Jänner 2085

Am Rand des Systems Irrumbur
ASTI’SPATITRI’IS

Wie ein Lauffeuer war die Nachricht durch die fliegende Insel gegangen, von Mund zu Ohr wurde die Botschaft wieder und wieder weitergetragen, bis in den hintersten bewohnten Winkel, zum ältesten noch lebenden und zum jüngsten schon verstehenden Tawromeg. ‚Fremde waren unterwegs, unterwegs zur ASTI’SPATITRI’IS!‘

Viele von den Tawromeg waren in den Beobachtungsraum rund um die Kommandozentrale gekommen, um die Besucher zu erwarten, sie fieberten einer Begegnung entgegen. Dann hatte das Raumschiff seinen Kurs wieder geändert und war in weitem Bogen davon geflogen, weg von der Insel. Die Tawromeg waren sehr enttäuscht gewesen, alle hatten sie auf das Bild auf dem künstlichen Himmel geschaut, bis eine piepsige Stimme unter ihnen im eigentlichen Kontrollraum erklang.
„Hi, ich Gucky! Grüße!“ Sie trauten ihren Augen nicht, aber da war ein kleines pelziges Wesen mit großen Ohren und einer langen Nase, und es sprach. All das kein Grund, sich zu wundern, die Tawromeg hatten schon andere, seltsamere Intelligenzwesen kennen gelernt. Aber wo kam dieses Wesen so plötzlich her? Sicher nicht durch eine der Türen, das hätte man bemerkt!

Parankaletros duckte sich, sein Kopf neigte sich mit der Stirn und den Hörnern dem Eindringling zu, seine Beine spreizten sich, die großen, starken Hände ballten sich zu Fäusten, sein Herz begann schneller zu schlagen, die Augen verengten sich, seine Drüsen produzierten Adrenalin, Endorphin und eine Substanz, die das Gehirn schneller arbeiten ließ, schneller als er es je zuvor erlebt hatte, sein Körper bereitete den jungen weißen Tawromeg auf einen Kampf vor. Auch in Yphieipelekis ging eine Veränderung vor sich. Subtiler, kaum von außen erkennbar, straffte sich doch ihre Gestalt, wurde hoheitsvoller, ihre Gedanken arbeiteten mit nicht einmal von ihr selbst erahnter Geschwindigkeit, fremde Denkmuster drangen in ihre innere Welt. Acchiichipos fühlte ebenfalls eine Veränderung in sich, er machte sich bereit, seinen Stamm, die Sprecherin, die ganze Heimat, die ASTI’SPATITRI’IS, zu beschützen aber – es geschah noch etwas mit ihm. Etwas, ein Gefühl, das er vorher kaum, und schon gar nicht in diesem Ausmaß gekannt hatte. Eine Kraft, eine Stärke, Entschlossenheit und Entschlussfreudigkeit. Und er verstand, er verstand in seinem Inneren, was das kleine Wesen vor ihm sagte. Nicht die Worte selbst, aber den Sinn derselben. Jetzt verstand er endlich die alten Prophezeiungen und Lehren. ‚Wer auch immer kommen mag, die Einsamkeit zu beenden, der weiße Spendende, der große Bulle, der Sprecher wird verstehen!‘ Er breitete die Arme aus und versuchte es einfach.
„Willkommen hier bei uns auf der ASTI’SPATITRI’IS“, sagte er einfach, und das Wesen nickte ihm zu, die Augen funkelten, der einzige Nagezahn blitzte, es sagte etwas, das Acchiichipos nicht akustisch, aber tief, ganz tief im Inneren verstand.
„Danke!“ Erstaunt stellte auch Yphieipelekis fest, dass die gesprochenen Worte, nein, die an sie alle gerichteten Gedanken des kleinen Wesens in ihrem Gedächtnis einen Sinn ergaben.
„Ich bin Gucky“, stellte sich das Pelzwesen mit Worten und Gedanken vor. Acchiichipos neigte den großen Kopf.
„Ich bin Acchiichipos, ich bin der weiße Spendende, der Sprecher des großen Steuermannes, und das ist Yphieipelekis, die schwarze Empfangende, die Sprecherin der großen Mutter.“

*

Die Stiermenschen und Gucky verstanden einander schon recht gut, und während ganz in der Nähe eine Raumschlacht tobte und Schiffe zerstört wurden, wo Menschen, zweibeinige und mantide, um ihre Freiheit kämpften, kamen sich die zwei so unterschiedlichen Spezies näher und knüpften ein zartes Band aus Gedanken.
„Also sind die weißen Männer und die schwarzen Frauen besonders begabt?“, fragte Gucky.
„Bisher haben wir das nur gelernt, aber nie bemerkt, kleiner Freund.“ Yphieipelekis artikulierte ihre Worte sorgfältig in Gedanken, denn eben dort hörte sie auch das Pelzwesen. Auch Acchiichipos dachte konzentriert.
„Als du erschienen bist, war mir, als zöge sich ein Schleier von meinem Geist und ich könne klarer denken.“
„Ist das noch nie vorher geschehen?“, fragte der Mausbiber.
„Wir haben eine Aufzeichnung, dass ein weißer Spender einmal vor einigen Jahrhunderten mit einem der Gajagjii auf einem kleinen, kalten Planeten war.“ Guckys Ohren richteten sich steil nach vor, sein Nagezahn verschwand beinahe völlig. „Auf diesem Planeten gab es unzählige kleine Tiere, kaum eines erreichte die Kniehöhe des Spenders. Eine Spezies war darunter, die gerne auf den niederen Bäumen saß und mit großem Interesse die Handlungen des Gajagjii und des Tawromeg verfolgten. Nach seiner Rückkehr auf unsere Insel erzählte er, dass seine Gedanken klarer gewesen seien als je zuvor, und jemand hätte ständig in seinen Gedanken gefragt, ob er ein Freund sei.“
Klymatairene näherte sich vorsichtig. „Darf ich bitte den Gast berühren?“, fragte sie schüchtern. Nachdem Gucky sein Einverständnis gegeben, gedacht hatte, begann die junge Tawromeg, den Kopf des Ilts abzutasten.
„Dein Fell ist so weich und angenehm.“ Sie beugte sich vor, bis ihre weiche, große Nase ganz nahe an seiner Stirn war. „Und du riechst gut!“ Irgend etwas in ihren Gedanken wies sie darauf hin, dass das Kraulen des Nackenfells für den Besucher besonders angenehm sei, und sie versuchte es. Die junge Tawromeg verspürte deutlich das Wohlgefallen des Pelzigen bei dieser Behandlung, mutiger werdend griff sie fester zu.
„Und dieser Spendende aus der Sage?“, wollte Gucky wissen.
„Oh, der wurde ein großer Sprecher, der viele Reformen durchführte. Er war klug und entschlussfreudig wie kaum ein anderer.“
„Hm!“ Die Gedanken des Mausbibers rasten. „Ihr seid von der Fellfarbe unterschiedlich, aber die meisten sind weiß mit schwarzen oder braunen Flecken?“, fragte er überlegend.
„So ist es“, wunderte sich Klymatairene, dass der neue Freund das Offensichtliche, das, was jeder wusste, fragen musste.
„Was sagen die Überlieferungen denn über eine rein braune Empfängerin oder einen rein braunen Spender?“, bohrte der Ilt weiter.
„Nichts! Rein gar nichts. Es gibt keine Überlieferungen darüber. Es kommt zwar häufig einmal vor, aber keine oder keiner von denen ist bereit, eine Aufgabe zu übernehmen und Verantwortung zu tragen“, antwortete Yphieipelekis, und Parankaletros brummte.
„Was sie vielleicht sogar zu den Intelligentesten von uns allen macht!“
„Okay! Okay! Was ist mit einer weißen Empfängerin und einem schwarzen Spender?“ Die Reaktion auf diese Frage veranlasste Gucky zu einem lauten, erstaunten Ruf. Die Tawromeg sanken auf die Knie, kreuzten die Arme vor der Brust, die offenen Hände an die Schultern gelegt, den Kopf in den Nacken geworfen und intonierten mit religiöser Inbrunst.
„Die Erlöser kommen und bringen die Tawromeg in ein neues, ein helles Zeitalter. Sie dürfen für sich selbst entscheiden und müssen keinen Herrn mehr suchen. Sie sind die Ahnen einer neuen Art von Tawromeg, frei und unabhängig. Sie kennen die Gedanken von allen, denen sie begegnen, sie belohnen die guten und strafen die bösen! Ersehnt sind die große Mutter und der große Steuermann!“ Auf den Tribünen folgten alle Anwesenden dem Beispiel der Tawromeg in der Zentrale.
„Heiß ersehnt sind die große Mutter und der große Steuermann!“ murmelten die Tawromeg auf den Tribünen gemeinsam, ein leises, und doch mächtiges Flüstern zog durch den Saal.
„Es gab noch nie eine weiße Empfängerin oder einen schwarzen Spender?“ vergewisserte sich Gucky, und Yphieipelekis hob ihre Hände, als sie antwortete.
„Es werden alle paar Jahrhunderte welche geboren, und es werden herausragende Tawromeg. Aber noch nie gab es sowohl den großen Steuermann als auch die große Mutter gemeinsam zur selben Zeit auf der selben Insel.“

*

System Sol
Europa, den Haag
Großer Sitzungssaal des internationalen Strafgerichtshofes

„Verehrtes Gericht!“ Doortje an de Mool stand mit dem Gesicht zum Richterpult, drehte sich zur Geschworenenbank um. „Meine Damen und Herren Geschworene.“ Doortje sprach, wie alle modernen Juristen, ein großer Teil der Erdbevölkerung und sämtliche Kolonisten einwandfrei das Alltagsarkonidisch, wie es auch von den Mehandor und Dutzenden anderen Völkern der näheren Galaxis benutzt wurde und es auch per UN–Resolution als offizielle, internationale Amtssprache auf der Erde eingeführt wurde. In der Begründung hatte der damalige Generalsekretär Masterson ausgeführt, dass nicht nur die internationalen Strafverfolgungsbehörden einer gemeinsamen Sprache bedurften, sondern auch für die gesamte Administration der Vereinten Nationen eine solche von Vorteil wäre. Da zu erwarten stände, dass die intergalaktische Raumfahrt zu vermehrten Kontakten mit galaktischen Personen führte, solle man eine bereits interstellar bekannte und gebräuchliche Sprache wählen. Mit der Methode der Hypnoschulung war das Erlernen einer Sprache auch für unbegabte Personen kein Problem mehr, und die Verkehrssprache des Imperiums war einfach in der Grammatik. Zum Beispiel wurde auf eine eigene Pluralbildung der Subsantive verzichtet. Wenn man zum Beispiel ‚zwei Apfel‘ sagte, wusste doch jeder Idiot, dass es nicht einer, sondern mehrere waren, wozu also auf Äpfel abwandeln. Das ‚hocharkonidische‘ war eine andere Sache. Aber außer einigen Adeligen verwendete diese Sprache kaum noch eine Person, obwohl sie auf Arkon I und in manchen Schulen von II durchaus gelehrt wurde. Es handelte sich dabei um eine hochkomplexe Ausdrucksform, bei welcher die kurze oder lange Betonung einer Silbe den Sinn eines Wortes oder eines Satzes stark verändern, vielleicht sogar ins Gegenteil verkehren konnte.

Allerdings fanden nach und nach auch terranische Ausdrücke ihren Weg in die Galaxis, wie etwa die Worte Okay, Merci oder Sir, Redewendungen wurden wörtlich übersetzt und ein Mehandor konnte bei einer Verhandlung schon einmal sagen „Okay, Sir, jetzt bellen Sie unter dem falschen Baum‘. Holy moly wurde eine durchaus gängige Redensart, ohne Übersetzung. Auch Anreden, die in der UNO – Resolution ausdrücklich als weiter unübersetzt verwendbar galten, wie etwa Miss, Mister, Mevrouw, Madame, Signore, Signora, Signorina, Dottore und ähnliches, verbreiteten sich im allgemeinen Wortschatz jenes Teils des arkonidischen Imperiums, den die GCC, die ITC und SE anflog. Dieser ständige Wandel durch gegenseitige Beeinflussung machte das Studium lebender Sprachen zwar schwieriger, aber dafür um so interessanter.

Als daher Doortje an de Mool in dieser Sprache ihre Verhöre führte, ihre Anträge einbrachte oder sich an die Geschworenen wandte, sie konnte sich sicher sein, von allen verstanden zu werden. Ganz egal, ob die oder der Zeuge, Geschworene oder Richter nun aus den russischen Republiken, der Asiatischen Föderation, dem amerikanischen oder Australischen Kontinent oder aus der Europäischen Union stammte. Sie machte sich bereit, ihr Plädoyer zu halten, denn wenn sich auch die Sprache änderte, das zum größten Teil auf angelsächsischem Recht beruhende Procedere eines Gerichtsverfahrens vor dem Gericht der Vereinten Nationen blieb immer das gleiche.

