13. Vormittags

Dörte wollte sie erst nachmittags beim Museum treffen, deshalb machten sie sich überhaupt erst mittags auf den Weg. Frederiks Motivation war gering, den Vormittag zusammen mit Ewa auf der Bude zu hocken, zumal sie sich – zumindest aus seiner Sicht – nichts weiter zu sagen hatten. Sollte er etwa wieder in eine Diskussion über Religion und Spießertum mit ihr eintreten? „Ich gehe ein wenig spazieren und gucke mir die Umgebung an.“

Geh du nur, ich halte dich nicht.“

Frederik zuckte mit den Schultern und ging. Mochte sie seinetwegen den Vormittag damit verbringen, mit ihrem Designer-Untersetzer weitere Botschaften an Unbekannt zu verschlüsseln. Immerhin musste sie dazu in der Bibel lesen, dachte er niederträchtig, das geschah ihr ganz recht.

Am frühen Nachmittag war Fred zurück, um nun mit Ewa in das empfohlene Museum aufzubrechen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihre weiße Phantasieuniform im Gepäck haben würde. Die er ja bisher nur in einem Video gesehen hatte. Jetzt sah er sie im Original, denn Ewa hatte sich scheints entschlossen, sie bei ihrer heutigen Exkursion anzuziehen. Okay, sie sah atemberaubend damit aus, aber mit dem Wissen, dass sie erstens Gott ablehnte und dass sie zweitens vermutlich eine Spionin war, konnte er sich dessen einigermaßen leicht erwehren.

Muss ich jetzt wieder ‚Hochedle’ zu dir sagen?“

Quatsch!“

Die phantasievollen technischen Gimmiks und die Rangabzeichen, die zu der Uniform gehörten, hatte sie immerhin weggelassen, so dass es jetzt ein ganz normaler weißer Hosenanzug war. Warum sie sich gerade zu diesem Outfit entschlossen hatte, war ihm nicht völlig klar, aber er hatte einen Verdacht. Sie wollten sich ja abends wiederum mit Dörte treffen. Und die sah in ihrer bunten Wolljacke – im Gegensatz zu Ewas aktuellem Erscheinungsbild – sehr … selbstgestrickt aus. Vermutlich wollte sie sie beeindrucken und ausstechen. Wie er Dörte einschätzte, müsste sie allerdings über dergleichen billige Versuche erhaben sein.

Das Landnámssýningin lag an einer Straßenkreuzung und wirkte auf Fred von außen eher wie eine Eckkneipe. Trat man ein, so ging man auch hier erst einmal eine Treppe hoch (von Barrierefreiheit konnte bei den hiesigen Museen also nicht die Rede sein), um dann festzustellen, dass es viel weitläufiger war, als es von draußen ausgesehen hatte – offenbar belegte es noch einige Nachbargebäude mit.

Die Anmutung dieser Ausstellung war eine völlig andere als im Nationalmuseum. Hatten dort die Exponate mehr oder weniger aufgereiht in Vitrinen gestanden, so wurden hier Szenen der Besiedlung und Historie Islands in großzügig angelegten Dioramen präsentiert, durch die man sich fast in die jeweilige Zeit hineinversetzt fühlen konnte.

Das hieß allerdings, dass es praktisch keine originalen Exponate gab; alles war in Form von – zugegeben recht aufwändig gestalteten – Modellen ausgeführt. Artefakte, welcher Art auch immer, würden sie hier nicht finden.

Dieser Tipp von deiner Dörte war wohl ein Schuss in den Ofen“, stellte Ewa denn auch nach kurzer Zeit frustriert fest.

Nun, das kommt sicherlich auch daher, dass wir Dörte nicht klar sagen konnten, was wir suchen.“

Also – gehen wir?“

Bis zu unserer Verabredung mit Dörte sind es noch zwei Stunden. Die können wir ebensogut hier verbringen und uns den Rest der Ausstellung ansehen – nachdem wir nun schon mal hier sind. Zumal es draußen regnet und dein Anzug nicht direkt für Schmuddelwetter geeignet ist. Das Original von dieser Ceena wäre natürlich schmutzabweisend gewesen. Aber dies ist eben nur eine Kopie.“ Diese winzige Spitze konnte er sich nicht verkneifen.

Blödmann.“

Von diesem kleinen Geplänkel abgesehen, erkundeten sie also als brave Touristen den Rest der Ausstellung. An einer Szene blieb Fred interessiert stehen. Sie zeigte einige Menschen, die um einen Pfahl standen, der wiederum schräg in den (künstlichen) Boden gerammt war und an seiner Spitze einen Pferdekopf trug. Einen echten. Nein, natürlich keinen echten, aber ein Kunststoffmodell eines Pferdekopfs, der auf den Pfahl gespießt zu sein schien, so dass man vermuten musste, im Original dieser Szene vor tausend Jahren sei es ein echter Kopf gewesen.

Die englischsprachige Erläuterung der Szene klärte sie darüber auf, dass es sich hier um eine Zeremonie handelte, bei der ein Fluch gegen einen missliebigen Mitmenschen auf den Weg gebracht wurde. Der Pfahl wurde englisch als ‚nithing pole’ bezeichnet.

Im Nationalmuseum hatten sie auch so einen Pfahl. Mit der Beschreibung ‚nithing pole’ konnte ich allerdings nichts anfangen. Jetzt weiß ich wenigstens, was man damit macht.“

Schön. Und? Ich finde das ziemlich abartig mit diesem aufgespießten Pferdekopf.“

Wir sollten vielleicht nochmal rumgehen und gucken, ob wir nicht in einer der Szenen dein Alien-Funkgerät entdecken. Dann steht da vielleicht auch, was man damit gemacht hat.“

Ich habe wenig Hoffnung, aber von mir aus…“

Frederik stellte sich vor, dass sie vielleicht gar nicht interessiert war, die tatsächliche Funktion dieses Gegenstandes zu entdecken. Denn dann hätte sie ja ihre Vorstellung von einem außerirdischen Artefakt aufgeben müssen. Aber jedenfalls schloss sie sich ihm an. Fündig wurden sie nicht. Was auch unwahrscheinlich gewesen war, denn wenn sie im Nationalmuseum nur ‚uncertain – probably kitchen utensil’ dazu sagen konnten, dann würde man im Siedlungsmuseum mutmaßlich nicht mehr darüber wissen.

Es ist fünf. Dörte wartet auf uns“, stellte Fred mit Blick auf die Uhr fest.

Dörte wartet“, flötete Ewa mit einem süffisanten Unterton. „Findest du sie interessanter als mich? Hast du ihr nun schon die Gretchenfrage gestellt?“

Fred sagte nichts dazu. Nein, er hatte sie immer noch nicht nach ihrem Verhältnis zur Religion befragt. Ihre bisherigen Gesprächsthemen hatten das nicht hergegeben, außerdem hätte er es als aufdringlich empfunden. Und solange er mit ihr nichts anfangen wollte, spielte es schließlich keine Rolle, oder?

*

Wider Erwarten war Dörte diesmal pünktlich. Sie erwartete sie am Ausgang des Museums. Der Regen hatte aufgehört, nur die Straßen glänzten nass. Und Dörte sah tatsächlich selbstgestrickt aus wie immer. „Hallo Fred. Hallo Ewa. Nettes Outfit. Kriegt bestimmt leicht Flecken, was?“

Das war ihr Kommentar zu Ewas weißem Anzug. Nicht mehr und nicht weniger.

Und wohin gehen wir jetzt?“

Ich habe mich gestern noch ein wenig umgesehen. Es gibt da ein kleines und recht günstiges Lokal in der Laekjagata, mit vielen einheimischen Gerichten. Es gibt zwar auch ein Chinarestaurant, aber ihr seid wohl nicht nach Island gekommen, um chinesisch zu essen, oder?“

Nun, dann zeig uns den Weg“, meinte Fred.

Kurz darauf saßen sie in einem gemütlichen Restaurant und studierten die Speisekarte. Leider war die nur einsprachig, und Dörte musste sie übersetzen. Dass neben den isländischen Begriffen die jeweiligen Gerichte abgebildet waren, war wenig hilfreich. Wenn man nicht wusste, was es sein sollte, konnte es alles sein. „Suppe von Meeresfrüchten“, erläuterte Dörte und fuhr mit dem Zeigefinger die Karte entlang, „Fischauflauf mit Roggenbrot, Lammsuppe.“

Weil sie alle in die gleiche Karte gucken mussten, rückten sie ziemlich eng zusammen; Dörtes Haare kitzelten Fred im Gesicht, und sie roch höchst angenehm nach sich selbst, ohne jegliches Parfüm. Fast vergaß er, auf ihre Übersetzungen zu achten.

Und, habt ihr euch entschieden?“

Das da“, zeigte Fred.

Die Lammsuppe?“

Ja.“ Ach ja, Lammsuppe hatte sie gesagt. Beinahe hätte er es vergessen gehabt.

Und du?“

Meeresfrüchte“, sagte Ewa. Dörte übernahm das Bestellen.

Und, wie hat euch das Landnámssýningin gefallen?“

Die Dioramen sind sehr eindrucksvoll. Zum Beispiel, wie die Wikinger an Land gehen und die erste Siedlung errichten.“

Deren Anführer, Ingólfur Arnason, hat übrigens dieser Stadt den Namen gegeben. Er landete bei Nebel, heißt es, und nannte die Bucht daher ‚Reykjavik’, das heißt ‚Rauchbucht’.“

Nicht verzagen, Dörte fragen“, lächelte Fred. „Aber da nun schon unsere kundige Einheimische zur Hand ist, könntest du uns eigentlich noch eine andere Sache erklären.“

Gerne, wenn ich kann.“

Es war eine Szene dargestellt, in der ein sogenannter ‚nithing pole’ eine Rolle spielte, um jemanden zu verfluchen. Kannst du uns mehr darüber erzählen?“

Ja. Unsere Bezeichnung dafür ist ‚Niðstang’, das ist etwa mit ‚Schmähstange’ zu übersetzen. Man ritzt einen Fluch in Runenschrift ein, oftmals mehrfach die Thors-Rune, spießt einen Tierkopf auf das Ende – Schaf, Pferd, Schwein oder dergleichen – und richtet die Stange schräg in Richtung dessen, der oder das verflucht werden soll.“

Der oder das? Also auch gegen Gegenstände?“

In der Tat. Vor kurzem haben wir eine Niðstang gegen ein Aluminiumwerk gerichtet, um…“

Fred und Ewa sahen Dörte mit großen Augen an. „Wir?“, fragte Fred ungläubig.

Dörte zeigte einen etwas betretenen Gesichtsausdruck. „Ja. Wir. Ich hatte es euch bisher nicht erzählt. Nicht, um es zu verheimlichen, aber es ergab sich einfach nicht. Ich gehöre der Ásatrúarfélagið an.“

Der – was?“

Der Asenglaubensvereinigung. Wir verstehen uns als eine geistliche Erneuerungsbewegung, die den ursprünglichen Glauben unserer Ahnen wiederbelebt. Wir glauben an die alten Götter, Odin, Thor und so weiter. Und zur Vermeidung von Missverständnissen: wir sind keine Verrückten, sondern eine offiziell anerkannte Religionsgemeinschaft. Wir bekommen sogar einen Anteil der Kirchensteuer.“

Daran, dass in ihm eine Welt zusammenbrach, erkannte Frederik unmissverständlich, dass er sich in Dörte längst verliebt gehabt hatte. Und jetzt stellte sie sich als eine Neu-Heidin heraus. Deswegen also kannte sie sich so gut mit den germanischen Göttern aus. Weil es die ihren waren. Sie musste ihm die Erschütterung wohl am Gesicht angesehen haben.

Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe“, sagte Dörte vorsichtig.

War da etwa ein schadenfroher Zug in Ewas Gesicht? In dem Augenblick wurde das Essen serviert, und Fred verspürte in sich den irrationalen Drang, Ewa ihre Meeresfrüchte direkt ins Gesicht zu klatschen. Er beherrschte sich. Vielleicht nur, weil der weiße Anzug danach mehr als nur einen Fleck gehabt hätte.

Das Tischgebet blieb Fred, zwischen so vielen Ungläubigen, im Halse stecken, er beschränkte sich auf „Guten Appetit“.

Wie lange bleibt ihr eigentlich noch?“, fragte Dörte nach einer Weile.

Fred rechnete kurz das Datum nach. „Zehn Tage.“

Dann würde ich euch gern zum nächsten Blót einladen. Das findet in drei Tagen statt. Da könntet ihr euch ein Bild davon machen, wer wir sind und was wir tun.“

Was ist ein Blót?“

Eine Zeremonie zur Verehrung unserer Götter.“

Und da dürften wir einfach dazukommen?“

Wir sind völlig offen für Besucher. Zum ersten Blót vor dreißig Jahren waren, so sagte man mir, mehr Journalisten als Gläubige anwesend.“ Sie lächelte unschuldig. „Das war natürlich vor meiner Zeit.“

Natürlich.“ Fred war sich nicht sicher, ob er wirklich dabeisein wollte.

Ich glaube, ich muss mir das nicht antun“, sagte Ewa.

Diese ablehnende Haltung rief seinen Widerspruchsgeist auf den Plan. Mit ihr wollte er sich nicht auf eine Stufe stellen. „Doch, ich würde mir das ansehen.“ Zumal es vielleicht die letzte Gelegenheit war, noch einmal in Dörtes Nähe zu sein. Wenn er dann sah, welche barbarischen Rituale sie dort feierten, würde es ihm womöglich leichter fallen, sie aus seinem Gedächtnis (und aus seinem Herzen) zu tilgen.

Wir müssen dazu allerdings ein Stück weit ins Landesinnere fahren, nach Þórsmörk. Unser Tempel in Reykjavik ist noch nicht fertig. Die Finanzkrise hat den Bau etwas zurückgeworfen.“

Es wirkte ein wenig irreal auf Fred, dass eine Heidin, die Odin verehrte, so selbstverständlich in aktuellen Begriffen wie ‚Finanzkrise’ dachte. Dann fiel ihm ein, dass er selbst immerhin auch einen Jesus Christus verehrte, der vor zweitausend Jahren auf Erden gewandelt war, und dass er dennoch in so modernen Themen wie ‚Exoplaneten’ zu Hause war.

Und wie kommen wir da hin?“

Ich will sehen, ob noch Platz in dem Bus ist, der mich mitnimmt. Ansonsten müsstet ihr euch einen Wagen mieten.“

Für Fred reicht ja ein Platz“, stellte Ewa spitz fest.

Dörtes Blick war etwas schmerzerfüllt, aber sie sagte dazu nichts. „Ich geb’ euch bescheid. Sagst du mir deine Handynummer?“

Fred diktierte sie ihr.

*

Inzwischen hatte Ewa von ihrer vorgesetzten Organisation, vertreten durch jenen phantasie- und humorlosen Müller, eine codierte Botschaft erhalten, sie solle das vermutete Artefakt von allen Seiten fotografieren und die Bilder steganografisch in ein paar harmlosen Landschaftsfotos verbergen und übermitteln.

Das war eine nicht ganz triviale Aufgabe. Die Verschlüsselung selbst erledigte zwar ihr Handy, aber um das Objekt von allen Seiten abzulichten, genügte es nicht, ins Museum zu gehen und es zu fotografieren. Da es an einer Wand stand, konnte man es weder von hinten noch von unten fotografieren, und von oben oder von den Seiten auch nur unter ähnlichen Verrenkungen, wie man sie für ein Selfie zu absolvieren pflegte. Eine Besucherin, die sich auf diese Weise mit dem Exponat befasste, musste Aufmerksamkeit erregen. Ewa würde also etliche Versuche benötigen, um die erforderlichen Bilder in unbeobachteten Momenten zu erhalten. Rückansicht und Bodenansicht würde sie wohl nicht abliefern können. Da hatte Müller sich etwas schönes ausgedacht.

Bei ihrem Tun hatte sie dann auch noch den Eindruck, dass einer der Aufseher ihr folgte und sie beobachtete. Nun war es zwar nicht ausdrücklich verboten, die Exponate zu fotografieren, aber die Intensität ihrer Bemühung war offenbar nicht unbemerkt geblieben. Mist. Am besten setzte sie für einen oder zwei Tage aus und veränderte danach ihr Aussehen so, dass sie nicht gleich als die Verdächtige erkannt wurde. Sollte sie die Absperrung übersteigen, um ein Foto von hinten zu bekommen? Und ob das einen Alarm auslösen würde, wusste sie auch nicht.

Dass Fred in den nächsten Tagen seine eigenen Wege ging und keine Ambitionen zeigte, ihr ins Museum zu folgen, begrüßte sie jedenfalls.

14. Drei Tage danach

Beim Frühstück (inzwischen war es Ewa gelungen, in einem Supermarkt eine Dose widerlichen Instantkaffee zu besorgen) klingelte Freds Handy. „Du gestattest?“

Es war Dörte. „Hallo Fred. Es ist wegen des Blót. Wir fahren heute vormittag um elf, und im Bus sind noch zwei Plätze frei. Wir holen dich ab, okay?“

Ewa hatte mitgehört und gestikulierte jetzt. „Ich komme auch mit!“

Da Fred nicht wusste, dass sie heute und morgen eine Pause bei ihrer Museumsforschung benötigte, wunderte ihn der Sinneswandel ein wenig. Aber das musste er nicht ausdiskutieren.

