Das fantastische Fanzine

Der letzte Zeitsplitter Kapitel eins bis sieben – ein Fortsetzungsroman von Seejay

Der letzte Zeitsplitter

Roman

1. Jetzt

Frederik Graf hatte keine Chance. Der Angreifer war ihm hundertfach überlegen, die Schläge trafen ihn von links, von rechts und mitten ins Gesicht. Die Nase schmerzte höllisch, Blut lief an ihm herab…

Bing!

Frederik versuchte sich wegzuducken, kam aber nur ins Stolpern und ging zu Boden.

Herr, wo sind jetzt deine verdammten Engel, die mich angeblich auf Händen tragen?

Drei sind auf Urlaub, drei haben sich krank gemeldet, einer schreibt noch an seinem Bericht über den letzten Einsatz. Tut mir leid, Fred.

Saftladen. Sind das nicht ein paar mehr?

Im Moment nicht. Wir werden bestreikt.

Bing! Bing!

Der andere, eine gewaltige Masse, von der man weder einen klaren Umriß noch ein Gesicht erkennen konnte, holte zu einem Fußtritt aus und traf Frederik in den Magen. Voller Schmerzen krümmte er sich zusammen.

Bing!

Was sollte eigentlich dieses bescheuerte ‚Bing’? Zählte es die Treffer mit, die er einstecken musste? Helles Licht drang in Frederiks Augen. Er öffnete sie blinzelnd, das Licht war extrem unangenehm. Die Nase fühlte sich an, als habe er einen gewaltigen Schlag ins Gesicht bekommen, der Magen war ein schwarzer Klumpen.

Bing!

Er lag in einem Bett. Offenbar in seinem eigenen. Von einem Angreifer war keine Spur zu sehen. Hatte er eben mit dem Herrgott über dessen Engel gestritten? Er musste geträumt haben. Aber die Schmerzen waren echt. Was war passiert? Er versuchte sich aufzurichten, was sein Kopf mit einem Stechen und einem Anfall von Schwindel und der Magen mit einem Gefühl von Übelkeit quittierte.

Er wiederholte seinen Versuch etwas vorsichtiger. Die Hose hatte er nicht mehr an, aber einen Socken. Und mit einem Arm steckte er noch im Oberhemd. Ich muss hackezu gewesen sein, begriff er. Außerdem fiel ihm jetzt der Schmerz in der Nase ein. Er betastete sie. Autsch. Und eine Blutkruste. Offenbar hatte ihm tatsächlich jemand einen Schlag ins Gesicht versetzt, aber er erinnerte sich an nichts.

Bing!

Das Handy! Das waren Nachrichten, die auf seinem Handy einliefen. Wie viele schon? Der junge Mann setzte sich auf die Bettkante und wartete, bis der Nachttisch das nächste Mal vorbeikam und er sich an der Kante festhalten konnte. Dabei ging polternd das Handy zu Boden.

Durst! Keine lange Diskussion, Badezimmer, Zahnputzbecher, Wasser. Der Weg dorthin war dreimal so lang wie sonst, der Schlangenlinien wegen. Er tastete sich vom Nachttisch zum Schrank, zur Türklinke, zum Waschbecken. Sein Spiegelbild blickte ihm mit einem wunderschönen Veilchen entgegen. Dann goss er einen Becher Wasser in sich hinein, und noch einen, und zur Sicherheit einen dritten ins Gesicht.

Die Knie fühlten sich wie Pudding an, am besten ging er wieder ins Bett. Dort angekommen tauchte er nach dem heruntergefallenen Handy und riß den Digitalwecker mit sich, der sich über ihn lustig zu machen schien: hi:hi. Was aber daran lag, dass der Wecker über Kopf gelandet und es l4:l4 Uhr war.

Der Einfachheit halber blieb er gleich auf dem Fußboden neben dem Bett sitzen. Was wollten die eigentlich alle von ihm? Er bekam sein Handy zu fassen und öffnete die zuletzt eingegangenen Nachrichten.

Na, Fred, wie geht’s dir? Schon wach? Wir kommen gleich mal nach dir sehen. Alex.

Die nächste (oder vorherige) Nachricht war ein Video. Es war etwas verwackelt, aber es zeigte eindeutig ihn selbst, wie er einer schwarzhaarigen Schönheit, die einen hautengen weißen Anzug trug, den Arm anbot und sie zu geleiten versuchte, wohin auch immer. Das Ganze misslang gründlich, er ging zusammen mit der Frau zu Boden. Sie erhob sich und klopfte Staub vom Anzug, er blieb liegen. Ende des Videos. Scheiße. Und er erinnerte sich nicht einmal an die Frau. Allerdings würde sie sich vermutlich deutlich an ihn erinnern. Peinlich!

Früher war so etwas einfacher gewesen. Da füllte man sich mit ein paar Kumpels ab, produzierte im Suff irgendwelchen Schwachsinn, und am nächsten Tag war es vergessen und vergeben. Heutzutage gab es immer einen Idioten, der das filmte und dann womöglich ins Netz stellte.

Dingdong!

Er betrachtete irritiert das Handy-Display, aber das war keine weitere Nachricht, es war die Türglocke. Vermutlich Alex und Fiete. „Ich komm schon!“, brachte er hervor und zog sich an der Bettkante hoch. Dann wankte er zur Tür.

Dingdong, Dingdong!

Ja doch, zum Teufel! „Moment, ich finde den Schlüssel nicht!“

Die Tür ging auf. „Mach dir keine Sorgen um den Schlüssel, der steckt von außen.“ Alex hielt ihm den Anhänger mit dem daran baumelnden Schlüssel vor die Nase. „Weit bist du ja nicht gekommen. Wolltest du dich gerade anziehen oder ausziehen?“

Er blieb die Antwort schuldig, schaffte es beim zweiten Versuch, den Schlüssel ans Schlüsselbrett zu hängen, und entschied, dass es wohl sinnvoll wäre, sich anzuziehen. Fiete sammelte die zwischen Tür und Bett verstreuten Kleidungsstücke auf und reichte sie ihm fürsorglich.

Ich erinnere mich nicht, wie ich nach Hause gekommen bin.“

Kein Wunder, wir haben dich getragen. An der Haustür sagtest du dann, laßt mal, den Rest schaff ich schon.“

Frederik betastete seine Nase. „Sagt mal, und wer hat mir die Fresse poliert?“

Das warst du selbst. Du bist der Länge nach hingeknallt. Hat eine Weile geblutet, schien aber nichts gebrochen zu sein. Habe ich dir nicht das Video geschickt?“

Doch, hast du“, knurrte Frederik. „Es wäre nett, wenn du es löschen könntest, ehe es die Runde macht. – oder – hast du etwa schon…?“

Nein, habe ich nicht. Wir sind doch Freunde.“

Danke.“

Fiete zog sein Handy aus der Tasche und hielt es Frederik hin. „Hier, mach es selbst, damit du sicher sein kannst.“

Ich vertraue dir. Wer war eigentlich diese Frau da in dem knackigen Anzug?“

Ceena von Xumal.“

Hä?

Na schön, sie heißt Ewa, aber sie nennt sich so. Nach einer Figur aus der Serie ‚Die Sternenprinzessin’. Erinnerst du dich tatsächlich nicht an sie? Mann, musst du zu gewesen sein. Dann hast du wahrscheinlich auch ein paar andere bedeutsame Dinge nicht mitbekommen.“

Offenbar war ich nicht mehr online. Bringst du mich auf den Stand?“

Erst mal wasch dir die Blutreste aus dem Gesicht, und dann machen wir uns einen Kaffee. Du musst einigermaßen klar werden im Kopf, um es zu kapieren. Hast du saure Gurken im Kühlschrank?“

Nee.“

Na, wie schön, dass ich ein Glas mitgebracht habe.“ Alex holte ein Glas Essiggurken aus einer Einkaufstasche, stellte es auf den Tisch und drehte den Deckel ab. Frederik überging Formalitäten wie Teller, Gabel oder Tischgebet, fischte mit den Fingern eine Gurke heraus und stopfte sie sich in den Mund. Ihn streifte im Nachhinein die Erkenntnis, dass das absolut stillos war, aber da war es schon zu spät. Alex setzte unterdessen die Kaffeemaschine in Betrieb, und Fred ging sich das Gesicht waschen.

Als er zurückkehrte, rückte Fiete eben das über Freds Nachttisch hängende Kruzifix zurecht. „Dein Haussegen hängt schief.“

Vermutlich war das passiert, als er mit dem Wecker zusammen abgestürzt war. „Ihr seid echte Freunde, Jungs.“

Vertage diese Behauptung, bis du erfahren hast, was da gestern abgegangen ist.“

Doch so schlimm?“

Wie man’s nimmt.“

2. Am Abend zuvor

Buthmann´s Bierstube’ stand über der Eingangstür. Einfach so und ohne Beleuchtung. Mit einem grammatisch falschen Auslassungshäkchen vor dem ‚s’, vor dem gar nichts ausgelassen worden war. Buthmann senior hatte das wohl nicht besser gewusst, und seitdem blieb es so. Drinnen gab es einen Schankraum mit einem Tresen und einer Anzahl im Verlaufe von fünfzig Jahren abgewetzter Holztische und Holzbänke. Brandstellen auf den Tischen erinnerten an Zeiten, da in Kneipen noch geraucht werden durfte. Buthmann junior war inzwischen auch schon ergraut und stand am Tresen. „Tach, die Herrn. Wie üblich?“

Tach Peter. Wie üblich.“

Frederik war zugegebenermaßen eine Weile nicht mehr hier gewesen. Wie üblich? Ach ja, Bier und Korn. Eine Menge anderer Dinge, die vor allem mit seinem Beruf zu tun hatten, hatten ihn mehr beschäftigt als die regelmäßigen Treffen des SFFFC. Dabei hatte er als Student begeistert Science Fiction-Romane gelesen.

Alex hatte ihn überredet, endlich mal wieder aufzutauchen. Vor allem, da der Club einen interessanten Neuzugang zu verzeichnen hatte, eine gewisse Ewa. Eine Traumfrau, wie Alex versicherte.

