Die Nacht lag finster und erdrückend da, und er starrte mit seinen großen Augen in die Düsternis. Er war sie gewohnt, und er sah auch relativ viel, dennoch war ihm unbehaglich zumute. Er war hier nicht heimisch, nur zu Gast. Und er hatte die Leichen gesehen.

„Komm schon!“, zischte die vertraute Stimme des Kontakters. „Momentan besteht keine Gefahr. Die Schnell-Lichter der Allesfresser sind jetzt nicht wach.“

Wie primitiv hier doch noch alles war. Die Dominanz der Anderen hatte jedwede zielgerichtete Handlung schon vor Jahrhunderten im Keim erstickt. Und jetzt war es zu spät. Dies war ein zielloser Alptraum für alle ihrer Rasse.

„Das sagst DU“, murmelte er halblaut. „Aber was, wenn die ANDEREN uns täuschen wollen?“

„So intelligent sind sie nicht“, sagte der Kontakter. Seine Stacheln standen steil zu Berge. „Komm schon, wir haben nicht viel Zeit.“

„Ich wäre vorsichtig an eurer Stelle“, murmelte eine Stimme aus dem Schilfgras am Rande des schwarzen, tödlichen Bandes. Es war die Stimme einer Nachtjägerin, die ungeheuer schnell und geschmeidig sein konnte und auf der Welt, von der ER kam, eine dominierende Spezies war.

„Hörst du etwas?“, erkundigte sich der Gesandte neugierig.

„Sie sind noch ziemlich weit entfernt, aber ich merke, dass Stachelhaut es nicht mehr schaffen würde. Er würde zermalmt werde. Ich bitte dich, Botschafter, bleib noch hier. Du kannst noch nicht zur STATION zurück.“

„Bah!“, murrte der Kontakter. „Höre nicht auf sie. Sie ist nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Vergiss es!“

Aber er blieb.

Der stachelhäutige Kontakter marschierte im langsamen Gang über den schwarzen, steinernen Weg, den so viele Leichen säumten. Es war der Highway des Todes auf dieser Welt. Auf der Welt des Botschafters gab es so etwas auch. Aber anders herum.

Der Stachelhäuter erreichte die weiße Linie, die unterbrochen war und die Mitte des Highways darstellte.

„Siehst du?“, rief er halblaut zurück. „Mir ist nichts passiert!“

„Von woher kommt das Geräusch?“, erkundigte sich der Botschafter skeptisch.

Die Nachtjägerin bewegte ihre Ohren drehend und unabhängig voneinander, eine Spezialität ihrer Rasse, die ihr schon häufig zu überleben geholfen hatte. „Es kommt von rechts. Die gefährliche Seite ist noch vor ihm.“

„Beeil dich, von dem Highway herunterzukommen!“, befahl der Botschafter. „Beeil dich gefälligst, verdammt!“

Das Summen, ungleichmäßig und doch auf eine subtile Weise bedrohlich, war nun schon hörbar.

Der stachelige Kontakter spürte das auch, auch das Vibrieren der Fahrbahn. Ein minimales Vibrieren, aber immerhin. Er versuchte sich zu beeilen, aber er hatte aufgrund seiner kurzen Beine keinerlei Chance.

Ein greller, doppelter Lichtkegel raste auf der Straße heran, der Lärm wurde unerträglich laut. Und dann war er wieder vorbei.

Von dem Kontakter war nur ein zerquetschter Klumpen übrig geblieben.

Ekel würgte den Botschafter. Und er erinnerte sich, wie die ganze Sache eigentlich angefangen hatte …

*

„Vayn?“

„Zur Stelle, Sire!“, meldete sich der schwarzhäutige Adjutant der Kommandantur von Hügellanden. „Ich stehe zur Verfügung!“

„Wir haben eine sonderbare Entdeckung gemacht, Vayn.“

„Sir?“

„Ein Raumzeit-Reflex in dem Quadranten 84.“

„Aber dort ist … laut unseren Analysen eine nicht bewohnbare Welt. Sie wird von Allesfressern und Naturzerstörern bewohnt, jener Spezies, die wir erfolgreich auf unserer Welt dezimieren konnten“, wandte er ein.