Ewa hat sich gerade entschlossen, auch mitzukommen. Ist das okay?“

Aber gerne“, sagte Dörtes Stimme.

Also um elf.“

Und zieht euch warm an, es ist eine Gletschergegend. Mit ihrem weißen Anzug wäre Ewa etwas – äh – zu wenig isoliert.“

Alles klar. Bis dann.“ Frederik beendete die Verbindung. „Hast du das gehört?“

Ja.“

Wie kommt es, dass du es dir nun doch überlegt hast?“

Muss ich meine Entscheidungen vor dir rechtfertigen?“

Musst du nicht.“

Schön. Ich kann’s dir aber sagen: Wenn diese Götzenanbeter irgendwo da draußen einen Blót-Platz haben, könnte es doch sein, dass es dort ein Heiligtum ihrer Religion gibt. So wie die Kaaba in Mekka, verstehst du? Das könnte vielleicht ein Artefakt sein, wie wir es die ganze Zeit suchen.“

Ah. Deine Alien-Fruchtpresse ist dir also nicht genug?“

Das würde Müller entscheiden müssen oder sein Stab. Aber von den Fotos hatte er bislang nur die Vorderansicht und konnte daher vorerst gar nichts entscheiden. Ins Museum konnte sie heute ohnehin nicht. Und vielleicht gab es da draußen ja tatsächlich noch etwas zu entdecken.

Idiot!“, fasste sie ihre Überlegung für Fred zusammen.

*

Kurz vor elf standen sie beide vor ihrer Unterkunft auf der Straße und warteten auf den angekündigten Bus. Als dieser schließlich um die Ecke bog, nahmen sie ihn zuerst überhaupt nicht zur Kenntnis; erst als er vor ihnen hielt, die seitliche Schiebetür auffuhr und dort Dörte erschien, begriffen sie, dass dies der Bus war: es handelte sich um einen VW-Bus, nicht mehr das neueste Modell, aber liebevoll bunt lackiert. Es erinnerte ihn an die Blümchenbemalung der Flower-Power-Bewegung. „Hi, Ewa, hi, Fred. Steigt ein, wir sitzen hier auf der mittleren Bank.“

Aus praktischen Erwägungen, damit von den übrigen Fahrgästen niemand aufstehen musste, war für die Neuankömmlinge offenbar die mittlere Reihe reserviert. Dörte schob die beiden an sich vorbei auf ihre Plätze, dann zog sie die Tür zu und setzte sich auch. Fred fühlte sich etwas fehl am Platze zwischen den anderen Mitreisenden, von denen er nun wusste, dass sie allesamt Neu-Heiden waren.

Er brachte ein Lächeln zustande. „Hallo, ich bin Fred.“ Er hätte auch ‚Wir sind Ewa und Fred’ sagen können, scheute sich aber, da ihm Ewa dann womöglich sofort über den Mund gefahren wäre mit einem Spruch wie ‚Ich kann mich allein vorstellen’. Tatsächlich tat sie nichts dergleichen. Die anderen gingen darüber höflich hinweg und nannten ihrerseits ihre Namen. In denen viele ‚sson’ vorkamen, die er sich aber nicht merken konnte. Eigentlich sahen sie ganz normal aus, gar nicht irgendwie heidnisch. Nun ja, die drei auf der Rückbank trugen ein Amulett oder dergleichen um den Hals, das wie ein etwas dreieckig geratener Hammer aussah. Fred erkannte die Form, sie war auch im Museum ausgestellt gewesen: Der Anhänger war ein Thorshammer.

Die Fahrerin war eine resolut aussehende Dame um die fünfzig, die man der Haarfarbe gemäß als Blondine hätte bezeichnen können, wenn nicht dieser Begriff, zumindest bei Fred, mit einer deutlich jüngeren Erscheinung verknüpft gewesen wäre. Marylin Monroe zum Beispiel, der es ja durch ihren frühen Tod erspart geblieben war, in fortgerücktem Alter abgelichtet zu werden. Jene Blonde am Steuer schaltete den Gang ein und steuerte den Bus aus der Nebenstraße heraus.

Wie lange fahren wir?“, erkundigte sich Fred bei Dörte.

Um die zwei Stunden.“ Etwas außerhalb, hatte es geheißen. Zwei Stunden. In diesem Land gab es keine kurzen Enfernungen. Eine Stunde vom Flughafen nach Reykjavik. Zwei Stunden von Reykjavik zu diesem Blótplatz. Blót. Das klang wie Blut und ließ in Fred schaurige Vorstellungen von barbarischen Opferzeremonien aufkommen. Aber nun hatte er sich darauf eingelassen, nun musste er da auch durch. Sie würden ja hoffentlich keine Christen schlachten.

Der Bully ließ die Stadt hinter sich und durchquerte die Landschaft auf einer gut ausgebauten Bundesstraße. Was die Landschaft betraf: Wenig Grün und vor allem Felsen oder erstarrte Lava. Nach einer halben Stunde wechselte das Bild, jetzt gab es bebaute Felder oder Weiden, auf denen Schafe grasten. Sie passierten die eine oder andere Ortschaft. Dann wieder gab es erstarrte Lava-Flüsse.

Die Fahrerin wandte sich an ihren Nebenmann und fragte etwas. Auf Isländisch natürlich: „Hvert skal ég snúa mér?“ – „Í Hvoldsvöllur á bensínstöðinni til vinstri.“ – „Allt í lagi.“

Sie soll in Hvoltsvöllur an der Tankstelle links abbiegen“, erläuterte Dörte. „Danach ist es noch eine gute halbe Stunde, glaube ich.“

Warst du schon mal da?“

Ja, dreimal, wenn ich mich recht entsinne.“

Was ist denn dieses, wie hieß es gleich, Dorfmark?“

Þórsmörk. Das bedeutet ‚Wald des Thor’ oder ‚Waldgrenze des Thor’. Da ist eine kleine Ferienhaussiedlung für Touristen. Man kann an Führungen in die Vulkanlandschaft teilnehmen oder sich einen Geländewagen mieten und selbst die Gegend erkunden. Ich würd’s aber nicht machen, es ist eine gefährliche Gegend.“

Inwiefern gefährlich?“

Scharfe Felsen, die Reifen aufschlitzen, Geröllhalden, in denen man sich hoffnungslos festfährt, abbrechende Überhänge, mit denen man abstürzen kann, trügerisches Moor – solche Sachen. Man hat uns damals einige Schauergeschichten darüber erzählt. Aber wir müssen nicht mehr weit zu Fuß gehen, der Blótplatz ist vielleicht eine halbe Wegstunde von der Siedlung entfernt.“

Gibt es einen besonderen Grund, warum der Platz gerade da ist?“, erkundigte sich Ewa. Richtig, sie hoffte ja auf ein bedeutsames Artefakt, vorzugsweise von Außerirdischen.

So gesehen, war die Antwort enttäuschend. „Man steht dort an einer der Wurzeln der Weltesche Yggdrasil, am Brunnen Hwerglmir. Das ist die Wurzel, die sich in Niflheim gründet.“

Ihr verortet eure Mythologie konkret in der Landschaft?“

Richtig. Ist dir aufgefallen, dass die Straße auf gerader, ebener Strecke einige unmotivierte Kurven macht?“

Ehrlich gesagt, darauf haben wir nicht geachtet“, gestand Frederik.

Sie weicht Trollhöhlen und Elfenhügeln aus. Das sind feste Orte, die ein Isländer niemals stören würde.“ Sie lächelte. „Selbst wenn er Christ ist.“

Und Ásgard und Utgard, und wie sie alle heißen, gibt es auch?“

Dörte nickte zustimmend. „Ásgard sehen wir im Vulkan Herdubreid, und sogar die Regenbogenbrücke Bifröst soll es geben. Und ehe du fragst, nein, ich war nie da. Das ist etwas für Alpinisten.“

Fred fand es etwas merkwürdig, dass diese Glaubensgemeinschaft Landmarken Islands mit der Mythologie identifizierte. Müsste das nicht heißen, dass außerhalb der Insel nichts mehr für sie existierte, wenn sie Ásgard und Utgard und Midgard, vermutlich auch noch das Totenreich Hel und die Walhall, also ihr gesamtes Weltbild, auf Island unterbrachten? Wo verorteten sie dann den Rest der Welt? Aber er getraute sich nicht, Dörte danach zu fragen. Vermutlich, weil er ihre Antwort fürchtete.

Nachdem sie die Bundesstraße 261 verlassen hatten, wurde die Straße rapide schlechter und mündete schließlich in einen unbefestigten Feldweg, auf dem der VW-Bus nur noch langsam voran kam und sie alle gewaltig durchschüttelte.

Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“

Erstarrte Lavaströme sind eine raue Piste. Das hat alles seine Richtigkeit. Jetzt müssten wir aber gleich am Ziel sein.“

Zehn Minuten später passierten sie eine Holztafel mit der Aufschrift ‚Þórsmörk Resort’. Der Bully hielt. „Wir sind da“, verkündete Dörte, als sei sie stolz darauf. Sie schob die Tür auf und sprang als erste aus dem Wagen.

Fred und Ewa folgten ihr zügig, damit die Leute von der Rückbank ebenfalls aussteigen konnten. Ewa zog sich ihren Schal um den Hals. „Es ist kalt hier.“

Du hattest hoffentlich keinen warmen Gletscher erwartet? Dafür haben wir unsere Geysire, allerdings gibt es in dieser Gegend keine“, lächelte Dörte.

*

Auf dem – hm – Parkplatz standen bereits geschätzt zwanzig Fahrzeuge, meist Geländewagen, mit denen offenbar die anderen Teilnehmer angereist waren. Gruppen von Menschen standen über das Areal verteilt und unterhielten sich. Lautstark, gestenreich und – für Fred – unverständlich.

Das da ist Hilmar Örn Hilmarsson, unser Allsherjargoðe“, zeigte Dörte. „Derzeit unser oberster Priester. Er wird nachher die Zeremonie leiten. Entschuldigt mich jetzt für einen Moment.“

Sie ließ Fred und Ewa stehen und trat auf eine Gruppe zu, offenbar Bekannte von ihr, die sie begrüßte, und denen sie, den Gesten nach zu urteilen, erläuterte, wen sie da mitgebracht hatte.

Fred, der die Asengläubigen insgeheim als Exoten eingeordnet hatte, wurde sich plötzlich bewusst, dass sie hier die Exoten waren. Die anderen sahen zu ihnen herüber und machten einige Bemerkungen, die natürlich nicht zu verstehen waren.

Ein Pickup, ein Geländewagen mit Ladefläche, bog in den Parkplatz ein. Er hupte mit Licht und Fanfare, woraufhin die schon Anwesenden bereitwillig aus dem Weg gingen und das Fahrzeug passieren ließen. Es rangierte ans Ende des Parkplatzes, an dem ein Pfad begann, von dem Fred vermutete, dass er zum Blótplatz führte.

Endlich gesellte sich Dörte wieder zu ihnen. „Geht es da zum Blótplatz?“, fragte Fred.

Richtig. Und das ist der Wagen von Þorstein Ingmarsson; ich vermute, er bringt das Opfertier.“

Opfertier. Fred musste schlucken. Þorstein Ingmarsson, ein bärtiger Hüne, der als Wikinger durchgegangen wäre, stieg aus seinem Fahrzeug, rief eine Begrüßung in die Runde, und begann dann, die Ladebordwand herunterzuklappen. Als erstes zog er eine Art Schiebkarre herunter, etwas ungewohnt aussehend mit ihrem ballförmigen Rad, das an Mond- oder Marsrover erinnerte. Vielleicht eine Geländeschiebkarre. „Hjálpaðu mér!“ (Hilf mir mal.)

Ein zweiter Mann trat hinzu, und gemeinsam luden sie ein Lamm von der Ladefläche auf die Karre. Ein wenig schauderte es Fred beim Anblick des Kadavers, und bißchen war er erleichtert, dass das Lamm schon tot war. Sie würden es also nicht hier vor Ort abstechen.

Es geht los“, erklärte Dörte.

Tatsächlich gruppierten sich die Leute zum Abmarsch am Startpunkt des Pfades. Abgelenkt durch den Anblick des Opfertieres, hätte Fred es fast nicht mitbekommen.

Hilmar Örn Hilmarsson, der oberste Goðe, hatte inzwischen einen weißen Talar aus seinem Wagen gezogen und sich so etwas wie eine rote Stola umgelegt. Vermutlich sein Priestergewand. Er führte den Zug an und trug dabei ein gewaltiges Trinkhorn, gefolgt von Þorstein Ingmarsson, der die Karre mit dem toten Lamm schob. Dann folgten die übigen Teilnehmer in nicht erkennbarer Reihenfolge, einige trugen verschiedene Fahnen. Fred und Ewa bemühten sich, in Dörtes Nähe zu bleiben. Immerhin war sie die einzige, die sie kannten, und die ihnen gegebenenfalls erklären konnte, wie sie sich zu verhalten hatten.

Der Weg war anstrengend, um es höflich auszudrücken, und es war bewundernswert, wie Þorstein Ingmarsson die Karre über das Geröll bugsierte. Dann erreichten sie eine Art Plateau, über das ein kalter Wind strich. Eine waagerechte Steinplatte war offenbar als Altar errichtet. Das Lamm wurde auf die Platte gehievt.

Der Oberpriester nahm am Altar Aufstellung, die anderen Teilnehmer gruppierten sich im Halbrund um ihn her. Mit mächtigen Gesten schien der Goðe eine Ansprache zu halten, die nach einer festen Formel klang, ähnlich einer Liturgie in der Kirche. Zum Glück ahnte Dörte, dass ihre Gäste kein Wort verstanden, weshalb sie ihnen kurz zuflüsterte: „Heiligungsformel und Friedensgebot für die Dauer der Zeremonie.“

Dann wandte sich der Priester mit seinen Ausführungen dem Lamm zu. „Das Opfer wird Odin geweiht und dessen Wohlwollen erbeten“, erklärte Dörte.

Widerlich“, flüsterte Ewa.

Immerhin ist es schon tot. Sei froh, dass es nicht hier vor Ort geschlachtet wird“, gab Fred zurück.

Früher ist das sogar mal gemacht worden“, erklärte Dörte. „Aber die hiesigen Vorschriften für Schlachtungen sind so kompliziert, da kaufen wir das Tier lieber fertig beim Metzger. Das ist weniger Stress.“

Na wie schön.“

Was werden sie nachher mit dem Kadaver machen, überlegte Fred. Ihn verbrennen? Ihn den Raben und anderen Aasfressern überlassen? Zwei davon kreisten bereits über ihnen, wie er bemerkte.

Eben wollte er Dörte danach fragen, als eine Frau – es war die Fahrerin ihres VW-Busses, wie Fred erkannte, jetzt aber auch rot und weiß gekleidet – nunmehr vortrat und begann, ebenfalls in feierlichem Tonfall, zu reden. Es schien eine ziemlich lange Geschichte zu sein. „Sie rezitiert das Hávamál aus der Edda.“

Endlich kam sie zum Schluß. Der Goðe füllte nun das Trinkhorn aus einem Krug, den man ihm reichte, hob es und rief: „Fyrir Guðina!“ Dann trank er daraus und reichte es schließlich weiter. Die anderen taten es ihm nach. Jemand ging mit einem Krug herum und füllte das Horn nach, wenn es leer war.

Einfach nachmachen“, riet Dörte. Das Horn erreichte Fred mit der vierten oder fünften Füllung. So hatte er lange genug Zeit gehabt, sich zu überlegen, ob er diesen heidnischen Trinkspruch über die Lippen brachte, oder ob er durch Verzicht auf das Trinken die Aufmerksamkeit aller auf sich ziehen sollte. Mit den Wölfen heulen oder nicht? Zur Teilnahme am christlichen Abendmahl war ja auch niemand gezwungen. Allerdings kam es extrem selten vor, dass jemand sich ausschloss. Ein Katholik vielleicht in einer protestantischen Kirche. Das Horn erreichte seinen Nebenmann. „Fyrir Guðina!“. Jetzt drückte der Nachbar ihm das Gefäß in die Hand.

Fred fühlt sich abgrundtief elend. Oh, Herr, was mache ich hier? „Fyrir Guðina!“ sagte er, halblaut mit einem Kloß in der Kehle, als ob das die Sache besser machte. Er setzte das Horn an den Mund und tat so, als ob er trank. Nach ihm kam Ewa an die Reihe. Und er erkannte, dass sie aus härterem Holz geschnitzt war als er. Sie gab das Horn an Dörte weiter, ohne etwas zu sagen und ohne zu trinken. Mit Religionen hatte sie nun einmal nichts im Sinn, da war sie konsequent.