Beruflich forschte er nun als Astrophysiker nach fernen Welten, da hatten Science Fiction- und Fantasy-Treffen für ihn an Bedeutung verloren. Mit überlichtschnellen Raumschiffen kam er in seinem Job einfach nicht mehr in Berührung. Ebensowenig wie mit Elfen und Einhörnern.

Alex, Fiete und Fred passierten also den Tresen und steuerten eine Tür an, die zu einem Hinter- oder Nebenraum führte. Jene Art Hinterraum, in dem in dunklen Krimis dunkle Geschäfte abgewickelt oder konspirative Absprachen getroffen wurden. In diesem hier tagten normalerweise CB-Funker, Kaninchenzüchter oder Briefmarkensammler. Und einmal im Monat, so wie heute, der SFFFC Dreiseehausen. Oder, im Zuge des um sich greifenden Abkürzungswahns, SF³C genannt. Ausgeschrieben lautete der Name ‚Science Fiction und Fantasy Fan Club’.

Sie betraten den Hinterraum, in dem schon einige Science Fiction- und Fantasy-Fans versammelt waren. Man durfte im geeigneten Kostüm erscheinen, musste es aber nicht. Fiete trug immerhin eine Art Uniformjacke mit einem Logo der Terrestrischen Raumaufklärungsverbände. Alex und Fred hatten auf dergleichen Dekoration verzichtet; letzterer, weil er gar keine Idee gehabt hätte, als was oder wer er sich hätte kostümieren sollen.

Hallo Leute!“

Hallo Jungs!“ Der sie begrüßte, war Spock, im echten Leben Kai, ohne Spitzohren, aber mit korrekter Begrüßungsgeste der Vulkanier, mit abgespreiztem Ringfinger und kleinem Finger (etwas, für das man verdammt lange üben musste). Spitznamen wie dieser waren verbreitet, aber ebenfalls kein Muss. Alexander war Alex und Friedrich war Fiete, ohne jeglichen Bezug zu Science Fiction oder Fantasy.

Guckt mal, wen wir euch mitgebracht haben.“

Willkommen zurück im alternativen Universum, Fred. Was machen die Aliens?“

Sie fanden drei noch freie Plätze zwischen Merlin und Onomaris. „Ich forsche nicht nach Aliens“, betonte Fred.

Ich denke, du bist Astronom.“

Astrophysiker“, korrigierte Frederik.

Wo ist da der Unterschied?“

Astronomen zählen Sterne. Astrophysiker erforschen sie. Um es volkstümlich auszudrücken.“

Und was genau erforschst du nun wieder?“

Ich – wir – mein Institut erforscht Exoplaneten. Also Planeten anderer Sonnensysteme.“ Er sah sich unauffällig nach der angekündigten Traumfrau um, erblickte aber nur die altbekannten Gesichter.

Also doch Aliens.“

Das hing ihm jetzt an, und er wurde es auch nicht mehr los. Trotzdem wagte er noch einen Versuch der Richtigstellung. „Also, ob es da Aliens gibt, kann ich euch auch nicht sagen. So gut ist kein Fernrohr. Aber wir können in günstigen Fällen die Atmosphäre der Planeten untersuchen, zum Beispiel ob es da Wasserdampf oder Sauerstoff gibt. Und dann besteht zumindest eine theoretische Chance, dass sie bewohnt sind.“

Also wie immer. Nix Genaues weiß man nicht“, resümierte Onomaris.

Buthmann erschien mit ihren Getränken. Wie üblich. Also drei Halbe und drei Korn. „Zum Wohl, ihr Spinner!“ Ehe er verschwinden konnte, bestellten einige der Anwesenden noch Nachschub für ihre leeren Gläser.

Wo war ich stehen geblieben, ehe dieser Alien-Forscher reinkam?“, fragte Merlin, der durch einen Umhang und einen Spitzhut als Zauberer zu erkennen war. Offenbar hatten sie ihn gerade in einer substantiellen Ausführung unterbrochen, und da Fred immer noch keine Aliens vorweisen konnte, war das nun doch wichtiger.

Excalibur“, half Onomaris aus. Die (in ihrer Legende) mindestens zweihundertfünfzigjährige Königin kannte sich mit Zauberschwertern aus und hatte (in ihrer Legende) auch schon damit gekämpft.

Richtig. Also, seht mal, was ich neulich auf dem Flohmarkt – ich meine, die Herrin vom See hat mir dieses Ding hier anvertraut.“ Aus einer sehr phantasielosen (und erst recht fantasylosen) Plastiktüte zog er ein Objekt hervor. „Das wollte ich euch doch mal zeigen.“

Es handelte sich um eine Art Würfel, dem Aussehen nach aus Stein bestehend, aber vom Gewicht her war es doch nur Kunststoff. In dem Stein steckte anscheinend ein Schwert, bis zum Heft hineingetrieben. Damit es keine Zweifel gab, stand auf der Unterseite auch noch ‚Excalibur’ eingeprägt, darunter wesentlich kleiner: ‚Made in China’.

Niedlich“, sagte Alex. „Und was macht man damit?“

Ist doch logisch: Du sollst das Schwert aus dem Felsen ziehen.“

Bin ich König Artus?“, knurrte Alex, versuchte es dann aber doch. Natürlich ging es nicht. Das Schwert ließ sich einen Millimeterbruchteil bewegen, widersetzte sich aber hartnäckig.

Da ist natürlich ein Trick dabei. Laß mich mal“, erbot sich Fred, hatte aber ebensowenig Erfolg.

Du auch noch, Fiete?“

Also versuchte auch Fiete sein Glück. Da er schon wusste, dass es mit bloßer Gewalt nicht ging, versuchte er es mit Drehen und Ziehen. Tatsächlich gab das Schwert nach, blockierte aber einen Augenblick später.

Darf ich euch einen Tipp geben?“, erbot sich Onomaris.

Na?“

Denkt mal an kindersichere Verschlüsse von Flaschen.“

Ah!“

Also probierte er es: Drehen, Ziehen, Drücken, wieder Drehen, Drücken, Drehen, Ziehen. Dann hatte er das Schwertchen befreit. Jetzt konnte man auch sehen, dass an der Plastikklinge zwei Noppen angesetzt waren, mit denen man offenbar durch ein kleines Labyrinth von Nuten im Innern des Würfels finden musste.

Wenn ich auf die Weise eine Medizinflasche aufmachen müsste, wäre ich gestorben, ehe ich die Medizin nehmen kann“, meinte Fred.

Mit einer Bierflasche ist es zum Glück einfacher. Prost!“ Alex hob sein Glas. „Auf die erfolgreiche Befreiung von Excalibur.“

Warum muss es eigentlich Excalibur sein?“, wollte Richie wissen und lehnte sich von der anderen Seite über den Tisch.

Ohne hinzusehen, fädelte Merlin das Schwert wieder in seinen Würfel ein. „Willst du es auch mal probieren?“

Danke. Wäre langweilig. Ich hab ja nun gesehen wie es geht. Aber die Legende von Excalibur finde ich schon bemerkenswert abgedroschen. Wisst ihr, dass es diverse Legenden gibt, in denen irgendwelche Helden irgendwelche Schwerter irgendwo rausziehen müssen?“

Sie sahen sich irritiert an. Selbst Königin Onomaris wusste es nicht. Obwohl sie sich mit Schwertern auskennen sollte. „Laßt uns an Eurem reichhaltigen Wissen teilhaben, edler Weiser.“

Wie du selber wissen solltest, großer Merlin, hast du nicht etwa das Schwert Excalibur in den Stein getrieben, sondern das Schwert Caliburn, das bedeutet ‚Hartscharte’ oder auf keltisch ‚Caledvwlch’. Nur der wahre zukünftige Herrscher sollte es dort herausziehen können. Das war König Artus, dem das als einzigem gelang. Caliburn wurde aber in einer Schlacht zerstört, und die Herrin vom See gab Artus daher als Ersatz ein anderes Schwert, und erst das hieß Excalibur. Das Gerücht, dass Excalibur aus einem Fels gezogen wurde, beruht vermutlich auf einem Übersetzungsfehler. Es könnte ‚ex saxo’ heißen, ‚aus dem Fels’ aber auch ‚ex saxone’, also ‚von einem Sachsen’. Dieses Schwert, das der Schmied Wieland aus einem Meteoriten geschmiedet hat, wurde demnach in einer Schlacht von einem Sachsen an König Artus verloren. Also nix mit Herrin vom See.“

Das eine ist doch ohnehin eine Legende wie das andere“, meinte Fred.

Eben. Und nun denkt mal an Richard Wagners ‚Walküre’ aus dem ‚Ring des Nibelungen’. Da hat Göttervater Odin das Schwert Nothung in eine Eiche getrieben, damit Sigmund es zur rechten Zeit findet und sich Hundings erwehren kann. Denn Hunding ist mit Siglinde verheiratet, mit der Sigmund aber den Helden Siegfried zeugen soll, dessen Aufgabe es ist, die Götter zu retten. Klar soweit?“

Äh, ja. Ich gebe zu, dass ich den ‚Ring’ nie gesehen habe. Wagners Germanenkult ist mir schon immer auf den Zeiger gegangen“, sagte Alex, „es reicht mir, dass Hitler ihn verehrt hat.“

Vielleicht tust du Wagner unrecht. Für Hitler kann er nichts. Jedenfalls, da Sigmund und Siglinde Geschwister waren, war das ein Fall von Inzest, den die Götter nicht ungestraft lassen konnten. Sigmund wurde getötet, das Schwert Nothung zerbrochen. Siglinde konnte ihrem Sohn Siegfried nur die Bruchstücke geben. Der erlernte aber beim Zwerg Mime die Schmiedekunst und schmiedete sich aus den Trümmern ein neues Schwert namens Balmung.“

Und dann gibt es ja noch eine dritte Version“, mischte sich nun Sofie (Erdmuthe vom hellen Stein) ein, die seit einer Weile zuhörte.

Auch noch“, stöhnte Alex.