„Wir haben in den letzten Tagen einiges gehört“, begann die junge Staatsanwältin. „Begonnen mit dem Geständnis des Angeklagten Mandilitarakidos und den Versuchen der Verteidigung, diese Aussage und den Angeklagten Joanis Mandilitarakidos selbst zu diskreditieren. Hier stoße ich für meinen Teil auf eine Diskrepanz.“ Doortje hob die rechte Hand mit dem Rücken zum Boden auf Schulterhöhe, als wolle sie ein Tablett präsentieren. „Ist die Tat des Angeklagten verachtenswert? Ja, das ist sie, damit diskreditiert er sich als Person.“ Sie hob die linke Hand in der gleichen Geste, als wöge sie etwas ab. „Macht das seine Aussage unglaubwürdig? Nein, macht sie nicht. Im Gegenteil! Warum sollte jemand eine derart verabscheuungswürdige Tat gestehen, wenn es nicht der Wahrheit entspricht? Er bekommt dadurch keine Vergünstigungen, es gibt keinen Deal. Es hat nie eine Absprache mit ihm wegen Hafterleichterung gegen Aussage gegeben! Niemals!“ Sie griff zur Fernbedienung, auf dem Bildschirm war das Gespräch der Angeklagten mit el Chico und dem ehemaligen kolumbianischen Justizminister zu sehen. „Sie haben es gehört, die Angeklagten haben ‚wirklich alles‘ extra nachgefragt. Wirklich alles? Also, bin ich die einzige, die daraus schon das Vorhaben eines Verbrechens erkennen kann? Aber“, sie winkte ab, als Mac Lock aufsprang und etwas sagen wollte. „Später, Herr Verteidiger, jetzt bin ich dran!“ Auch Don Diego Fernando Jesus Felipe Rodriguez herrschte den Rechtsanwalt an.
„Wo haben Sie Jurisprudenz studiert, Herr Verteidiger? Hat man Ihnen dort das Procedere nicht erklärt? Noch einmal fünfzigtausend Dollar wegen andauernder Missachtung des Gerichtes.“ Der Hammer verursachte ein kräftiges PENG, als er auftraf.
„Aber“, sprach an de Mool weiter. „Eine solche Erkenntnis ist selbstverständlich nur ein Verdacht, noch lange kein Beweis. Sehen wir weiter! Diese Aufnahmen wurden von der Bodycam des TBI – Agenten Benito Pablo Esteban Nuñez gemacht, sie wurden Ihnen ebenfalls bereits gezeigt.“ Eine nackte Mestizin stolperte über eine Lichtung, stolperte, ein Schuss fiel
„Wir haben sie!“ tönte eine Stimme aus dem off, verwackelte Bilder, als Nuñez mit seinem Bike über die Frau flog und sich den Verfolgern in den Weg stellte. Der Wortwechsel, die Identifizierung des Agenten, der Schusswechsel. Dann wurde der Bildschirm wieder dunkel. „Die Verteidigung argumentierte den gesamten Prozess, dass die Anwesenheit des Agenten rechtswidrig gewesen sei, und daher diese Aufnahmen null und nichtig, komplett und zur Gänze ungültig wären, weil sonst jederzeit ein Agent in ihrem Hinterhof auftauchen könnte, wenn wir uns nicht an die Regeln hielten. Hier muss ich dem Verteidiger zumindest teilweise zustimmen. Ohne Regeln könnte ein Agent jederzeit bei Ihnen eindringen. Das aber will sicher niemand, glaube ich. Sie nicht“, Doortje zeigte auf einen Geschworenen nach dem anderen. „Sie nicht, Sie nicht und Sie doch sicher auch nicht. Ich will es nicht und die Richter links von mir…“ Ihre linke Hand wies zum Richterpult, „…schon gar nicht und werden es auch nicht zulassen, beziehungsweise schwer bestrafen, wenn es doch vorkommen sollte. Bevor ein Agent zu Ihnen kommt, benötigt er vorher einen von einem Untersuchungsrichter ausgestellten Betretungs- oder Durchsuchungs-Entschluss. Mit diesem darf er gegen ihren Willen Ihr Grundstück, Ihr Haus, Ihre Wohnung betreten, je nachdem, wofür er ausgestellt ist. Mit dem Durchsuchungsentschluss darf er die angegebenen Räumlichkeiten oder Areale nicht nur betreten, sondern auch durchsuchen. Für die Ausstellung eines solchen Schriftstückes ist allerdings ein begründeter Verdacht Voraussetzung.“ Wieder drückte Dortje auf die Fernbedienung.
„Wirklich alles?“ ertönte der Angeklagte Solverquist vom Bildschirm.

„Das nenne ich einen Anfangsverdacht“, sprach Doortje weiter. „Einen sehr begründeten Anfangsverdacht. Demnach ist die Ausstellung eines Betretungsbeschlusses mehr als rechtskonform, sondern es wäre geradezu unmenschlich und verbrecherisch gewesen, ihn nicht auszustellen. Man erfährt von einem geplanten Verbrechen gegen die Menschlichkeit und soll nichts tun, weil der Verdächtige ein einflussreicher Mann mit mehr Geld als Charakter ist? Also bitte! Was würden Sie sagen und denken, wäre es Ihre Tochter, der man nicht beigestanden hätte? Dieser Betretungsentschluss war also eine rechtskonforme Entscheidung, und sie haben auch den Untersuchungsrichter gehört, seine schriftliche Begründung liegt in den Akten, sie können jederzeit Einsicht nehmen. Mit diesem Entschluss war jetzt aber nicht nur die Anwesenheit des Agenten rechtmäßig, sondern selbstverständlich auch sein Eingreifen.“
„Wir haben sie“, brüllte es vom 3DTV – Gerät.
„Eigentlich sollte das schon reichen. Meine Damen und Herren Geschworene, das TBI hat begonnen, gegen Drogenherstellung und -Handel im großen Stil vorzugehen und fand darüber hinaus auch einen Ring von Organ- und Menschenhändlern, einen Verbrecherring, der auch die perversesten Gelüste der abartigsten Leute befriedigte, wenn sie nur genug bezahlten. Die Verteidigung argumentiert, dass es nur versuchter Mord war, da das Opfer ja ‚nur Angst ausgestanden hätte‘ und es ‚keinen Beweis für eine Tötungsabsicht‘ gäbe und äußern Zweifel, ob dieses Gericht überhaupt zuständig sei. Das hier“, Doortje hob ein blaues Buch mit dem Wappen der UN-Strafverfolgungsbehörden in die Höhe. „Das hier ist die heilige Schrift, nach der dieses Gericht Recht spricht, diese Gesetze sind bindend für Christen, Moslems, Buddhisten, Hindus, Menschen mit mosaischem, schamanischem, pantheistischem, animistischem oder sonst irgendeinem Glauben, den es gibt. Auch dem Glauben an eine Nichtexistenz Gottes! Es ist für dieses Gericht unwichtig, was ein höheres Wesen als Gebot festgelegt hat, hier in diesem Buch sind unsere Gesetze. Da steht zum Beispiel sinngemäß ‚Du sollst nicht töten‘. Da steht nicht, ‚Du sollt keine weißen Menschen töten‘ und es steht auch nicht ‚Du sollst nicht töten, außer du hast viel Geld!‘. Von diesen Zusätzen steht in diesem Buch nichts, und die Regeln darin gelten für alle Menschen, die auf einem Gebiet wohnen, wo die UN zuständig ist. Das sind sogar die Kolonien im Weltall, denn auch die ITC, die GCC und Starlight Enterprises haben sich der UN-Regelung unterworfen. Das, meine Damen und Herren, das sind die Gesetze der Vereinten Nationen, die von jedem Land dieser Erde unterzeichnet wurden. Schon auf dem Vorsatz, also noch vor dem Titel und dem Impressum, steht folgender Satz. ‚Der Bewahrung der Menschenrechte und der Würde des Menschen gewidmet, welcher Herkunft, Standes, Geschlechtes oder Glaubens sie oder er auch immer seien‘. Mit dieser Jagd, ob in Tötungsabsicht oder ohne, liegt ein Verstoß gegen die Menschenrechte und -Würde vor! Zudem erfolgte die Tat unter Verwendung von potentiell letalen, also tödlichen, Waffen, die Untersuchungen der Gewehre und Patronenhülsen bezeugen, dass es sich um scharfe Munition handelte. Keine Tötungsabsicht? Mit dieser Ausrüstung? Wer soll das denn glauben? Sie, meine Damen und Herren Geschworene, sollen aber gar nicht glauben, sie sollen wissen. Die Gesetzgeber, welche diese Menschenrechte formulierten, standen unter dem Schock schrecklicher Kriegsverbrechen, und daher kannten sie auch Fälle von Hetzjagden, Verstümmelungen und Folterungen, die sie in diese Bücher schrieben. Glauben Sie nicht mir, lesen Sie nach, im Beratungszimmer der Geschworenen liegt ein Exemplar der Charta zum Schutz der Menschenrechte auf, ebenso der Gesetze der Vereinten Nationen. Ich habe die Paragraphen genannt, auf deren Basis die Anklage erfolgt. Meine Damen und Herren, denken Sie daran. Man hat ein Mädchen nackt bis auf die Haut ausgezogen, gefesselt in den Urwald verbracht und sie dann nur frei gegeben, um sie danach wie ein wildes Tier jagen zu können. Was danach kommen sollte, wissen wir nicht, sagt die Verteidigung. Das können wir nur den Aussagen des Angeklagten Mandilitarakidos entnehmen, der auch nur für sich sprechen kann, sagt die Verteidigung. Wir können es tatsächlich nicht genau wissen, aber der Umstand, dass diese Männer explizit eine Frau verlangten und die Aussage des Angeklagten Mandilitarakidos lassen für Spekulationen wenig, sehr wenig Spielraum. Es sollte für das Opfer qualvoll und tödlich sein, und wir wissen, dass sie für immer verschwinden sollte, denn…“ eine Bewegung mit der Fernbedienung ‚… der Dschungel gibt nichts mehr her‘!“

Die Staatsanwältin nahm ein Stück Papier zur Hand. „Ich werde die Paragraphen, die für diesen Fall relevant sind, im Anschluss noch einmal nennen, damit sie sich Notizen machen können, meine Damen und Herren. Nicht einmal ich merke mir alle Nummern der Paragraphen und Absätze, und ich habe sie lange und genau studiert!“ Leises Kichern ertönte im Zusehersaal. „Wenn Sie etwas wissen wollen, fragen Sie. Wenn Sie etwas noch einmal sehen wollen, verlangen Sie es. Der Gerichtdiener wird dafür sorgen, dass Ihre Bedürfnisse gestillt werden und Ihnen bringen, was immer Sie verlangen. Wir haben einen ausgezeichneten Caterer beauftragt, sie zu versorgen, denn wir wollen nicht, dass sie jetzt sofort aufstehen und ‚schuldig‘ rufen. Wir wollen, dass sie sich genau überlegen, was diese Menschen getan und geplant haben. Wir wollen Gerechtigkeit, keine billige Rache. Meine Damen und Herren, der internationale Strafgerichtshof legt sich ein hohes Ziel, Gerechtigkeit für alle. Sie, meine Damen und Herren Geschworenen, haben die Beweise gesehen, sie haben die Zeugen gehört, und wenn die Verteidigung ihre Reden gehalten haben und die Angeklagten das letzte Wort hatten, wird es an Ihnen und den Richtern liegen. Mein letztes Wort, das ich in diesem Prozess an Sie richte, ist dieses: lassen Sie Gerechtigkeit walten. Ich danke Ihnen!“

„Mister McLock, sind Sie bereit?“, fragte Don Diego.
„Das bin ich, Euer Ehren.“ Auch er trat vor die Jury. „Glauben Sie mir, ich bin ebenso schockiert wie Sie, dass es jemanden gibt, der Menschen Gewalt antun und sie töten will. Hätte mein Mandant gewusst, dass sein Mitangeklagter, Mister Mandilitarakidos, eine solche Absicht hegte, hätte er diesem Ausflug niemals zugestimmt. Es sollte ein Spiel sein, und die junge Frau, eine Prostituierte, wie er annahm, hätte seines Glaubens eine Prämie je nach Länge der Jagd und Qualität ihrer Vorführung erhalten sollen. Er wusste nicht, dass scharfe Munition in der Waffe war, und er hielt das Auftauchen des Agenten als eine zum Spiel gehörende Schwierigkeit. Unter diesem Aspekt kann keine Verurteilung erfolgen, da kein Vorsatz zu einer Straftat vorliegt, und ohne Vorsatz ist es kein schweres Verbrechen, sondern eine Nachlässigkeit, die natürlich bestraft werden soll, und mein Mandant ist auch bereit, diese Strafe zu bezahlen. Er hat einen schrecklichen Fehler gemacht und sich nicht vergewissert, ob wirklich nur Platzpatronen in der Waffe waren, wie er glaubte. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, eines zu bedenken. Mein Mandant ist ein unbescholtener, ehrbarer Bürger, während die Zeugen, die gegen ihn aussagten, gemeine und perverse Kriminelle sind.“ Er machte eine Pause und sah zur Staatsanwältin. „Meine Kollegin hat viel von den Menschenrechten und von der Würde der Person gesprochen, von UN-Gesetzen und Paragraphen. Eines hat sie nicht erwähnt. Unser Rechtssystem beruht darauf, dass eine Person so lange als Unschuldig gilt, bis seine Schuld erwiesen ist. Wenn wir von Menschenrechten sprechen, dürfen wir auch die Rechte meines Mandanten nicht vergessen. Sie müssen sich fragen, ist die Schuld meines Mandanten wirklich zweifelsfrei bewiesen? Denn nur, wenn Sie nicht den geringsten, den allergeringsten Zweifel an der Schuld meines Mandanten haben, dürfen Sie ihn verurteilen. Ich weiß, es sieht jetzt so aus, als türmten sich die Beweise gegen meinen Mandanten turmhoch auf, um ihn zu begraben. Die Anklage hat sehr geschickt Fakten mit Spekulationen verwoben. Aber die Fakten reichen nicht aus, denn es gab keinen Tötungsvorsatz seitens meines Mandanten, und er dachte an ein eingeweihtes Opfer, das eine Prämie erhalten sollte. Ich danke Ihnen!“ McLock verneigte sich ruckartig und ging zurück zu seinem Platz.