Ein massiver Versager, Fred! Ein fetter Eintrag in deinem Sündenregister, für den Christus dann wird geradestehen müssen. Was er wohl auch tun würde – aber mit was für einem vorwurfsvollen Blick?!

Es war übrigens noch nicht überstanden. Als das Horn die Runde gemacht hatte, wurde es abermals gefüllt, der Goðe hob es wieder, diesmal mit dem Ausruf „Fyrir Vættirna!“

Was bedeutet das eigentlich?“, erkundigte Fred sich mit zusammengebissenen Zähnen bei Dörte.

„‚Fyrir Guðina’ bedeutet ‚für die Götter’. ‚Fyrir Vættirna’ heißt ‚für die Geister’. Übrigens danke, dass du mitgemacht hast.“

Ich weiß noch nicht, ob ich mir das verzeihen kann.“ Getrunken hatte er nicht, er wusste nicht einmal, was da in dem Horn war. Met vielleicht?

Es kommt dann noch eine dritte Runde, mit ‚Fyrir Forfeðurna’, ‚für die Ahnen’.“

Nun, Fred tat also anschließend auch noch den Geistern und den Ahnen bescheid. Es wäre albern gewesen, nachdem er in der ersten Runde mitgetan hatte, sich bei den folgenden zu verweigern. Ewa verzichtete weiterhin standhaft. Und nichts passierte. Fred schalt sich eine schwache Kreatur. Die Märtyrer waren für ihren Glauben gestorben – und was machte er hier? Er knickte ein, obwohl gar keine Gefahr bestand. Ehe der Hahn kräht…

*

Der Goðe fing abermals an zu reden, und zwar ziemlich heftig. Fast konnte man glauben, dass man einem Politiker bei einer flammenden Rede zuhörte. Dörte schien ebenfalls überrascht zu sein. „Was sagt er da?“

Also, wenn du das nicht weißt…“

Psst!“

Als der Priester mit seiner Ansprache fertig war, ließ er sich ein Schlachtermesser reichen und begann, an dem Opferlamm herumzusäbeln.

Wir werden eine neue Niðstang aufstellen“, erklärte Dörte. „Sie richtet sich gegen den Staudamm des Wasserkraftwerkes Kárahnjúkar.“

Wieso, was ist an einem Wasserkraftwerk schlimm?“

Der Stausee wird über fünfzig Quadratkilometer Landschaft vernichten. Wichtige Rückzugsgebiete für Rentiere werden dadurch zerstört. Dafür wird er den Kopf des Lamms verwenden, um ihn auf die Niðstang aufzupflanzen.“

Tatsächlich trugen vier Männer und Frauen einen langen, zugespitzten Pfahl heran, der Priester hatte inzwischen den Kopf des Opfertieres abgetrennt, und gemeinsam steckten sie ihn darauf, was wirklich ziemlich barbarisch aussah. Der Pfahl, also die Niðstang, wurde zwischen Felsen verkeilt, so dass sie schließlich schräg in Richtung des Gletschers wies. Fred erinnerte sich an die Szene, die er im Siedlungsmuseum gesehen hatte. Dort war sie mit Figuren nachgestellt. Hier sah er sie im Original, live und in Farbe mit echtem Blut. Der Priester schnitt mit einem Messer Runen in den Pfahl:

Dann breitete er die Arme aus und begann ein Gebet – zumindest wirkte es auf Frederik so. Vielleicht war es aber auch der Fluch, das konnte er nicht entscheiden.

Was sagt er?“

Dörte übersetzte: „Wir sind gekommen, um Götter und Schutzgeister zu rufen. Wir wollen um Gnade für unser Land bitten, und wir wollen eine Níðstang wider diejenigen errichten, die unsere Mutter Erde entehren.“

Die anderen wiederholten die Anrufung. Fred konnte es mangels Sprachkenntnissen nicht, obwohl er fast geneigt war, das Ansinnen zu unterstützen. Herr, das sind zwar Heiden, aber ihr Anliegen ist verständlich. Ich bitte dich, sie zu unterstützen, wenn es denn mit deinem Willen vereinbar ist. – Und vergib mir meine Schwäche von vorhin. Ja, ich habe dich dreimal verleugnet.

*

Dich ist neu hier, ist es nicht?“

Frederik zuckte zusammen und fuhr herum. Hinter ihnen standen zwei Männer. Zwei Hünen. Der eine trug einen weiten Umhang und einen breitkrempigen Schlapphut, einen gewaltigen Stab in der Hand, und er sah aus, wie Fred sich einen Schäfer vorgestellt hätte. Allerdings hatte er im Umkreis nirgends eine Schafherde bemerkt; und die Lavaflächen wirkten auch nicht, als ob hier Schafe weiden konnten. Eine Augenklappe bedeckte das rechte Auge, aber der Blick des anderen wirkte sehr intensiv, geradezu stechend. Der zweite hatte einen derben Mantel an und trug einen eckig zurechtgestutzten Bart, eine beeindruckende Erscheinung. Er überragte den anderen um ein paar Zentimeter.

Fred sah Ewa an. Ewa sah Fred an. „Wir waren eingeladen…“, begann er.

Ich gemeint dich“, erklärte der Bärtige, indem er Ewa fixierte. Es ist also doch aufgefallen, dass Ewa nicht mitgetrunken hat, dachte Fred, und nun kommt die Quittung. Erst jetzt ging ihm auf, dass der Mann deutsch sprach – außer Dörte hatte er hier noch niemanden getroffen, der diese Sprache beherrschte. Allerdings erschien seine Ausdrucksweise sehr holperig, da klang Dörtes Deutsch geschliffener.

Ewa schien sich nun doch ein wenig unbehaglich zu fühlen. „Ja“, gestand sie, „ich war noch nie auf einem Blót.“

Oh ich verstehen, ein Blót.“ Er wirkte nachdenklich. „Teilweise wir sind auch neu hier. Was Namen du?“

Ewa. Und du?“

Ich Name Þorr.“ Zumindest klang es so ähnlich. „Was ist passiert dort?“ Er wies zur anderen Seite des Platzes, wo die Niðstang aufgestellt worden war.

Das kann Dörte wohl besser erklären.“ Sie versuchte ein wenig beiseite zu treten, um Dörte in den Vordergrund zu schieben.

Þorr hielt sie am Arm fest und zog sie zu sich herum. „Hey, schön Mädchen und nicht Spaß reden mit mir. Deren Art Sitte sind dies?“

Soll das eine Anmache sein?“, entrüstete sich Ewa.

Þorrs Begleiter, der Einäugige, beugte seinen Kopf zu ihm herüber und sagte halblaut: „Taktu þig til baka!“ (Halte dich zurück!)

Hvernig þá? Við spyrjum ekkí, þegar við tökum bráð.“ (Wieso? Wir fragen nicht, wenn wir Beute machen.)

Dörte, die das durchaus verstanden hatte, mischte sich ein: „Hör mal, du Wikinger, wir leben hier nicht mehr im Mittelalter!“

Þorr ließ Ewas Arm los. „Það er of slæmt (Das ist sehr schade). Verzeihung mich. Aber ich mag immer noch wohl mit dir.“

Ihr wolltet wissen, was da passiert“, lenkte Dörte ein. „Unser Goðe hat eine Niðstang errichtet gegen ein Wasserkraftwerk, das unsere Natur zu zerstören droht.

Darum dies ist Niðstang? Interessant. Woher ihr habt?

Woher? Komische Frage. Das ist ein angespitzter Baumstamm.

Ich sehe es. Ich meine, wer gezeigt, wie sollen das aussehen?

Das ist Tradition. Ich glaube, das war vor tausend Jahren schon üblich.

Er lachte. „Und dann beschweren über du leben nicht länger im Mittelalter?

Ich habe mich durchaus nicht beschwert. Ich finde es eher ganz angenehm, dass heutzutage zivilisiertere Sitten herrschen.

Zumindest außerhalb der sozialen Netzwerke, murmelte Fred.

Was?

Nichts.

Við ættum að fara núna! Við fáum ekki að vita meira hér (Wir sollten jetzt gehen! Wir werden hier nicht mehr erfahren), stellte der Einäugige, der sich nicht vorgestellt hatte, fest.

Þorr breitete entsagungsvoll die Arme aus und lächelte Ewa an. „Wenn er sagt das. Aber mir beobachtet dich. Wir sehen später bestimmt wieder.“

Du gibst nicht auf, was?“

Wenn mich gefallen Mädchen, es ist nicht eine Auswahl zu verzichten.“

Sein Begleiter legte einen Arm um seine Schulter und drängte ihn zum Gehen. „Komdu nú!“ (Komm schon!)

Sie sahen ihnen nach, bis sie hinter einem Felsvorsprung verschwanden, wo der Pfad eine Biegung machte. „Komische Figuren“, stellte Dörte fest.

Eigentlich hat mir der Typ gefallen“, überlegte Ewa. „Bis auf seine plump-grobe Art des Anbaggerns.“

Vielleicht kam das nur falsch rüber, weil er so unbeholfen deutsch spricht“, gab Fred zu bedenken. Eine Spur von Eifersucht meldete sich in ihm, weil Þorr Ewas Gefallen gefunden zu haben schien. Irrational, dachte er. Auch du hattest Ewas Gefallen gefunden, aber das hast du selbst terminiert, also beschwer dich nicht.

Was hat er vorhin eigentlich gesagt?“

Wann?“

Als er nach mir griff und ich fragte, ob er mich anmachen wolle.“

Das willst du nicht wissen“, entgegnete Dörte.

*

Über dieser Begegnung der merkwürdigen Art hatten sie die weitere Entwicklung der Zeremonie verpaßt. Jetzt sahen sie, wie die Teilnehmer sich für den Rückmarsch hinunter zum Parkplatz sammelten, der Goðe und die Fahnenträger wieder an der Spitze. Die Niðstang mit dem Schafskopf blieb zurück.

Unten angekommen, erwartete Frederik eigentlich, dass sie nun in ihre Fahrzeuge steigen und nach Hause fahren würden. Falsch gedacht. An einer der Hütten, die hier für Touristen vorgesehen waren (außer ihnen schien aber derzeit niemand hier zu sein), stand die Tür weit offen, drinnen brannte – obwohl es noch heller Tag war – eine Beleuchtung. Petroleumlampen, wie es schien. Dorthin wandte sich die Menge. Die Hütte war größer als die anderen, offenbar eine Art Versammlungsraum.

Was passiert jetzt?

Na, was? Jetzt wird gegessen und gefeiert, erklärte Dörte mit selbstverständlichem Tonfall.

Kann ich da irgendwas falsch machen?“

Eher nicht. Du isst natürlich nicht, bevor der Goðe den Segen der Götter erbeten hat.“ Aha. Ein Tischgebet gab es hier also auch. Schade, dass er den Wortlaut nicht verstehen würde. Oder vielleicht auch besser so. „Und da du einer Konversation in unserer Sprache nicht gewachsen sein dürftest, schlage ich vor, dass du dich nachher beim Tanzen an Ewa hältst.“ Sie lächelte mit gespitztem Mund, und kleine Sternchen schienen in ihren Augen zu funkeln. „Oder an mich.“

Sie fanden Plätze ziemlich am unteren Ende der Tafel, die aus Partymöbeln aufgebaut war. Getanzt wurde also auch noch. Nicht, dass er ein begeisterter Tänzer gewesen wäre. Tatsächlich lagen an der einen Wand einige Fideln, also war wohl Lifemusik zu erwarten. Für jemanden, der die Kultur studieren wollte, bestimmt ein Glücksfall. Nur wollte Fred das eigentlich gar nicht. Vom Ziel ihrer Expedition schienen sie sich hier immer weiter zu entfernen.

15. Zugleich

Die Dunkelheit in der Zentrale der RANNSAKANDI 272 war der immer noch herrschenden Energieknappheit geschuldet; die Solarzellen reichten lediglich für einen Notbetrieb. Immerhin mussten sie auch noch die Hibernationskammern versorgen; der größere Teil der Besatzung schlief noch. Nur wenige Kontrollen waren beleuchtet. Und das würde so bleiben, bis der Modulator endlich wieder zur Verfügung stand, und sie den Hauptreaktor hochfahren konnten.

Du hättest einen kompetenteren Menschen fragen können als ausgerechnet diese Ausländerin“, stellte Widen fest. „Den Priester zum Beispiel. Das hätte die Sache auch insofern vereinfacht, als er unsere Sprache spricht.“

Sie gefiel mir aber“, sagte Þorr trotzig. Vor allem, weil er in ihr Xiatli wiedererkannt hatte, aber das behielt er für sich.

Das ist für dich natürlich wieder mal ein Hauptargument“, grollte Widen. „Wie viele Frauen hattest du schon?“

Ich habe sie alle geliebt. Ich kann nichts dafür, wenn sie mir immer verloren gehen. Außerdem wäre es ungeschickt gewesen, den Priester anzusprechen. Was hätte ich sagen sollen? Hallo, wir haben einen Modulator verloren, der wie deine Niðstang aussieht. Ich hätte ihm offenbaren müssen, dass wir die Götter sind, denen er gerade geopfert hat. Das hätte in dieser Gesellschaft doch einen Kulturschock ausgelöst.“

Widen verzog den Mund. „Erfahren haben wir jedenfalls nichts. Außer, dass die Form so einer Niðstang offenbar seit Jahrtausenden feststeht.“

Jahrtausende muss übertrieben sein. Unsere Notlandung ist zweitausendfünfhundert Jahre her. Unser Modulator wurde in die Zukunft geschleudert. Und wir konnten es nicht genauer als auf etwa tausend Jahre lokalisieren.“

Vielleicht irren wir uns auch, und die Ähnlichkeit ist purer Zufall. Gut, der Modulator war stabförmig und hatte ungefähr die Länge. Im Wald gibt es Baumstämme ohne Ende, die auch so aussehen.“

Na ja, zumindest wenn man sie entastet. Aber hast du nicht die Symbole gesehen? Die sehen aus wie die Schnittstellen, an denen die verschiedenen Verbraucher an unseren Modulator angekoppelt werden.“

Zugegeben, das müsste großer Zufall sein.“

Richtig. Und das heißt, dass unser Originalteil diesen Menschen irgendwann in die Hände gefallen ist, und sie es mit ihren Mitteln nachgestaltet haben. Vermutlich verehren sie das Original als Heiligtum.“

Dann müsste es an einem sakralen Ort aufbewahrt werden. Einem Tempel oder dergleichen“, gab Widen zu bedenken.

Also müssen wir wohl oder übel jemanden fragen, der sich damit auskennt. Aber nicht den Priester.“

Was ist mit dem andern Mädchen, dieser Einheimischen. Wie hieß sie gleich?“

Ewa sagte Dörte zu ihr. Ðörþ in ihrer Sprache.“

Also sprechen wir doch mit dieser Ðörþ. Was machen die Leute eigentlich inzwischen?“

Þorr aktivierte einen Monitor. Er zeigte den Parkplatz aus der Vogelperspektive. Und in der Tat wurde das Bild von einer Art Vogel übermittelt, wenn auch von einem künstlichen. Zwei Kameradrohnen standen ihnen zur Verfügung, die fernsteuerbaren Flugobjekte, denen Bal die äußere Gestalt von Raben gegeben hatte: die Drohnen Huginn und Muninn. „Sie versammeln sich offenbar in der Hütte da. In der großen.“

Geh mal dichter ran.“

Das ist riskant. Aber ich versuch’s mal.“

Es sah aus, als ob die Tür der Hütte gezoomt wurde, aber tatsächlich steuerte Þorr die Drohne tiefer. „Näher kann ich nicht, sonst wird Muninn bemerkt. Sie setzen sich da drinnen an einen Tisch. Vielleicht eine Konferenz.“

Konferenz hatten sie auf dem Blótplatz. Ich denke, sie werden jetzt essen. Es ist die Uhrzeit für ihre Abendmahlzeit.“

Die Tür wurde geschlossen. Das war auch naheliegend; im Freien wurde es kalt. „Es hilft nichts, mein lieber junger, stürmischer Freund. Du wolltest doch Ewa wiedersehen. Geh hinunter und misch dich unter die Menge.“

Ich dachte, wir wollten die andere befragen.“

Du wirst Ðörþ sicherlich in Ewas Nähe treffen“, grinste Widen.

16. Abends

Nach dem Essen waren tatsächlich die Tische an die Wand geräumt und die Bänke davorgestellt worden. Jetzt ergriffen die Spielleute ihre Fideln, und ein paar andere stellten sich als Chor zu ihnen. Mikrophone und Verstärker gab es nicht. Handgemachte Musik eben. Unplugged. Die Petroleumlampen ließen vermuten, dass es hier gar keinen Stromanschluss gab. Kaum waren die ersten Takte erklungen, war schon die Mehrheit der Anwesenden auf der Tanzfläche. „Du nicht?“, fragte Dörte aufmunternd.