„Offenbar gibt es dort doch einiges an Leben. Unsere Sonden machten kein höher stehendes Leben aus, zugegeben. Aber das hat nichts zu bedeuten. Es wird bei diesen Verhältnissen in einen Partisanenkampf übergegangen sein. Solche Stellungen sind naturgemäß schwer zu entdecken.“

Der Generalkommandeur beauftragte Vayn damit, über den Raumzeiter Informationen zu übermitteln, die dazu führen konnten, dass auf der Gegenseite ein Raumzeiter errichtet werden konnte für materielle Gegenstände der Größe 2. Für den Anfang würde das schon vollkommen reichen.

Und Vayn gehorchte.

*

Dreiundfünfzig Zeit-Einheiten später waren alle relevanten Daten für einen Datentransfer von der anderen Seite übermittelt worden, und als sich die Kristallsichtschirme aktivierten, sahen sie geradewegs hinein in eine Höhlenunterkunft, spartanisch eingerichtet, in die Gesichter ausgezehrter Angehöriger ihres eigenen Volkes.

Anfangs gab es Schwierigkeiten mit den Kommunikationsmöglichkeiten, weil die auf der Parallelwelt entdeckten Artgenossen einen verfremdeten Dialekt sprachen. Aber dann stand die Verbindung und funktionierte auch einwandfrei.

„Wir brauchen technische Hilfe“, sagten die abgemagerten Partisanen. „Wir sind hier in unserem Nest nur noch vierzehn, in der nahen Umgebung leben siebenundsiebzig weitere, aber wir befinden uns unmittelbar an einem Flussufer, das von regelmäßigen Überschwemmungen heimgesucht wird. Alle höheren Standorte sind aber mit Pestiziden verseucht. Oder Baugrund. Da werden wir verfolgt und systematisch ausgerottet. Schickt uns Waffen zur Fortführung des Kampfes!“

„Wir schicken euch erst einmal einen Botschafter“, versprach der Generalkommandeur von Hügellanden. „Er wird die Lage bei Ihnen untersuchen und sich ansehen, wie sich die Bündnisse entwickeln können, die Sie eingegangen sind. Sind diese Bündnisse so umfassend wie auf unserer Welt oder zumindest ähnlich adäquat, dann lässt sich über Hilfe durchaus diskutieren.“

„Schicken Sie ihn schnell!“

*

„Vayn, was würden Sie von diesem Auftrag halten?“

Vayn lachte. „Nur ein Wahnsinniger würde sich auf diese Welt freiwillig begeben. Ich garantiert nicht. Ich bin doch nicht … Sire? SIRE!“

Er starrte seinen Kommandanten fassungslos an, der ihn ausdruckslos musterte. „Sire, das kann nicht Euer Ernst sein!“

„Sie sind unser bester Mann, Vayn. Sie werden das erledigen. Ich erwarte, dass Sie noch in diesem Monat hinübergehen und sich umschauen. Wenn es sich lohnt, dieser Welt gegen die Aggressoren zu helfen, dann tun Sie das. Lohnt es sich nicht, setzen Sie sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ab. Haben Sie mich verstanden?“

Oh ja, er hatte verstanden. Verstanden, dass dieser Job hier nahezu hundertprozentig sein Todesurteil darstellen würde!

Aber er hatte natürlich nicht die Wahl, abzulehnen.

*

Vayn war auf der anderen Seite angekommen, in seinen schwarzen Kampfanzug gekleidet und voll gerüstet.

Das erste, was er wahrnahm, war der infernalische Gestank nach Exkrementen und mangelnder Hygiene. So etwas wie Körperdeodorant schienen diese degenerierten Artgenossen nicht zu kennen. Alle sanitären Anlagen gingen ihnen scheinbar vollkommen ab.