Die dritte ist diese: Wiederum Odin hat in dieser Variante ein Schwert, dessen Name diesmal nicht überliefert ist, in einen Apfelbaum in der Halle Wölsungs getrieben.“

Ein Apfelbaum in der Halle?“

Das war völlig normal, dass die ihre Hallen um Bäume herum errichteten. Immerhin verehrten sie Bäume fast wie Götter. Also, dieses Schwert findet Sigmund, er kann es herausziehen und benutzt es im Kampf gegen die Söhne Hundings, dabei wird es aber zerbrochen. Die Trümmer übergibt Sigmunds Frau Hjördis an Sigurd, der sich daraus das Schwert ‚Gram’ schmiedet.“

Woher wisst ihr das eigentlich alles?“, wunderte sich Fred.

Na ja, Fantasy bedeutet eben nicht nur, sich Elfenohren anzukleben und mit Gummischwertern nachts im Stadtpark Orks zu jagen. Wir bemühen uns schon auch um die historischen Hintergründe.“ Sophie hatte übrigens keine Elfenohren angeklebt, trug aber immerhin ein mittelalterlich anmutendes wollenes Gewand mit Umhang und langem Rock.

Historisch? Ich würde sagen, diese Legendendichter haben alle voneinander abgekupfert“, vermutete Fred.

Oder aber“, meinte Erdmuthe, „hinter alledem steckt eine einzige Begebenheit, die tatsächlich passiert ist, und die sich in den verschiedenen Kulturkreisen beim Weitererzählen unterschiedlich verändert hat. Wusstet ihr, dass ‚saxid’ isländisch für ‚schneiden’ oder ‚Schneidwerkzeug’ ist? Vielleicht kommt der Begriff ja daher und nicht von Felsen oder Sachsen.“

Meinst du denn, es gibt wirklich ein historisches Ereignis, bei dem irgendwer ein Schwert aus einem was auch immer gezogen hat?“

Ja. Und dieses Schwert ist offenbar zerstört und neu geschmiedet worden. Das ist ein wesentlicher Kern der Geschichte.“

Du meinst also, dieses Zauberschwert hat es tatsächlich gegeben. Bedenke: ein Zauberschwert. Das ist doch schon in sich Fantasy.“

Es gibt einige Hinweise“, meinte Sofie. „Wieland soll tatsächlich ein Schwert aus einem Meteoriten geschmiedet haben. Nun gibt es ja tatsächlich Eisenmeteoriten. Und was vom Himmel fällt, das muss nach Ansicht unserer Altvorderen sicherlich etwas Wundertätiges sein. Aber Wieland sorgte lieber selbst für die Schärfe des Schwertes und muss dabei einige metallurgische Kenntnisse gehabt haben. Es heißt, dass er es dreimal schmiedete, dann wieder zerfeilte und die Späne unter das Futter von Gänsen mischte. Aus dem Gänsekot erschmolz er wieder das Eisen und schmiedete es neu. Auch hier wird also wieder ein Schwert zerstört und neu geschmiedet.“

Und was sollte das? Mit den Gänsen, meine ich.“

Nun, das Eisen wurde durch den im Gänsekot enthaltenen Stickstoff nitriert und so von Mal zu Mal härter. Die letzte Klinge war so scharf, dass sie ein drei Fuß dickes Wollbüschel zerschnitt, das von der Strömung eines Flusses dagegen getrieben wurde. Übrigens hat er König Nidung, für den er das Schwert anfertigen sollte, betrogen. Er lieferte ihm ein anderes, nicht so scharfes. Allerdings heißt das Schwert in dieser Überlieferung Mimir, benannt nach Wielands Lehrer. Erkennt ihr die Parallele? Hieß der Zwerg, bei dem Siegfried die Schmiedekunst erlernte, nicht Mime?“

Wow. Ich bin fast geneigt, dir zu glauben. Aber wo ist dieses Schwert jetzt?“

Keine Ahnung. Im Dozmary Pool vor Avalon versenkt. Oder es ist als historisches Fundstück in einer Vitrine in einem Museum ausgestellt, ohne dass jemand ahnt, worum es sich handelt. In irgendeiner Abtei in der Toskana zeigt man den Touristen ein Schwert, das in einem Felsen steckt. Aber das ist vermutlich ebenso ein Werbegag wie der Tintenfleck auf der Wartburg, der entstanden sein soll, als Luther ein Tintenfass nach dem Teufel warf.“

Habt ihr euch mal folgendes überlegt?“, wandte nun Richie ein. „Wenn dieses Schwert von einem vom Himmel gefallenen Stein stammte, könnte es dann nicht auch außerirdischen Ursprungs sein?“

Ja, schon. Meteoriten sind normalerweise außerirdischen Ursprungs.“

Ich meine nicht den Meteoriten. ‚Vom Himmel gefallen’ könnte auch eine Metapher dafür sein, dass außerirdische Besucher es hier gelassen haben. Ich meine, Erich von Däniken hat ja schon immer behauptet, die Erde habe Besuch von Aliens gehabt.“

Jetzt hebst du wieder ab.“

Ich meine ja nur. Wenn wir denn schon mal spekulieren…“

Klar, und da Außerirdische nicht ausgerechnet ein Schwert verlieren werden, könnte es ja auch etwas anderes sein.“

Dass Buthmann unterdessen immer wieder leere Gläser abräumte und neue Getränke hereinbrachte, fiel ihnen gar nicht mehr auf. Und auch nicht, dass sie die Gläser austranken. Aber die Lautstärke der Unterhaltung nahm zu und die Deutlichkeit der Aussprache nahm ab.

Dies war die Stelle, an der Frederik allmählich die Auswirkung von Bier und Korn in seinem Schädel bemerkte. Nicht schlimm, vorerst nur eine recht angenehme Leichtigkeit. „Es gibt ja noch mehr Legenden mit so magischen Sachen“, sagte er. „Der heilige Gral. Das Grabtuch von Christus.“

Die Gitarre von Elvis Presley“, ergänzte Alex.

Spinner! Sollte man nicht mal eine Tour durch die Museen machen und danach Ausschsch…“

Ausschau halten?“, vermutete Fiete.

Genau. Mann, da könnte man au-ßer-ir-di-sche Ar-te-fak-te entdecken, wär’ das nicht geil?“ Die schwierigen Wörter sprach er mittlerweile hochkonzentriert aus, um sich nicht die Zunge zu verheddern, wobei er im Sprechtakt mit dem Zeigefinger auf den Tisch pochte. „Tschuldigung, ich muss mal.“

Er erhob sich und fiel wieder auf den Stuhl zurück. Beim Aufstehen zogen die Promille ihn doch schon deutlicher nach unten als geahnt. Er versuchte es ein zweites Mal etwas erfolgreicher und wankte zur Toilette.

Den hat’s erwischt“, bemerkte Sophie.

Jo. Hackezu. Oder, da er Astronom ist, sternhagelvoll.“

Und von einer stellaren Idee besessen. Außerirdische Artefakte in Museen, was haltet ihr davon?“

Wenn überhaupt, dann in Area 51. Oder im Archiv des Vatikans. Da landen solche Sachen doch immer.“

Zu viel Akte X geguckt?“

Ach was! Wenn man sie überhaupt als solche erkennt.“

*

Bei diesem Stand der Entwicklung betrat Ceena von Xumal den Raum. Mit langen schwarzen Haaren, einem dunklen Teint, kirschrotem Lippenstift, und in der weißen Uniform der Romanfigur, die sie darstellte. Einschließlich der Attrappe eines Tricorders (oder dergleichen) am Handgelenk, mit eindrucksvoll blinkenden Leuchtdioden. „Hallo Ewa“, begrüßte sie Fiete.

Sie musterte ihn streng. „Ist dir die korrekte Anrede entfallen, Schlammkriecher?“

Fiete unterdrückte ein Grinsen. „Ich bitte um Vergebung.“ Er verbeugte sich tief. „Ich grüße Euch, Hochedle!“

Schon besser. Du darfst dich erheben.“

Die Romanfigur Ceena von Xumal war eine schöne Außerirdische, die allerdings nicht wirklich adlig war, wie das ‚von’ in ihrem Namen vermuten ließ, sondern sie war vom Clan derer von Xumal adoptiert. Diesen Makel pflegte sie durch besondere Arroganz zu überspielen. Die Romanserie ‚Die Sternenprinzessin’ lebte davon, dass Ceena, die mit ihrem Raumschiff auf der Erde abgestürzt war, immer wieder nach Möglichkeiten suchte, die Erde zu verlassen, und sich diese Chancen immer wieder verdarb, oftmals gerade durch ihren Dünkel. Ewa gab sich zweifellos redlich Mühe, diesem Vorbild nachzueifern. Sie imitierte sogar einen außerirdischen Akzent. Allerdings wusste niemand, wie ein außerirdischer Akzent klang, und vielleicht deshalb klang es eher wie ein russischer. Da alle wussten, dass sie eine Rolle spielte, spielten sie mit.

Ich verlange Bericht, womit ihr hier eure Zeit vergeudet!“

Sehr wohl, Hochedle. Wir sprachen über die Legenden von Zauberschwertern wie Excalibur und kamen zu der Vermutung, dass es einen realen Gegenstand geben könnte, auf dem diese Legenden beruhen. Vielleicht eine Waffe, die tatsächlich von Aliens…“

Ich verbitte mir diese Wortwahl!“

…von überlegenen außerirdischen Besuchern auf der Erde verloren wurde.“

Interessante Theorie. Ich werde sie dem Wissenschaftsrat unterbreiten.“

Und dann meinte Fred, vielleicht findet man echte außerirdische Artefakte in Museen, wo sie unerkannt ihr Dasein fristen.“

Wer ist Fred? Warum wurde ich nicht mit ihm bekannt gemacht?“

Er ist gerade auf der Toilette, Hochedle. Sollte sein Zustand es erlauben, werden wir ihn Euch natürlich vorstellen.“

Ich bitte darum.“

Ein Poltern verriet, dass Fred sich auf dem Rückweg vom Klo befand. Irgendwie blieb er mit einem Fuß hängen und drohte der Länge nach zu Boden zu klatschen, wenn ihn Fiete nicht gerade noch aufgefangen hätte. Trotzdem war seine Landung wenig ruhmreich.