Ich weiß ja nicht einmal, was ihr hier tanzt. Ich guck mir das erst einmal an.“

Inzwischen war immerhin das bedrückende Gefühl einer heidnischen Zeremonie dem Eindruck eines normalen Festes gewichen, wie es zum Beispiel auch ein Kaninchenzüchterverein als ‚Tanz in den Mai’ hätte ausrichten können.

Was er sah, war eine Mischung aus Paartanz und einer Art Sirtaki, aber Fred war klar, dass man das nicht durch Zugucken lernte. Beim zweiten Musikstück ließ er sich daher doch von Dörte auf die Tanzfläche ziehen.

Ah, das Lied von Ólafur Liljurós“, erkannte Dörte nach den ersten Takten. „Ich liebe es. Mach dich locker, ich führe dich. Du musst nur den Rhythmus halten.“

Das Lied bestand aus einem Wechselgesang zwischen einer Sängerin und einem Chor. Der Rhythmus war so eingängig, dass sogar Fred ihn nach kurzem verstanden hatte. Offenbar war es ein sehr bekanntes Lied; alle sangen mit, so dass es des Chors vermutlich gar nicht bedurft hätte.

Ólafur reið með björgum fram,

– villir hann, stillir hann;

hitti‘ hann fyrir sér álfarann.

– Þar rauður logi brann.

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum,

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum fram.

Þar kom út ein álfamær,

– villir hann, stillir hann;

sú var ekki kristni kær.

– Þar rauður logi brann.

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum,

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum fram.

„Velkominn, Ólafur Liljurós!

– villir hann, stillir hann;

Gakk í björg og bú með oss.“

– Þar rauður logi brann.

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum,

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum fram.

„Ekki vil ég með álfum búa,

– villir hann, stillir hann;

heldur vil ég á Krist minn trúa.“

– Þar rauður logi brann.

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum,

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum fram.

Hún gekk sig til arkar,

– villir hann, stillir hann;

tók upp saxið snarpa.

– Þar rauður logi brann.

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum,

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum fram.

Saxinu hún stakk í síðu,

– villir hann, stillir hann;

Ólafi nokkuð svíður.

– Þar rauður logi brann.

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum,

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum fram.

Ólafur leit sitt hjartablóð,

– villir hann, stillir hann;

líða niður við hestsins hóf.

– Þar rauður logi brann.

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum,

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum fram.

Ei leið nema stundir þrjár,

– villir hann, stillir hann;

Ólafur var sem bleikur nár.

– Þar rauður logi brann.

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum,

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum fram.

Vendi ég mínu kvæði í kross,

– villir hann, stillir hann;

sankti María sé með oss.

– Þar rauður logi brann.

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum,

– Bliðan lagði byrinn undan björgunum fram.

(Ólafur ritt die Berge entlang,

– Er verirrte sich, er orientierte sich;

da traf er auf eine Elfensiedlung.

– Dort brannte ein rotes Feuer.

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen,

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen voraus.

Da kam eine Elfenfrau heraus,

– Er verirrte sich, er orientierte sich;

die mochte keine Christen.

– Dort brannte ein rotes Feuer.

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen,

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen voraus.

Willkommen, Ólafur Liljurós!

– Er verirrte sich, er orientierte sich;

Komm mit in die Berge und lebe bei uns.“

– Dort brannte ein rotes Feuer.

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen,

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen voraus.

Ich möchte nicht mit Elfen leben,

– Er verirrte sich, er orientierte sich;

ich möchte lieber meinem Christus treu bleiben.“

– Dort brannte ein rotes Feuer.

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen,

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen voraus.

Da ging sie zu einer Truhe,

– Er verirrte sich, er orientierte sich;

und nahm ein scharfes Schwert heraus.

– Dort brannte ein rotes Feuer.

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen,

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen voraus.

Sie stach ihm das Schwert in die Seite.

– Er verirrte sich, er orientierte sich;

Ólafur fühlt den Stich,

– Dort brannte ein rotes Feuer.

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen,

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen voraus.

und sein Herzblut sah Ólafur ausströmen.

– Er verirrte sich, er orientierte sich;

Er sank nieder zu Füßen seines Pferdes.

– Dort brannte ein rotes Feuer.

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen,

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen voraus.

Er litt nicht mehr als drei Stunden,

– Er verirrte sich, er orientierte sich;

dann war Ólafur ein bleicher Körper.

– Dort brannte ein rotes Feuer.

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen,

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen voraus.

Ich wende nun mein Lied hin zum Kreuz.

– Er verirrte sich, er orientierte sich;

Sankt Maria sei mit uns.

– Dort brannte ein rotes Feuer.

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen,

– sanft wehte der Wind zwischen den Bergen voraus.)

Erschöpft kehrte Frederik an seinen Platz zurück und trank etwas von seiner Cola. An Bier oder Met hatte er sich nicht herangetraut. Seinen peinlichen Auftritt in Buthmanns Bierstube, der ihn letztlich hierher geführt hatte, mochte er nicht ausgerechnet vor Dörte wiederholen.

Worum geht es eigentlich in diesem Lied? Alle scheinen es zu kennen.“

Es ist ein beliebtes Traditional. Es handelt von dem unglücklichen Ólafur Liljurós, der sich in den Bergen verirrt und auf eine Elfensiedlung trifft. Eine Elfe findet an ihm Gefallen und fordert ihn auf zu bleiben. Er lehnt das ab und sagt, dass er an Christus glaubt und ihm treu bleiben will. Da nimmt die Elfe ein Schwert und sticht ihn nieder. Ólafur verblutet und stirbt.“

Und das findest du gut?“

Es ist eine Legende.“

Da habe ich ja Glück gehabt“, stellte er nachdenklich fest. Die Geschichte gab ihm zu denken. Gegenüber Ewa hatte er seinen Glauben zwar nicht verleugnet, aber er hätte sich gar nicht mit ihr einlassen dürfen. Und vorhin auf dem Blótplatz hatte er auf Götter, Geister und Ahnen getrunken, um sich nicht als Christ zu outen. Dieser Ólafur hingegen, auch wenn er nur eine Legendengestalt sein mochte, war standhaft geblieben und für seinen Glauben gestorben. Ein Märtyrer. Ein Held. Und was bis du daneben, Fred? Ein Waschlappen.

Was ist? Du bist auf einmal so nachdenklich.“

Na ja. Immerhin bin ich Christ.“

Aber ich bin keine Elfe, die dich niederstechen wird“, sagte sie leichthin.

Fred fühlte sich etwas irritiert, dass sie auf sein Bekenntnis, dass er Christ sei, so unaufgeregt reagierte. Er hingegen war erschüttert gewesen, als er erfahren hatte, dass sie einem heidnischen Glauben anhing. „Und du – äh – hast kein Problem damit, was ich glaube?“, erkundigte er sich vorsichtig.

Ich habe in der Schule Religionsunterricht gehabt. Ich weiß durchaus, was das für eine Religion ist. Allerdings könnte ich mich nicht dafür begeistern, mich jemandem anzuvertrauen, der sich abschlachten läßt. Ich bevorzuge heldenhafte Götter, die mit Speer und Hammer kämpfen.“

Dafür fallen sie im letzten Kampf an Ragnarök, wenn ich mich recht an deine Ausführungen erinnere.“

Sie sterben heldenhaft. Dein Christus stirbt schmählich.“ Er musste wohl sehr entsetzt geguckt haben, jedenfalls fügte sie hinzu: „Das sollte kein Vorwurf an dich sein. Man sollte diese Dinge nicht überbewerten. Ich würde eine Freundschaft davon nicht abhängig machen.“

Konnte man einen Glauben überbewerten? Verdammt, sie sprach von Freundschaft. Und er? Herr, hilf mir. Ich bin in sie verliebt, und ich komme nicht davon los. – Von Ewa bin ich immerhin auch losgekommen. – In die war ich nicht verliebt. Sie hat mich bezirzt, und ich bin ihr ins Netz gegangen. Das ist etwas anderes.

Mach nicht so ein Gesicht, Fred. Tanzen wir noch mal?“

Er ließ sich von ihr auf die Tanzfläche ziehen. Er konnte ihr den Tanz doch nicht verweigern, nur weil sie eine Heidin war. Und sie tanzte mit einer Leichtigkeit, als habe er wirklich eine Elfe in den Armen. O Mensch, lerne zu tanzen, dereinst tanzen die Engel im Himmel mit dir, fiel Fred ein Zitat des Augustinus ein.

Ewa schien sich in der Zwischenzeit gut zu amüsieren. Offenbar hatte sie jemanden aufgetan, mit dem sie sich auf Englisch unterhalten konnte; bisweilen hörte Fred ihr Lachen sogar über die Musik und die Unterhaltung hinweg. Nun, dachte er, es sei ihr von Herzen vergönnt. Verdammte Schlange!

Nach einer Weile traute sich Fred, der Nicht-Elfe namens Dörte eine Frage zu stellen, die ihn schon eine Weile umtrieb. „Dörte, ich habe da eine etwas merkwürdige Frage. Ich hoffe, du nimmst sie mir nicht übel.“

Du musst sie schon stellen, ehe ich dir sagen kann, ob ich sie übel nehme“, lachte sie.

Schön. Es ist wegen deiner Haarfarbe. Wie kommt es, dass du unter all den Blonden hier rote Haare hast? Versteh das nicht falsch, ich bewundere deine Haare.“

Sie nickte. „Gehen wir nach draußen? Bei der lauten Musik muss ich schreien, wenn ich mich mit dir ernsthaft unterhalten will.“

Fred zog seine Winterjacke an, die er zum Tanzen abgelegt hatte, und folgte ihr nach draußen. Der Lärm des Festes blieb hinter ihnen zurück, ohne zu verstummen. Er fühlte sich spontan an Szenen aus Heimatfilmen erinnert, in denen der Held während eines Dorffestes von seinem Rivalen zur Rede gestellt wurde. Sie gingen dann normalerweise vor die Tür, um sich zu prügeln. Oder Schlimmeres. Und drinnen spielte die Musik weiter.

Dörte griff nach ihrem Zopf und zog ihn nach vorne. Nachdenklich betrachtete sie ihre Haare, als sehe sie sie zum ersten Male. „In der Schule bin ich wegen der roten Haare oft verspottet worden. Oder als Hexe verschrien. Ich hab mich daran gewöhnt. Jetzt, im Studium, bin ich mehr mit Menschen zusammen, für die das keine Rolle spielt. Du bist allerdings der erste, der mir sagt, dass er sie schön findet.“

Fred spürte, dass er rot wurde. Im Gesicht, nicht an den Haaren. Allerdings rötete die Kälte seine Ohren vermutlich ohnehin, also bestand eine Chance, dass es nicht auffiel. Er beschloss, auf neutralen Boden zu wechseln.

Soweit ich weiß, vererbt sich die rote Haarfarbe rezessiv. Beide Eltern können blond sein, aber das Merkmal Rot in ihrem Erbgut tragen. Wenn beide Eltern das Gen haben, kann es mit fünfundzwanzig Prozent Chance bei den Nachkommen auftreten. Kommen deine Eltern vielleicht aus Irland? Da sollen rote Haare ja sehr verbreitet sein.“

Ich weiß es nicht. Es sollen ja auch viele Wikinger rothaarig gewesen sein.“ Sie lächelte. „Vielleicht bin ich ja eine ferne Nachfahrin von Ingólfur Arnason.“

Dann hätten deine Schulkameraden aber keinen Grund zum Hänseln gehabt – über eine Ur-Wikingerin. Sie hätten dich eher beneiden müssen.“

Wer weiß? Vielleicht war der Spott versteckter Neid. Woher kennst du dich eigentlich mit Genetik aus? Ist das dein Beruf?“

Ich kenne mich überhaupt nicht mit Genetik aus. Mendels Gesetze habe ich in der Schule gelernt, das ist alles. Beruflich bin ich Astrophysiker.“

Astrophysiker. So. Das klingt sehr wissenschaftlich. Was genau erforschst du da?“

Ich suche nach Exoplaneten.“ Er erläuterte ihr seine Arbeit, so wie er sie auch Ewa schon einmal auseinandergesetzt hatte.

Wie kommt man zu so etwas?“

Tja. Wie kommt man dazu? Da hat wohl jeder seinen individuellen Weg. Was mich betrifft, ich habe bei den Pfadfindern ein Mädchen kennengelernt, das sich für Astronomie interessierte. Die Astronomie reizte mich eigentlich null, aber das Mädchen interessierte mich. Also habe ich mich von ihr zu Planetariumsvorträgen und sonst was mitschleppen lassen, nur um ihr nahe zu sein.“

Andere gehen dafür mit ihrer Freundin ins Kino“, lächelte Dörte.

Kino war nicht ihr Ding. Nicht einmal die ‚Star Wars’-Filme, die waren ihr zu unwissenschaftlich. Landen konnte ich letztlich bei ihr nicht, aber diese Vorträge weckten mein Interesse für Astronomie. Eine Weile haben wir dann bei den Pfadfindern astronomische Beobachtungsabende angeboten. Sie besaß sogar ein Fernrohr. Allerdings ein recht billiges, und die Beobachtungsmöglichkeiten erschöpften sich dann allmählich. Die Beobachtungsabende schliefen ein, und damit auch unsere nie existente Beziehung.“

Hast du ihr nachgetrauert?“

Ein wenig.“

Hast du eine neue Freundin gefunden?“

Nein.“

Und was ist mit Ewa?“

Ewa war ein Irrtum. Sie glaubt nicht an Gott.“

Ist das für dich ein Problem?“

Ja.“

Aber du bist Naturwissenschaftler.“

Fred seufzte. Jetzt fing sie auch damit an. Wieso hatten eigentlich immer alle Probleme damit, dass ein Christ Naturwissenschaftler sein konnte? Er konnte nur die Argumente wiederholen, die er Ewa schon genannt hatte, allerdings erfolglos. Immerhin würgte Dörte ihn nicht mit Camus ab, sondern hörte ihm zu.

Man kann glauben, und trotzdem Naturwissenschaftler sein“, schloss er. „Du glaubst doch auch. Wenn auch an die Asengötter.“

Aber ich bin keine Naturwissenschaftlerin.“

Wenn du einen Widerspruch zwischen Glauben und Naturwissenschaft siehst, müsstest du an deinem Glauben zweifeln, allein weil du weißt, dass es so etwas wie Naturwissenschaften gibt. Da du es nicht tust, akzeptierst du, dass in dieser Welt beides zugleich existieren kann.“

Oh. So habe ich das noch nicht gesehen.“

Man könnte natürlich behaupten, nur eines sei die Wahrheit, und die andere Seite irrt sich. Man könnte sogar behaupten, beide Seiten irren sich, und die Welt ist nur eine große Illusion.“

Ich möchte aber nicht in einer Illusion leben.“

Siehst du? Ich auch nicht. Zumal – wenn die Welt eine Illusion wäre: Wer wäre der Illusionist, der da uns allen etwas vorgaukelt? Und warum?“

Hör auf, mir wird schwindelig.“ Dörte schüttelte den Kopf.

Ja, mir manchmal auch. Aber das ist keine schlechte Basis. Niels Bohr hat gesagt, wenn einem bei der modernen Physik nicht schwindelig wird, hat man sie nicht verstanden.“

Wer ist Niels Bohr?“

Ein berühmter Quantenphysiker. Das Komplementaritätsprinzip geht auf ihn zurück. Aber ich vermute, das wird dich nicht interessieren.“

Ach, warum nicht? Aber nicht mehr heute Nacht und nicht hier in der Kälte.“

Fred fummelte den Ärmel der Jacke hoch, um auf seine Uhr zu sehen. „Tatsächlich, so spät schon. Es irritiert mich immer wieder, dass ihr hier Greenwich-Zeit habt und es so spät dunkel wird.“

Komm im Winter wieder, dann wird es hier kaum hell.“

Es war eine Floskel, das wusste er. Dennoch labte er sich für den Augenblick an der Vorstellung, es könne eine Einladung sein. Er kniff die Augen zusammen, um nach der Sonne zu sehen, wie sie eben hinter den vereisten Bergen versank.

Schau mal, wer da kommt!“ Dörte stieß ihn von der Seite an.

Er wandte sich um, aber noch geblendet von der Sonne erkannte er zuerst gar nichts. „Wo?“

Da drüben. Ist das nicht unser Wikinger von vorhin?“

Das Flimmern vor den Augen legte sich. Jetzt erkannte er ihn auch. Þorr, ohne Zweifel. Der Typ, der an Ewa Gefallen gefunden und ihr das in etwas unbeholfener Weise zu verstehen gegeben hatte. Unbeholfen? Ja, so wie er selbst gegenüber Dörte. Verdammt.

Þorr erkannte sie auch und begrüßte sie mit einem „Hæ!“

Na, bist du auf der Suche nach Ewa? Sie ist drinnen, beim Tanzen.“

Ójá. Að dansa. En ég kom til þín, Ðörþ.“ (Oh ja. Tanzen. Aber ich bin wegen dir gekommen, Dörte.)