„Mister Bosland, sind Sie bereit?“
Der Verteidiger erhob sich. „Er war’s nicht, die Anklage ist unrechtmäßig und die Verhandlung findet vor dem falschen Gericht statt. Alles andere hat mein Vorredner bereits eloquent ausgeführt, ich könnte es nur noch einmal sagen. Ich bitte die Jury um Gerechtigkeit für meinen Mandanten. Ich danke Ihnen.“
„Mister Kymasignomatis?“ Auch der letzte Anwalt erhob sich von seinem Stuhl und ging nach vorne.
„Ich habe heute keine Verteidigung vorzubringen. Für das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das mein Mandant beging, oder besser begehen wollte, gibt es keine Entschuldigung, außer einer spirituellen, aber was sein Pope zu Mister Mandilitarakidos gesagt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Es ist auch nicht relevant. Meine Damen und Herren, mein Mandant hat alles zugegeben und besitzt nur noch eine Ehre, eine einzige. Die, zu seinen Taten und Gelüsten zu stehen, statt sich in fadenscheinige Ausflüchten zu ergehen, und die Strafe des Gerichtes anzunehmen. Er ist ein kranker Mann, nicht physisch, aber psychisch, trotzdem ist er nach seinen eigenen Angaben und in den Augen der Psychologen in der Lage, richtig und falsch, Recht und Unrecht zu Unterscheiden. Daher ist es keine Entschuldigung für sein Handeln, denn wie schon die Staatsanwaltschaft bemerkte, die Menschenrechte sind unantastbar, und er gesteht ein, dass es besonders für die Frauen besser wäre, wenn er der Gesellschaft fern bliebe. Meine Damen und Herren Geschworenen, mein Mandant bittet nicht um Strafminderung oder Gnade, und er erwartet auch keine. Er möchte büßen und wird annehmen, was immer kommt. Danke!“

Don Diego schlug mit seinem Hämmerchen auf den Holzklotz. „Wir kommen nun zu den Angeklagten, die das letzte Wort der Verhandlung bekommen. Mister Bruns?“
„Verzichte!“ knurrte der Angeklagte und ignorierte die Versuche seines Anwalts, ihn zum Aufstehen zu bewegen.
„Fürs Protokoll, der Angeklagte bleibt sitzen. Mister Solverquist?“ Der erhob sich, beugte sich vor und stützte sich schwer auf das Pult der Angeklagtenbank.
„Ich bin unschuldig“, rief er mit lauter Stimme. „Diese Anklage ist eine Farce, eine Verschwörung! Alles Lügen, was hier verbreitet wurde, alles Lügen meiner Feinde!“ Dann setzte er sich wieder abrupt nieder.
„Zu Protokoll genommen. Mister Bosland, bitte informieren Sie Ihren Mandanten, dass es zu spät ist, jetzt noch auf ‚non compos mentis‘ zu plädieren. Mister Mandilitarakidos?“ Auch der Grieche erhob sich.
„Óla eipóthikan! Nichts mehr, Hohes Gericht.“
„Das wird dann so zu Protokoll genommen. Das Gericht vertagt sich bis morgen, 9 Uhr.“
„Bitte erheben sie sich!“ rief Haakon Salmanson!

*

„Ehe sich die Geschworenen zurück ziehen, muss ich sie nach dem Gesetz über folgendes informieren.“ Richter Rodriguez faltete seine Hände. „Wie schon von der Verteidigung erwähnt, gilt ein Mensch so lange als Unschuldig, bis seine Schuld ohne begründeten Zweifel bewiesen ist. Sie müssen jetzt abwägen, ob die Beweise für eine Verurteilung ausreichen. Die beiden beisitzenden Richter werden im Geschworenenzimmer anwesend sein und zur Aufklärung juristischer Fragen bereit stehen, sich aber sonst nicht in ihre Beratungen einmischen, sie werden nur auf die Einhaltung des Procedere achten. Am Ende der Beratungen steht eine einstimmige Entscheidung Ihrerseits. Schuldig oder nicht schuldig. Können Sie sich auf keinen Spruch einigen, meine Damen und Herren, muss der Prozess vor neuen Geschworenen neu geführt werden. Wenn sie der Meinung sind, länger als den heutigen Tag der Beratung opfern zu müssen, stehen selbstverständlich die Zimmer des Hotels ‚Golden Schip“ weiterhin für sie bereit, ebenso wird für ihr leibliches Wohl gesorgt. Meine Damen und Herren, bitte erheben Sie sich!“ Die im Raum anwesenden mit der Ausnahme von Bruns standen von ihren Stühlen auf, Don Diego Fernando Jesus Felipe Rodriguez nahm einen Aktenordner in die Hände. „Dies sind die Mitschriften des Prozesses, sie können also jede Aussage nachlesen. Ich werde jetzt den Fall in Ihre Hände legen. Über die Angeklagten wird Gericht gehalten, von unbescholtenen Bürgern, wie es Recht und Gesetz vorsehen. Bitte, tun Sie Ihre Pflicht! Gerichtsdiener, bitte übergeben Sie den Fall!“ Würdevoll nahm Haakon die Akten in Empfang, ging gemessenen Schrittes zum Geschworenenobmann und reichte ihm das Bündel Akten.

*

„Die Geschworenen haben ein Urteil im Fall Bruns, Solverquist und Mandilitarakidos!“ Dortje an de Mool und Franz Raaber saßen eben in der Cafeteria bei einem raschen Snack, als einer der Boten herein kam und die Botschaft überbrachte. Rasch spülten sie ihre Bissen mit einem kräftigen Schluck Kaffee hinunter, warfen die Reste ihres Sandwiches auf den Tisch und gingen mit eiligen Schritten zum Verhandlungsraum.
„Sie haben zwei Tage beraten, ich bin neugierig“, sagte Doortje und Raaber meinte
„So klar, wie der Fall war, hätte ich das Ergebnis früher erwartet.“
„Vielleicht war’s ja die schöne Aussicht und die gute Küche im ‚Schip‘, warum sich einer oder mehrere quer gestellt haben“, witzelte die blonde Anwältin, obwohl ihr gar nicht zum Lachen war. Aber sie musste Zuversicht verbreiten, nach außen optimistisch bleiben und hoffen, dass nicht Erpressung oder Bestechung den Fall torpedierten, denn der Beweislage nach dürfte es aus ihrer Sicht nicht den kleinsten Zweifel geben. Nicht den allerkleinsten.

„Ich bitte die Anwesenden, sich zu erheben! Der ehrenwerte Richter Don Diego Fernando Jesus Felipe Rodriguez! Möge Recht gesprochen werden und Gerechtigkeit walten.“ Sich der Würde des Gerichtshofes bewusst schritt Don Diego zu seinem Platz.
„Sind die Geschworenen zu einem Entschluss gekommen?“, fragte er. Eine der Geschworenen stand auf, eine ernste, große Frau mit strenger Kurzhaarfrisur in einem eleganten Kostüm. ‚Seltsam, welche Details man in diesem Moment registriert‘ dachte Raaber bei sich.
„Das sind wir, Euer Ehren.“ Sie öffnete die Mappe mit den Prozessunterlagen und legte ostentativ einen Zettel in die Mappe, die sie Haakon Salamanson übergab, der die Mappe vor den Richter legte. Der nahm den Zettel, las ihn und sah auf.
„Bitte, geben Sie die Entscheidung der Jury bekannt!“ Geschworene Nummer 5, Maria Wendkov aus Berlin, von den anderen zur Sprecherin gewählt, fühlte ihr Herz rasen, trotzdem stand sie aufrecht und fixierte die Angeklagten.
„Wir, die Jury des internationalen Strafgerichtshofes befinden im Falle des Angeklagten Joanis Mandilitarakidos auf schuldig im Sinne der Anklage. Im Falle Walter Goliath Bruns III auf schuldig im Sinne der Anklage. Im Falle des Angeklagten Björg Solverquist auf schuldig im Sinne der Anklage.“
„Ich danke den Damen und Herren Geschworenen. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück.“

„Ich habe in meinem Leben bereits einige Urteile zu sprechen gehabt!“ begann Don Diego Fernando Jesus. „Aber ich muss sagen, dass heute ein Novum dabei ist. Das TBI hat in einen Sumpf von Korruption, Menschenhandel und extremer Grausamkeit gestochen und dabei Personen aus höchsten Kreisen überführt. Dieses Gericht wird sich noch mit vielen Menschen auseinander setzen müssen, die glauben, durch Geld und Stellung vor dem Gesetz sicher zu sein und über dem Recht zu stehen. Diese Personen legen das Wort ‚Privileg‘ immer noch im Wortsinn aus, als ‚persönliches Recht in ihrem Besitz‘. Das ist nicht länger der Fall, und die Angeklagten sollen erfahren, dass sich niemand, wirklich niemand mehr straflos an den Rechten und der Würde eines Menschen vergreifen darf, egal, ob dieser die Tat überlebt oder nicht. Senorita Anna Maria Buenoposa ist kein Stück Vieh, das man kauft und benützt, wie man eben will. Sie ist eine Frau, und dabei ist es nebensächlich, wie viel oder wenig Blut der indigenen Bevölkerung durch ihre Adern fließt, denn sie ist ein Mensch wie sie und wie ich. Bedingt durch die unwahrscheinliche Grausamkeit und ebenso ungeheure Menschenverachtung der Angeklagten kann es in diesem Fall nur ein Urteil geben. Lebenslange Haft, zu verbüßen in der Haftanstalt Luna.“

*

Unbekanntes System am Rand des Gopkar Sektors,
Planet II,
An Bord der ACHASSA

Wohin das Auge reichte, gab es nichts als Wasser, das beinahe spiegelglatt lag. Der Wind war eingeschlafen, nur die leichte Dünung der Gezeiten brachte den Körper, der wie eine halbkugelförmige Insel im Wasser lag, in leicht schaukelnde Bewegung.
„Die ACHASSA hat sich gut bewährt, Chussogh!“ Kapitän Rhossoma legte seine Hand auf die Schulter der Ingenieurin, seine Augenfederchen lagen glatt an, ein Zeichen für zufriedene Entspannung.
„Das hat sie, Kapitän. Das hat sie wirklich.“ Chussog war ein wenig größer als Rhossoma, aber gertenschlank und weit geschmeidiger in der Bewegung. Sie hatte alle Teile der ACHASSA einer eingehenden Überprüfung unterzogen und keine Schwachstellen oder Schäden gefunden.

Beide Ssossri standen auf dem Wulst, der das Schiff umgab und sahen in die Ferne. Hinter ihnen erhob sich hundert Meter in die Luft eine exakte Halbkugel, der 450 Meter lange Rest des Rumpfes lag unter Wasser, das Schiff schwamm aufrecht in diesem riesigen Ozean.
„Es ist ein angenehmes Klima, feucht und warm“, stellte der Kapitän fest, seine Ingenieurin und Freundin widersprach dem nicht.
„Aber es gibt kein Land, Rhossoma“, war ihr einziger Einwand. „Es gibt nirgendwo Land! Nicht das kleinste Inselchen!“
Rhossoma lehnte sich mit den Unterarmen auf die etwas über Hüfthöhe angebrachte ausklappbare Reling. „Wie könnten welche bauen. Als Ingenieurin wirst Du doch einige schwimmende Körper bauen können. Wenn wir die dann mit flexibel gelagerten Brücken verbinden…“
„Du bist ein Träumer, aber – nun ja, vielleicht, wenn wir…“ Chussogh folgte dem Blick des Kapitäns in die Ferne. „Es könnte funktionieren. Wenn der Rat genügend Sprungaggregate baut und genügend Fackelschiffe umbaut, damit wir das Material herbringen können!“
Rhossomas Wangenfedern vibrierten, als er lachte. „Es gibt genug Rohstoff für viel mehr als eine Insel in diesem System, alte Freundin, auf dem dritten Planeten. Dann bringen wir Wasser von den Eismonden weit draußen und füllen die ausgehobenen Gruben des Tagebaus dort auf. Hier auf diesem Planet noch Sand von einer seichten Stelle vom Meeresboden herauf gepumpt und in die Sonne gelegt, damit er warm wird. Zu Essen bietet dieser Planet unter Wasser genug. In ein, zwei Jahre können wir das erste Fest des Eies auf diesem Planeten feiern und dem Rat eine fertige Heimat präsentieren!“
Die Augen Chussoghs wurden weich, sie griff nach Rhossomas Arm. „Ein Ei!“ flüsterte sie. „Ich dachte schon, ich müsse aus Vernunft darauf verzichten. Aber hier. Du und ich?“ Rhossomas Kopffedern wippten unternehmungslustig, und Chussogh fächerte die ihren einladend auf.
„Die Paare bleiben und kümmern sich um den Nachwuchs, die Singles kehren zurück und überbringen die Nachricht?“, träumte sie vor sich hin. „Später“, vertröstete Rhossoma bedauernd, beide legten die Federn wieder an. „Erst, wenn wir ein Fackelschiff fertig haben. Wir brauchen den Materialnachschub vom dritten Planeten. Was meinst du?“
„Ich meine…“, sagte die Ingenieurin und sträubte die weißen Geschlechtsfedern, „…dass ich den Rechner anwerfen sollte, um unsere Inseln zu konstruieren. Ein wenig später.“ Sie drückte sich fest an den Kapitän und genoss mit ihm den Ausblick auf das Meer.

Die Ssossri waren lange unterwegs gewesen, bis sie endlich hier gelandet waren. Ihr Raumschiff war mit einem atomaren Plasmaantrieb ausgestattet, benötigte daher weniger auszustoßende Materie als etwa ein chemisches Triebwerk. Es war so zwar durchaus zu langen Flügen imstande, aber doch immer noch auf regelmäßige Flüssigkeitszufuhr angewiesen. Nach jedem Sprung musste der ‚Tank‘ nachgefüllt werden, vorzugsweise mit einer Flüssigkeit, zur Not auch mit Gas. Der Formel von dem Ssossriäquivalent zu Albert Einstein wäre es egal, alles konnte zu Plasma erhitzt und zur Beschleunigung ausgestoßen werden, aber das Vorrats- und Transportsystem an Bord der Fackelschiffe war nun einmal auf Flüssigkeit ausgelegt. Daher waren Gesteinsbrocken mehr als unpraktisch. Ihr Flug hatte mit einem Grav Beschleunigung mehrere Tage gedauert, bis sie ihr System verlassen konnten, gefüllt mit vielen wissenschaftlichen Beobachtungen und Phasen großer Langeweile. Dann hatte der Kapitän die Besatzung informiert, dass die erste Benützung des Hyperatomaren Singularitäts- Motors bevorstand und jedem Matrosen empfohlen, seinen oder ihren Frieden mit den Unsterblichen zu machen.
„Achtung, Leute! Wir bedienen uns zum ersten Mal in der Geschichte eines neuen Aggregates, um unser Heimatsystem zu verlassen. Da bisher alle Tests erfolgreich waren, erwarte ich keine großen Probleme. Dennoch hat noch kein Ssossri diesen Durchgang erlebt, also lässt sich nichts über die auftretenden Effekte voraussagen. Aber wir gehören mit zu den Besten, die Ssossri aufzubieten hat, wir sind Fackelmänner! Zehn Minuten für die Heilerin der Seelen!“

Nachdem Ussichssu ihr gemeinsames Gebet beendet hatte, übersandte Rhossoma das Logbuch der bisherigen Expedition an die Bodenstation und gab Alarm. Dann drückten er mit drei Fingern seiner vierfingerigen Hand das große Schaltelement tief in die Fassung, das elektronische Gehirn übernahm die Steuerung, wertete noch einmal alle Ortungsdaten aus und nahm letzte Korrekturen vor. Dann zählte es die letzten Sekunden, die Mannschaft schloss die Augen und bereitete sich auf den zu erwartenden Schmerz des Transits vor.