Vorstellen hätte genügt“, sagte Ceena/Ewa hoheitsvoll. „Vorlegen wurde nicht erwartet.“

Man hievte Fred auf seinen Stuhl. Mit großen Augen starrte er die Außerirdische an. Das also war die versprochene Schönheit. „Mann…!“, war allerdings alles, was er hervorbrachte.

Heißt du so?“

Nee, ich meine… und du?“

Alex fiel ihm ins Wort. „Sie heißt Ceena von Xumal und die korrekte Anrede ist ‚Ihr’ und ‚Hochedle’.“ Etwas leiser fügte er hinzu: „Das ist Ewa. Aber sei so nett und spiel mit.“

Hallo, Hochwohlbegorene … geborene.“

Ceena/Ewa begriff, dass sie von dem angeheiterten Fred nicht mehr sehr viel Etikette erwarten konnte, und griff daher gleich das eigentlich spannende Thema auf: „Ich hörte, du hast die Theorie entwickelt, man könne in irdischen Museen außerirdische Artefakte finden. Wo wolltest du mit der Suche beginnen?“

Ich hab nicht gesagt, dass ich das … also, wäre ja ne irre Idee. Hey, Leute, wer ist dabei?“, grölte Fred.

Wobei?“ Die Frage kam von weiter weg, aber er hatte seine Stimme so erhoben, dass es niemand mehr ignorieren konnte.

Da diese Legenden alle irgendwie auf die germanischen Götter zurückgehen…“, begann Alex, dann besann er sich, dass Ceena/Ewa noch gar nicht wissen konnte, um welche Legenden es sich handelte. „Verzeiht, Hochedle, wir waren vom Schwert Excalibur ausgegangen und zu der Erkenntnis gelangt, dass letztlich in allen Legenden um magische Schwerter die germanischen Götter dahinterstecken. Wotan und so weiter.“

Interessant. Dann wäre wohl irgendwo in Skandinavien die richtige Adresse.“

Sagte Sofie nicht vorhin, dass ‚saxid’ isländisch ist für Schneidwerkzeuge?“

Zudem war es ein isländischer Dichter, Snorri oder so, dem wir die Edda und damit die meisten Erkenntnisse über die nordischen Götter verdanken!“, ergänzte Onomaris.

Hey! Island! Ja, das ist der Schlüssel!“, verkündete Fred und schlug mit der Hand auf den Tisch. Sein Bier kippte um. „Tschulligung.“

Alex rückte etwas vom Tisch ab, damit das Bier sich nicht über seine Hose ergoß, und versuchte den See auf der Tischplatte mit Papiertaschentüchern einzudämmen. „Ach ja. Ist ja auch gleich um die Ecke. Meinst du nicht, Fred, dass du da jetzt zu hoch greifst?“

Hoch in den Norden, jawohl! Ich fahr nach Dingsda und such das Dingsda.“

Fiete grinste Ceena/Ewa an: „Hochedle können ihm nicht vielleicht Euer Raumschiff zur Verfügung stellen?“

Wie du weißt, ist es abgestürzt und nicht flugfähig. Es gibt aber sicherlich auch irdische Möglichkeiten, dorthin zu gelangen.“

Fred guckte etwas dümmlich und hatte das vermutlich falsch verstanden. „Kommst du – Ihr – Sie – mit?“

Ceena/Ewa warf einen Blick zur Decke oder zu ihren Sternengöttern. „Ich denk drüber nach. Und jetzt solltest du besser nach Hause gehen und deinen Rausch ausschlafen.“

Mein schönes Fräulein, darf ich’s wagen, Arm und Geleit Ihr anzutragen?“ Er brachte es fehlerfrei (wenn auch etwas genuschelt) hervor, vermutlich hatte er es für Gelegenheiten wie diese auswendig gelernt.

Ceena/Ewa kannte das Zitat offenbar, jedenfalls antwortete sie angemessen: „Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleitet nach Hause gehen.“ Dennoch erhob sich Fred und bot ihr den Arm an, obwohl doch eigentlich er gehen wollte und nicht sie. Diese Feinheiten hatte er aber nicht mehr im Griff. Es folgte nur noch die Szene, die aus dem von Fiete aufgenommenen Video bereits bekannt ist. Diesmal fing niemand den Sturz ab, und die Folge war die ebenfalls bereits bekannte blutige Nase.

Alex und Fiete zahlten für Fred mit, nahmen ihn in die Mitte und schleppten ihn nach Hause. Und Ceena/Ewa kam nun endlich dazu, sich ein Getränk zu bestellen.

3. Am Tag danach

Dingdong!

Wer kommt denn jetzt noch?“, stöhnte Fred, vom Kaffee inzwischen etwas munterer, aber immer noch mit Kopfschmerzen.

Keine Ahnung. Wir haben niemanden bestellt.“ Fiete breitete als Zeichen des Unwissens hilflos die Arme aus.

Gehst du, Alex?“

Von mir aus.“ Alex erhob sich vom Küchenstuhl. Auf dem Tisch standen leere Kaffeebecher, eine ebenso leere Kaffeekanne und ein erst halbleeres Glas Essiggurken.

Oh Mann, das sieht hier aus wie Hulle.“

Staub wischen schaffst du nicht mehr“, tröstete Fiete seinen Freund.

Von der Wohnungstür her war jetzt eine weibliche Stimme zu vernehmen. „Na, wie hat euer Alien-Forscher den Abend überstanden?“

Du?“, wunderte sich Alex. Oder seine Stimme. Er schien zu lachen. „Wie hast du uns gefunden? Wir dachten, wir hätten alle Spuren verwischt.“

Nicht gut genug. Merlin kannte deine Adresse und deine Freundin oder wer auch immer diese Brünette war, kannte die von Fred. Kann ich reinkommen?“

Hier herrscht Chaos.“

Danach habe ich nicht gefragt, Schlammkriecher“, sagte sie streng.

Verzeihung, Hochedle.“

Schon gut. Ich bin privat hier.“

An dieser Stelle begriff sogar Fred, woher er die Stimme kannte und wer das war. In seiner Erinnerung hatte sie zwar irgendwie keine nennenswerten Spuren hinterlassen (oder er hatte diese mittels Ethylalkohol aufgelöst), aber auf diesem Video vorhin war sie zu hören gewesen. Das war diese – diese Ewa. Ach du meine Fresse. Die hier, nach dem peinlichen Auftritt gestern.

Hallo Fred, hallo Fiete.“

Hi“, machte Fred etwas gedämpft. Sollte er erwartet haben, sie heute wieder in der atemberaubenden Uniform zu sehen, so wurde er enttäuscht. Ewa trug völlig unspektakulär Jeans und Rollkragenpullover.

Ihr Blick streifte die Kaffeekanne. „Ist da noch ’ne Tasse für mich drin?“

Im Moment nicht, aber ich setz gern noch mal einen auf.“ Fred schwankte etwas orientierungslos zwischen Kanne, Kaffeepulver und Filtertüten, so dass Alex ihm hilfreich zur Hand gehen musste.

Tut mir echt leid wegen gestern“, bekannte Fred zerknirscht. „Ich war nicht mehr Herr der Lage.“

Das habe ich gemerkt. Immerhin gehörst du nicht zu den Typen, die in betrunkenem Zustand ausfallend oder aggressiv werden. Statt dessen hast du originelle Ideen. Dein Vorschlag war so interessant, dass ich mich entschieden habe, es dir nicht übel zu nehmen. Also, was ist mit unserer Expedition?“

Was denn für eine Expedition?“

Zu den außerirdischen Artefakten in Museen.“

Äh – aber das war doch im Suff geredet.“

Aber nein. Das war ein absolut genialer Gedanke. Und leicht umzusetzen. Eine kleine Urlaubsreise nach Island, ein paar Ausstellungen besuchen – da wäre ich gern dabei.“

Du würdest mitkommen wollen?“

Das waren meine Worte.“

Die Aussicht, mit der rassigen schwarzhaarigen Schönheit auf Urlaubsreise zu gehen, war außerordentlich verlockend. Aber es musste ein Haken dabei sein. „Und wer bezahlt das?“

Na ja, deine nächste Urlaubsreise würdest du doch ohnehin bezahlen. Wir finden vielleicht ein Last-Minute-Angebot.“

Ich hatte noch gar nichts geplant.“

Na also. Dann fangen wir doch mal damit an.“

Sag mal, liegt dir sehr daran, mit mir auf Reisen zu gehen? Wir kennen uns kaum.“

Ewa lächelte wie Eva. Jene Eva, die Adam die berühmte verbotene Frucht angedreht hatte. „Das Kennenlernen können wir unterwegs ja nachholen.“

Mann, Fred. Du hast das große Los gezogen. Ein Urlaub mit Ewa.“

Und ihr? Kommt ihr auch mit?“ Er war nicht sicher, ob er sich das wünschte, oder ob er sich das nicht wünschte. Diese Frau war für seinen Geschmack zu draufgängerisch. Ihr allein ausgeliefert zu sein, war ein Gedanke, der ihn ängstigte. Und andererseits eine süße Versuchung wie die verbotene Frucht im Paradies. Würde der Erzengel ihn am Ende auch vor die Tür setzen?

Du, ich hab meinen Urlaub schon gehabt dieses Jahr“, winkte Fiete ab. „Sehr schade.“

Und du, Alex?“

Der Kaffee ist fertig“, erklärte Alex und stellte die Kanne auf den Tisch. „Ewa braucht noch ’ne Tasse.“

Fred holte eine aus dem Schrank und stellte sie zu den übrigen auf den blanken Tisch. „Hast du keine Untersetzer? Ich habe Hemmungen, die heiße Tasse einfach auf den Kunststoff zu stellen“, meinte Ewa.

Okay, du kannst ja einen Prospekt drunter legen.“ Was die Dame zu einem Stirnrunzeln veranlaßte. Ihre Vorstellungen von ‚Schöner wohnen’ wichen augenscheinlich von denen Freds ab.

*

Bezüglich der Frage, inwieweit er sich an der Unternehmung beteiligen würde, hielt sich Alex auch bei den folgenden Treffen etwas zurück. Vielleicht, weil er den Eindruck hatte, es könne für das Vorhaben nicht förderlich sein, wenn zwei sich damit aufrieben, um die Aufmerksamkeit Ewas zu konkurrieren. Außerdem hatte er ja eine feste Freundin.