Meinetwegen? Wolltest du mich auch rauben? Ich glaube, hier ist jemand, der etwas dagegen hätte.“

Þorr sprach isländisch, aber Dörte antwortete ihm auf deutsch, vermutlich, damit Fred der Unterhaltung wenigstens zum Teil folgen konnte. Rauben? War es das, was Þorr vorhin beim Blótplatz gesagt hatte und weshalb Dörte ihm erklärt hatte, hier herrsche nicht mehr das Mittelalter? Und war sie tatsächlich der Ansicht, er könnte etwas dagegen haben? Ahnte sie seine Gefühle für sie?

Mig langaði að tala við þig. Þú verður að gefa mér upplýsingar.“ (Ich wollte mit dir reden. Du musst mir eine Auskunft geben.)

Um eins klarzustellen: ich muss dir überhaupt keine Auskunft geben. Aber du darfst mich immerhin fragen.“

Það er vegna Niðstangarinnar. Eitt af því er mitt – við höfum misst það. Nú erum við að leita að því.“ (Es ist wegen der Niðstang. Genau so ein Ding ist mir – ist uns verlorengegangen. Nun sind wir auf der Suche danach.)

Auf der Suche nach einer verlorengegangenen Niðstang? Das ist eine merkwürdige Frage. Warum muss man so ein Ding suchen? Dazu muss man ja eigentlich nur einen Baumstamm entasten und anspitzen.“

Nei, það sem ég er að leita að er eitthvað sérstakt. Okkar. Það hefur sérstaka eiginleika sem þinn hefur ekki. Við héldum að þetta væri upprunalega eintakið sem þú afritaðir. Svo hvar er upprunalega?“ (Nein, was ich suche, ist eine spezielle. Unsere. Sie hat spezielle Eigenschaften, die eure nicht haben. Wir hatten gedacht, dass sie das Original ist, dem ihr eure nachgebildet habt. Also, wo ist das Original?)

Soweit ich weiß, ist die Sitte, eine Niðstang zu errichten, über tausend Jahre alt. Wie soll ich da wissen, was aus dem Original geworden ist, falls es je existiert hat?“

Fred glaubte verstanden zu haben, worum es ging. Þorr suchte das Original der Niðstang, von der sie in ihren Ritualen eine Nachbildung verwendeten.

Moment mal!“ Fred verdammte seine eigene Begriffsstutzigkeit. Die Unlogik hätte ihm gleich auffallen müssen. „Þorr sucht das Original der Niðstang und behauptet, es sei ihm verloren gegangen. Und du sagst, dieser Brauch existiert schon seit tausend Jahren. Das paßt nicht zusammen. Dann müsste Þorr dieses Dings vor mindestens tausend Jahren verloren haben.“

Stimmt überhaupt!“ Sie wandte sich an den Wikinger. „An deiner Geschichte muss etwas faul sein. Kannst du uns diesen Widerspruch erklären?“ Sie war nicht sicher, ob er das verstanden hatte und wiederholte es auf isländisch.

Þorr schrie etwas, das wie ein Fluch klang, packte Fred beim Kragen seiner Jacke und schien ihm seine Faust ins Gesicht rammen zu wollen. Dörte warf sich mutig dazwischen. „Du brauchst Hilfe, sonst wärst du nicht hier. Wenn wir dir helfen sollen, musst du uns die Wahrheit sagen. Es hilft dir überhaupt nichts, wenn du ausrastest.“

Der Hüne ließ Fred los und wirkte betreten. „Sannleikurinn. Þú myndir ekki trúa mér sannleikanum.“ (Die Wahrheit. Die Wahrheit würdet ihr mir nicht glauben.) Er legte seine Pranken um Dörte und Fred und schob sie von dem Gebäude weg in Richtung Parkplatz.

Warum meinst du, wir würden dir die Wahrheit nicht glauben? Weil sie zu verrückt klingt?!“

Já herra. Segjum að ég sé brjálaður. Brjálaður maður sem heldur að hann sé geimvera. Og hver ímyndar sér að hann hafi hrapað geimskipi sínu á þessari plánetu fyrir meira tveir þúsund árum. Hver er heltekinn af þeirri hugmynd að hann þurfi upprunalega Niðstanginn sem varahlut til að gera skip sitt lofthæft á ný.“ (Ja. Nehmen wir an, ich sei ein Verrückter. Ein Verrückter, der sich für einen Außerirdischen hält. Und der sich einbildet, dass er vor über zweitausend Jahren mit seinem Raumschiff auf diesem Planeten abgestürzt ist. Der von der Idee besessen ist, dass er die originale Niðstang als Ersatzteil benötigt, um sein Schiff wieder flugfähig zu machen.)

Dann würde ich dich fragen, wie du die zweitausend Jahre überstanden hast.“

Í köldum svefni. Við höfum slíka aðstöðu í geimskipinu okkar.“ (Im Kälteschlaf. Wir haben eine entsprechende Einrichtung in unserem Raumschiff.)

Was sagt er?“

Er behauptet, er sei ein Alien, der vor über zweitausend Jahren hier abgestürzt ist. Er sucht die Original-Niðstang, weil er damit sein Raumschiff wieder flott kriegt. Die zweitausend Jahre hat er im Kälteschlaf überstanden. Allerdings räumt er ein, dass er auch verrückt sein könnte.“

Das scheint um sich zu greifen. Ewa Gerzog habe ich auch auf einer Veranstaltung kennengelernt, auf der sie sich als abgestürzte Alien namens Ceena von Xumal ausgegeben hat“, stellte Fred zweifelnd fest. „Immerhin war das nur ein Rollenspiel.“

Ich nicht spiele“, behauptete Þorr.

Mal logisch überlegt, Þorr; wenn das stimmt, was du da erzählst, warum hast du nicht gleich nach dem Absturz nach diesem verlorenen Teil gesucht?“, wollte Fred wissen. „Dann gab es doch keinen Grund, zweitausend Jahre zu warten.“

Þorr versuchte es noch einmal auf deutsch. „Erläuterung erscheint für dich mehr verrückt. Skýringin virðist þér enn vitlausari.(Die Erklärung würde dir noch verrückter vorkommen.)

Fred wandte sich an Dörte: „Nehmen wir mal an, dass er die Wahrheit sagt. Dann gibt es also irgendwo dieses Teil, mit dem er sein Raumschiff reparieren kann. Und es sieht aus wie eine Niðstang. Wo würde so etwas am ehesten landen? In einem militärischen Sperrgebiet wie Area 51?“

Was ist Area 51?“

Hast du davon nie gehört? Ein Militär-Fort irgendwo in Nevada, in dem die Amis, Verschwörungstheorien zufolge, UFOs und ähnliches Zeug verstecken, das ihnen in die Hände gefallen ist.“ Er glaubte es selbst nicht. Ein heidnisches Kultinstrument würde sicherlich niemand für militärisch bedeutsam erachten. Eher würde man es … verdammt! Das Nationalmuseum! Das Nationalmuseum zeigte ein Ding namens ‚nithing pole’, das irgendwie symmetrischer wirkte als der Baumstamm von vorhin, ohne Unregelmäßigkeiten oder Aststummel, und damit eigentlich sogar perfekter als die Nachbildung im Siedlungsmuseum.

Dörte! Könnte das Exponat im Nationalmuseum das sein, das er sucht? Ist dir je aufgefallen, dass es viel regelmäßiger aussieht als eure Baumstämme?“

Þjóðminjasafn?“ (Nationalmuseum?), hakte Þorr nach.

Nur so ein spontaner Gedanke. Du vermisst nicht zufällig auch noch ein Funkgerät?“

Nei. Hvar er þetta þjóðminjasafn? Farðu með mig þangað!“ (Nein. Wo ist dieses Nationalmuseum? Bringt mich da hin!)

Dörte betrachtete den Wikinger abschätzend. „Hör mal, wenn du eine Mitfahrgelegenheit nach Reykjavik suchst, dann sag es doch einfach. Dazu musst du dir nicht so eine haarsträubende Geschichte ausdenken.“

Das spricht eher für den Wahrheitsgehalt der Geschichte“, meinte Fred. „Aber was machen wir nun mit ihm?“

Ich kann mich umhören, ob in irgendeinem Wagen noch ein Platz frei ist. Dann kannst du mitfahren, wenn die Veranstaltung hier zuende ist. Das dauert aber wohl noch eine Weile.“ Sie deutete auf das Holzhaus. „Gehen wir besser solange rein, es ist kalt. Und, Þorr, die Getränke sind frei.“

Drinnen sah sich Þorr erst einmal suchend um. Fred hatte erwartet, dass er den Ausschank suchte, aber wie es schien, suchte er Ewa. Er hatte nicht vergessen, dass man ihm gesagt hatte, sie sei hier beim Tanzen. Allerdings tanzte momentan niemand, da die Musik eine Pause machte. Folglich stand Ewa an eine Wand gelehnt und unterhielt sich angeregt mit einem jungen Mann, blond an Haar, Schnurrbart und Augenbrauen. Wohl wegen der sprachlichen Barrieren gestikulierten beide ziemlich intensiv. Sollten sie. Dörte klapperte unterdessen die Tische ab und sprach verschiedene Leute an, zweifellos auf der Suche nach einer Mitfahrgelegenheit für Þorr.

Nach einer Weile kehrte sie zu Frederik zurück. „Kein Platz frei“, berichtete sie. Sie schürzte spöttisch die Lippen. „Nur die Ladefläche von Þorstein Ingmarssons Pickup ist zu vergeben. Auf der das Opfertier lag.“

Na bravo.“

P.A.L.“, sagte Dörte. „Problem anderer Leute. Ah, die Spielleute greifen nach den Fideln. Wie wär’s? Schenkst du mir noch einen Tanz?“

Wie süß sie das sagte: einen Tanz schenken. Frederik musste zugeben, dass es ihm Spaß zu machen begonnen hatte. Und wieder umgefallen. Der standhafte Ólafur hatte sich geweigert, sich mit einer Elfe einzulassen. – Aber Dörte ist keine Elfe. Sagt sie zumindest. – Nein, aber eine Heidin. Hör mal, Fred, wenn du inzwischen die Existenz von Elfen zumindest als Denkmodell zulässt, kannst du auch die Existenz von Aliens zulassen. Ohne zu überlegen, schwebte er inzwischen mit Dörte über die Tanzfläche.

Du wirst allmählich lockerer“, stellte jene fest.

Wenn du meinst.“ Bei Alien kam ihm der Gedanke, nach Þorr zu sehen. Wo war der? Da drüben. Oh, oh, welch ein Benehmen. Gerade stellte er seinen Krug achtlos auf den Tresen und riß Ewa an sich, die eben noch mit dem blonden Jüngling sprach.

Man hörte Ewas überraschtes „Hey“, und dann gab sie doch nach und ließ sich von ihm herumwirbeln. Wobei es aussah, als ob ihre Füße wenig Bodenkontakt hatten. Dem Mann, der sich eben noch mit ihr unterhalten hatte, war der Mund offengeblieben. Protestieren tat er nicht. Vielleicht angesichts des hünenhaften Þorr, der aussah, als ob man sich besser nicht mit ihm anlegte.

Mist“, erkannte Frederik. „Ich hätte Þorr noch davor warnen müssen, seine Geschichte Ewa zu erzählen. Die glaubt ihm womöglich und meldet an ihre Hintermänner, dass sie einen Alien getroffen hat. Das fehlt gerade noch.“

Hintermänner? Was für Hintermänner?“

Ich halte Ewa für eine Spionin. Ich habe sie ertappt, dass sie verschlüsselte Botschaften verschickt, auch wenn ich nicht weiß, in wessen Auftrag sie spioniert. Aber es hängt sicher mit unserer Suche nach … äh.“

Dörte blieb abrupt stehen. „Unserer was? Hast du mir noch mehr verschwiegen? Ich dachte, wir sprechen offen miteinander.“

Okay, du hast recht. Also, wir waren nach Island gekommen, um außerirdische Artefakte zu suchen. Eigentlich nur aus einer Laune heraus, weil ich die Idee hatte.“ Und dann erzählte er ihr die ganze Vorgeschichte.

Na, dann seid ihr ja in bester Gesellschaft. Dieser verhinderte Alien Þorr sucht auch nach einem außerirdischen Artefakt, wenn ich das richtig verstanden habe.“

Ich bin inzwischen geneigt, ihm zu glauben.“

In dem Falle sollten wir die Angelegenheit zügig zuende bringen, ehe sich auch noch irgendein Geheimdienst in die Sache einmischt. Stell dir vor, es gibt wirklich ein abgestürztes Raumschiff. Alle Militärs der Welt würden sich danach die Finger lecken. In was hast du uns da bloß reingezogen?“

Wieso ich? Þorr ist der Alien. Ewa ist die Spionin. Ich kann gar nichts dafür.“

Egal. Ich gehe jetzt zu Þorr und biete ihm an, auf Þorsteins Ladefläche zu reisen.“

In der Science Fiction-Literatur gab es genug Geschichten, in denen jemand mithilfe der Machtmittel eines Alien-Raumschiffs die Weltherrschaft an sich gerissen hatte – oder es zumindest versucht. Fred war nicht der Typ dazu. Ein gläubiger Christ träumte nicht von der Weltherrschaft. Der Posten war außerdem schon an einen Kompetenteren vergeben. Seit Anbeginn der Zeit.

Dörte fädelte sich zwischen den Tanzenden hindurch, nicht ganz ohne Kollisionen, und redete auf Þorr ein. Auf Isländisch hoffentlich, so dass Ewa nichts davon verstehen würde. Dann kehrte sie zu Fred zurück, der sich inzwischen an seinen Platz am Tisch gesetzt hatte. „Er ist einverstanden. Das muss ihm ja wirklich wichtig sein, wenn er sich auf so ein Transportmittel einläßt.“

Die übrige Zeit bis zum Ende der Veranstaltung hatte Fred eigentlich keine rechte Lust mehr auf Tanzen. Die Konsequenzen der Entwicklung konnte er nicht überblicken, aber sie machten ihm Sorgen. Warum musste ausgerechnet er in diese Sache hineingezogen werden? Weil er die dämliche Idee gehabt hatte, nach außerirdischen Artefakten zu suchen. Wie es aussah, hatte er jetzt eins gefunden. Wenn die Geschichte dieses Verrückten stimmte. Der Widerspruch, dass das alles mehr als tausend Jahre zurückliegen musste, war allerdings nicht aufzuklären. Hätte der Typ damals schon zu suchen begonnen, könnte er längst über alle Berge sein und niemand müsste sich heute mit ihm herumärgern. Tja. Hätte.

Das letzte Lied“, übersetzte Dörte die Ansage der Sängerin. „Jetzt brechen wir in Kürze auf. Hilf nachher mit, die Bänke in den Schuppen nebenan zu räumen, dann geht es schneller.“

Die Sängerin, die vorhin schon das Lied von Ólafur gesungen hatte, stellte sich diesmal einem einzelnen Sänger gegenüber. Es wurde ein Wechselgesang, in dem die Frau mit klagender Stimme begann.

Húsið er tómt og án lífs, ég þjáist af minningunni um þig.

– Tekurðu ekki eftir því að ég er hjá þér og snerti hönd þína?

Vindurinn hvíslar, það vekur mig, ég vakna og held að þú sért hér.

Aðeins lítið skref skilur okkur að, elskan.

Mér finnst ég vera lamaður, ófær um að ganga og get ekki jafnað mig.

– Það er hræðilegt og sárt að sjá þig svona varnarlausan.

– En tárin þín ljúga að þér, trúðu þeim ekki.

– Skipið siglir yfir, þá skilur ekkert okkur að.

Bíddu eftir mér. Eitthvað heldur mér enn hér.

Ekki hlusta á grát vonlauss hjarta míns.

– Bíddu bara smá stund þangað til við sjáumst aftur.

– Ég veifa til þín yfir hafið.

– Skipið nálgast, þá skilur ekkert okkur að.

Þú fórst langt, langt í burtu, ég sá þig hverfa.

Ég sé bara anda, vind, óskamynd.

Ekki hlusta á grát vonlauss hjarta míns.

– Ég veifa til þín yfir hafið.

– Ég sé skipsbogabylgjuna,

– það færist nær, svo skilur ekkert okkur lengur að.

Bíddu eftir mér. Ég skal leggja leið mína til þín.

Skipið nálgast, þá skilur ekkert okkur að.

– Ég er fullur vonar um að þú sért hér í dag.

– Ég sé nú þegar skipið, þá mun ekkert skilja okkur að.

Skipið nálgast, þá skilur ekkert okkur að.

– Ég sé nú þegar skipið, þá mun ekkert skilja okkur að.

Skipið nálgast og bráðum mun ekkert skilja okkur að.

– Ég sé nú þegar skipið, bráðum mun ekkert skilja okkur að.

(Leer ist das Haus, ohne Leben, leidvoll die Erinnerung an dich.

– Doch ich bin bei dir, berühre deine Hand, bemerkst du es nicht?

Wispern des Windes weckt mich wohl, ich wache und wähne dich nah.

– Nur schmaler Schritt scheidet uns, Schatz.

Ganz gelähmt fühl ich mich, glaube ich könnte nicht gehen, nie genesen.