Die Gänge des Labyrinths, das hier „die Festung“ genannt wurde und das angeblich das Nonplusultra war, waren niedrig und eng für Vayn, der etwas wohlgenährter war als die anderen. Er blieb des Öfteren fast in den Gängen stecken und bekam beinahe klaustrophobische Anfälle.

„Wie haltet ihr das nur aus?“, fragte er schweißgebadet, als er aus der Erdhöhlung nach draußen trat.

„Nun, wenn wir nicht sterben wollen, müssen wir halt“, sagte ein Artgenosse, der sich schlicht Narbenfell nannte. „Ich übergebe dich den Erdklopfern. Sie sind flinker als wir und können dich, da sie sich über der Erde besser auskennen, besser geleiten. Unsere Schutzbündnisse mit den Nachtjägern dieses Gebiets, den Gleitern und den Erdklopfern sind umfassend. Sie wissen von deiner Ankunft und werden dich nicht bedrängen.“

„Sonst schon?“

„Was erwartest du?“, amüsierte sich Narbenfell. „Wir leben im permanenten Krieg, im TOTALEN KRIEG. Die Riesen, die Tag für Tag gedankenlos mehr fruchtbares Land zerstören und jeden Tat neue Spezies ausrotten, sind nicht unsere einzigen Feinde. Auch diese rasenden Schnell-Lichter …“

„Es sind nur Kreaturen der RIESEN“, bemerkte ein großer Schatten, der aus dem Nichts scheinbar lautlos aufgetaucht war. Ein Erdklopfer, der nun auf den Hinterläufen hockte und mit den Vorderbeinen gemächlich gestikulierte.

„Das ist eine unbewiesene Hypothese eurerseits!“, warf Narbenfell ihm vor. „Vielleicht hat unser Gast eine dritte Variante zu bieten. Zeigt ihm den Highway des Todes, dann kann er weitersehen.“

Und so hatte ihn der Erdklopfer, der sich simpel Graukopf nannte aufgrund seines schon gesetzten Alters und des grauen Fells des Kopfes, ihn durch die Felder und Weiden entlang des sich schlängelnden Flusses geführt. Auf der anderen Seite des Flusses erhoben sich die künstlichen Betonfestungen mit den glosenden, hellen Lichterhöhlen, die die FEINDE, die RIESEN, die ANDEREN erbaut hatten. Wie immer man sie auch nennen mochte, FEINDE waren sie auf jeden Fall.

„Da wäre gutes Siedlungsland für deine Leute“, bemerkte Graukopf melancholisch. „Aber da können sie nicht hin. Eher werden sie umgebracht.“

„Wie lange geht das schon so?“, erkundigte sich Vayn mitfühlend.

Er war in gewisser Weise fassungslos. Einerseits deswegen, weil er der Existenz solcher Welten immer skeptisch gegenübergestanden hatte, zum anderen natürlich auch, weil hier normale Grundrechte der Gemeinschaft mit Füßen getreten wurden. Diese Welt war ein Gestalt gewordener Alptraum, aber der Krieg wurde auf eine Weise geführt, die primitiv und grauenhaft war.

„Oh, so lange ich denken kann. Solange meine Eltern denken konnten und deren Großeltern. Es war niemals anders, wird behauptet. Du weißt sicher, wir haben kein langes Gedächtnis.“

Vayn nickte und krabbelte durch das hohe Gras hinter dem Erdklopfer her, der hin und wieder nach Grashalmen langte und sie abknabberte. „Prächtiges Gras hier. Aber wir wagen uns selten hierher.“

„Warum?“

„Nun, es ist zu wenig zu sehen. Wir müssen freies Sichtfeld haben. Das ist doch klar. Sonst können die RIESEN kommen und uns fangen. Viele unserer Sippe sind so schon spurlos verschwunden. Nie ist jemand wiedergekehrt.“

„Aber … tut ihr denn nichts dagegen?“ Vayn war fassungslos. Das war Freiheitsberaubung! Das war … Kidnapping, das nicht geahndet wurde. Womöglich wurden die Gefangenen umgebracht!

