen musste.
Verdammt, langsam aber sicher wurde ich noch wahnsinnig mit diesem Job.
***
Nachdem sich die Versammlung aufgelöst hatte, wurden die Särge verladen. Hubschrauber würden sie nach Hawaii ausfliegen und dort Internationalen Hilfsorganisationen übergeben.
Für uns bedeutete dies auch den Aufbruch, die Ausrüstung war verladen, die Transporthubschrauber warteten bereits.
Und unsere Zahl war erheblich angewachsen. Denn bis auf vierzig Überlebende, hauptsächlich Amerikaner oder Europäer, die endlich nach Hause wollten, hatten sich die anderen Opfer aus den Biotanks dazu entschlossen, sich uns anzuschließen.
Ebenso die Hacking Crew, was mich sehr verwundert hatte. Aber wie Sarah so schön sagte, sie standen nun in unserer Schuld.
“Sir, haben Sie eine Sekunde für mich?”
Überrascht wandte ich mich um. Die Stimme kannte ich. Und ich hatte sie nicht in bester Erinnerung. “Commander Sykes. Gerne doch. Was kann ich für Sie tun?”
Der Lieutenant Commander schluckte hart. “Colonel, ich wollte mich entschuldigen für das was ich gesagt habe, als Sie an Bord kamen. Ich hatte die letzten Tage ausgiebig Zeit, die Gefechtsaufzeichnungen auszuwerten und ich habe gesehen, was Sie mit einem Hawk machen können. Ich bin wirklich sehr beeindruckt, Sir, und ich sehe ein, dass Ihr Ruf noch weit untertrieben ist. Bitte, nehmen Sie meine Entschuldigung an, von Offizier zu Offizier.”
Unschlüssig beäugte ich den Navy-Offizier. Er war nervös und wirkte auch ein wenig verzweifelt. Hatte Richards ihn zur Minna gemacht und losgeschickt? Nein, das glaubte ich nicht.
Ich begann zu lächeln und reichte dem Offizier die Rechte. “Entschuldigung angenommen, Commander Sykes.”
Mit einem erleichterten Aufatmen ergriff er die dargebotene Hand und schüttelte sie mit festem, kräftigem und vor allem trockenem Händedruck.
“Wir werden wohl nie Freunde werden, Colonel”, sagte er ernst und spielte damit auf die Tatsache an, dass die Akuma-Gumi auch schon gegen Truppen der USA gekämpft hatte, “aber wir können einander respektieren. Sie haben sich meinen Respekt schon verdient. Nun will ich alles tun, damit ich respektiert werde: Von Aoi Akuma.”
“Sie sind auf einem guten Weg, Commander”, erwiderte ich.