– Schrecklicher Schmerz ist es, so schutzlos dich zu schauen,

– doch traue nicht trauriger Tränen Trug.

– Denn das Schiff schwimmt herüber, dann scheidet uns nichts mehr.

Harre auf mich, heut hält etwas mich noch hier.

Hör nicht auf hilfloses Heulen meines hoffnungslosen Herzens.

– Wenige Weile warte auf unser Wiedersehen

– Wohl wink ich dir zu über wogendes Wasser,

– Schon naht sich das Schiff, dann scheidet uns nichts mehr.

Weit, weit bist du weggegangen, ich sah dich verwehen,

dein Geist nur ein Wunschbild, ein wabernder Wind.

Hör nicht auf hilfloses Heulen meines hoffnungslosen Herzens.

– Wohl wink ich dir zu über wogendes Wasser,

– wirbelnde Wellen wirft der Bug:

– Schon naht sich das Schiff, dann scheidet uns nichts mehr.

Warte auf mich, wohl will ich den Weg zu dir wagen.

Schon naht sich das Schiff, dann scheidet uns nichts mehr.

– Ich harre voll Hoffnung, noch heut bist du hier.

– Schon schau ich das Schiff, dann scheidet uns nichts mehr.

Schon naht sich das Schiff, dann scheidet uns nichts mehr.

– Schon schau ich das Schiff, dann scheidet uns nichts mehr.

Schon naht sich das Schiff, bald scheidet uns nichts mehr.

– Schon schau ich das Schiff, bald scheidet uns nichts mehr.)

Der Gesangsvortrag gelang den beiden Interpreten sehr emotional, mit einem langsamen Rhythmus, der zum Kuscheln einlud. Fred konnte sich nicht entscheiden. Sollte er? Dörte strahlte ihn an. „Wollen wir?“ Er ließ sich auf die Tanzfläche ziehen. Aber so wundervoll sich die Elfe in seinen Armen auch anfühlte, er kam nicht mehr in eine romantische Stimmung. Er musste wieder an Þorr denken und an die Komplikationen, die sich auftaten, wenn er ein Alien war.

Das Lied endete, Applaus erklang. Dann begann das allgemeine Gemurmel der Aufbruchstimmung. „Komm, Fred, mach dich nützlich. Die Bänke und Tische kann man zusammenklappen, dann kommen sie in den Schuppen nebenan.“

Frederik bemühte sich, eine Hilfe zu sein und nicht im Weg zu stehen. Unterdessen wurden Getränkekisten verladen, Krüge zusammengeräumt. Die Dinge, die nicht hier blieben, wurden über den Parkplatz zu den verschiedenen Fahrzeugen getragen.

Dörte sah sich nach Þorr um. Der hatte sich offenbar auch einspannen lassen und lud gerade Kisten in einen Kofferraum. Sie winkte ihm. „Þorr, da ist Þorstein. Halte dich an ihn, er nimmt dich mit.“ Dann wandte sie sich an den Fahrer. „Skildu hann eftir í íbúðinni minni. Ég fer þangað líka.“ (Setz ihn bei meiner Bude ab. Ich komme dann auch dahin.)

Allt í lagi.“ (Alles klar.)

17. Nachts

Endlich saßen auch Dörte, Ewa und Fred wieder in dem VW-Bus, mit dem sie gekommen waren. Misstrauisch deutete er auf die Fahrerin. „Kann sie überhaupt noch fahren? Nach dem ganzen Bier?“

Das muss man nicht so eng sehen. Die Promillegrenze liegt auf Island bei 0,2 Promille. Da war sie schon nach dem ersten Bier drüber. Nun kommt es auch nicht mehr darauf an“, grinste Dörte.

Du hast ja ein sonniges Gemüt.“

War’n Witz. Kristín trinkt nur Cola, wenn sie fährt.“

Alle Mitreisenden hatten ihren Platz gefunden, die Tür wurde geschlossen, der Bus setzte sich in Bewegung und rumpelte über die nächtliche Piste. Lichter vor und hinter ihnen zeigten, dass auch die anderen sich auf den Weg gemacht hatten.

Das letzte Lied“, sagte Fred verträumt, „war wunderschön. Es wirkte wie ein Liebeslied.“

Tja.“ Dörte nickte. „Wie man’s nimmt. In gewisser Weise war es eins. Es handelt von einer Frau, die sich mit dem Geist ihres verstorbenen Partners unterhält. Oder glaubt, sich mit ihm zu unterhalten. Sie klagt ihm ihre Einsamkeit, und er versucht sie zu trösten. Es endet mit den hoffnungsvollen Worten ‚Ég sé nú þegar skipið, bráðum mun ekkert skilja okkur að.Schon schau ich das Schiff, bald scheidet uns nichts mehr.“

Welches Schiff?“

Ich denke, dass das Totenschiff Naglfar gemeint ist. Vielleicht plant sie, sich umzubringen, um wieder mit ihm vereint zu sein.“

Was ist daran trostreich? Ihr habt für eure Toten doch nur Hel, das Reich der ewigen Schatten, wenn ich das richtig verstanden habe. Jedenfalls für das gemeine Volk. Nur die ruhmreichen Krieger finden Eingang in die Walhall. Hast du erzählt.“

Ja“, gestand sie zu, „habe ich. Ist das bei dir anders?“

Uns ist das ewige Leben im Reich Gottes zugesagt.“

Ja, denen die keine Sünde auf sich geladen haben. Die anderen kommen bei euch doch auch in die Hölle.“

Fred runzelte die Stirn. „Sagt wer?“

Mein Religionslehrer.“

War das ein Christ?“

Ich glaube nicht. Der Religionsunterricht war überkonfessionell. Er sollte uns mit den Weltreligionen vertraut machen, aber uns nicht beeinflussen.“

Und das kommt dann dabei raus.“

Wenn das falsch ist, wie lautet die Lehre richtig?“

Es ist in dieser Welt unmöglich, keine Sünde auf sich zu laden. Und niemand käme daher ins Reich Gottes. Wenn nicht Jesus Christus sich für uns geopfert hätte. Durch Gottes große Liebe sind unsere Sünden vergeben, wenn wir nur auf ihn vertrauen. Das Angebot gilt für alle. Nur annehmen muss man es selbst.“

Interessant.“

Könnt ihr mal mit eurem religiösen Gequatsche aufhören?“, fauchte Ewa. Richtig, die war ja auch noch da.

Sprechen wir also von etwas anderem“, schlug Dörte vor. „Hast du dich mit Þorr gut amüsiert?“

Was geht’s dich an?“

Oh – nichts. Aber ich würde mich für dich freuen, wenn es so wäre.“

Er hat eine sehr direkte Art, die mir gefällt“, gestand Ewa zu. „Nicht so verklemmt wie du, Fred.“

Ah. Habt ihr euch über mich unterhalten?“, erkundigte sich Fred.

Eingeschränkt. Bei seinem schlechten Deutsch hatten wir etwas Schwierigkeiten mit der Verständigung. Wenn ich es recht mitbekommen habe, stammt er irgendwie von außerhalb und ist hier, weil er etwas sucht.“

Murks. Also hatte Þorr doch seine Geschichte erzählt. Mit etwas Glück hatte Ewa ihn nicht verstanden. Aber mit etwas Pech eben doch.

Ihr habt doch vorher auch mit ihm gesprochen. Du verstehst ihn ja besser, Dörte. Hat er euch etwas Genaueres erzählt?“

Was geht’s dich an?“ Dörtes spöttisches Grinsen war verschwendet; in der Dunkelheit konnte es niemand sehen. „Wir haben jedenfalls nicht über dich gesprochen.“

Ewa murmelte etwas, das wie ‚Schlange!’ klang. Ob ihr klar war, dass sie sich damit auf die biblische Geschichte vom Sündenfall bezog, mit der sie doch so gar nichts zu tun haben wollte?

*

Kristín hatte alle anderen Mitfahrer bereits abgesetzt und hielt nun vor dem Appartementblock, in dem sich Ewa und Fred eingemietet hatten.

Hér erum við. Ég óska góð rest af nóttinni.“ (Da sind wir. Ich wünsche eine schöne restliche Nacht.)

Ewa schob sich vom Sitz und aus der Tür. Als Fred ihr folgen wollte, hielt Dörte ihn dezent zurück. „Warte. Auf ein Wort noch.“

Ewa wandte sich fragend um. „Was ist? Kommst du nicht?“

Moment.“

Sag ihr, dass du mit mir kommst. Wenn wir die Sache mit der Niðstang erledigen wollen, sollten wir es besser gleich tun. Wie ich schon sagte: Die Zeit drängt.“

Frederik fühlte sich etwas überrumpelt, vertraute ihr aber. „Ewa, ich geh noch mit zu Dörte. Gute Nacht.“

Obwohl sie begriffen hatte, dass sie bei Fred verloren hatte, traf es Ewa etwa ebenso überraschend wie Fred. „Wie bitte? Ihr seid euch ja schnell einig geworden. Was hat sie zu bieten, was ich nicht habe? Am Glauben kann es ja wohl nicht liegen!“

Sie hat eine funktionierende Kaffeemaschine.“ Er fasste nach dem Türgriff und rollte die Schiebetür schwungvoll zu.

Kristín, þú mátt keyra“ (Kristín, du kannst fahren), rief Dörte. Fred sah, wie Ewa mit offenem Mund zurückblieb.

Und was hast du wirklich vor?“

Erst mal danke, dass du so spontan bist. Ich habe mit Þorr ausgemacht, dass wir uns bei mir treffen. Þorstein hat ihn inzwischen sicherlich dort abgesetzt. Wenn die Niðstang aus dem Museum tatsächlich das Teil ist, das er sucht, haben wir nicht mehr viel Zeit. Ich weiß leider nicht, wie viel deine Ewa von Þorrs Geschichte verstanden hat. Vielleicht schickt sie jetzt bereits eine geheime Nachricht an ihren Auftraggeber.“

Aber wir können nicht mitten in der Nacht ins Museum gehen und die Niðstang mitnehmen.“

Wenn nicht mitten in der Nacht, wann dann?“

Bist du verrückt? Ins Museum einbrechen?“

Glaubst du, wenn wir zur Museumsleitung gehen und unsere Geschichte erzählen, gibt man uns das Ding freiwillig? Þorr sagt, er hat die geeigneten Mittel.“

Das wird ja immer bunter.“

Du bist der, der mit der Theorie ankam, es gäbe hier außerirdische Artefakte. Jetzt beschwer dich nicht, dass du eins gefunden hast.“

Der VW-Bus hielt erneut. „Það var það“ (So, das war’s), sagte Kristín und wandte sich um. „Ég veit ekki hvað þú ert að bralla, en skemmtu þér vel.“ (Ich weiß zwar nicht, was du vorhast, aber viel Spaß dabei.) Damit überreichte sie Dörte den Zündschlüssel, öffnete die Fahrertür, stieg aus und ging davon.

Ich verstehe überhaupt nichts mehr“, bekannte Fred.

Na ja, ich habe Kristín gebeten, mir ihren Wagen zu leihen. Wir werden ihn brauchen.“

Aus dem Dunkel einer Einfahrt trat Þorr heraus. Er sah frostig aus und wärmte die Hände unter den Achselhöhlen. Richtig, er hatte zwei Stunden Fahrt auf der Ladefläche des Pickup verbracht. „Kommt“, sagte Dörte, „einmal einen Augenblick in meiner Bude aufwärmen und unser Vorgehen planen.“

Hast du eine funktionierende Kaffeemaschine?“

Was ist das eigentlich mit dieser Kaffeemaschine?“ Sie schloss ihre Wohnungstür auf und winkte ihre beiden Begleiter herein.

Die in unserem Appartement funktioniert nicht. Weißt du, wie widerlich Instantkaffee schmeckt?“

Schon gut. Setzt euch da hin, ich mache einen Kaffee. Einen richtigen. Þorr, du sagst, du kannst das Museum aufmachen?“

Ég er með tól fyrir þetta.“ (Ich habe ein Werkzeug für so etwas.)

Was für eins?“

Þú átt ekki orð yfir það.“ (Dafür habt ihr kein Wort.)

Es wird vermutlich eine Alarmanlage geben“, meinte Fred.

Dörte zuckte mit den Schultern. „Eine Alarmanlage gibt vor allem erst einmal Alarm. Aber sie stellt sich uns nicht in den Weg. Wir müssen eben schnell sein und den Alarm ignorieren.“

Þorr lachte. „Ef hjarta mitt væri ekki þegar farið að slá fyrir Ewu, hefði ég sagt að þú sért stelpa að mínu skapi.“ (Wenn mein Herz nicht schon für Ewa schlagen würde, hätte ich gesagt, du bist ein Mädchen nach meinem Geschmack.)

Soll ich mir etwas darauf einbilden? Ich will dir helfen, dein Raumschiff zu reparieren, aber ich wollte dich nicht heiraten.“

Og hvað með Ewu? Hún sagði að ég gæti fengið hana til að gera það.“ (Und was ist mit Ewa? Sie hat gesagt, ich krieg sie dazu.)

Das hast du vermutlich falsch verstanden. Was machen wir, wenn wir deine Niðstang tatsächlich erbeutet haben sollten?“

Þá verðum við að fara á Blót torgið þitt. Geimskipið er mjög nálægt.“ (Dann müssen wir zu eurem Blótplatz. Das Raumschiff ist da ganz in der Nähe.)

Warum ist es uns nie aufgefallen?“

Hefur þú einhvern tíma klifrað upp strompinn á eldfjalli?“ (Seid ihr jemals in den Schlot des Vulkans geklettert?)

Dörte stellte zwei Tassen mit einer schwarzen Flüssigkeit auf den Tisch. „Euer Kaffee. Vorsicht, heiß!“

Þorr probierte vorsichtig. „Ó. Ljúffengur. Það væri ástæða til að vera á þessari plánetu um stund lengur.“ (Oh. Köstlich. Das wäre glatt ein Grund, noch eine Weile auf diesem Planeten zu bleiben.)

18. Kurz zuvor

Lockman, sind Sie das?“

Jawohl, Sir. Codewort ‚Gorm Grimme’.“ Es war eine verschlüsselte Verbindung, weshalb er das Codewort offen aussprechen konnte. Da kein Bild übertragen wurde, nahm er sich die Freiheit, nur in Gedanken zu salutieren, wobei er seinem Tonfall zugleich einen zackigen Klang zu verleihen verstand. Insgeheim amüsierte er sich darüber.

Berichten Sie“, verlangte Colonel Corn.

Eine Staffel von drei X2 Hybrid wurde planmäßig von Thule an die Ostküste Grönlands verlegt und aufgetankt. Wir sind startbereit.“

Sehr gut. Die Sache scheint in eine kritische Phase zu treten. Wir haben eine verschlüsselte Meldung von Meier 5 aufgefangen. Er behauptet, Kontakt zu einem Alien zu haben, der auf der Suche nach einem dringend benötigten Ersatzteil für sein Raumschiff ist. Das paßt zu dem gemeldeten Artefakt im Museum in Reykjavik.“

Demnach ist das Raumschiff derzeit manövrierunfähig?“

Davon ist auszugehen. Der Außerirdische wird vermutlich versuchen, das Gerät aus dem Museum zu entwenden. Meier 5 hat den Auftrag, das zu verhindern.“

Und unser Auftrag?“

Kommen Sie ihm zuvor. Starten Sie in Richtung Island.“

Haben Sie Kontakt mit der dortigen Luftüberwachung?“

Noch nicht. Um keine Zeit zu verlieren, starten Sie sofort. Ich verständige Sie unterwegs, wenn die Genehmigung vorliegt. Die Angelegenheit ist geheim, und ich möchte den Jungs dort nicht die Details auf die Nase binden.“

Da die Isländer über keine eigene Luftwaffe verfügten, oblag die dortige Luftraumkontrolle pikanterweise der amerikanischen Air Force. Die würde einem Sondereinsatz der eigenen Truppe kaum etwas in den Weg legen können. Allerdings musste so etwas auf dem Dienstweg koordiniert werden, und der war zu lang, wenn es schnell gehen musste. Die Reichweite der X2 betrug 700 Kilometer. Damit kamen sie bis Island, allerdings nicht wieder zurück. Wenn wider Erwarten keine Genehmigung erteilt werden sollte, konnten sie trotzdem nicht mehr umkehren, sobald sie mehr als die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten. Und dann musste man sie zumindest zum Auftanken landen lassen, auch wenn es hinterher ein Disziplinarverfahren gab. Was, wenn alles klappte, Lockman in keiner Weise mehr belasten würde.

Zu Befehl, Sir.“ Das konnte gar nicht besser laufen. Er hatte Jahrtausende warten müssen, aber jetzt war das Schiff so gut wie in seiner Hand. Und wo das fehlende Ersatzteil zu finden war, wusste er nun auch. Er erhob sich, um seine Anweisungen zu erteilen.