Die Sitzungen fanden, nachdem sie nun einmal damit begonnen hatten, weiterhin bei Fred statt. Sie suchten im Internet nach möglichen Flugverbindungen, und das Ganze möglichst kompatibel mit Freds Urlaubsterminen. Auf die Frage, was denn mit ihren Terminen sei, erklärte Ewa lachend, damit habe sie keine Probleme, in ihrem Job als Designerin könne sie mit ihrem Laptop von überall aus arbeiten.

Beim zweiten Treffen brachte Ewa ein Set von Untersetzern für Freds Kaffeetassen mit. „Ich kann es nicht mit ansehen“, erklärte sie.

Das ist – äh – sehr nett von dir“, brachte Fred hervor.

Wenn sie anfängt, Pullover für dich zu stricken, solltest du dir Gedanken machen“, frozzelte Alex.

Ich kann nicht stricken“, beruhigte ihn Ewa.

Alex spielte mit einem der Untersetzer herum. Er hatte die Form eines Scherengitters, so dass man ihn platzsparend zusammenklappen konnte. „Tolles Design. Hab ich noch nie gesehen.“

Ist aus meiner Kollektion“, behauptete sie.

Nein, Pullover strickte sie nicht. Allerdings verlangte sie nach einem Staubsauger, um den Wollmäusen zu Leibe zu rücken. Was einen heilsamen pädagogischen Effekt auf Fred ausübte; es war ihm peinlich, und von diesem Tag an sorgte er dafür, dass seine Bude keinen Grund mehr zu Beanstandungen bot, wenn Ewa ihn besuchte.

Sie formt dich um“, warnte ihn Alex, „bis du ihrem Bild entsprichst. Das machen Frauen immer so. Ein Mann hofft immer, dass eine Frau so bleibt, wie er sie kennengelernt hat. Eine Frau hingegen hofft, dass sie ihn so verändert kriegt, wie sie ihn von Anfang an haben wollte. Allerdings fangen sie normalerweise erst nach den Flitterwochen damit an.“

Woran ihr seht, dass ich keine ernsten Absichten habe“, bemerkte Ewa mit unbewegtem Pokerface.

4. Eine Weile früher

Das Lokal, das die dunkle Gestalt betrat, wirkte wesentlich weniger bieder als beispielsweise ‚Buthmann(´)s Bierstube’. Dem Neon-Schriftzug nach hieß es ‚Bei Mackie’, womit wahrscheinlich Mackie Messer gemeint war, jedenfalls gehörte zum Logo die Darstellung eines Messers, mit wenigen Strichen aus Leuchtstoffröhren skizziert und ungefähr so aussehend, wie man sich den Dolch von Damon vorstellte, mit dem er (Schiller zufolge) zu Dionys, dem Tyrannen, geschlichen war. Die Schrift flackerte, wobei die Regelmäßigkeit des Blinkens vermuten ließ, dass es sich nicht um einen Wackelkontakt handelte, sondern um eine gezielte Maßnahme, um die Aufmerksamkeit eines potentiellen Betrachters zu gewinnen.

Die erwähnte Gestalt passierte einen Türsteher, raunte ihm eine Parole zu und durfte eintreten. Sie betrat eine nicht ganz so dunkle Bar, mit vorwiegend roter Beleuchtung, die allerdings nicht flackerte. Am Tresen kicherten ein paar ebenso leichte wie leicht bekleidete Mädchen mit zwei Herren herum, die etwas mehr an hatten. Alle wandten ihre Köpfe und musterten den Neuankömmling misstrauisch. Polizei? Mafia? (Beides wäre gleich ärgerlich gewesen). Jene argwöhnisch beäugte Gestalt beugte sich über den Tresen zum Barkeeper und murmelte etwas, das wie ‚Gurkensalat’ klang, aber auch ‚Kalaschnikow’ heißen konnte. Woraufhin sich die gerunzelte Stirn des Mannes glättete und er den Weg zu einem Perlenvorhang freigab, hinter dem der Gast verschwand.

Hinter dem Vorhang folgte ein Korridor, der geradezu phantasielos von ein paar grünen Leuchten mit einem Pfeil und der Aufschrift ‚Notausgang’ illuminiert wurde. Allerdings führte der Weg nicht nach draußen, die Gestalt bog zu einer Seitentür ab, tastete einen Code in ein Zahlenschloss und trat ein.

Drinnen gab es einen Schreibtisch mit zwei Stühlen und einer Schreibtischlampe. Die Lampe beleuchtete den freien Stuhl, diesseits des Tisches. Das Sitzmöbel jenseits des Schreibtisches war besetzt, aber die Lampe machte es unmöglich, mehr als einen dunklen Umriß zu erkennen.

Guten Tag, Frau Meier“, sagte der Schatten.

Guten Abend, Herr Müller“, erwiderte die Besucherin.

Legen Sie doch ab.“

Die Besucherin ließ ihren Mantel auf die Stuhllehne gleiten. Darunter kam eine hautenge, weiße Phantasieuniform zum Vorschein, von der zuvor nur die weißen Stiefel zu sehen gewesen waren. Müller reagierte mit keiner Silbe darauf, es war ihm schlicht egal. Vielleicht stand er nicht auf Frauen. Das wiederum war ihr allerdings egal.

Müssen wir uns in dieser Spelunke treffen? Ich finde es abstoßend.“

Irrelevant. Sie tut ihren Zweck. Was haben Sie zu berichten?“

Ich habe mich weisungsgemäß in die Gruppe eingeführt und observiere seit mehreren Monaten…“

Das weiß ich. Erkenntnisse?“

Mostly harmless“, sagte die Frau.

Wie, bitte?“

Ich zitiere aus einem in der Gruppe sehr gut bekannten literarischen Werk. Weitgehend harmlos.“

Könnten Sie das präzisieren? Bisher stehlen Sie mir meine Zeit.“ Dass Müller mit einer ausgesprochenen Humorlosigkeit gesegnet war, hatte sie schon begriffen.

Es handelt sich um einen Club harmloser Spinner, die sich für Einhörner, Elfen und überlichtschnelle Raumschiffe begeistern.“

Also nichts für uns. Dann können Sie den Kontakt abbrechen.“

Das wäre voreilig. Es gibt da eine aktuelle Entwicklung, die vielleicht interessant ist.“

Sie rauben mir den Nerv, Meier. Nun rücken Sie schon raus damit!“

Ein gewisser Fred, den ich zum erstenmal dort getroffen habe, begeisterte einige Mitglieder mit der Idee, außerirdische Besucher könnten auf der Erde, nun ja, Objekte hinterlassen haben, verloren, vergessen, wie auch immer. Und dass diese vielleicht unerkannt in irgendwelchen Museen herumstehen.“

Und was soll daran interessant sein?“

Nun, wenn es sich um Alien-Technik handelt?“

Dafür geben wir kein Geld aus.“

Es könnten womöglich sogar Waffen sein.“

Hm.“

Und viel Geld müsste man dafür vielleicht gar nicht ausgeben. Ein paar von den Freaks, zumindest dieser Fred, haben die Schnapsidee entwickelt, sich auf die Suche zu machen. Da er Astrophysiker ist, vermute ich mal, dass er einige Expertise mitbringt.“

Astrophysiker, so. Hat er gesagt, wo er arbeitet?“

Am MPI, wenn ich das richtig verstanden habe.“

Hier am MPI? Wo auch diese Präzisionsbolometer entwickelt werden? Das ist allerdings interessant, da fehlt uns noch ein geeigneter Kontakt. Vielleicht können Sie mehr darüber herausfinden, bleiben Sie dran. Meinen Sie, man könnte ihn für uns gewinnen?“

Eine Frau findet alles heraus, was sie will. Ich werde ihn schon einwickeln.“

Müller klang nicht so, als ob er sich das vorstellen konnte. „Also, hängen Sie sich dran und sehen Sie, ob es sich lohnt. Berichten Sie regelmäßig. Aber benutzen Sie auf keinen Fall den Krypto-Algorithmus Ihres Handys, den hat die NSA längst geknackt.“

Was dann?“

Handarbeit.“

Sie stöhnte. „Muss das sein?“

Die sicherste Methode. Schlüssel ist das Buch, vorn beginnend, Überschriften auslassen.“

Na schön, wenn’s sein muss.“ Die Frau zog ihren Mantel wieder an. „Mein Honorar?“

Der Schatten schob einen Umschlag über den Tisch. Die Besucherin öffnete ihn und überflog den Inhalt. „Mehr nicht? Trotz des aussichtsreichen Tipps?“

Seien wir realistisch. Erstens ist es bislang nur eine Schnapsidee, wie Sie selbst sagen, und zweitens – wenn wir unsere Außendienstler danach bezahlen würden, wie spektakulär ihre Ergebnisse sind, dann könnten wir uns vor frei erfundenen Sensationen nicht mehr retten.“

Was ist mit Spesen?“

Sammeln Sie die Belege und reichen Sie sie ein wie üblich.“

Sie sind lustig. Das wird eine Auslandsreise. Da brauche ich einen Vorschuss.“

Mehr solche Agenten, und wir gehen pleite.“

Mir kommen die Tränen. War das etwa ein Anflug von Humor?“

Nein.“

Schade.“

Wir drucken unser Geld nicht selber.“

Warum eigentlich nicht?“

Des Jammerns ungeachtet, hielt er offenbar einen Vorrat an geeigneten Umschlägen in seinem Schreibtisch bereit; er reichte ihr einen weiteren. „Tausend. Das muss reichen.“

Gewissermaßen tausend Dank.“ Die Dame verneigte sich demonstrativ spöttisch, zog die Kapuze über ihre langen Haare und schloss den Mantel. Die weiße Uniform verschwand, und sie wurde wieder zu der dunklen Gestalt, als die sie die Spelunke betreten hatte und auch wieder verlassen würde.