„Etwas dagegen tun?“ Der Erdklopfer lachte höflich. „Verzeih, du bist mit unseren Sitten und Gebräuchen noch nicht vertraut. Ich glaube, ein anderer Vertreter des Bündnisses kann dir weiterhelfen.“

Sie kämpften sich durch Sauerampfer, durch Distelgürtel und über Löwenzahn und Grasflächen hinweg, Hier und da wucherten Gartenkräuter. Kleeflecken zeigten an, dass der Boden feuchter und wasserreicher wurde.

Hier an einem Graben erwartete sie ein Stachelhäuter.

„Ich bin der Kontakter“, stellte er sich vor. „Mein Name tut nichts zur Sache. Ich würde dich nur verwirren.“

Der Stachelhäuter war schlank, sein kleines, spitzes Gesicht vorne am Kopf musterte ihn und schnupperte.

„Der Geruch des Wohlstandes“, seufzte er. „Ist das bei euch überall so?“

„Ich … nun, ja“, murmelte Vayn verwirrt.

Er spürte mit seinen Geruchssinnen auch hier den starken Geruch nach Schweiß und Schmutz. Diese Wesen schienen nie die Möglichkeit zu haben, sich zu reinigen. Warum hier nicht längst verheerende Seuchen ausgebrochen waren, war ihm nicht ganz klar.

„Ich lasse euch hier alleine, Vayn. Du findest den Weg zum Bau zurück?“

„Ich denke schon.“

Der Erdklopfer verschwand.

Vayn wandte sich an den Stachelhäuter. „Was ist unser Ziel?“

Mit einer winzigen Pfote, die nur durch Vayns Nachtsicht zu erkennen war, wedelte der Kontakter in Richtung der Böschung. „Dort oben liegt unser Ziel. Ich will dir das zeigen, was wir den Highway des Todes nennen. Eine ultimate Grenze für viele. Ich war schon öfter drüben, aber das ist seltsames Gebiet, sehr lebensfeindlich.“

Sie machten sich daran, die Böschung hinabzuklettern. Momentan war alles relativ trocken, und es stand kein Wasser im Graben. Zirpen und Rascheln ringsum zeigte ihnen, dass das Leben auch hier beheimatet war. Helle Lichter flirrten durch die Luft. Leuchtkäfer, die hier beheimatet waren.

„Diese Nacht ist die Nacht der einzigartigen Chance“, bemerkte der Kontakter. „Wir haben einen Bündnisvertrag geschlossen, und keine der beigetretenen Spezies wird es wagen, ihn zu brechen. Heute jedenfalls nicht.“

„Und morgen? Morgen schon?“

„Freilich. Wir müssen ja leben.“

Vayn schauerte. Er dachte an die genetischen Reproduktionshallen seiner Heimatwelt, in denen Futter künstlich herangezogen wurde, ohne Intellekt, nur zum Leben und Fressen. Das war human. Dies hier, dieses mutwillige, vielleicht notwendige Zerstören intelligenten Lebens zum Zweck der Selbsterhaltung … auf gewisse Weise war es barbarisch.

Sie erreichten einen Schilfgürtel, in dem sich viele Insekten tummelten, normalerweise ein gefundenes Fressen für den Stachelhäuter. Aber jetzt hielt er sich mit sichtlicher Mühe zurück.

Nach einigen Minuten steilen Aufstiegs gelangten sie auf die Kuppe und standen vor einem schwarzen Band aus einem harten, seltsam riechenden Stoff.

„Was ist das?“

„Asphalt wird das genannt, haben wir gehört. Im Sommer wird er heiß und riecht noch weitaus stärker“, dozierte der Stachelhäuter. „Und dann wird er zur Todesfalle für viele von uns die auf der Suche nach Nahrung ihren Geruchssinnen vertrauen. Oder auch Nachtjäger, die sich ja gerne in der Hitze auf warmem Stein aalen, für sie ist das sehr verlockend, besonders, wenn sie selbst in der Hitze sind.“

„Oh ja“, stimmte Vayn zu.