Es wurde noch schmerzhafter als erwartet, für den Bruchteil einer Sekunde fühlte es sich an, als ständen die Ssossri in extrem heißem Feuer, es war kaum erträglich, doch ebenso plötzlich, wie er aufgetreten war, verschwand der Schmerz bei den meisten Ssossri wieder, blieb nur als Erinnerung im Nervensystem zurück.
„Navigation?“ keuchte Rhossoma, die Benommenheit rasch abschüttelnd.
„Nun, Kapitän, es ist ein brauner Zwerg, der mehr im infrarot als im sichtbaren Licht leuchtet.“ Auch der Navigator kam wieder zu sich und rief die Spektrallinien des Sternes auf seinen Schirm. „Ob es aber wirklich Ghôssdcho ist, kann ich jetzt noch nicht sagen. Dazu benötige ich einige Messungen aus dem Observatorium. Ich möchte aber eher annehmen, dass der Sprung erfolgreich war, so viele Sonnen dieser Art in der Umgebung von Arssasson gibt es ja auch nicht. Und es ist unwahrscheinlich, dass wir hunderte Lichtjahre übersprungen haben.“
Rhossoma hatte bestätigend mit seinen 15 Kopffedern gewippt. „Dann prüfen Sie es weiter. Ortung, haben Sie bereits feste Körper feststellen können?“
„Zwei Planeten, Herr!“ Phuchffass drehte sich, die weißen Federn respektvoll angelegt, auf ihrem Sitz um. „Nahe des Sterns.“
„Habitabel?“ fragte Rhossoma ohne allzu große Hoffnung, und das verneinende Vibrieren von Phuchffass Kinnfedern machten auch die letzte zunichte.
„Ich möchte nicht ausschließen…“, philosophierte die Offizierin. „…dass sich selbst unter solchen Extrembedingungen Leben entwickeln kann, halte aber höher strukturierte Wesen oder gar solche mit Denkvermögen für unwahrscheinlich. Möglich, ja, aber ob wir Beweise fänden, sähen wir nach?“
„Wir werden nachsehen müssen, Phuchffass, wir benötigen Ausstoßmasse. Flüssigkeit! Wir haben zwar noch fast zwei Drittel im Tank, aber ich liebe es, eine Reserve zu haben. Also, ganz gemütlich mit einem G Kurs auf den näheren Planeten, Rudergänger.“
„Wie wohl solche Wesen aussähen?“ fragte Ssaghacho, der wissenschaftliche Offizier. „Große Augen, die eher im Infrarot sehen können? Oder mit ganz anderen Sinnen ausgestattet?“

Nun, sie hatten die dicke Eisschicht des äußeren Planeten durchstoßen müssen, um an Flüssigkeit zu kommen, und die Schiffshülle wurde ständig warm gehalten, um nicht festzufrieren. Die Besatzung war mehr als erleichtert, als die Tanks wieder gefüllt waren, sich die ACHASSA wieder im All befand und Kurs auf den Rand des Systems nahm. Auf keinem der Planeten hatten sie mehr als einige angepasste Mikroben gefunden, leider hatte kein im flüssigen Wasser unter der Eisschicht lebendes und im Infrarot sehendes Intelligenzwesen versucht, mit den Ssossri Kontakt aufzunehmen, keine sensationelle Entdeckung von denkfähigen Nichtsauroiden. Die Expedition wandte sich einem neuen Ziel zu, einem gelben Stern, der von Anbeginn das Hauptziel der ACHASSA gewesen war. Theoretisch hätte der Sternenantrieb diese Sonne zwar in einem ‚Durchgang‘ erreichen können, aber die Konstrukteure hatten geraten, zuerst einen näheren Stern anzufliegen und kleinere Sprünge zu machen, ehe man sich an einen langen wagte. Rhossoma war der Meinung gewesen, dass es wahrscheinlich keinen Unterschied machte, welchen Stern man zuerst anflog, wenn Position und relative Bewegung bereits so gut dokumentiert und erforscht waren, wie es bei dem Stern Võghâssem der Fall war, aber er war nur Kapitän, kein Admiral, kein Politiker. Er befolgte seine Befehle und brachte die ACHASSA eben in zwei Sprüngen statt in einem Transit ins Ziel.

Und nun standen Rhossomas Freundin Chussogh und er auf Võghâsem II und genossen die frische, würzige Luft, das Aroma von Salzwasser, die Wärme der Sonne. Im Ozean gab es zwar keine Inseln, aber viele seichte Stellen mit starkem Algenbewuchs, der teilweise die Wasseroberfläche durchstieß und mit großen Blättern auf dem Ozean trieb, genug, um mit ihrer Photosynthese Sauerstoff in die Atmosphäre abzugeben. Sie träumten von Platz genug für Generationen und von gemeinsamer Brut, einem guten, starken Nestling, der noch viel weiter als sie beide in das Universum vorstoßen würde. Ein extrem lauter Knall, dem lautes Donnern folgte, riss die beiden Ssossri aus ihren Betrachtungen, eine Feuerspur zog sich über den wolkenlosen, azurblauen Himmel.
„Rein!“ brüllte Rhossoma und stieß Chussogh durch das Luk, schlug mit der Faust auf den Verschlussmechanismus. Mit lautem Zischen schloss die Pneumatik zuerst das Außenschott, und, als die zwei Echsen es durchquert hatten, auch das Innere. „Brücke, alle sollen sich sichern. Es wird starke Schwankungen geben. Und dann will ich wissen, wer da auf Posten geschlafen hat! Beim ersten Gelege, wieso wurde dieser Flugkörper nicht eher bemerkt und Alarm gegeben?“

*

System Reggy
An Bord der HEPHAISTOS

Es war eine ruhige Schicht gewesen, es gab seit dem Problem mit dem Neurgent nur noch ziemlich wenig Verkehr und zumindest in dieser Schicht keine Probleme. Die Kommandantin der HEPHAISTOS, Moira Tretjakowa, hatte sogar Zeit gefunden, alte Bürokratie zu erledigen und einige Akten zu paraphieren, Memos zur Kenntnis zu nehmen und ein wenig Rückstand aufzuarbeiten. Sie hasste diese Arbeit aus vollem Herzen, sie war Brückenoffizier, kein verdammter Bürokrat. Ihr Adjutant sah das anders, ständig legte er ihr Dateien vor, die sie seiner Meinung unbedingt lesen musste, wichtig, eilt, eilt sehr, dringendst! Leutnant Gerd Wegner war ein deutscher Europäer, zackig, exakt, penibel, der Archetyp eines ‚Teutschen‘, wie er in jedem Kabarett vorkommen könnte. Wenn man Moira aus dem irischen Teil Europas und Gerd hörte, wollte man sofort eine Versetzung des Deutschen in die Wege leiten, doch von den eigentlich Betroffenen dachte keiner daran. Die Tochter eines russischen Vaters und einer irischen Mutter benötigte genau einen solchen Assistenten, wie es Gerd Wegner darstellte, einen, der den Schriftverkehr bereits im Vorfeld ausdünnte und nur wirklich wichtiges weiterreichte, einen, der Punkt 12.30 Uhr mit einer Tasse starken Tees, einem Orangensaft und einer kleinen Zwischenmahlzeit neben ihr stand und ihr so lange den Imbiss aufdrängte, bis sie nachgab und etwas zu sich nahm. Als Entschuldigung galt bei ihm nur ein wirklicher Ernstfall, ein Alarm, der Weltuntergang. Heute konnte Gerd Wegener aber wirklich mit seiner Chefin zufrieden sein, alles war ‚a jour‘, im Speicher war Platz für den neuen Posteingang, der aber bis morgen Zeit hatte.

„Also, Gerd, wenn das alles war?“ Moira erhob sich von ihrem Platz. „Wenn die Kommandantin noch zur Kenntnis nehmen möchte…?“, stocksteif, als hätte er einen Besen verschluckt, die Fersen in Kontakt zueinander, die Hände dort, wo frühere Hosen ihre Naht gehabt hatten, den Blick starr nach vorne gerichtet.
„Noch etwas, Gerd?“ seufzte Moira, der Mann hatte immer noch etwas. „Nun, die Kommandantin wäre gut beraten, baldmöglichst ein Lokal aufzusuchen, um mehr als nur eine Kleinigkeit zu essen!“
„Guinness, Fish and Chips?“ fragte Moira, „Ach nein, Smokebeard hat ja nur Smithwicks. Wollen Sie mich begleiten, Gerd?“
„Kein ausreichendes und ausgewogenes Mahl! Die Vitamine fehlen. Wenn die Kommandatin…“ Ein dunkler Glockenton meldete ‚8 Glasen‘, wie es an Bord der Starlight-Schiffe wieder genannt wurde, und damit den Schichtwechsel von der Bravo- zur Charlyschicht. Sechzehn Uhr. „…mit mir zu ‚Günthers Bierzelt‘ gehen möchte.“ Die Steifheit wich aus der Haltung des Deutschen. „Günther hat ein hervorragendes Bier bekommen. Dazu eine Portion Sauerbraten, du wirst begeistert sein, Moira.“
„Deutsch!“ Moira seufzte. „Warum nicht ins ‚Chudo–Mir‘? Russisches Essen. Bœuf Stroganoff, Krimsekt, Wodka?“
„Zu Vaclavs ‚Schwejk‘? Tschechisches Bier, Prager Ente?“, hielt der Adjutant dagegen, Moira holte Luft zur Antwort.

„Achtung! Fernortung!“ Ein lauter Gong untermalte die Stimme des Ortungsoffiziers. „Ich habe einen unangemeldeten Transit in 85 Lichtjahren, Richtung Orion!“
„Geben Sie es auf den Schirm!“ Moira war von einer Sekunde zur anderen wieder im Dienst, das Los eines CO, im Ernstfall gab es keine Freizeit. „Ares, veranlasse bitte DefCon 3. Hawk- und Sturmovikgeschwader startbereit, ebenso die Drohnen. Alarm auch für die MARIE JEANNE DU BARRY und die JEANNE-ANTOINETTE DE POMPADOUR. Kommandanten Marteen van der Molenford und Tarkol daVuul in permanenter Verbindung. Crest daZoltral und Reginald Starlight bitte auf die Brücke. Gerd, wie weit ist die Umrüstung unserer Schiffe mit Atlans Kanone?“
Gerd Wegner stand bereits wieder in ‚Habt-Acht-Stellung‘. „Eine in der Nordkuppel der POMPADOUR, die DU BARRY noch gar nichts, zwei in der HEPHAISTOS!“ meldete er, dann fügte er hinzu: „Ich werde mir erlauben, für die Kommandantin eine Portion Fish and Chips zu ordern!“

*

„Nach unserer Erkenntnis liegt dort ein G – Stern, noch nicht erforscht, nach dem neuesten Sternkatalog Orion Lambda neo 7G. also, von der Erde aus gesehen in Richtung Orion Lambda, der 7. neu entdeckte Stern, Spektralklasse G. Wir waren noch nie so weit draußen, wollten erst näher zur Erde liegende Sterne erforschen.“ Der Offizier an der wissenschaftlichen Station, Professor Juan Miguel de Esperanca, vergrößerte den entsprechenden Ausschnitt auf dem Schirm.
„Hm, ja“, rieb sich Crest das Kinn. „Soweit ich weiß, war auch noch nie zuvor ein arkonidisches Raumschiff so weit weg. Das System des Hüters liegt ja im rechten Winkel von der groben Linie M13 – Terra – Gopkar ab, und weiter als dorthin ist wahrscheinlich auch Atlans berühmtes Nebelsektorgeschwader nie gekommen. Ich frage mich, was der damals dort überhaupt gesucht hat? Er schweigt sich jedenfalls darüber aus.“
„Bei Atlan? Ich wette, eine Frau, Crest“, spekulierte Reginald. „Aber lassen wir das Hütersystem, auf jeden Fall kam es im System von Orion Ln7G einen Transit“, überlegte Reginald weiter. „Darf ich die Aufzeichnungen noch einmal sehen? Ja, ich hab’s doch richtig gesehen, seht her, das sind ganz andere Schwingungsampilituden und absolut divergente Ausschläge bei den Signaturen dem semihypercutalen Aufbau der Eintauchstoßfront als bei allen anderen Antrieben, die ich gelernt habe!“

„Gut beobachtet!“ brummte der Ortungsoffizier. „Um ehrlich zu sein, ich habe schon eine Suche nach Übereinstimmungen gestartet, am nähesten sind uralte Aufzeichnungen von noch älteren Arkonschiffen. Einige tausend Jahre vor Atlans Geburt, denn in seinen Unterlagen war bei diesen Signaturen schon der Zusatz ‚überaltet‘ vermerkt. Selbst die Boote, die er verschrotten ließ, um die Triebwerke als Waffe zu verwenden, waren schon drei Generationen moderner.“
„Das erklärt den großen Energieausbruch“, erklärte Crest. „Diese uralten Singularitäts-Antriebe haben noch mehr Energie ins Universum geblasen als in den Transit selbst gesteckt. Entsprechend gering war die Reichweite.“
„Alles gut und schön“, meldete sich Marteen van der Molenford von Bord der DU BARRY. „Trotzdem erhebt sich die Frage, wer oder was da herumspringt.“
„Ich halte diese Frage…ah, Gerd, sie sind ein Schatz! Greifen Sie zu, Smokebeards Fish and Chips, mit HP-Sauce! Sie lernen dazu, Leutnant. Also, Marteen, eine durchaus berechtigte Frage.“
„Wenn ich so frei sein darf, Frau Kommandant darauf aufmerksam zu machen, dass das System Ln7G nur 82 Lichtjahre, also einen Transit, von Reggys Stern entfernt ist. Dieser Besuch könnte sich auch hier, bei First oder Barsoom jeden Moment melden.“ Gerd Wegner hatte seinen Besen wieder verschluckt, knallte die Haken zusammen und zuckte mit dem Oberkörper, das Kinn kurz an die Brust gedrückt, nach vorn, er drückte sich wie ein Subalternoffizier zur Zeit des deutschen Kaisers aus.
„Mhm“, Moira schluckte einen Happen Backfisch hinunter. „Deswegen sind die DU BARRY und die POMPADOUR ja auch im Alarmzustand. Können wir beobachten, was sich in diesem System abspielt?“
„Lassy, wenn Du ein entsprechendes Gerät heranschaffen kannst, tue es.“ Angus MacDermott war ein alter Mann mit den Augen und dem Geist eines Jünglings. Als einer der wenigen Menschen sprach er auf Smokebeards Antigeriatrie-Medikamente nicht gut an, aber er weigerte sich, seine Aufgabe abzugeben. „Solange ich es kann, werde ich es tun“, pflegte er stur zu sagen, und da er gut in dem, was er tat, war… „Aber derzeit spielt sich unter Planetengröße nichts ab. Außer auf Hyperbasis, und da ist seit dem Transit Pause.“