5. Zweitausendfünfhundert Jahre zuvor – ungefähr

Xiatli war tot. Þorr saß neben ihrem Lager und drückte ihr sanft die Augen zu. Die Sonne versank in einem Farbenrausch hinter den Bergen, und Xiatli würde sie nie wieder aufgehen sehen. Er blickte auf, als er jemanden hinter sich bemerkte. Widen legte ihm schweigend eine Hand auf die Schulter. Tut mir leid, drückte die Geste aus, aber der Kommandant verzichtete auf Worte, wofür Þorr ihm unendlich dankbar war.

Das Abendrot wurde violett und ging allmählich in die Nacht über. „Ja“, sagte Þorr, mehr zu sich selbst, strich der Toten über die langen schwarzen Haare und erhob sich.

Was tust du?“, fragte Rana, als sie sah, dass er nach seiner Waffe griff.

Ich möchte auf diesem Planeten nichts zurücklassen.“ Damit richtete er die Waffe auf die Tote und zerstrahlte sie restlos. Dann wandte er sich zu Widen um. „Diesen verdammten Götzen zerstöre ich auch noch. Und dann können wir meinetwegen starten.“ Seine Stimme klang gefasst, die Trauer hielt er verborgen.

Die RANNSAKANDI 272 war vor fünf Monaten auf diesem Planeten gelandet, offiziell zu Kartografierungszwecken. Auftrag: Die Sternkataloge aktualisieren und um die Daten der Planeten erweitern. Die Eignung für eine eventuelle Besiedlung prüfen. Da sie keine Funksignale empfangen hatten, waren sie von einem unbewohnten Planeten ausgegangen und hatten erst vor Ort erkannt, dass es hier auf mehreren Kontinenten intelligente Eingeborene gab. Intelligent im weitesten Sinne. Die Spezies an der derzeitigen Spitze der Evolution war zwar weit davon entfernt, die Raumfahrt entdeckt zu haben, aber zumindest gab es einige Hochkulturen, die astronomische Studien betrieben, und eine davon hatte sogar schon das Prinzip des Raketenantriebs entdeckt. Zum Einsatz in Waffen, wie konnte es auch anders sein. Einige Kulturen standen in ihrer Blüte, andere schon im Niedergang. Hier hatte man schon die Gesetze der Mathematik und Logik entdeckt, dort erforschte man mit hoher Präzision die Planetenbewegungen, andernorts brachte man irgendwelchen Gottheiten Menschenopfer. Oder man errechnete präzise aus den Gestirnskonstellationen, wann der geeignete Zeitpunkt für Menschenopfer war. Kriege führten sie alle, mit Schwert und Schild, mit Katapulten, mit Raketen, mit gewaltigen Heeren. Barbaren, aus Þorrs Sicht. Obwohl er zugeben musste, dass sein Volk eine ähnliche Vergangenheit aufzuweisen hatte, mit Raubzügen über Nachbarplaneten hergefallen war und Bewohner als Sklaven oder Studienobjekte mitgenommen hatte. Aber das war lange her.

Ein wenig vom Blut seiner Ahnen floss allerdings noch in ihm. Er hatte keine Skrupel dabei, einen der vergoldeten Götzen zu zerstrahlen. Mit dem Desintegratorgeschütz des Raumschiffs war das kein Problem, und die Primitiven konnten nur mit offenen Mündern und großen Augen zusehen, wie ihre angebetete gefiederte Schnecke oder was auch immer sich in Staub auflöste. Der Kommandant sagte dazu nichts, er war weniger Þorrs Vorgesetzter als sein Freund aus Kindertagen, und Þorr musste seine Wut und Verbitterung abreagieren.

Xiatli war eine schwarzhaarige, dunkelhäutige Schönheit gewesen, und dazu ausersehen, als Dank für die vorausgegangene Ernte (oder als Vorschusszahlung für die nächste) einer dieser Gottheiten geopfert zu werden. Vermutlich war sie sogar Jungfrau gewesen, die galten ja als besonders kostbar, gerade gut genug für Götter. Die Methode bestand darin, das Opfer bei lebendigem Leibe in einer Kammer einzumauern, wo es dann verdursten würde. Oder, wenn es Glück hatte, vorher ersticken.

Þorr war nicht bereit gewesen, den Tod dieses schönen Mädchens hinzunehmen. Xiatli gefiel ihm, und er würde mit ihr bestimmt viel mehr anfangen können als dieser Blechgötze, dem die Opfer herzlich egal waren, eben weil er gar kein Herz besaß. Þorr hingegen hatte eins, und das war entflammt. Was hatte näher gelegen, als nachts die verschlossene Kammer aufzusuchen, sie mit dem Desintegrator aufzuschneiden und das Mädchen zu befreien. Nicht als Sklavin, aber als Gefährtin hätte sie ihn zu den Sternen begleiten können.

Xiatli hatte das nicht verstanden. Sie war für die Rolle des Opfers erzogen worden; sie war überzeugt, ihrem Volk einen großen Dienst zu erweisen, indem sie starb. Und sie hatte die Qualen des Verdurstens noch nicht gespürt und wusste gar nicht, was ihr erspart geblieben war. Im nächsten Moment wäre sicherlich die Gottheit gekommen und hätte sie auf den Schwingen der geflügelten Schlange in den Himmel getragen. Oder so ähnlich.

Þorr hatte sich alle Mühe gegeben, sie vom Gegenteil zu überzeugen, sie hatte höflich zugehört, aber gegen die massive Indoktrinierung, der das Mädchen ausgesetzt gewesen war, waren alle seine Worte machtlos. So war Xiatli doch gestorben. Ohne erkennbare Ursache. Aus Gram. Oder durch einen posthypnotischen Befehl ihrer Priester. Bei einem Kult wie diesem konnte man das nicht auseinanderhalten.

Kraftwerk hochfahren. Triebwerke vorwärmen!“ Widen kommandierte das Startmanöver von seinem Platz auf der Kommandobrücke aus. Das Schiff lag in einem unzugänglichen Tal, die Exkursionen hatten sie mit dem Beiboot unternommen, das nun wieder eingeschleust war. Als letztes waren die Beobachtungsdrohnen an Bord zurückgekehrt.

Triebwerke bereit.“

Feldtriebwerke Stufe eins.“

Der Reaktor gab seine Energie frei; sie strömte durch den Modulator, der sie konfigurierte, in die Triebwerke. Ein tiefes Grollen erfüllte die Zentrale, steigerte sich über den hörbaren Bereich bis fast zum Ultraschall, der einen unangenehmen Druck auf die Hörorgane ausübte. Aber das waren sie gewohnt, so klangen die Triebwerke in der Anlaufphase nun einmal.

Das Getier aus der Umgebung flüchtete vor dem Geräusch. Immerhin war es die schonendste Art zu starten; eine Aktivierung des Atomstrahls hätte den Regenwald im Umkreis von hundert Metern verbrannt und im Umkreis von mehreren Kilometern radioaktiv verseucht. So verabschiedete man sich nicht von einer Welt, auf der man zu Gast gewesen war.

Die RANNSAKANDI 272 hob ab und stieg senkrecht in den wolkenlosen Himmel auf. Einige Schlingpflanzen, die sich in der Zeit ihres Aufenthaltes um die Landestützen gerankt hatten, rissen ab. Das Schiff durchstieß die Atmosphäre. Das Azurblau des Himmels verblasste und wich der Schwärze des Weltraums.

Atomtriebwerke bereit.“

Schubmanöver. Einschwenken in die Umlaufbahn.“

Die RANNSAKANDI 272 erreichte den Orbit. Rana bediente die Rechenmaschine, die Zeitpunkt und Schubvektor für den Einschuss in den Fluchtkurs bestimmen sollte. Dann würden sie dieses Sonnensystem verlassen und in den Hyperflug eintreten.

*

Ortung!“ Þorr blickte gebannt auf den Radarschirm. „Da kommt etwas. Sieht aus wie ein Abfangkurs.“

Identifizierung?“

Moment … Es ist ein Schiff der RANNSAKANDI-Klasse … Der Transponder antwortet … RANNSAKANDI 314.“

Das ist Logg!“, rief Widen. „Was will der hier? Dieses Sonnensystem war unser Auftrag, nicht seiner.“

Funkverbindung! Logg meldet sich.“

Schalte ihn mir rüber“, verlangte Widen.

Auf einem Bildschirm erschien der Oberkörper Loggs. „Hallo Widen. Was macht ihr denn hier?“, grinste Logg.

Frag nicht so dumm. Das weißt du genau. Was willst du?“

Ich möchte diesen Planeten in Besitz nehmen. Du hast ja offenbar kein Interesse daran – oder sollte ich nur das Signal deiner Bake überhört haben?“

Der Planet ist bewohnt und für eine Besiedlung nicht geeignet. Ich habe keine Bake ausgesetzt. Wir sind auf dem Rückflug und werden es dem Rat genau so berichten. Also gib den Weg frei. Oder willst du eine Kollision riskieren?“

Du kannst ja deinen Hyperanflug abbrechen.“

Kollision in fünfzig Sekunden!“, rief Bal.

Ausweichmanöver!“, befahl Widen.

Ich wusste, dass du ein Feigling bist“, ätzte Logg. „Danke fürs Ausweichen. Jetzt werde ich den Planeten erobern und den Ruhm dafür einheimsen – und die Prämie für die Entdeckung einer Siedlungswelt!“

Und die Bewohner?“

Was für Bewohner? Sie sind primitiv und unseren Waffen nicht gewachsen. In einem planetaren Jahr sind sie Geschichte.“

Du willst sie ausrotten?“

Was sollte mich hindern?“

Widen unterbrach die Funkverbindung. Wut stieg in ihm hoch. „Schutzschilde aktivieren! Waffensysteme hochfahren. Schießt ihn manövrierunfähig!“

Zu spät. Er hat seine Schutzschilde schon hoch.“

Þorr, in seiner jähzornigen Art, hätte beinahe auf das Abbild Loggs geschlagen. Das Erlöschen des Bildes bewahrte den Monitor davor.

Ein neues Signal zeichnete sich im Radar ab. „Torpedos!“ Logg wagte es, sie anzugreifen. Das waren zielsuchende Projektile, durch Ausweichen konnte man ihnen nicht entkommen. „Gib mir die Kontrolle“, brüllte Þorr.