Er bemühte sich, über das Asphaltband zu sehen und konnte mit Mühe einen weißen Streifen erkennen, der vielfach und regelmäßig unterbrochen war. Dahinter verschwamm alles zu konturenlosem Grau. Man hätte einen unauffälligeren und leistungsfähigeren Kundschafter schicken sollen, dachte er. Meine Sicht ist entschieden zu eingeschränkt für solche Abenteuer.

Und es war ein Abenteuer. Auf dieser grauenvollen Welt konnte jeder Schritt sein letzter sein.

Sie wanderten an der Straße entlang. Und sie fanden nach wenigen Metern bereits die erste Leiche. Es war ein Erdklopfer. Aus blicklosen, gebrochenen Augen starrte er sie an. Fliegen tummelten sich auf der schon stinkenden Leiche. Der Bauch war aufgerissen, und überall überzogen Blutstreifen die Haut, schon lange eingetrocknet.

„Wann … wann ist das passiert?“, fragte Vayn, gegen die Übelkeit ankämpfend.

„Ich denke, vor zehn oder zwölf Stunden.“

„Warum hat ihn niemand weggeholt?“

„Die Gleiter würden das vielleicht machen. Aber zu der Zeit sind die Schnell-Lichter der ANDEREN noch unterwegs in ungeheuerlichen Kolonnen. So etwas kannst du dir gar nicht vorstellen. Da können selbst die Gleiter nicht landen und die Toten wegholen.“

Sie wanderten weiter. Und trafen wenig später auf das Knochenfeld. Vogelknochen, Skelettteile von kleinen Nagern und größeren Tieren lagen hier verstreut zusammen mit Fellresten. Es drehte dem Botschafter fast den Magen um, als er einen seiner Artgenossen, halb mumifiziert durch lange Trockenheit, rücklings an einem viereckigen Steinpfeiler liegen sah.

Er dachte an den Highway des Todes auf ihrer Welt.

*

Auch auf Vayns Welt gab es den Highway des Todes. Ein glitzerndes Band aus Metall, über das die Antischwerkraftgleiter rasten und mit mehr als fünffacher Schallgeschwindigkeit einen Luftdruck erzeugten, der alles von den Kanten der Straße fegte, was dort auftauchte.

Auch die Barbaren, die absichtlich primitiv gehalten wurden, gehörten dazu. Sie wurden von den Prallfeldern zurückgeworfen und gegen die steinernen Grabenwände geschleudert, wo sie sich die Knochen und Genicke zerbrachen und liegen blieben.

Alle paar Monate mussten die Gräben an den Rändern der Straßen von den großen Müllkolonnen von den Skelettteilen gereinigt werden. Irgendwie lernten die Zweibeiner nicht, dass diese Highways Gefahr bedeuteten.

Nun, es war ihre eigene Schuld. Wenn sie so dumm waren, sollten sie halt sterben.

*

So hatte Vayn diese Sache bislang gesehen. Aber jetzt begann er, die Angelegenheit von einer anderen Warte zu sehen. Es erschreckte ihn zu begreifen, dass die Artgenossen und anderen Tiere dieser Welt genauso handelten wie die intelligenzlosen Zweibeiner auf seiner Welt.

Waren ihre Urteile womöglich verkehrt?

Hatten sie irgendwann in ihrer Entwicklung eine wesentliche Tatsache aus den Augen verloren?

Vayn fröstelte.

„Wie intelligent sind diese ANDEREN, die RIESEN?“, wollte er vom Kontakter wissen.

„Nicht sonderlich“, behauptete der Stachelhäuter arrogant. „Sie sind nichts als große Tiere. Große Tiere beeindrucken meist durch ihre Kraft und Stärke. Und doch müssen wir nur geduldig sein, irgendwann werden wir sie bezwingen, wenn sie sich sicher glauben.“

Und dann forderte er Vayn auf, mit ihm den Highway des Todes zu überqueren.