„Murphys Fisch ist immer wieder köstlich!“ Reginald brach mit den Fingern ein Stück ab und schob es sich in den Mund. „Wir sollten vielleicht einen Aufklärungsdiskus los schicken. Sie sind hier auf dieser Seite des Sterns aus dem Transit gekommen, wenn wir hier durchbrechen, sind wir von der Sonne gedeckt!“
„Klingt gut.“ Moira überlegte. „Wen wollen wir losschicken? Oh nein, Reginald!“ Der hatte mit Gestik und Mimik versucht, ihr zu verstehen zu geben, dass es seine Aufgabe war. „Einer von Deiner Mischpoke bleibt gefälligst an Bord“, lehnte Moira ab. „DU, denn deine Mutter ist jenseits von Terra und Arkon. Du bleibst hier. Wer stellt denn sonst unsere Gehaltschecks aus, wenn ihr beide weg seid? Oberleutnant Lydia Halverdorn soll sich noch vier Personen aussuchen und dann losfliegen. PB HS 051 startklar machen. Doppelte Sicherheitsausrüstung, volle Armierung der Mannschaff. Los geht es, macht mir keine Schande, Kinder.“ Moira klatschte in die Hände. „Auch wenn die Chefin abwesend ist, big mama is watching you!“

Wassili Petrowitsch Bronstejn war mit seinen Eltern als Kind aus Kiew auf die HEPHAISTOS gekommen und noch sehr jung. Sein Offizierspatent von SE hatte er gerade drei Wochen in der Tasche. Auf der Starlight Academy galt er als das kommende fliegerische Superass, wenn es um mittelgroße und kleine Einheiten ging und er seinen 25. Geburtstag noch erleben durfte. Sein gleichaltriger Kumpel Mahmoud al Asawansri hatte ebenfalls ein Patent als Leutnant, frisch aus dem Drucker, stammte aus Eriwan und war ein ausgezeichneter Schütze mit den Bordwaffen, ein ruhiger, ausgeglichener Gegenpol zu dem immer etwas zu risikobereiten Wassili. Lieutenant Ymphida Madranis Eltern kamen von Onbafon V, einer arkonidischen Welt, und sie war unter den Lieutenants der Senior, ihre Beförderung war nur noch eine Frage von kurzer Zeit. Sie war eine im All geborene, erfahrene Kosmonautin. Onbafoner waren humanoid, im Allgemeinen gut gebaut, ihre Haut wies die Farbe von Zimt auf, je nach den Vorfahren des Individuums in verschiedenen Schattierungen, und sie hatten zumeist golden schimmernde Haare. Nicht weiter auffällig aussehend, hatten Onbafoner außerdem einen hervorragenden Orientierungssinn, und das nicht nur auf einer Plantenoberfläche. Ausgebildete Onbafoner waren gesuchte Kosmogatoren, die ihr extrem hohes Gehalt wirklich wert waren. Es galt als großes Glück, einen Angehörigen dieses Volkes an Bord zu haben. Ymphidas Mutter war schwanger unterwegs gewesen, ein dummer Unfall, der eine längere Verzögerung mit sich brachte und die HEPHAISTOS zur einzig möglichen ‚Geburtsklinik‘ machte, waren die Mischung aus Zufällen, die Angyrta Madrani in engeren Kontakt zu Starlight Enterprises brachten. Ihre Erlebnisse an Bord brachten sie dazu, nach Erfüllung des Auftrages mit ihrer Tochter Ymphida und ihrem auf der HEPHAISTOS geborenen Sohn Gyfrem auf die Station zurück zu kehren. Sie lehrte auf der Starlight Academy Kosmologie und Navigation und wurde auch schon zur Beratung bei kniffligen Kursberechnungen hinzu gezogen. Ymphida hatte nicht nur das gute Aussehen ihrer Mutter geerbt, sondern auch die Begabung, sich leicht im All zurecht zu finden und beinahe instinktiv auch bei längeren Sprüngen die Orientierung zu behalten. Die vierte Person an Bord war Netta, Mattas Brütling, wie alle Pthokorr telepathisch hoch begabt und etwa 7 Meter lang, mit dem Oberkörper, den Schultern und Armen einer menschlichen Frau, auf den Schultern ruhte ein Kopf mit humanoid-weiblichem Gesicht, umrahmt von dicken, sich ständig in Bewegung befindlichen Tentakeln. Mit einem Alter von anderthalb Jahren war Netta noch nicht ganz erwachsen, der Reifegrad mochte einem menschlichen 17-jährigen entsprechen und Netta unterschied sich auch sonst ein wenig von Matta. Auch wenn Pthokorr eingeschlechtlich und selbstbefruchtend sind, mutieren bei jeder Eiablage einige Gene, sodass jedes Pthokorr als eigenständiges Individuum zu verstehen war und noch ist. Wo Matta grüne Schuppen aufwies, waren es bei Netta blaue, die an sich sowieso für Pthokorr völlig nutzlose üppige Oberweite Mattas war bei Netta eher klein und würde auch nicht mehr wachsen.

Oberleutnant Lydia Halverdorn hatte sich mit diesen vier Leuten rasch eine gute Mannschaft zusammen gestellt und sie in die PB HS – die Patrouillenboot HEPHAISTOS Station – 051 befohlen. Obwohl die Techniker die einundfünfzig für den Start vorbereitet und frei gegeben hatten, befahl die erfahrene Füchsin, vor dem Ausschleusen die gesamte Checkliste noch einmal durchzugehen.
„Wenn ihr das Kommando über ein Boot habt, könnt ihr es halten, wie ihr wollt“, grinste sie die jungen Männer an. „Aber ich muss drei minderjährige Kinder wieder auf die HEPHAISTOS zurückbringen!“
„Ich muss protestieren“, rief Wassili Petrowitsch. „Nicht gegen die Checkliste, die ist selbstverständlich, sondern gegen das Kinder! Ich bin seit vorgestern offiziell Volljährig.“
„Als Baby hätte ich nicht einmal das Ass der Asse an die Steuerung gelassen!“ Lydia feixte immer noch. „HEPHAISTOS Kontrolle, hier 51, bereit zum Start!“ Aus dem Lautsprecher ertönte die Stimme der ‚Traffic Controll‘, einer weiblichen Kh’Entha’hur.
„Starterlaubnis erteilt. Schott 5. Nach dem Verlassen des Schotts sofort nördlich, 34 Grad. Geschwindigkeit 30 % Feldantrieb bis 5.000, danach alles frei. Guten Flug, 51.“
„Bestätige, 5, Nord 34, 30 Feld bis 5.000. Kein Verkehr.“ An der Schmalseite des scheibenförmigen Rumpfes der HEPHAISTOS, zwischen zwei der Zylindern, öffnete sich das Schott zu Hangar 5, hinter welchem 10 der diskusförmigen Patrouillenboote auf ihren Einsatz warteten. Langsam schwebte die 51 aus der Öffnung und bewegte sich in einem Winkel von 35° von der Station in nördlicher Richtung weg. Den Norden der HEPHAISTOS bildete die Klarstahlkuppel und den Süden demnach der Raumhafen, der Westen war völlig willkürlich mit Zylinder Nummer eins festgelegt, irgendwo musste es einen solchen Orientierungspunkt eben geben. Dieser Zylinder trug eine rote Linie und im Normalfall, bei DefCon 1, ein Leuchtfeuer.
„Erreichen Entfernung 5.000 Kilometer.“ meldete Ymphida.
„Danke, Nav.“ Lydia lehnte sich bequem zurück. „Wassili, jetzt zeig uns mal, was das Ass so drauf hat. Gib Stoff, Bubi!“ Wassilis Augen blitzen erfreut auf, auch wenn die Aufgabe bisher einfach war und bis zum Sprung wahrscheinlich auch bleiben würde. Trotzdem, er flog einfach zu gerne manuell, und so zog er den Hebel für die Beschleunigung auf vollen Schub, mit 770 km/sec2 beschleunigend raste der Diskus in Richtung des Stern Orion Ln 7G davon.

Ymphida Madrani hatte das Zielgebiet genau berechnet und meldete es Lydia Halverdon, die zufrieden nickte.
„Sprung einleiten“, befahl sie.
„Sprung einleiten“, bestätigte Ymphida. „Steuerung an Neuronik übertragen – jetzt!“ Die junge Onbafonin drückte ihren langen, schlanken Zeigefinger auf das grüne Feld ihres Touchscreens.
„Steuerung übernommen!“ klang es aus den Brückenlautsprechern, die neuronische Picotronic nahm die von Ymphida berechneten Daten, rechnete noch einmal nach, fand bis auf 43 Stellen hinter dem Komma keine Differenz und leitete die Transitsequenz ein. „Transit in 10 Sekunden! … in 4, 3“, Energie baute sich auf, krümmte, verzerrte den Raum zwischen dem Standort des Diskusschiffes und einem bestimmten Punkt in der Nähe von Orion Ln 7. „Zwo, eins“, vor der 51 entstand eine optische Verzerrung, als sich das von Terranern ‚Einstein-Rosen-Brücke‘ genannte Phänomen zeigte, „Transit!“

Das Patrouillenboot durchdrang die Barriere zwischen dem Einsteinuniversum und dem Wurmloch, beinahe gleichzeitig jene zwischen der Anomalie und einem Gebiet bei Orion Ln 7, die dabei auftretenden Stoßwellenfronten, die sich ansonst durch einen großen Teil der Galaxis fortbewegt hätten, wurden noch im Ansatz durch ein ‚Gleitfeld‘ nach außen verhindert, der kurze, durch das unterschiedliche Energieniveau zwischen der 51 und ihrem Inhalt und dem Inneren des Wurmlochs entstehende Schmerz durch ein ‚Dämpfungsfeld‘ nach Innen. Fast in Nullzeit hatte die Einundfünfzig 85 Lichtjahre zurückgelegt und raste, durch den Transit nur wenig gebremst, auf den anvisierten Stern zu.

*

„Kommunikation! Haben wir die Möglichkeit, der GIULIA FARNESE eine Nachricht zukommen zu lassen?“, fragte Reginald Starlight, obwohl er die Antwort eigentlich kannte. Aber manchmal hatten Spezialisten eben doch noch das eine oder andere Ass im Ärmel.
„Nun…“ Valentina Marconelli zögerte.
„Ja?“, hakte Reginald hoffnungsvoll nach.
„Wir haben hier noch einen fertigen Jammer. Wenn wir den Text verschlüsseln könnten, denn er wird in ganz M13 laut und deutlich zu hören sein.“
„Ach, wir haben einen Jammer auf Lager?“, freute sich Reginald. „Moira, sie wissen doch sicher eine fähige Person, die den Jammer drei, nein, besser vier Sprünge von uns fortbringt und auf Miridan ausrichten kann. Vielleicht ein paar mal, etwas gestreut!“
„Sicher! Welchen Text, Chief Junior?“ Moira hob eine Augenbraue und sah den Sohn Tanas an, der grinste kurz.
„Aus dem Archiv. Zuerst von Richard O’Brien ‚And crawling on the planet’s face – Some insects, called the human race – Lost in time, and lost in space…‘, danach Arlo Guthrie!“, und er begann zu singen „Good morning, America, how are you – don’t you know me, i’m your native son, – i’m the train, they call the City of New Orleans – i’ll be gone five hundred miles when the day is gone.“
„Und Du denkst, sie wird es verstehen?“, wunderte sich Moira.
„Ist eine Mutter-Sohn-Sache!“ antwortete Reginald breit grinsend.

*

Orion Ln 7G.
Am Rand des Systems

Es sah aus, als bilde sich am Rand des Systems eine große Linse, welche die Sternkonstellationen dahinter verzerrten, nach Sekundenbruchteilen brach ein Diskus daraus hervor und jagte mit hoher Geschwindigkeit der Sonne entgegen.
„Ruder, ich möchte so nahe, wie es ohne Schaden geht, an die Sonne. Und das so schnell wie möglich!“ Lydia wollte sich einmal selbst ein Bild von den Fähigkeiten Wassilis machen, der das Boot wie einen um vieles leichteren Raumjäger durch das System flog. „Ortung! Netta? Kannst etwas sehen?“ ‚Informationen sind das halbe Leben, und die andere, was man daraus macht‘, diesen Satz hatte ihr der CO der Hydra, Isey Kawana, immer und immer wieder eingebläut.
Das junge Pthokorr meldete sich. „Sieben Planeten, CO. Zwei und drei in habitabler Zone, zwei eine Wasserwelt. Knapp innerhalb der Bahn der Nummer sieben ist ein künstlicher Körper auf Zielkurs Planet zwei!“
„Ganz sicher künstlich?“ fragte Lydia nach, Netta bekam heiße Ohren.
„Äh, der Körper verzögert mit einem G. Entschuldigen Sie die nicht komplette Antwort, CO!“
Lydia winkte ab. „Schon gut. Größe?“
„Zylindrisch, Länge 552,68792 Meter, Durchmesser 208,684. Der Antrieb…“ das Pthokorr zögerte, konnte den Anzeigen kaum glauben. „CO, das ist ein atomarer Plasmaantrieb. Nicht sehr effizient für interstellare Reisen.“
Mahmoud lachte laut los. „Immerhin haben sie es geschafft, in dieses System zu springen. Mehr Mut als Erfahrung, möchte ich annehmen!“
„Du meinst, so etwas wie ein Probeflug oder gar ein Prototyp?“, spekulierte Ymphida, und Wassili sagte dazu auch noch seine Meinung
„Hey, ihr Sprung ist gelungen und hat uns hier her gelockt. Mal sehen, was das für Leute sind.“
„Das wollen wir. Bringen sie uns zwischen den zweiten Planeten und die Sonne. Wenn die Orter nicht besser sind als der Antrieb, werden sie uns nicht sehen.“