Widen überlegte nicht lange, schaltete die Automatik ab und überließ seinem Freund die Steuerung. Wenn man die Torpedos überhaupt überlisten konnte, dann nur in Handsteuerung. Die Atomtriebwerke brüllten auf, als Þorr abrupt den Kurs änderte. Natürlich folgten ihm die Torpedos mit nur geringer Verzögerung. Aber das war beabsichtigt. Er lenkte die RANNSAKANDI 272 in einen Bogen, der sie haarscharf am hinteren der beiden Torpedos vorbeischießen ließ. Überlastanzeigen blinkten hektisch, ein Alarm heulte. Triebwerk bei 150 Prozent. 200 Prozent. Notabschaltung in drei, zwei, eins … Stille. Alle Energieverbraucher erloschen. Und in diesem Augenblick verlor der Torpedo, der ihnen im Nacken saß, sein Ziel. Und fand ein neues – seinen Kollegen. In einem lautlosen Lichtblitz vergingen sie beide. Es war ziemlich knapp und ziemlich nahe. Der Schutzschirm flackerte, stabilisierte sich aber wieder.

Das war Rettung in letzter Sekunde“, anerkannte Widen. „Vielleicht glaubt Logg nach dieser Explosion sogar, er hätte uns vernichtet.“

Aber willst du ihn jetzt einfach so ziehen lassen? Er darf nicht auf dem Planeten landen!“

Und wie soll ich das verhindern?“

Du weiß, wie!“, sagte Þorr ernst.

Ja, Widen wusste es. Die RANNSAKANDI 272 gehörte zu den wenigen Schiffen, die mit einem Zeitdeformator ausgestattet waren. Das war, vereinfacht gesagt, eine Zeitmaschine, aber eben doch etwas anderes, und zudem eine immer noch nicht völlig ausgereifte Technologie. Für den Zeitdeformator lagerten in einem speziellen Feld aus Quantenvakuum, Matrix genannt, kleine neutrale Ausschnitte der Raumzeit, die Zeitsplitter. Wurde ein Zeitsplitter aktiviert, so transferierte er sich mittels topologischer Inversion in die Metrik der Zielzeit und konnte Teile des Raumzeitkontinuums dorthin mitnehmen. Dann löste er sich auf und ließ das transportierte Objekt dort zurück.

Die Verwendung des Zeitdeformators war ein riskanter Vorgang. Ein nachträglicher Eingriff in die Vergangenheit konnte ein Paradox auslösen, das die Zeitlinie veränderte. Als Lehrbeispiel berühmt war das Paradox, bei dem jemand in der Vergangenheit seine Eltern ermordete, ehe er selbst geboren war. Allerdings hatte noch niemand ausprobiert, was dann wirklich geschah. Theorien besagten, dass das Universum dann in einen anderen Zustand umschlagen würde, in dem die Ermordeten gar nicht seine Eltern waren.

Widen nickte bedächtig. „Wir können ihn nicht einfach aufhalten, ehe er seine Schutzschilde aktiviert. Er hat sie aktiviert. Das ist Fakt und nicht mehr abänderbar. Wir brauchen einen sauberen, widerspruchsfreien Plan.“

Laß ihn seinen Landeanflug machen. Wir folgen ihm in sicherer Entfernung“, schlug Þorr vor. „Ihr wisst, irgendwann muss er die Schilde abschalten, um eintauchen zu können. Die Schilde würden sonst die Atmosphäre derart ionisieren, dass seine Ortung blind wird.“

Und dann?“

Diesen Zeitpunkt nehmen wir als Zielzeit, folgen ihm aber noch solange, bis wir den Punkt im Raum passiert habe. Dann springen wir in der Zeit zurück und sind folglich vor ihm da. Und dort empfangen wir ihn mit unserer gesamten Feuerkraft.“

Widen atmete tief durch. „Überlegt bitte alle scharf, ob das einen Widerspruch erzeugen kann“, wandte er sich an den Rest der Besatzung.

Logg kann dann die letzte Etappe seines Flugs nicht mehr absolvieren, obwohl er sie schon geflogen ist“, gab Rana zu bedenken.

Richtig. Aber es geht ja nur um wenige Sekunden. Wenn ihn dort niemand gesehen hat, wird ihn niemand vermissen. Und alles, was er sonst auf dem Planeten anrichten würde, wird niemals geschehen und niemals geschehen sein. Weitere Einwände?“

Es kamen keine mehr. „Ortung. Logg hat die Schirme abgeschaltet.“

Dann los. Volle Feuerbereitschaft. Zeitsprung, sowie wir diese Koordinaten erreichen.“

Logg ist einer von uns.“

Er war es. Nachdem er sich so entschieden hat, ist er es nicht mehr.“

*

Es klappte fast und ging nur ein ganz klein wenig schief. Niemand hatte jemals zuvor den Zeitdeformator bei aktiviertem Schutzschild ausprobiert. Die hyperdimensionale Wechselwirkung gaukelte der Steuerelektronik des Deformators eine Fehlfunktion vor. Sie ging davon aus, dass der Sprung nicht erfolgt war, aktivierte den nächsten Zeitsplitter aus der Matrix, versuchte einen neuen Sprung, erkannte ihn als Fehlfunktion…

Über das Dröhnen der Waffen hinweg schrie Rana: „Widen! Der Deformator verbrennt im Sekundentakt einen Zeitsplitter nach dem anderen. Du musst ihn abschalten.“

Negativ! Die Automatik blockiert mich!“ Der Kommandant sprang auf, warf sich in den Schacht zum Maschinenraum, wo er zum Deformator hetzte und versuchte, ihn direkt zu deaktivieren. Aber der Apparat hatte sich durch den Dauerbetrieb überhitzt, schon standen die meisten Anzeigen im Warnbereich, und man kam nicht mehr heran. Der Wirkungsbereich, der eigentlich das ganze Schiff umfasste, schrumpfte. Gleich würde er nur noch Löcher ins Schiff reißen. Etwas musste passieren. Widen sah nur noch die Möglichkeit, den Modulator aus der Energieleitung zu reißen, um den Stromfluss zu unterbrechen. Dann explodierte etwas, ein Metallteil traf ihn am Kopf, und er fiel bewusstlos zu Boden.

*

Die Dunkelheit schwand, die Schmerzen blieben. „Widen…?“

Þorr!“, erkannte er. „Was ist passiert?“

Du hast den Zeitdeformator gestoppt. Dabei ist ein Verteiler explodiert und hat dich verletzt.“

Und Logg?“

Abgeschmiert. Sah nach einer harten Landung aus.“

Widen tastete nach der schmerzenden Partie des Kopfes und spürte einen Verband. „Ist es schlimm?“

Du wirst es überleben. Allerdings…“

Was?“

Dein rechtes Auge ist hinüber. Das konnte auch Rana nicht mehr retten.“

Der Kommandant brauchte eine Weile, um die Nachricht zu verarbeiten. Er würde es akzeptieren müssen. Ein Auge war besser als gar kein Auge. Dann besann er sich auf seine Funktion. „Schäden am Schiff?“

Hm. Etliche. Vor allem aber…“

Was?“

Ich fürchte, das sind auch keine guten Nachrichten. Wir haben den Modulator verloren.“

Wie – verloren? Ich habe ihn aus der Verbindung gerissen. Er wird irgendwo im Maschinenraum liegen.“

Leider nicht. Er ist weg. Soweit ich es rekonstruieren konnte, hat der Deformator ihn erfasst und irgendwo in die Zeit geschleudert.“

*

Das war eine üble Situation. Der Deformator hatte, nachdem sein Wirkungsbereich sich als Folge der Überhitzung fast auf Null reduziert hatte, als letztes ausgerechnet den Modulator in der Zeit versetzt. Und ohne den Modulator, der die Anpassung zwischen Reaktor und Verbrauchern regelte, war eine Energieversorgung des Schiffes nicht mehr möglich. Auch nicht des Deformators. Man konnte dem Modulator also nicht durch einen Zeitsprung folgen. Ohne Modulator keine Energie, ohne Energie kein Zeitsprung, ohne Zeitsprung kein Modulator. Ein klassisches Dilemma. Wozu man ohnehin hätte wissen müssen, um welche Zeitspanne er eigentlich versetzt worden war.

Die nächste Meldung war ebenso unschön. Das unkontrollierte Arbeiten des Zeitdeformators hatte fast alle eingelagerten Zeitsplitter verbraucht bei dem sinnlosen Versuch, den Sprung auszuführen, der schon längst erfolgt war. In der Matrix schwebte noch genau ein Zeitsplitter. Der letzte. Für noch genau einen Sprung. So ähnlich wie der letzte Wunsch in einem Wunschring. Er wollte sorgfältig überlegt sein. Aber im Augenblick war das jenseits jeglicher Diskussion, denn dazu hätten sie erst einmal wieder Energie haben müssen.

6. Eine Woche später – geschätzt

Widen, immer noch mit Kopfverband, lag in seiner Kabine und haderte mit seinem Schicksal. Oder mit dem Schicksal seiner Expedition. Die RANNSAKANDI 272 trieb in einer Umlaufbahn um den Planeten und war praktisch manövrierunfähig.

Kommandant?“ Þorr war eingetreten.

Laß die Förmlichkeiten. Widen genügt. Was gibt’s?“

Die Energiespeicher sind durch unsere Solarzellen so weit aufgeladen, dass wir eine Landung versuchen könnten.“

Dann sollten wir es tun. Am Boden müsste es dann auch möglich sein, die Schäden am Schiff zu reparieren.“

Da ist noch etwas. Wir haben nicht genug Energie, um unsere Umlaufbahn zu ändern. Wir müssen auf direktem Wege runter.“

Das heißt?“

Die Auswahl an möglichen Landestellen ist begrenzt. Das Nordpolareis, das Südpolareis – oder eine Insel, die zufälligerweise genau unter unserem Orbit liegt. Ein ungemütlicher Ort mit erheblichem Vulkanismus.“

Na gut, ich komme auf die Brücke. Unser weiteres Vorgehen steht dann ja wohl fest.“

*

Sie schafften es, auf der öden Insel, die noch nicht wusste, dass sie einst Island heißen würde, ohne weitere Schäden zu landen. Es war praktisch unmöglich, dabei nicht in der Nähe eines Vulkans niederzugehen, eine Bodenabtastung hatte ihnen einen als Landeplatz ausgewiesen, der derzeit nicht aktiv zu sein schien. Der Landeplatz lag in einer unwirtlichen Gegend zwischen Schlackefeldern und Geröll, das von Moos und Flechten bewachsen war. Die Reparaturen, soweit sie sie mit Bordmitteln ausführen konnten, zogen sich über mehrere Wochen hin und standen unter der belastenden Frustration, dass sie ohne den Modulator dennoch nicht würden starten können.