Und das Schicksal nahm seinen Lauf …

*

„Ich hatte ihn gewarnt“, sagte die Nachtjägerin samtig. „Keiner kann gegen die Schnell-Lichter gewinnen. Selbst von unserer Rasse erwischt es manche beim Überqueren des Highways. Du kannst es dir vorstellen, Botschafter?“

„Ich heiße Vayn“, meinte er gedankenverloren. Dann kam er wieder zu sich. „Doch, ja, jetzt kann ich es mir vorstellen.“

Die Ähnlichkeit der Schnell-Lichter mit den Fahrzeugen seiner Welt war so frappierend, dass es keiner besonderen Intelligenz bedurfte zu erkennen, dass auf dieser Welt die Geschichte parallel und doch völlig entgegengesetzt verlaufen war. Die Zweibeiner waren hier auf irgendeine Weise die dominierende Rasse geworden und dies wahrscheinlich schon vor Jahrtausenden. Und sie hatten sich ähnlich weiterentwickelt wie Vayns eigene Spezies auf seiner Welt. Sie waren zur dominanten Spezies geworden und hatten auf Technologien zurückgegriffen, die verderbliche und zerstörerische Wirkungen auf diese Umwelt hatten. Das hatte er unschwer feststellen können.

„Mir reicht dieser Einblick“, sagte er bitter. „Kannst du mich zurückbringen?“

„Gerne“, schnurrte die Nachtjägerin. Sie tappte mit ihren Samtpfoten neben Vayn her, der Mühe hatte, das unglaubliche Tempo der Nachtjägerin zu halten. Er war, schon weil sie weit größer war als er, ungleich langsamer. Sie mussten viele Pausen einlegen.

Bei einer Pause fragte sie ihn: „Sag mir, Botschafter, was wirst du machen? Wirst du Hilfe von deiner Welt holen?“

Vayn dachte lange nach, dann meinte er seufzend: „Wir können nicht tatenlos zusehen, wie unsere Brüder und Schwestern umgebracht werden. Ja, ich glaube, ich werde Hilfe holen. Wenn mein Volk sich bewaffnet hat, könnt ihr gemeinsam gegen die Zweibeiner vorgehen, gegen die RIESEN. Ihr braucht alle Kraft, die ihr bekommen könnt. Zur Not auch Neutronenbomben. Das wird natürlich immense Verluste unter der eigenen Bevölkerung hervorrufen, aber vielleicht könnt ihr damit die Zweibeiner … NACHTJÄGERIN! AAAH! NICHT!“

Die scharfen Krallen der Tatze erwischten Vayn voll und warfen ihn gegen einen Erdhügel. Stöhnend spürte der Botschafter, wie aus Rissen in seiner Haut Blut in das schwarze Fell sickerte. Die grünen Augen der Nachtjägerin funkelten bösartig über ihm. Das weiße, scharfe Gebiss blitzte im Licht des Mondes.

Entsetzt keuchte er: „Warum …?“

„Warum?“, schnurrte die Nachtjägerin fast sinnlich. „Du bist dumm, Botschafter. Wirklich dumm. Sollte ich wirklich zulassen, dass du diejenigen unterstützt und verstärkst, die meine Jagdtiere sind? Das kannst du nicht ernstlich erwarten. Niemand handelt auf dieser Welt gegen seinen Erhaltungstrieb. Ich muss auch leben, und dieser Waffenstillstand heute Nacht ist unnatürlich, er darf keinen Bestand haben.“

Und dann beugte sie sich über den Botschafter, und ein heißer, unerbittlicher Biss beendete sein Leben.

*

Nachdem der Botschafter Vayn verschollen war, wurde der Kontakt mit der schrecklichen Parallelwelt abgebrochen. Das Risiko, weitere Kämpfer dort zu verlieren, war entschieden zu groß.

Nur deshalb veränderte sich nichts auf der Erde, und der Mensch blieb weiterhin die Dornenkrone der Schöpfung, bis er dieselbe zugrunde richtete. Und anschließend sich selbst.

ENDE

© 1992/2022/2024 by Uwe Lammers

Gifhorn, den 28./29. September 1992

Abschrift: Braunschweig, den 25. Februar 2022

Neu formatiert für WORLD OF COSMOS, 29. November 2025