Wasserplanet
An Bord der ACHASSA

„Wieso haben wir den Flugkörper nicht gesehen, bevor er über uns war?“ tobte Rhossoma in der Kommandozentrale der ACHASSA. „Leutnant Ssanssal, wie erklären Sie das?“
„Herr!“ Der Wachoffizier stand mit Panik in den Augen stocksteif vor seinen Kommandanten. „Das Fluggerät muss direkt aus der Sonne gekommen sein. Ich bitte um Begutachtung der Aufzeichnungen. Herr, ich habe noch nie auf Posten geschlafen oder schlecht aufgepasst!“
„Zeigen Sie schon her!“ forderte Rhossoma ruhiger, aber immer noch unwirsch. Der Leutnant wandte sich um und schaltete.
„Hier, Herr“, wies er auf den Bildschirm. „Es ist einfach auf keinem der Geräte etwas zu erkennen!“
„Ich entschuldige mich, Leutnant!“ Rhossoma musste einsehen, dass Ssanssal tatsächlich keine Warnung geben konnte, auf den Aufzeichnungen war der Körper erst knapp vor Rhossomas Reaktion erschienen. Sein Halsschild, das sich bereits wieder angelegt hatte, blähte sich erneut, ein Zeichen seiner Erregung. „Wie kann ein Meteor so schnell sein? Und wo bleibt die Flutwelle? Geben Sie nochmal die Aufzeichnungen her, Leutnant. Und – schauen sie mit, vielleicht sehen Sie etwas.“

„Hier!“ der Leutnant wies auf eine Stelle. „Aber – entweder ist unser Gerät kaputt…“
„… oder wir Ssossri sind nicht die einzigen Intelligenzen im Universum!“ grübelte Rhossoma. „Und die Anderen sind uns technisch weit voraus“, warf Chussogh ein. „Oder könnten wir eine solche Beschleunigung erreichen?“ Die Halsschilde brachen zusammen, um sich gleich wieder aufzustellen.
„Beim ersten Gelege! Das ist richtig!“ rief Rhossoma. „Und wir können so kleine Raumschiffe gar nicht bauen! Waffen ausgeben, aber ruhig verhalten.“
Die Wangenfedern Chussoghs vibrierten vor Lachen. „Wenn sie bei der Geschwindigkeit nicht in der Atmosphäre verglüht sind, werden sie über unsere Bleikugeln nur lachen.“

An Bord der 51

„HEPHAISTOS, Sie sind auf dem zweiten Planeten gelandet. Eine Wasserwelt mit ausreichend Sauerstoff.“ Lydia hatte über ein winziges Wurmloch mit der Station Verbindung aufgenommen, Reginald hatte den erfahrenen Crest gebeten, gemeinsam mit Moira die Leitung zu übernehmen und hielt sich im Hintergrund.
„Verstanden. Irgendwelche Kommunikationssignale?“
„Bisher nicht, Crest.“ Lydia betrachtete die Bilder einer Minisonde. Zwei Echsen standen auf dem Ringwulst und unterhielten sich.
„Macht sie auf Euch aufmerksam!“ sagte Crest. „Fliegt hin und versucht es optisch!“
„Aye, Sir!“ Lydia beugte sich zu Wassili Petrowitsch. „Also, Wunderknabe. Aus der Sonne über die Fremden, mit Überschall, damit sie uns bemerken, eine Kehre und dann neben dem Schiff schweben.“
„Danke!“, rief der Kiewer aus vollem Herzen. Dann raste der Diskus unter seiner Steuerung dem zweiten Planeten entgegen, drang ein wenig abgebremst in die Atmosphäre, immer noch schnell genug, um die Luftmoleküle zu ionisieren und zum Leuchten zu bringen. Geschickt benutze Wassili den Luftwiderstand als zusätzliche Bremse und jagte den Diskus mit großer negativer Beschleunigung über das Zylinderschiff, schaltete den Antigravitationsantrieb ab. Die Schwerkraft zog den Diskus hinab, in einer weiten Kurve legte Wassili die 51 parallel zur Wasseroberfläche und trieb das Patrouillenboot mit dem Feldantrieb zurück zum Echsenschiff.
„Feiffel, mit den Positionslampen die Primzahlen blinken!“ befahl Lydia der Neuronik, die sofort gehorchte.

Auf dem Ringwulst erschien wieder eine Echse in einer rotbraunen Uniform, sechs Lampen auf dem Wulst wiederholten die Primzahlen bis elf, dann blinkte es dreimal kurz, einmal lang, einmal kurz, Pause, viermal kurz, Pause, einmal, fünfmal, neunmal, zweimal.
„Pi“ riefen Mahmoud und Ymphida synchron.
„Da haben wir einen Anfang“, freute sich Lydia und ging zum Lift. „Ymphida, Sie haben die Brücke!“
Aus der unteren Schale des Diskusraumers schob sich eine teleskopartige Röhre, zwei Elemente mit je zweieinhalb Metern Länge und im unteren Teil vier Meter im Durchmesser. Ein Segment des unteren Röhrenteils öffnete sich, und ein intelligenter Saurier stand im Abstand von 25 Metern einem intelligenten Säuger gegenüber. Rhossoma hob beide Hände und zeigte seine Handflächen, und Lydia erwiderte die Geste.
„Er meint es ziemlich ernst“, berichtete Netta über Lydias Earphone. „Allerdings hält er dich für ein seltsam gebautes Echsenwesen, wie er selbst es ist.“
„Dann wollen wir ihn einladen. Feiffel, bitte eine energetische Rampe!“ Schimmernd baute sich zwischen der Teleskopschleuse und dem Ringwulst der ACHASSA eine Brücke auf, und Lydia betrat diese ohne zu zögern. Als sie zwei Schritte gemacht hatte, verlagerte die intelligente Echse versuchsweise auch ihr Gewicht darauf und ging dem Menschen entgegen.

„Rhossoma!“, sagte er mit rauer, zischender Stimme, während er die Hand auf seine Brust legte, und Lydias Sopran antwortete mit der gleichen Geste.
„Lydia!“ Sie hob ihre Hand, die Finger weit gespreizt, und hielt sie Rhossoma mit der Fläche nach vorne entgegen. Die Wangenfedern vibrierten vor Aufregung, doch er legte sanft seinen Daumen an den Daumen seines Gegenübers, registrierte den fünften Finger Lydias, so wie sie bemerkte, dass ihr Gegenüber nur vier besaß.

*

M 13

System Arkon, Mond Naator
Die Kaserne von Ausbildungslager I

„Haaaabt acht!“ peitschte eine blecherne Stimme über den Kasernenhof. Vor einer Kompanie, organisiert in 5 Zügen zu je 20 Naats hatte sich ein grob humanoider Roboter aufgebaut und kommandierte. „Zum Gruß an den Erhabenen, rrrreeeechts schaut!“ Ein alter, etwas gebeugt wirkender Arkonide schlurfte aus dem Gebäude und blieb vor dem Robot stehen. Dessen Faust flog an die Stirn, als aus seinem Vocoder die Worte „Kommandant, Meldung! Die sechste Ausbildungskompanie des achten Regiments der fünften Brigade ist vollzählig angetreten!“ kamen. Der Arkonide in seinem grauen Thermooverall mit den drei schwarzen Monden auf der rechten Brustseite wedelte einen nachlässigen Gruß.
„Weitermachen!“ sagte er nur, und der Robotfeldwebel wandte sich an die Naats.
„Haaabt acht! Rrrrüüühhrt euch!“ Die starre Haltung der Naats erschlaffte ein wenig, drei Wochen Exerzierdienst lagen hinter ihnen. Sie hatten gelernt, dass man den Befehlen der Roboter besser nachkam, weil es ansonst schmerzhaft werden konnte. Sehr schmerzhaft, und die Ehre eines Todes nach verlorenem ernsthaftem Kampf wurde ihnen auch verwehrt. Diese dünnen Blechmännchen waren um vieles stärker als sie wirkten, und wenn es doch gelang, eines zu zerlegen, kamen zehn andere. Und dann wurde es schlimm, es wurde nicht nur schmerzhaft, worüber die Naats nur lachen konnten, es wurde peinlich. Und die Roboter, auf die Psychologie der Rekruten programmiert, fanden immer neue Weg, ihre Untergebenen zu demütigen, wenn sie nicht gehorchten. Und so folgten die Naats eben den Befehlen der Roboter, es war am wenigsten ehrlos. Vor allem, weil über den Robotern ja auch noch die Arkoniden standen, und die standen nun einmal über den Bewohnern des Planeten Naat. Die Naats dieser Kompanie waren, wie man es früher unter Reitern über Pferde gesagt hätte, nach den drei Wochen eingebrochen. Noch genug Kampfgeist, um eventuell gegen den Feind zu kämpfen, nicht mehr genug, um gegen Befehle zu revoltieren.

Das Problem bei der soldatischen Grundausbildung von Naats bestand nicht etwa darin, sie das Kämpfen zu lehren, das beherrschen sie bereits hervorragend. Auch körperliche Fitness und Stärke waren bereits im Überfluss vorhanden und kein Problem. Es war die Disziplin. Das Kämpfen im Verband, nicht gegeneinander, sondern miteinander. Naats sind vor allem große Einzelkämpfer, Naat gegen Naat, im ehrlichen, fairen Ringkampf. Oft wird behauptet, der Unterlegene stürbe nach einem solchen Kampf auf jeden Fall, doch das ist nur bedingt richtig. Ausschließlich bei offiziellen Muathamen oder einer ernsthaften Herausforderung auf das Leben muss einer von den Kämpfern sterben, bei Übungs- und Trainingskämpfen, die unter ansonst gleichen Regeln stattfanden, ist der Tod eines der Kontrahenten nicht beabsichtigt, und das Verlieren und Überleben gilt auch nicht als Schande. Schließlich muss auch ein Naat zuerst einmal das kämpfen lernen, und für das Überleben der Spezies wären ständige Kämpfe auf Leben und Tod nicht zuträglich. Aber weil eben körperliche Stärke und Ausdauer den Naats bereits zu eigen war, bestand der Beginn einer Ausbildung nicht aus stumpfsinnigem über den Kasernenhof laufen, wie es bei Arkoniden üblich ist, sondern aus nicht weniger stumpfsinnigem stillstehen und salutieren.

Nach zwei Wochen Drill begann die Ausbildung an einer Handfeuerwaffe. Der Neurogent wollte, wenn er schon lebende Biomasse transportieren musste, zumindest bewaffnete Biomasse an Bord haben. Außerdem rechnete er damit, nach der Befriedung des Miridan-Sektors eine Besatzungsmacht zurück lassen zu müssen. Einige Naats unter dem nominellen Befehl eines arkonidischen Administrators, der die Befehle des Neurogenten entgegen nahm, und dem wirklichen Kommando einiger Roboter konnten nicht schaden. Lebewesen kapitulierten seltsamerweise eher vor anderen Lebewesen als vor Maschinen. Also begann der Drill von neuem. Pflege der Waffe, Handhabung, Wartung, Schießtraining. Tagaus, tagein. Dazwischen im Gleichschritt zum Essen, zum Schlafen, zum Pinkeln. Vier Wochen Waffenausbildung, unterbrochen von Hypnoschulungen zur Orientierung in den Raumschiffen der Arkonflotte. Nicht, dass der Neurogent vorgehabt hätte, die Naats in sensible Bereiche kommen zu lassen. Aber einer der Naats musste sich ständig in der Zentrale aufhalten, und daher war es unumgänglich, sie zu dressieren. Sie mussten lernen, welche Knöpfe sie drücken durften und welche eine schlimme Strafe nach sich zogen. Ganz so, als könnten Naats nicht denken und wären dumm, was sie im echten Leben durchaus nicht waren, nur in der Vorstellung der meisten Arkoniden. Und die Programmierung des Neurogenten stammte nun einmal von diesen.

Im Speisesaal der Naats herrschte lautes Treiben. Was man auch immer den Bewohnern des riesigen Planeten, um den der Mond Naator kreiste, nachsagen konnte, leises Sprechen gehörte nur selten dazu. Wenn man permanent einen Orkan übertönen muss, gewöhnt man sich eben besser eine laute Stimme an und hält seine Kommunikation kurz und prägnant. Über diesem Raum lag auf einem verglasten Balkon die Offiziersmesse mit arkonidischen Verhältnissen, humaniforme Roboter servierten den Erhabenen das Essen und den Wein.
„Halbe Tiere!“ Martkam domKritol nippte an seinem Glas Phoolgawein. „Wie sie schreien und schwatzen, wie sie schlürfen und das Essen in sich hineinschaufeln. Ich könnte mich übergeben, sie haben keine Manieren!“ Er stocherte mit der langen, fünfzinkigen Gabel auf seinem Teller. Howğhãn tiKôophor spießte ein winziges Stück zalitische Wildechse auf und kaute genießerisch mit geschlossenen Augen. Llęghron taMoğþor, der alte Kommandant, mit den zwei Planeten auf der Brust, hatte die Augen geschlossen.
„Che’Huan“, stöhnte er leidvoll. „Ich weiß schon nicht mehr, wann ich in letzter Zeit in aller Ruhe unter den Simulatorschirm liegen konnte. Immer wieder wollen diese Roboter etwas von mir. Haben wir die nicht gebaut, damit sie uns die Arbeit abnehmen? Jetzt sollen sie das doch auch machen! Die große Neuronik auf Arkon III fällt doch sowieso alle Entscheidungen!“
„Wozu braucht man uns denn noch? Wir haben uns doch wahrlich Ruhe verdient!“ lamentierte Martkam.
Howğhãn öffnete die Augen. „Warum kann man eigentlich ein rotes Heptagramm nicht mit einem gelben Hexagon umgeben? In umgekehrter Farbgebung funktioniert es doch auch!“
Llęghron setzte sich voll Interesse aufrecht hin. „Du hast recht! Das ist ein Phänomen! Vielleicht…“

*

System Sol
Terra, USA, Black Hills national Park

Captain Jason Terry Jones war CO der VNS AUSTRALIA, eines von bislang vier Schlachtschiffen der VIRIBUS-Klasse im Dienst der Vereinten Nationen, ausgerüstet mit den modernsten APC zur Energiegewinnung. Bis alle drei Forts im Erdorbit ihren Dienst aufnahmen, sollten die AUSTRALIA, AFRIKA und die SÜDAMERIKA gemeinsam mit der VIRIBUS UNITIS ihren Wachdienst in der Erdumlaufbahn versehen, danach sollten sie für ähnliche Aufgaben im Gopkar-Sektor stationiert werden. Die Erde zu schützen war eine wichtige Aufgabe, und Captain Jones kam ihr mit großem Eifer nach, auch wenn bisher nicht viel zu sehen war. Die Ortungsdaten gingen an die UNO, die Lunare Verteidigungszentrale der GCC, die VIRIBUS UNITIS und – an John T‘oel Wičháša in South Dakota.