Verloren in der Zeit. Þorr und Bal nahmen den Deformator auseinander und überprüften die Elektronik. Diese hatte wenigstens den Energieverbrauch und die Reichweite jedes Zeitsprungs aufgezeichnet, die Überhitzung des Apparats hatte allerdings einige Speicherbänke beschädigt. Þorr kopierte die noch lesbaren Daten auf einen externen Speicher und führte eine eingehende Analyse durch.

Kommandant – Widen. Ich konnte die Sprungweite nur noch sehr ungefähr rekonstruieren.“

Mit welchem Ergebnis?“ Widens Kopfverletzung war verheilt, aber das rechte Auge war verloren, er trug jetzt eine schwarze Augenklappe darüber.

Der Modulator wurde in die Zukunft geschleudert, zwischen anderthalb und zweieinhalb Tausend Jahren.“

Das ist ein verdammt langer Zeitraum. Und für uns unerreichbar.“

Vielleicht nicht.“ Þorr breitete in einer resignierenden Geste die Arme aus. „Springen können wir nicht. Aber in die Zukunft kommt man auch auf natürlichem Wege. Durch Warten.“

Du meinst also…?“

Da wir keine andere Chance haben, sollten wir den Versuch wagen. Die Solarzellen liefern genug Energie, um die Hibernationskammern zu betreiben. Wir legen uns in Kälteschlaf und programmieren erst einmal eintausendfünfhundert Jahre. Dann wachen wir wieder auf und sehen, ob wir in der Zeit den Modulator finden.“

Das wird eine mühsame Suche.“

Wir haben noch das Beiboot. Mit dem können wir den Planeten umrunden.“

Beiboot. Da kommt mir ein Gedanke. Das Beiboot hat doch auch einen Modulator. Können wir den nicht anstelle des verlorenen an unseren Hauptreaktor anschließen?“

Aber nur als allerletzte Möglichkeit. Der ist nicht für derartige Energieströme gedacht.“

Ruf die Besatzung zusammen. Wir stimmen über die verbleibenden Optionen ab.“

*

Was haben wir zu verlieren als die Manövrierfähigkeit des Beibooten“, sagte Bal.

Falls wir hier bleiben müssen, könnte das aber entscheidend sein“, gab Rana zu bedenken.

Eine geringe Chance, nach Hause zu kommen, ist besser als gar keine.“

Die Diskussion zog sich eine Weile hin. Nachdem Widen den Einruck hatte, dass sie alle Argumente ausgetauscht hatten, rief er zur Abstimmung auf. Die Mehrheit war von der Aussicht nicht begeistert, tausend oder mehr Jahre auf diesem Planeten zu verbringen, auch nicht im Kälteschlaf. Sie stimmte dafür, einen Versuch mit dem Modulator des Beiboots zu riskieren, obwohl Þorr ihnen eindringlich erklärte, dass die Chancen gering seien.

Also gut. Dann sei es.“

*

Ein knatternder Blitz schlug über, es roch nach Ozon. Þorrs Kopf tauchte aus dem Schacht des Maschinenraums auf. Sein Gesicht war rußgeschwärzt, sein Bart angesengt. „Das war wohl nichts. Ich hatte euch gewarnt.“

Und nun?“, fragte Widen.

Der Modulator des Beibootes hat diese Stromstärke nicht ausgehalten. Jetzt ist er auch hinüber. Damit bleibt wirklich nur noch der lange Marsch durch die Zeit. Tut mir leid, ich hätte uns einen Erfolg gewünscht.“

Wir sind also endgültig gestrandet.“

So ist es. Macht euch bereit für den Winterschlaf.“ Unwilliges Gemurmel erhob sich unter den Leuten, aber sie hatten es so gewollt.

Ich hasse Basisdemokratie“, knurrte Widen.

7. Tausendfünfhundert Jahre danach – atomzeitgenau

Mehrmals hatte die Automatik Þorr aus dem Kälteschlaf geweckt, und jedes Mal hatte er gedacht, nun endlich in der Zielzeit angekommen zu sein. Nur um festzustellen, dass lediglich wieder einmal die Energieversorgung kurz vor dem Zusammenbruch stand, weil sich Vulkanasche auf den Solarzellen angesammelt hatte. Also war er ausgestiegen, hatte die Paneele geputzt und sich dann wieder schlafen gelegt. Als endlich die tausendfünfhundert Jahre vorbei waren, mochte er es gar nicht glauben. Aber die Automatik hatte diesmal, präzise zur eingestellten Zeit, die gesamte Besatzung geweckt. Nachdem sie sich in der aktuellen Gegenwart zurechtgefunden hatten, begannen sie mit der Forschung nach dem Modulator.

Vergeblich. Der Modulator blieb verschollen. Sie waren noch zu früh dran. Dafür konnten sie mittels ihrer Kameradrohnen dabei zusehen, wie die öde Insel von mutigen Seefahrern, die vom Kontinent kamen, besiedelt wurde. Noch damals, vor tausendfünfhundert Jahren, hatte Bal sich die Mühe gemacht (oder das Vergnügen gegönnt), die beiden Drohnen so umzubasteln, dass sie die äußere Gestalt von Vögeln hatten. Diese konnten nun unbemerkt überall als Beobachter eingesetzt werden.

Die Seefahrer waren ein raues und kriegerisches Volk, und wenn sie in dieser Zeit den Modulator nicht fanden und abermals viele Jahre würden schlafen müssen, dann würden sie es zweifellos mit deren Nachfahren zu tun bekommen.

Es war Rana, die vorschlug, sich bereits jetzt unter die Menschen zu mischen und einen Einfluß auf deren Entwicklung zu nehmen, damit man dereinst mit ihren Nachkommen kooperieren konnte.

Einfluß? Wie stellst du dir das vor?“

Sie sind Krieger. Ein Krieger wird vor allem von einem überlegenen Krieger beeindruckt.“

Du meinst, von überlegenen Waffen?“

Das auch. Und wir müssen natürlich auch ihre Sprache lernen.“

Ich habe schon damals dieses Kauderwelsch mit den vielen ‚X’ und ‚TL’ lernen müssen, und jetzt schon wieder“, beschwerte sich Widen nicht ganz ernst. Þorr schwieg. ‚X’ und ‚TL’ erinnerte ihn unvermeidlich an Xiatli. Und es war ja erst wenige erlebte Wochen her, da er die meiste Zeit geschlafen hatte. Wenigstens schlief man in der Hibernationskammer traumlos, sonst hätte ihn die Erinnerung wohl auch da noch verfolgt.

Sie suchten also den Kontakt zu den Siedlern, gaben sich als Vertreter eines fernen Volkes aus (was ja nicht ganz falsch war), maßen sich mit den Kriegern im Kampf, wobei sich Þorr in seiner draufgängerischen Art besonders hervortat – und die Planetarier mit der dramatischen Wirkung eines Desintegrators beeindruckte.

Es stellte sich heraus, dass die Siedler zu ihrer Sprache keine Schrift besaßen. Sie benutzten zwar einige magische Zeichen, die sie auf ihre Waffen oder ihren Schmuck ritzten, aber das war keine Verkehrsschrift, mit der man sich verständigen konnte.

Nachdem sie sich bei den Leuten eine gewisse Autorität verschafft hatten, lehrten sie sie ihre eigene Schrift und gewannen sie hierfür mit der Aussicht, auf diese Weise ihrer Nachwelt Botschaften ihrer Heldentaten hinterlassen zu können. Und, worauf Þorr besonderen Wert legte: Kraft seiner anerkannten Überlegenheit lehrte er sie, dass Menschenopfer tabu seien, weil die Götter daran keinen Gefallen fanden.

Wie lange die Lehren vorhalten würden und was die Einheimischen daraus machten, musste die Zukunft zeigen. Die Zukunft, in die Widen und seine Besatzung schließlich aufbrachen, indem sie sich wieder in die Hibernation begaben und die Zeit ihrem Lauf überließen.

Auf welche Dauer sollen wir die Automatik diesmal programmieren?“ Þorr stand am Steuerterminal der Schlafkammern.

Die Obergrenze des Zeitraums, in der der Modulator gelandet sein muss, lag bei zweitausendfünfhundert Jahren. Tausendfünfhundert sind verstrichen“, überlegte Widen. „Ich schlage vor, diesmal tausend zu programmieren. Dann sind wir auf der sicheren Seite.“

Dann ist aber die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir den Modulator in der Zeit überholen“, meinte Rana.

Das macht ja nichts. Er wird dann da sein. Sobald er in einer Zeit materialisiert ist, wartet er auf uns.“

Wir werden dann zweieinhalb Tausend Jahre von zuhause weg sein. Lohnt es sich dann noch, heimzukehren?“, überlegte Bal.

Wir haben noch einen Zeitsplitter. Wenn wir wieder Energie haben, kann er uns in unsere ursprüngliche Zeit zurückbringen.“

Wollen wir das? Wäre es nicht auch spannend, unsere eigene Zukunft kennen zu lernen?“, warf Þorr ein.

Das können wir uns dann überlegen, wenn wir den Modulator haben. Verkaufe nicht das Fell der Beute, ehe du sie erlegt hast“, lächelte Widen.

Na dann – schlaft schön.“ Þorr öffnete die Abdeckung der Kältekammer, in der er die nächste Zeit liegen würde. Die nächste sehr, sehr lange Zeit. Hoffentlich musste er dazwischen nicht allzu oft die Solarzellen putzen. Hinlegen, schlafen, nach anderthalb Jahrtausenden wieder aufwachen, das war nur ein Wimpernschlag. Aber die Unterbrechungen machten diese kleine Ewigkeit zu einer Folter.

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