19. Kurz danach

Kristín hatte ihnen gesagt, dass sie noch tanken müssten, die Fahrt zum Blótplatz und zurück hatte den Tank des VW-Busses ziemlich geleert. Glücklicherweise kannte Dörte eine Tankstelle, die auch nachts geöffnet hatte. Von dort fuhren sie zum Nationalmuseum.

Haben wir uns das auch gut überlegt?“, fragte Fred etwas unsicher.

Nein“, gestand Dörte zu. „Aber weiteres Überlegen führt nur dazu, dass wir es bleiben lassen, und dann ist Þorr so weit wie vorher. Wollen wir ihm helfen? Wollen wir, dass dieses verdammte Raumschiff so schnell wie möglich von der Erde verschwindet, wo es nur Unheil anrichten kann?“

Mach es wenigstens unauffällig“, mahnte Fred. „Park nicht direkt vor der Tür.“

Wenn es gleich schnell gehen muss, dann ist das der beste Platz.“

Wenn wir durch ein Fenster direkt in den Saal steigen könnten, in dem das Teil ausgestellt ist, geht es noch schneller.“

Hast du gesehen, wie hoch die Fenster liegen? Ohne Leiter kämen wir da nicht rein. Und das ist sicher nicht das, was du unauffällig nennen würdest.“

Schon gut.“

Dörte rangierte den VW-Bus vom Parkplatz aus vor den Haupteingang. „Los jetzt. Ich warte auf euch.“

Sie überlegte, ob sie den Motor besser laufen ließ, so wie man es im Film immer bei Banküberfällen sah, entschied sich aber dagegen. Ein mit laufendem Motor wartender Wagen war erst recht auffällig.

Die Fahnen flatterten im eisigen nächtlichen Wind und wirkten in der gelben Straßenbeleuchtung wie überdimensionale Fackeln. Es fühlte sich für Fred hochgradig fremdartig und psychedelisch an, als er und Þorr die Stufen zum Eingang hochstiegen. Als sei er gar nicht mehr in seiner Realität. „Du bist dran, Þorr!“

Der Alien, inzwischen hatte er ihn offenbar gedanklich als solchen akzeptiert, zog aus seinem Mantel einen Gegenstand, der etwa zwanzig Zentimeter groß war und wie die Mischung aus einem Dreieck und einem Kreuz aussah.

Er griff es mit den Fingern der rechten Hand in einer Weise, die Fred an die Handhabung einer Bowling-Kugel erinnerte. Dann hob er es in Richtung des Eingangsportals. Ein fahles, grünliches Leuchten zuckte auf, ähnlich einem Polarlicht, und erlosch sofort wieder.

Fred brauchte einige Atemzüge, um zu begreifen, was geschehen war. In der Front des Gebäudes klaffte ein Loch von vielleicht drei Metern Durchmesser. Ein Desintegrator, fiel ihm ein. So nannte man so etwas in Science Fiction-Geschichten. Eine Waffe, die jegliche molekulare Bindung auflöste und ein Objekt in seine Atome zerfallen ließ. Einen erkennbaren Alarm gab es nicht. Vermutlich hatte das Ding sämtliche elektrischen Leitungen mit desintegriert. Wenn er bis eben noch daran gezweifelt haben mochte, dass Þorr nicht von diesem Planeten stammte, hatte er jetzt den ultimativen Beweis. Und das unumstößliche Argument, warum Þorr und sein Raumschiff nicht auf die Erde gehörten. So etwas durfte es hier auf keinen Fall geben.

Glotzt nicht, macht was!“, rief Dörte ihnen zu.

Fred bewunderte, wie dieses Mädchen die Initiative an sich gerissen hatte. „Okay, Þorr. Mir nach, ich führe dich in den Saal, in dem das Ding steht.“

Sie rannten die Stufen der Innentreppe hoch, Fred voran. Zum Glück gab es eine Notbeleuchtung, die ihnen die Orientierung ermöglichte. Nur im Eingangsbereich war es dunkel, weil die Beleuchtung zerstört war, aber durch das riesige Loch schien die Straßenbeleuchtung herein. „Links. Geradeaus. Stop. Da rechts an der Wand. Þorr, ich hoffe, das ist das, was du suchst. Sonst haben wir uns eine Menge Ärger aufgehalst für nichts.“

Þorr trat zögernd an das Exponat heran und betastete es. „Það er ryðgað. En já það er rétt að gera.“ (Es ist korrodiert. Aber ja, es ist das richtige.)

Fred erkannte an Þorrs Gestik, dass es eine Zustimmung sein sollte. „Worauf wartest du dann?“

Die Niðstang war knapp drei Meter lang, aber der Hüne riß sie aus der Halterung wie nichts und schulterte sie. Ein durchdringendes, auf- und abschwellendes Heulen erklang. Nun hatten sie also doch einen Alarm ausgelöst. Niemand musste ihnen sagen, dass es jetzt an der Zeit war zu rennen. Verfolgt von dem nervenzerfetzenden Ton, hetzten sie durch die Gänge zurück. In einer Kurve riß die sperrige Stange eine Vitrine um, die klirrend zu Boden ging. „Weiter!“

Dörte ließ den Motor an, sobald die beiden in dem Loch auftauchten, das da nun anstelle des Eingangs klaffte. Trotzdem verloren sie noch einmal Zeit, als sie feststellen mussten, dass die Stange zu lang war, um sie durch die Schiebetür in den Bus zu laden. „Durch die Beifahrertür“, rief Dörte.

Fred riß die Beifahrertür auf. Von hier aus paßte die Stange tatsächlich diagonal über die Sitze hinweg in den Wagen. „Quetscht euch irgendwie rein und los! Sortieren könnt ihr euch hinterher.“

Þorr schnappte sich Fred ziemlich unsanft, stieß ihn in den Wagen und sprang hinterher. Mit der für ihn ungewohnten Mechanik der Schiebetür hatte er jedoch Probleme.

Verdammt, was dauert denn da so lange?“, fluchte Dörte, riß ihre Tür auf, sprang heraus und kam herum, um die Schiebetür von außen zu schließen. Von der Straße her war das Flackern von Blaulicht zu erkennen.

Die Polizei!“ Die Ordnungshüter waren schneller als erwartet – allerdings waren sie selbst auch langsamer gewesen als erwartet.

Dörte warf sich auf den Fahrersitz und hieb den Gang hinein. Der Motor heulte auf, mit durchdrehenden Reifen (was Fred dem VW-Bus gar nicht zugetraut hätte) schlingerten sie auf die Straße.

Ein Wagen bog auf den Parkplatz ein, gerade als sie ihn verließen. So schnell schon? Nein, es war kein Polizeiwagen, sondern ein Privatfahrzeug. Vielleicht Zivilpolizei? Egal. Der Wagen behelligte sie nicht, und sie hatten keinen Anlaß, ihn weiter zu beachten.

Ein Polizeiwagen kam ihnen entgegen, konnte ihnen aber momentan nicht gefährlich werden, da die Gegenspur durch einen Mittelstreifen von der ihren getrennt war. Dazu kam, dass die Polizisten den Auftrag hatten, beim Museum nach dem Rechten zu sehen, folglich mussten sie erst einmal dorthin fahren.

Þorr und Fred hatten es geschafft, sich an der Stange vorbei auf die hintere Sitzbank zu quetschen und konnten beobachten, wie die Polizei tatsächlich dort auf den Parkplatz einbog.

Vielleicht verschaffte ihnen das den entscheidenden Vorsprung. Fred machte sich keine Illusionen. Sie würden über Funk Verstärkung anfordern. Und sicherlich hatten sie den VW-Bus bemerkt.

Sie kamen noch bis zur Bundesstraße. Hinter ihnen bogen aus einer Seitenstraße zwei Einsatzfahrzeuge ein und hefteten sich ihnen mit Blaulicht und Sirene an die Fersen.

Die sind schneller als wir!“, erkannte Fred.

Ég geri það!“ (Ich erledige das), rief Þorr und griff nach seinem Desintegrator.

Um Himmels Willen, Þorr, bitte keine Toten!“

Ég skýt bara á götunni. Geturðu opnað gluggann?“ (Ich schieße ihnen nur die Straße weg. Kann man das Fenster aufmachen?)

An der Seite, ja.“

Það mun ekki duga. Svo leysi ég upp afturhlutann á bílnum þínum.“ (Das geht nicht. Dann löse ich das Heck eures Fahrzeugs mit auf.) Ohne zu zögern, richtete er die Waffe auf das Rückfenster und desintegrierte es. Der Fahrtwind wirbelte herein, und plötzlich zog es gewaltig. Und kalt.

Bist du wahnsinnig? Was hast du gemacht? Der Wagen ist geliehen!“

Ég get ekki tekið tillit til þess.“ (Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen.)

Þorr schob die Hand mit der Waffe durch die nicht mehr vorhandene Scheibe. Diesmal flammte das fahle Leuchten für einige Sekunden auf. Die Fahrbahn hinter ihnen verschwand auf mehrere zehn Meter. „Það ætti að stoppa þá.“ (Das sollte sie aufhalten.)

Dörte trat das Gaspedal durch und drehte die Heizung auf, um gegen die hereinströmende Kälte an zu heizen.

Sie kamen unangefochten bis Hvoltsvöllur. Dort war vor dem Ortseingang eine Straßensperre aufgebaut; zwei quer gestellte Lastwagen, drei Einsatzfahrzeuge mit Blaulicht. Massenhaft Polizisten.

Das war’s“, stellte Fred resignierend fest.

Behaltet die Nerven“, sagte Dörte ruhig. „Þorr, nimm mich als Geisel und zwing sie, die Durchfahrt freizugeben. Sag ihnen, dass du mich sonst erschießt.“ Sie hielt den VW-Bus in gut zwanzig Metern Entfernung vor der Sperre an, so dass in der Dunkelheit hoffentlich nicht zu erkennen war, was im Innern passierte. Dann kletterte sie vom Fahrersitz nach hinten. „Jetzt ist es an dir, Þorr, sie zu überzeugen. Bleib hinter mir und halte mich als Schild vor dich. Fred, setz dich ans Steuer. Kann sein, dass du es allein zuende bringen musst, je nachdem, was passiert.“ Dann öffnete sie die Schiebetür.

*

Erst als Fred im VW-Bus allein war, begriff er, worauf er sich eingelassen hatte. Vorher war alles ziemlich hektisch abgelaufen, und Dörte hatte bestimmt, wo es entlang ging. Selbst dieser Þorr hatte sich nach ihren Anweisungen gerichtet. Jetzt saß er hier und musste mit ansehen, wie Þorr Dörte vor sich her in Richtung der Straßensperre schob. Dörte. Er bangte um sie, und zugleich bewunderte er ihren Mut. Welch eine Frau! Ein Feigling wie er war ihrer überhaupt nicht würdig. Und Þorr? Er war ein Alien, Fred hatte keine Vorstellung von dessen moralischen Prinzipien. Würde er unter diesen Umständen noch Menschenleben schonen?

Den Wortwechsel mit der Polizei konnte er leider nicht verstehen, da er auf isländisch geführt wurde. Er wusste nur aus Kriminalfilmen so ungefähr, wie solch eine Konfrontation abzulaufen hatte, konnte aber nicht sicher sein, dass sie sich hier an das Drehbuch hielten: Kommen Sie einzeln und mit erhobenen Händen herüber! – Zwingen Sie mich nicht zum Äußersten! – Geben Sie auf, Sie haben keine Chance.

Die Scheinwerfer der Polizeifahrzeuge blendeten, er konnte aber erkennen, dass Þorr seinen Desintegrator gegen Dörtes Kopf hielt. Aha. Das war die Stelle mit: Machen Sie den Weg frei, sonst stirbt das Mädchen.

An dieser Stelle gab es eine Variante, die in normalen Krimis nicht vorkam. Þorr drehte seine Waffe in Richtung der quer stehenden LKW und löste sie aus. Das fahle Licht zuckte auf, einer der Lastwagen war verschwunden, als habe es ihn nie gegeben.

Frederik bemerkte seitlich eine Bewegung. Dort hatte sich offenbar ein Scharfschütze im Straßengraben angepirscht, der jetzt eine Waffe in Anschlag brachte. Von der Seite her hatte er eine Chance, Þorr mit einem sauber gezielten Schuss zu erwischen, ohne Dörte zu gefährden. Und Fred konnte den Alien nicht warnen.

Der Schuss bellte auf. Verfehlt. Þorr stand wie ein Fels. Nein! Dörte sackte in sich zusammen. „Nein!“, schrie Fred. Die Kugel musste sie getroffen haben. Þorr hielt sie weiter fest, aber sie hing wie leblos in seinem Arm. Jetzt sahen die Schützen der Polizei offenbar keinen Grund mehr zur Rücksichtnahme, sie eröffneten das Feuer aus automatischen Waffen. Entsetzt begriff Fred, dass die Kugeln das Blech des Busses durchschlagen und ihn selbst treffen mussten. Aber nichts dergleichen geschah. Þorr löste seine Waffe ein weiteres Mal aus, der zweite LKW verschwand unter einer Leuchterscheinung. Dann zog der Alien sich zurück zum VW-Bus, wobei er Dörte wie einen nassen Sack mit sich zog. Ein Kugelhagel folgte ihm, richtete aber nichts aus. Lediglich einige Querschläger pfiffen vorbei.

Þorr erreichte den Bus, hob Dörtes Körper hinein und warf die Tür zu. „Fahren!“

Mit zitterndem Bein trat Fred die Kupplung, wuchtete einen Gang hinein und gab Gas. Der linke Fuß rutschte vom Kupplungspedal, der Wagen machte einen Satz. Sie werden die Reifen zerschießen, dachte Fred, und dann ist es vorbei. Außerdem war ohnehin alles vorbei, denn Dörte war tot. Ohne einen klaren Gedanken blieb er einfach auf dem Gaspedal stehen, bis er begriff, dass er jetzt hochschalten musste. Die Straßensperre blieb zurück. Da Þorr die Lastwagen vernichtet hatte, war der Weg frei. Aber alles war sinnlos. Dörte war tot. Erst mit Verzögerung begriff Fred, dass die Reifen heil geblieben waren, dem heftigen Beschuss zum Trotz. Er raste durch die Ortschaft, jegliches Tempolimit ignorierend. Der Zeitverschiebung wegen war es noch dunkel, aber es wurde Morgen, einige Menschen waren bereits auf der Straße unterwegs und fluchten ihm hinterher.

Ðörþ nicht tot! Fahren!“, rief Þorr.

Was redest du da? Sie haben sie erschossen!“

Abwehrschild!“

Er ist ein Alien, überlegte Fred. Er hat einen Desintegrator. Er könnte auch einen Schutzschirm haben. Das würde erklären, warum keine Kugel durchgedrungen war. Aber warum war Dörte dann zusammengebrochen?

Was ist mit Dörte?“

Þorr antwortete nicht. Er war, wie Fred im Rückspiegel erkannte, damit beschäftigt, durch die ohnehin nicht mehr existierende Heckscheibe hindurch die Straße unbefahrbar zu machen. Dann schrie er etwas, das wie ein mörderischer Fluch klang.

Þorr hatte Dörte auf die hintere Bank gelegt und sich über sie gebeugt, um seine Waffe aus dem Heckfenster zu richten. Jetzt drehte er sich um und richtete die Isländerin ein Stück auf, so dass er sich neben sie setzen konnte. Dann packte er sie mit einer Hand und ohrfeigte sie mit der anderen.

Ðörþ! Vakna!“ (Dörte! Aufwachen!)

Dörte schüttelte den Kopf, als wolle sie etwas loswerden. Dann öffnete sie die Augen. „Þorr – ich – du – was…?“

Dörte?“, rief Fred nach hinten. „Was ist los?“

Sie gewesen draußen. Etwas schockierte sie.“

Die Waffe! Fred, Þorrs Waffe ist der Thorshammer Mjöllnir! Er muss Thor sein!“

Ich dachte, Thor ist einer eurer Götter.“

Þorr, bist du Thor?“

Ég er ekki guð. Líklega var ég fyrirmynd guðs þíns Þórs, eins og orkubreytirinn okkar hér var fyrirmynd Niðstangsins þíns.“ (Ich bin kein Gott. Vermutlich war ich das Vorbild eures Gottes Thor, so wie unser Modulator hier das Vorbild eurer Niðstang war.)

Und der Einäugige, der mit dir zusammen am Blótplatz war? Ist er Wotan?“

Widen. Widen er yfirmaður skips okkar. Nei guð.“ (Widen. Widen ist der Kommandant unseres Schiffes. Kein Gott.)

Dörte packte Þorr mit beiden Fäusten beim Mantel und versuchte ihn zu schütteln. Was bei seiner hünenhaften Statur ziemlich aussichtslos war. „An was habe ich dann die ganze Zeit geglaubt?“, schrie sie.

Róaðu þig. Ég get ekki hjálpað því sem þú trúðir á.“ (Beruhige dich. Ich kann nichts dafür, woran du geglaubt hast.)