John lebte in einem unauffälligen Blockhaus am Rande der Black Hills ein einfaches Leben, jeder in der Umgebung kannte ihn. Oder besser, wusste von ihm, denn John T’oel Wičháša war der perfekte Jäger, wenn er es so wollte, sah man ihn nicht, wenn er so wollte, roch man ihn nicht, er konnte vollkommen mit seiner Umgebung verschmelzen und beinahe unsichtbar werden. Er hatte seine natürliche Begabung bis zur Perfektion verbessert, lange genug hatte er Zeit gehabt. John war nicht immer T’oel Wičháša und Dakota gewesen, geboren wurde er als Ergebnis einiger schwachen Stunden zwischen ‚Tau, der auf den Blüten liegt‘ und Hoakan Tanahar, einem Begleiter des Sohnes der Sonne, Inkahar, vor Jahrtausenden. Seine Mutter war das schönste Mädchen des Stammes gewesen, sie hatte dem großen Mann mit dem roten Haar gefallen, und sie war auch nicht abgeneigt gewesen, den Halbgott zwischen einigen Fellen zu treffen und wurde prompt von ihm schwanger.

Zuerst hatte man nicht viele Unterschiede zwischen dem Sohn des Halbgottes und den anderen Kindern des Stammes festgestellt, doch dann sah man es. Er wuchs zwar langsamer, dafür war er ein wenig schneller im Denken, und er hatte Ahnungen, sah etwas, das andere Menschen nicht sahen. Eines Tages, er war so etwa acht Sommer alt, ging er zum Ältesten und sagte
„Ich weiß nicht, warum, aber wir müssen von hier weg, weiter nach Sonnenuntergang, dem Fluss entlang höher in die Berge.“ Der Alte überlegte einige Zeit, das Kind hatte schon mehrfach etwas gesagt, dessen Befolgung dem Stamm Vorteile brachte, also hob er seinen Stab.
„Nehmt, was ihr tragen könnt! Wir gehen.“ Einige Wochen später war das Gericht der Götter über die Welt gekommen, aber der Stamm hatte überlebt.

Nun, der Stamm brauchte nicht nur starke Männer und Anführer, sondern auch bedächtige Berater und Beraterinnen, und diese Funktion konnte der Knabe ausüben. Und vielleicht wuchs sich die mangelnde Größe ja noch aus. Das tat sie, der Knabe bekam bald den Namen Hanapiulwukul, was langer Speer bedeutete. Hanapiulwukul brachte dann als Jäger in kürzerer Zeit mehr Wild nach Hause als alle anderen und hatte so Zeit, gründlicher nachzudenken. Er nahm sich eine Frau, die ihm drei Kinder gebar und schließlich alt wurde. Eines Tages begrub er die alt gewordene Mutter seiner Kinder und bemerkte, dass er sich kein bisschen verändert hatte, seit er erwachsen geworden war. Da bedeckte er Mopurawda mit Erde und verschwand ohne Abschied aus dem Leben seines Stammes.

Lange Zeit wanderte er über die Erde, ohne Rast, unsterblich. Obwohl er zum geübten und starken Krieger wurde, setzte er sich doch stets für friedliche Lösungen ein. Er änderte immer wieder seinen Namen und seine Stammeszugehörigkeit, wie auch immer es nötig war und überlebte. Er hatte öfter geheiratet, als er zählen konnte, und seine Nachkommen lebten überall auf dem Doppelkontinent. Er riet einem starken Volk, alle Völker unter ein Gesetz zu einen, und der Staat des Inka breitete sich über die gesamten Anden aus. Er lehrte einem anderen Stamm die Lehren der ‚Schlange, die fliegen lernte‘, daraus machten die Maya und die Azteken den Gott Federschlange, den einzigen, der keine Menschenopfer forderte. Leider verehrte man die blutdurstigen Götter bald mehr als Quetzalcoatl.

Ein anderes Mal nannte er sich Hiawatha und einte 5 Stämme unter einem Gesetz, er gab den Dakota einen Platz, an dem sich auch verfeindete Clans in Frieden treffen konnten, um miteinander zu sprechen, Wakan Tankas Thron, die Black Hills. Er entging den Waiscun, den weißen Männern, und half den in die Reservate gesperrten indigenen Stämmen. Er lernte, denn so klug er auch war, er besaß keine Bildung und verstand dies als Missstand. Er sog das Wissen, das sich ihm zur Verfügung stellte, wie ein Schwamm auf, erweiterte es noch durch eigenes Nachdenken. Nur, woher eines Tages die Narbe auf seiner rechten Brust kam, und was dieses kleine Ding darunter war, darauf fand er keine Antwort. Er lernte unauffällig weiter und wartete.

*

System Sol
Interplanetarer Raum

Einen langen Feuerschweif hinter sich herziehend raste ein Flugkörper mit halber Lichtgeschwindigkeit durch das Sonnensystem und beschleunigte noch weiter mit 950 km/sec2.
„WOW!“ Julian Tifflor hatte seinen Rang benützt, um an einen GCC F3 Falcon II für einen Probeflug zu kommen, jetzt hatte er den Schubhebel am Anschlag und kostete das Gefühl der beinahe grenzenlosen Freiheit aus. Es kam selten vor, dass Julian auf seinen Rang pochte, um etwas durchzusetzen, aber diese Raumjäger – er musste sie einfach einmal selber fliegen. Tifflor führte den Steuerknüppel mit leichter Hand zur Seite, der Falke legte sich zur Flanke und begann eine weite Kurve. Die Falcons hatten einen Rumpf, der wie die Klinge eines Dolches geformt war, 16 Meter lang, 5 Meter breit, 1,5 Meter hoch. An diesem Rumpf waren beidseitig zwei an Springerschiffe erinnernde 8 Meter lange und 2 Meter durchmessende Walzen angebracht, welche die Schubdüsen des im Rumpf untergebrachten Triebwerks sowohl für Vorwärts- als auch Rückwärtsschub sowie je 6 Abschussrohre für insgesamt 12 Raketen enthielten, im zweiten Viertel ragte die 50 Zentimeter hohe, ein Meter breite und vier Meter lange Pilotenkanzel heraus, im Bug waren je eine Impuls- Desintgrator- und Thermokanone verbaut. Sergeant Marcel Roux, ein alter, erfahrener Testpilot folgte mit einem zweiten Jet und lieferte Tifflor Aufnahmen seines Abfangjägers von außen.

„Sarge, das Ding ist ja phantastisch! Was macht es Spitze?“ fragte er aufgekratzt.
„0.8 Licht, Sir!“ Marcel Roux war ein alter Hase als Testpilot für die GCC und kein Freund vieler Worte, es sei denn, er gab seine Eindrücke während eines Testfluges an die Kontrollstelle weiter. „Der alte Falcon war ja schon Spitze, aber dieses Ding hat mehr Energie, als man sich vorstellen kann!“
Übermütig drehte der jung gebliebene Mann eine Rolle. „Yippie yi ooh, yippie yi yay! Okay, Sarge, fliegen wir nach Hause. Ich möchte mir auch noch das neue Kanonenboot ansehen!“
Die Kanonenboote der GCC, die B2 Bearpaws, waren eigentlich schon kleine Schiffe, denen nur noch ein Transitaggregat fehlte. Eine Walze, 22 Meter lang, 7 Meter im Durchmesser, im Dreieck angeordnete flache Ausbuchtungen für die Schuböffnungen der mächtigen Triebwerke und je zwei Rohre für Marschflugkörper, diese Buckel waren 16 Meter lang, zwei Meter breit und 0,75 hoch. Im Rumpf das Cockpit für eine Besatzung von drei Personen, ein Aufenthaltsraum mit Zugang zu drei Röhren, ein Meter Durchmesser und zwei lang, verschließbar, mit einer Koje darin, eine kleine Küche und ein Dusch- und Waschraum, dazu 12 Startrohre für ‚Torpedos‘. Insgesamt eine Einrichtung, die es der Besatzung erlaubte, auch einmal längere Zeit im Operationsgebiet zu verbringen, falls die großzügig dimensionierten Wassertanks gut gefüllt waren und die Wiederaufbereitungsanlage funktionierte.

Die Boote besaßen auch eine starke Bewaffnung, denn zwischen den Ausbuchtungen lagen drei flache Geschütztürme, die jeder je eine überschwere Ausführung von den drei bekannten Energiewaffen trugen. Dazu gerechnet die Fähigkeit, mit 800 km/sec2 zu beschleunigen, war dieses Boot hervorragend geeignet, als ‚Coast Guard‘ die Grenzen eines Sonnensystems zu überwachen oder eine vorgeschobene Bedeckung eines großen Schiffes während einer Ruhepause zu stellen. Und natürlich einem Feind kräftig weh zu tun, mit seinen Schirmen und seiner Bewaffnung war das Boot im Verband schon eine Bedrohung auch für größere Kreuzer. Tifflor ließ es sich nicht nehmen, auch mit diesem Boot eine Probe zu fliegen, er staunte, wie leicht und wendig in der Relation zu Masse und Geschwindigkeit diese Geräte geblieben waren, und er sparte nicht an Lob für die Konstrukteure. Jetzt mussten nur noch genügend Piloten rekrutiert werden. Irgendwie musste es die GCC schaffen, ein Jagdfliegerprogramm auf die Beine zu stellen und mehr Piloten auszubilden.

System Reggy
An Bord der HEPHAISTOS

„Habe ich Dir schon gesagt, welch graziösen Rücken du hast?“ Marie France Meunier lag auf dem Bauch, Reginald Starlight hatte sich auf den linken Ellenbogen gestützt und streichelte über ihr Rückgrat.
„Mhm!“ brummte sie nur.
„Und habe ich schon erwähnt“, seine Hand glitt tiefer, streichelte ihre rückwärtigen Rundungen „welch göttlichen Hintern Du hast?“
„Ja, ich glaube mich daran erinnern zu können. Vierzig oder fünfzig Mal!“ antwortete sie kurz.
„Und Dein entzückendes Muttermal über…“
„Ja, auch das!“ unterbrach Marie France, drehte sich auf den Rücken und setzte sich auf. „Reginald, wir müssen reden! Wir haben ein Problem!“ Ihre Stimme klang belegt.
„Na schön!“ Der Enkel Rhodans wurde ernst und setzte sich ebenfalls aufrecht. „Dann fang einmal an, meine Sonne!“
„Ach, Reginald!“ Marie France begann leise zu weinen. „Ich habe mich doch vorgesehen, ich habe die Pille genommen und mir zusätzlich ein Diaphragma einsetzen lassen, und trotzdem, verdammt, Reg! Ich bin schwanger! Ich versteh’s nicht, ich kapier nicht, wie das geschehen konnte! Es, es tut mir so leid!“
Reginald begann zu lachen. „Ich habe nur eine Bitte! Wenn es ein Sohn wird, nennen wir ihn weder Perry noch Reginald. Ich flehe Dich an.“
„Reg!“ fuhr Marie France auf. „Ich meine es ernst! Ich bekomme ein Kind! Von dir!“
„Ich meine es auch ernst“, lachte er weiter. „Perry Starlight! Das klingt doch nicht gut.“
„Wieso Perry Starlight und nicht Peri Meunier?“
Er zog ihren Kopf zu sich, um sie zu küssen. „Weil ich dich zu einer ‚ehrbaren Frau‘ machen will“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Falls du mich lässt! Nicht, dass du ohne Heirat nicht ehrbar wärst, aber…“ Die letzten Dämme in Marie France brachen, sie schluchzte hemmungslos, an Reginalds Schulter gelehnt, der die ihren zart liebkoste und sie fest an sich drückte.
„He, ich wusste gar nicht, dass es so schlimm ist, mich heiraten zu müssen“, versuchte er die Stimmung zu lockern. „Obwohl, du hast mich auf eine Idee gebracht. Reginald Meunier, Ehemann von Marie France und Vater von Marcel. Oder Claude? Claudine, Mireille?“
„Ernsthaft?“ Marie France schaute auf.
„Ernsthaft. Machst Du mich zu einem ehrbaren Mann, Marie France?“ Reginald setzte seinen treuesten Dackelblick auf.
„Ach du lieber Dummkopf, du! Komm und küss mich!“ forderte Marie France ihn auf, während sie gleichzeitig mit einem Kissen nach ihm schlug.