Dörte atmete schwer. Sie löste sich von Þorr, stieß ihn von sich weg (oder besser sich von ihm), beugte sich unter der quer im Innenraum liegenden Stange hindurch und richtete sich auf der anderen Seite auf, so dass sie nun am linken Seitenfenster saß. Der Morgen dämmerte herauf. Sie sah aus dem Fenster und versuchte sich zu orientieren. „Wo sind wir?“

Keine Ahnung. Ich bin einfach gefahren.“

Ein Schild mit der Straßennummer ‚1’ flog vorbei. „Wir sind immer noch auf der Route eins! Wir hätten in Hvoltsvöllur auf die 261 abbiegen müssen! Du musst zurück.“

Ich kann nicht zurück. Da ist die Polizei. Außerdem hat Þorr die Straße zerstört.“

Halt an!“

Und dann?“

Die 261 verläuft da drüben, weiter nördlich. Wir können nur versuchen, querfeldein zu fahren, um sie zu erreichen.“

Da rüber?“, entsetzte sich Fred.

Such dir eine Stelle, an der der Graben flach ist. Das scheint ein Acker zu sein, ohne größere Hindernisse. Das müsste der Bus schaffen. Einen anderen Weg sehe ich nicht.“

Fred bremste ab. Einen entgegenkommenden Lastzug musste er passieren lassen. Der wird fluchen, wenn er an das Loch in der Straße kommt, dachte Fred. Jetzt war die Gegenfahrbahn frei. Er bog vorsichtig über eine Feldeinfahrt – oder was auch immer – ab. Der Wirtschaftsweg auf dem Acker, wohl für Traktoren gedacht, war einigermaßen eben und auch für einen VW-Bus befahrbar. Langsam wagte er es, mehr Gas zu geben. Mit mäßiger Geschwindigkeit rumpelten sie über das Feld.

20. Gleichzeitig

Iceland Air Traffic Control an Zulu Alfa 632. Kommen.“

Iceland ATC, hier Zulu Alfa 632.“

Ihr Code wurde bestätigt. Sie haben Erlaubnis, in den Luftraum einzufliegen. Halten Sie Kurs 105 Grad und Höhe 800 Fuß.“

Verstanden. Kurs 105 Grad, Höhe 800 Fuß. Wurde meine Warnung an die örtliche Polizei weitergeleitet?“

Roger. Leider zu spät. Es wurde bestätigt, dass Personen ins Nationalmuseum eingedrungen sind. Eine verdächtige Person wurde festgenommen, aber weitere Personen sind mit einem VW-Bus auf der Flucht. Die Sache scheint die hiesige Polizei zu überfordern. Es ist von unbekannten Waffen die Rede, denen sie nichts entgegenzusetzen hat. Wissen Sie etwas darüber, was wir wissen sollten, Zulu Alfa 632?“

Darüber kann ich nicht sprechen. Ich nehme an, es ist in Ihrem Sinne, wenn wir die Verdächtigen verfolgen?“

Ich muss das mit der Polizeibehörde abstimmen.“

Ich bitte darum.“

Moment, Zulu Alfa 632, ich bekomme eben die Meldung, dass das Fahrzeug eine Straßensperre bei Hvoltsvöllur durchbrochen hat. Das Fluchtfahrzeug befindet sich auf der Bundesstraße 1 in Richtung Osten. Sie haben alle Vollmachten. Handeln Sie nach Ihrem Ermessen. Hier sind die Koordinaten des letzten Kontakts: 68,75 Nord und 20,23 West.“

Na also. „Roger, Iceland ATC. 68,75 Nord und 20,23 West. Zulu Alfa 632 Ende.“ Lockman schaltete den Funkkanal um. „Leader an Staffel. Vorläufige Zielkoordinaten 68,75 Nord und 20,23 West. Ein Volkswagen Bully, Richtung Osten fahrend. Auftrag: Einkreisen und stellen. Achtung: Die Ladung des Wagens darf keinesfalls beschädigt werden.“

*

Das Feld endete und ging in eine dunkle Fläche über, eine Lava-Ebene vielleicht. „Pass auf, dass du nicht im Kreis fährst. Halte dich so, dass du den Gletscher immer rechts hast. Es kann nicht weit sein, vielleicht zehn Kilometer.“

Mach ich ja“, knurrte Fred. Die Ebene war wirklich weitgehend flach, vereinzelt erhoben sich kleinere Felsen, denen man leicht ausweichen konnte. Die Lenkung fühlte sich schwammig an, offenbar war die Lavaschicht überfroren. Fred bemühte sich, sanft zu steuern, um nicht ins Rutschen zu kommen.

Oh verdammt. Thor. Wotan. Alles nur ein Irrtum“, stöhnte Dörte. „Ich kann es nicht glauben. Da spielen sich irgendwelche beknackten Aliens als Götter auf und…“

Denk jetzt nicht darüber nach. Wir müssen dieses Ding abliefern. Alles andere ist zweitrangig.“

Ein Geräusch hob sich aus der Wahrnehmungsschwelle heraus und wurde lauter. Motoren. Der typische zerhackte Klang von Rotoren. Es waren Hubschrauber.

Dörte verdrehte sich nach hinten, um aus dem Heckfenster zu sehen. „Die haben es auf uns abgesehen. Sie sind von der Straße her abgebogen und folgen uns.“

Und wir können die Hubschrauber nicht abschießen, ohne die Leute umzubringen. Ich wollte das wirklich vermeiden“, stieß Fred hervor.

Ég get ekki skotið neitt með byssunni minni. Orkan er tóm.“ (Ich kann mit meiner Waffe gar nichts mehr abschießen. Die Energiezelle ist leer.)

Die Helikopter fächerten sich auf, einer überholte den VW-Bus, die anderen blieben seitlich auf seiner Höhe. Das Dröhnen wurde ohrenbetäubend, und die Luftwirbel der Rotoren schüttelten den Bus durch.

Zermürbungstechnik“, erkannte Dörte. „Nerven behalten!“

Es war klar, dass sie sie einkreisen wollten. Der vorderste setzte auf. Fred versuchte zu bremsen, bewirkte damit aber genau nichts, der Bus rutschte einfach weiter geradeaus. Die anderen Hubschrauber verlegten ihm den Weg links und rechts. Er hätte jetzt höchstens noch wenden können und zur Straße zurückfahren. Aber es war sinnlos.

Fred kuppelte aus und ließ den Bus ausrollen. Aus dem Helikopter sprangen mehrere Soldaten, Waffen im Anschlag, und näherten sich. „Hands up and get out!“, brüllte ein Offizier. Englisch. Tatsächlich, die Maschinen trugen die amerikanische Flagge am Rumpf. Merkwürdig. Aber momentan das geringste Problem.

Ég mun fara út“ (Ich gehe raus), sagte Þorr.

Nimm mich mit, vielleicht klappt der Trick mit der Geisel noch einmal.“

Sie kletterten zu zweit aus dem Wagen. Þorr hielt Dörte als Schutzschild vor sich. Der amerikanische Offizier begann zu lachen. Von dem was er sagte, verstand Fred absolut nichts. Es war weder englisch, noch schien es isländisch zu sein.

So sieht man sich wieder, Þorr. Gib auf, dein Weg ist hier zuende. Und erwarte nicht, dass ich irgendwelche Rücksicht nehme.“

Logg!“, stieß Þorr hervor. Nein, Logg würde sicher keine Rücksicht nehmen. Er war damals bereit gewesen, den ganzen Planeten zu entvölkern; es würde ihm nichts ausmachen, Dörte zu erschießen.

Im Moment Major Lockman“, lachte der andere. „Nun komm schon. Ich habe nicht unendlich Zeit.“

Was wurde aus deiner Mannschaft?“

Auf die musste ich leider verzichten. Die Energie meines Wracks reichte nicht mehr für die Hibernation von uns allen.“ Mit anderen Worten, er hatte sie umgebracht, um sein Überleben zu sichern.

Was hast du vor?“

Wir lagern dich und euer Raumschiff in Area 51 ein. Die Amerikaner werden sich sicherlich gern mit dir unterhalten. Zu gegebener Zeit klaue ich dann das Schiff und fliege damit nach Hause. Meins habt ihr ja vernichtet. Im Dienst der Air Force habe ich die nötigen Vollmachten.“

Nur über meine Leiche.“

Wenn’s sein muss, auch das.“

Zur Bekräftigung feuerte Logg oder Lockman seine Waffe ab; nicht gezielt, nur auf den Boden, vor Þorrs Füßen. Der Erfolg war allerdings verheerend. Ein Knistern erklang, ein Knacken, ein eigentümlich sirrender Ton, und dann riß der Boden zwischen Þorr und seinem Gegner auf. Der Spalt breitete sich aus, verästelte sich, erreichte die gelandeten Helikopter. Und dann brachen sie durch das Eis und versanken rapide.

Fred begriff, dass sie nicht über überfrorene Lava, sondern über eine dünne Eisfläche gefahren waren. Die Motoren der Helikopter heulten auf; die Piloten versuchten, ihre Maschinen wieder abzuheben. Die Rotoren metzelten einige der bereits ausgestiegenen Soldaten nieder, die sich in ihrer Reichweite befanden. Aber sie kamen nicht hoch. Die hochspritzende schwarze Masse bewies, dass dies keine zugefrorene Wasserfläche sein konnte. Es war ein zugefrorenes Moor. Es saugte sich an den Rümpfen der Hubschrauber fest und ließ sie nicht entkommen.

Voller Panik erwartete Fred, dass im nächsten Augenblick das Eis auch unter dem VW-Bus brechen und das Moor ihn verschlingen würde. Und er konnte nichts dagegen tun. Nachdem das nicht geschah, begriff er, dass er eine Stelle erwischt hatte, an der der feste Untergrund bis an die Oberfläche ragte.

Wenn er sich an den vereinzelten Felsen orientierte, könnte er vielleicht unbeschadet entkommen. Er legte den Rückwärtsgang ein und versuchte, Abstand von dem Schlachtfeld zu gewinnen. Die Räder drehten durch, der Bus kam nicht von der Stelle. Fred besann sich, dass er einmal gelernt hatte, auf Glätte mit gezogener Handbremse zu beschleunigen. Und zwar ganz behutsam. Wo war bei diesem verdammten Karren die Handbremse? Dieser Hebel da? Er zog ihn und probierte es erneut. Niemand hinderte ihn, die Soldaten hatten andere Sorgen. Dörte! Þorr! Er konnte sie doch jetzt nicht zurücklassen! Wie es aussah, hatte Þorr Dörte von sich gestoßen und prügelte sich jetzt mit dem Offizier. Unter ihnen hatten sich gewaltige Spalten im Eis gebildet. Dörte versuchte zu entkommen, aber sie rutschte aus und stürzte. Die beiden Kämpfenden brachen durch die Eisfläche, der Riss erweiterte sich, erreichte die Isländerin, woraufhin auch sie zu versinken begannen.

Frederik stieg aus dem Wagen und versuchte vorsichtig, Dörte zu erreichen. Sie war bereits bis zum Bauch eingesunken. Nach wenigen Schritten knackte es bedrohlich unter ihm, und er hielt inne. Dörte, Panik im Gesicht, sah ihm direkt in die Augen.

Dörte! Ich hol dich raus!“

Jetzt hatte Þorr seinen Gegner unter die Moorfläche gedrückt und benutzte rücksichtslos dessen versunkenen Körper als Halt, um sich abzustützen. Er brachte seine Arme auf die Kante der Eisfläche, stieß sich ab und fiel mit dem Oberkörper aufs Eis. Weiter kam er nicht; er hatte keinen Halt, um sich endgültig hochzuziehen. Hilflos rutschten die Hände auf dem Eis ab. Und Fred konnte weder ihn noch Dörte erreichen, ohne selbst einzubrechen.

Die Niðstang fiel ihm ein. Wenn er die aufs Eis schob, konnte er den beiden damit vielleicht zur Hilfe kommen. Er tastete sich vorsichtig zum Bus zurück und bemühte sich, nicht auszurutschen. Darüber, dass die Stange für ihn viel zu schwer war, dachte er in dem Augenblick nicht nach. Und in dem aufgeputschten Zustand, in dem sich sein Körper befand, war sie es auch nicht. Es gelang ihm, sie aus der Beifahrertür zu fädeln und neben dem Bus abzulegen. Dann packte er sie mittig und schob sie aufs Eis.

Mit einem kurzen Blick überzeugte er sich, dass von den Helikoptern wirklich keine Gefahr mehr ausging. Ihr Gewicht hatte sie bis zum Grund des Moores einsinken lassen, gerade noch die Dächer und die Rotoren ragten heraus. Die Motoren waren stehen geblieben, nachdem sie statt Luft Schlick angesaugt hatten. Einige Soldaten hatten sich auf das Dach ihrer Maschinen gerettet, wo sie aber nichts anderes mehr tun konnten, als sich verzweifelt an den Rotorblättern festzuhalten.

Fred…!“ Dörte schrie. Nur noch ihr Oberkörper ragte heraus; ihre Hände suchten Halt, griffen aber nur in Schlick.

Fred musste sich entscheiden, wem er die Stange zuschob. Þorr drohte momentan nicht weiter zu versinken, und ja, Dörte lag ihm mehr am Herzen. Aber nach kurzem wurde ihm klar, dass die Stange dafür nicht lang genug war.

Und wenn er Þorr als Hilfe hätte? Also musste er sich doch erst einmal für den Alien entscheiden. Þorr bekam die Stange zu fassen und wuchtete sich auf die Eisfläche.

Ðörþ helfen!“ Mit seinen mächtigen Muskeln war es ihm ein Leichtes, die Stange anzuheben, herumzudrehen und Dörte zuzuschieben. Sie war immer noch zu kurz, aber er legte sich auf die Eisfläche und schob sie von sich weg, so weit seine Arme reichten. Dörte ergriff das Ende, rutschte ab, versuchte es noch einmal. Ganz offenkundig versagten ihre Kräfte. Die Kälte tat ein übriges. Seit mehreren Minuten steckte sie in der eisigen Masse fest. Jetzt war nur noch ihr Kopf zu sehen. Ihr Mund öffnete sich, aber es kam kein Laut mehr heraus.

Dörte!“ Fred schrie seine Verzweiflung hinaus. „Þorr! Mach doch etwas!“

Tatsächlich wagte der Alien es, sich entlang der Stange über das Eis zu ziehen, bis er die Abbruchkante erreichte. Aber ehe er es schaffte, war auch Dörtes Kopf vom Moor verschlungen, als hätte es sie nie gegeben. Er griff in die schwarze Masse, tastete umher, so weit er reichte, fand sie aber nicht mehr.

Vergib mich.“

Unter ihm knackte es. Er trat den Rückzug an. Als er die trügerische Sicherheit der geschlossenen Eisfläche erreicht hatte, hob er die Niðstang auf, trug sie zum Bus zurück und bugsierte sie wieder hinein.

Fahren!“

Du willst sie hier zurücklassen?“, fuhr Fred ihn an.

Ich kann sie nicht helfen dieser Tag.“

Þorr packte Fred wie eine Puppe und schob ihn unsanft durch die Fahrertür. „Fahren!“, befahl er erneut.

Fred sah ein, dass er keine Wahl mehr hatte. Sein Herz wollte es nicht akzeptieren, aber sein Verstand sagte ihm, dass er jetzt nur noch Þorr und sich selbst retten konnte. Und die verdammte Niðstang.

Jetzt war Dörte zum zweitenmal vor seinen Augen gestorben, und diesmal endgültig. Das Wechselspiel von Hoffnung und Verzweiflung in schneller Folge zerriß ihn.

Wozu noch? dachte Fred. Aber dann setzte er den Wagen in Bewegung. Rückwärts. Abstand gewinnen. Im Umkreis von zwanzig, dreißig Metern um die Hubschrauber war das Eis zerbrochen, aber dahinter war es noch befahrbar, vor allem, wenn er sich dort hielt, wo es mutmaßlich tragenden Grund gab.

Notfalls musst du es allein zuende bringen, hatte Dörte gesagt. Ja, es gab noch etwas zu tun. Da war immer noch Þorr. Da war immer noch das Raumschiff, und er hatte das Ersatzteil an Bord, mit dem allein es starten konnte. Und das Schiff musste starten, um eine Katastrophe für diesen Planeten zu verhindern. Die Amerikaner waren ja nicht ohne Grund mit drei Hubschraubern gekommen; sie mussten etwas gewusst haben. Vielleicht von dieser verdammten Schlange Ewa.

Er umfuhr die zerstörte Fläche weiträumig und gab dann vorsichtig Gas. Solange er geradeaus fuhr und nicht lenkte, ließ sich die Spur halten. Schneller. Nicht das Eis an einer Stelle zu lange belasten. Vielleicht zehn Kilometer, hatte Dörte gesagt. Fünf davon musste er bereits geschafft haben. Dörte. Dörte war tot. Endgültig. Schon schau ich das Schiff, bald scheidet uns nichts mehr. Wohin bringt uns das Schiff? In jenes verheißene Land namens Ewigkeit? Gott, warum tust du mir das an? – Ich habe versprochen, eure Seelen zu retten. Ich habe nie versprochen, euren Arsch zu retten.