⭐️

M 13, Republik Miridan
Richtung galaktisches Zentrum, System CPF 002/07, Imperators Wache

Der Zentralstern von CPF 002/07 im arkonidischen Sternkatalog war ein blauer Hyperriese mit der vielfachen Masse eines Sternes, wie es die irdische oder arkonidische Sonne ist, die Oberflächentemperatur, welche die arkonidische Registratur mit 44.780 Arkongraden, was umgerechnet 43.901,960 Grad nach Celsius sind, angab, machte den Giganten selbst für einen Stern der Spektralklasse O zu einem selten heißen Phänomen. 21 zum Teil riesige Planeten mit insgesamt 783 Monden und Millionen, Milliarden kleiner und kleinster Körper bildeten ein ausgedehntes ringförmiges System, wie es öfter einmal bei Planeten, selten aber bei Sternen vorkam. Aufgrund seiner Leuchtkraft, seiner in Relation zu M 13 halbwegs stabilen Lage und der extrem scharf gezeichneten Spektrallinien war der von Arkon aus mit freiem Auge sichtbare Stern Imperators Wache im Sternbild Pahrelê, der etwa 987 Lichtjahre entfernt von Arkons Sonne lag, ein willkommenes Leuchtfeuer und Orientierungspunkt für die Durchquerung des miridanischen Sektors des Imperium.
Halbwegs erforscht waren allerdings nur die äußeren zehn Planeten, die nichts besonders Nennenswertes aufwiesen. Bis jetzt war noch kein bemanntes Raumschiff näher an den Stern herangeflogen, bei dem in unregelmäßigen und unberechenbaren Abständen gigantische Protuberanzen riesige Mengen Materie ins All schossen. Dieses Material sammelte sich dann in großer Dichte innerhalb der Umlaufbahn des 11. Planeten und bildete das selten beobachtete stellare Ringsystem. Arkonidische Wissenschaftler, welche die Daten der Robotsonden vor sehr langer Zeit auswerteten, kamen zu dem Schluss, dass eine genauere Erforschung nicht lohnenswert war. Die Ressourcen wären besser, oder doch zumindest gewinnbringender, zur Erschließung neuer Kolonialwelten einzusetzen. Später begann der Methankrieg, und Niemand auf der Zentralwelt dachte mehr an die sechs Satelliten, die immer noch ihre Daten nach Arkon funkten, ohne beachtet zu werden. Ein Sender nach dem anderen fiel aus, und niemand fand es der Mühe wert, eine Reparaturdrohne auf den Weg zu schicken. So war zwar ein altes arkonidisches Ortungs- und Aufnahmegerät vor Ort, als sich außerhalb des Systems eine große Linse zu bilden schien und ein Gigant mit einer grellen Leuchterscheinung daraus auftauchte, der mit enormen Triebwerksleistungen verzögerte und endlich noch außerhalb der Bahn des 15 Planeten, weit von der gefährlichen Zone entfernt, relativ zur blauen Riesensonne zum Stillstand kam, aber niemand erfuhr je von den angezeigten Werten und den aufgezeichneten Bildern.
Der Riese war eine Walze, nach der von den arkonidischen Messgeräten benutzten Skala 1,45 Dran oder 2.132 Meter lang und hatte einen Durchmesser von 0,24 Dran beziehungsweise 353 Meter. Diese Walze wies in der Mitte eine 0,72 Dran, also 1.058 Meter lange flache, beidseitig kegelförmige Verdickung auf, der den Durchmesser von 0,36 Dran, das sind 530 Meter an den dem Bug und Heck zugewandten Seiten bis zu 0,48 Dran, immerhin 705,5 Meter vergrößerte, und dieser Doppelkegel wurde noch von einen flachen Reif von 0,24 Dran, 353 Meter in Bug-Heck-Richtung umgeben, der gesamte Durchmesser des Schiffes betrug dort 0,6 Dran, stolze 882 Meter. In diesem flachen Ringwulst des Rumpfes lagen in acht Gruppen zu je 3 die 24 Schuböffnungen für die Triebwerke, sowohl nach vorne als auch nach hinten gerichtet, auf diesem Wulst befanden sich vorne und hinten je ein Ring mit sechzehn Geschütztürmen in regelmäßigen Abständen, welche schwere Energiewaffen zum Einsatz bringen konnten, noch schwerere Bewaffnung war in zwei Ringen zu je 8 auf den mittleren, kegelstumpfartigen Decks untergebracht. In diesen 32 mächtigen, kantigen Geschützständen auf runden, aus der Schräge ragenden Fundamenten waren jeweils ein langer Desintegrator mit dem Kaliber 0,82 Millidran, flankiert von 2 etwas kürzeren 0,78 Millidran Thermokanonen untergebracht, sie lagen bug- wie heckwärts rundum an Stellen, die von den Triebwerkstrahlen verschont blieben. Auf dem Rumpf selbst waren dann an beiden Seiten Ringe mit je 24 leichteren Geschütztürmen und Flugabwehrkanonen zu finden, auch am gerundeten Bug und Heck war leichte und schwere Bewaffnungen in Flugrichtung und nach hinten zu erkennen. Irgendwie merkte man dem ganzen Schiff an, dass es primär für den Weltraum gedacht und eigentlich keine Landung auf festem Land vorgesehen war. Auch wenn, betrachtete man die Triebwerke und die Bewaffnung, riesige Meiler zur Energieversorgung bereit stehen mussten. Das Schlachtschiff verkörperte pure, brutale Macht und es brüllte seine Herausforderung in das Weltall hinaus. Terraner mussten unwillkürlich an den Song von Johnny Cash sixteen tons denken: „If you see me comin‘, better step aside – A lot of men didn’t, and a lot of men died‘.
Auf der Wandung des Schiffes stand in arkonidischer Schrift und Sprache des Zeitalters der Methankriege ARKONS WIEDERKEHR, der einzige Hinweis auf die Platzierung des Buges, ansonst war das Schiff vorne und hinten absolut symmetrisch, und auch ein spezielles ‚oben‘ oder ‚unten‘ war nicht auszumachen. In der Kommandozentrale des Giganten, welche im geometrischen Mittelpunkt des wahrhaft überschweren Schlachtschiffes lag, schüttelte Oberst von Viertelwald seinen Kopf von den Schmerzen des Transits frei und stöhnte.
„Haben wir’s geschafft?“
„Bestätige!“ Major Bruni wischte sich mit der linken Hand Blut von der in der Nervosität angebissenen Unterlippe, während sie die zur Faust geballte Rechte triumphierend in Höhe stieß. „Nach allen Messungen der Spektrallinien ist das dort vorne Imperators Wacht“, jubelte sie laut. „Die Zivilisation hat uns wieder!“
*
Statistisch gesehen gehörte im 21. Jahrhundert terranischer Zeitrechnung die interstellare Raumfahrt mit arkonidischer oder daraus entwickelter Technik zu den sichersten Arten zu reisen, was bedeutete, dass etwa im Kristallimperium mehr Personen im Straßenverkehr, im öffentlichen Flugverkehr oder bei interplanetaren Flügen zu Schaden kamen oder starben, als bei einem interstellaren Raumflug. Wenn man jedoch die Massen im täglichen Straßenverkehr und die Menge der interstellaren Reisenden bedachte, zeigte sich ein leicht anderes Bild. Renommierte Gesellschaften hegten und pflegten ihre Raumschiffe zwar und sorgten für eine größtmögliche Sicherheit, doch bei vielen Billiganbietern blieben Reinigung, Service und Wartung oft auf der Strecke. Und manchmal bot auch die ausgefeilteste Technik, die größte Vorsicht und die beste Wartung keinen Schutz vor den Gefahren des Weltalls, die nicht immer ihren Ursprung in einem kosmischen Phänomen hatten. Besonders wenn man die gut erforschten Routen verlassen sollte. Der Leerraum war nicht so leer, wie man es sich dachte.
Es gab Völker im Weltraum, auch mitten im arkonidischen Imperium, von denen noch kein Mensch, kein Arkonide oder Mehandor je gehört hatte. Eines davon waren etwa die Tauhunivanao, deren Heimstatt ein ausgehöhlter Mond war. Er war vor vielen Generationen auf den Weg gebracht worden, um das Volk einer sterbenden Sonne zu evakuieren. Allerdings ging von diesem Volk keinerlei Gefahr für irgend jemanden aus, die an Ameisen erinnernden Wesen mit ihrer Kollektivintelligenz würden noch viele Jahrhunderte bis zum nächsten Stern brauchen und – daran vorbeifliegen. Tragischerweise hatten die Ahnen der heutigen Tauhunivanao einen winzigen Rechenfehler gemacht, als sie den Mond auf die Reise schickten, er würde den ausgewählten Planeten um weniger als 20 Astronomische Einheiten, aber doch verfehlen. Der Mond würde Jahrtausende weiterfliegen, ehe er wieder einer Sonne nahekam. Ob es die Tauhunivanao dann noch geben würde, oder wäre der Mond nur noch eine leere Hülle? Und machte es für die Tauhunivanao selbst einen Unterschied, den Planet zu verfehlen, wenn sie keine andere Existenz als eben diesen Mond kannten?
Es gab auch die zwölf Inseln der Tawromeg im Raum zwischen den Sternen und einige geheime Stützpunkte der Mehandor, der Überschweren, der Aras und auch der Arkoniden und einiger gegen das Imperium revoltierender Splittergruppen, die jedoch lange Zeit niemand ernst genommen hatte. Erst der Neurogent wollte diese Aussteiger wieder zurück in das Imperium holen. Und es gab selbsternannte Sozialreformer, nach deren Meinung eine Umverteilung des Besitzes stattfinden musste, und zwar in ihre eigenen Taschen. Einige, aber nicht alle dieser Piraten kamen aus den Reihen der Splittergruppen, die nicht alle friedlich ihr eigenes Ding durchziehen wollten. Diese Korsaren lauerten gerne in der Nähe markanter Sterne, die sich gut als Orientierungshilfe eigneten, jenen Frachtern auf, die eine Abkürzung wählten. Die, um ihre Fracht schneller zum Ziel zu bringen, diese Gefahr eben akzeptieren mussten. Und es gab gar nicht wenige, die – gegen einen gewissen Risikozuschlag, versteht sich – solche beschleunigte Routen wählten. Und manche wählten diese Routen, weil sie den Fahndern der Arkoniden entgehen wollten, die nach verbotenen Waren suchten. Nach der Machtergreifung des Neurogenten gab es wieder vermehrt arkonidische Patrouillen, die nach Schmugglern und Piraten suchten. Für so Manchen wurde die Risikofreude eben zum Verhängnis, und der schnelle Gewinn wurde zum schnellen Tod, auch Schmuggler wurden von Piraten nicht verschont. All das geschah, wie schon erwähnt, abseits der etablierten Routen, der durchschnittliche Reisende erfuhr davon überhaupt nichts, denn an die viel befahrenen und daher bewachten Strecken wagten sich die Gesetzlosen selten. Selbst in der nachlässigsten Zeit waren dort genügend Patrouillen der Arkoniden unterwegs gewesen. Nur in den letzten zehn Jahren waren die Räuber frecher und die Handelsschiffe daher stärker bewaffnet geworden.
Etwa 200 Lichtjahre von dem blauen Hypergiganten hatte das kleine 250 Meter lange Walzenschiff mit dem Namen HAK’HOOR im September 2084 allerdings einige sehr gute Gründe gehabt, die stark befahrenen Routen von M 13 in den, vom Standort der Erde aus gesehen, jenseits der Mitte des Sternhaufens liegenden Randsektoren zu meiden. Der Kommandant, ein dunkelblonder Moklarmer, hatte den Auftrag angenommen, Handwaffen in den Miridan Sektor zu transportieren. Ein überaus gewagtes Unternehmen, denn auch diese relativ kleinen Faustfeuerwaffen fielen natürlich unter das strenge Embargo, welches der Neurogent sofort über dieses Gebiet verhängt hatte.
„Alles ruhig, Kommandant!“ die goldblonde Vroonka hatte ihre Ortungsgeräte auf maximale Reichweite geschaltet, nicht die geringste Hyperenergiesignatur in der Nähe des nächst gelegenen Sternes entging ihr. Die HAK’HOOR tastete sich so vorsichtig von einem einsamen, so gut wie nie angeflogenem Stern zur nächsten, gerade in der Reichweite der Orter für Hyperaggregat-Streufelder befindlichen, Sonne. ‚Schleichfahrt‘ hatten sie das Manöver getauft, jeder Transit brachte sie nur zehn, zwölf, höchstens 15 Lichtjahre weit, sobald Vroonka feststellte, dass sich niemand dort aufhielt.
„Dann los!“ Khloos legte dem Rudergänger Koron die Hand auf die Schulter. „Bring uns hin!“ Koron schnalzte bestätigend mit der Zunge und beschleunigte, während sich Khloos zu seinem Sitz begab. Vor der HAK’HOOR schien sich das Licht der Sterne wie in einer Linse zu verzerren, das Phänomen wuchs rasch auf einen Durchmesser von 60 Meter. Gleichzeitig entstand eine ähnliche Kugellinse etwas weiter vorne und weitete sich rapid auf ein vergleichsweise riesiges Ausmaß von etwa 900 Metern, verschmolz mit der Transitlinse der HAK’HOOR, verschluckte das Feld des Winzlings.
„Was beim eisigen Aaa…“ rief Poula vom Navigationspult. Jede Bewegung in der Walze schien zu erstarren, die sechs Personen an Bord hatten das Gefühl, in Flammen zu stehen, bewegungslos, starr, selbst ein erleichternder Schrei blieb ihnen verwehrt. Sie sahen durch die Raumschiffhülle, rasend schnell schien die Bewegung zu sein, vor ihnen war nur Schwärze, totale Dunkelheit. Dann setzte ihr Denken aus…
*
„Ja Himmel, Arsch und Wolkenbruch“, brüllte Hauptmann Franz Kaufmann und schlug die Augen auf. Die Zentrale des kleinen Schiffes wurde nur schwach beleuchtet, Manöverdämmerlicht, wie es üblich war. Rasch gab er Gegenschub und suchte einen Anhaltspunkt auf den Bildschirm. Nichts, nur einige wenige endlos weit entfernt scheinende Sterne funkelten teilnahmslos und kalt.
„Veronika! Wach auf“, rief er, suchte ihren Puls und fand ihn. Eiligst holte er den Erste-Hilfe-Kasten, setzte eine Diagnoseeinheit mit fliegenden Fingern an ihren Hals.
„Was… Aaaahhhh!“ ein lang gezogener, unartikulierter Schrei drang aus ihrer Kehle, der Schmerz brach sich noch nachträglich Bahn.
„Komm zu uns, Vroni! Komm schon!“ schrie der Rudergänger die Navigatorin an. „Wir brauchen Dich!“

Rutlis Schrei ebbte langsam ab. „Schon gut, Franz, schon gut! Was – wo sind wir?“
„Gute Frage! Find’s doch bitte heraus. Ich kümmere mich um Klaus.“ Franz Konrad nahm das Diagnosemodul und lief zu Klaus von Viertelwald, dem Kommandanten des kleinen Schiffchens.
„…rrrsch! Santo Culo del diavolo!“ fluchte Major Paola Bruni und stand, sich auf ihrem Sessel stützend, mühsam vom Boden auf. „Was war das denn? Wo sind wir?“
„Hilf Veronika, es heraus zu finden“, rief Franz über die Schulter und setzte das Modul ein.
„Himmökreuzdunnawetter verdåmmte gequirlte Scheiße nochamål!“ brach es aus dem Freiherr. „Wo sind wir?“
„Bin ich das Auskunftsbüro, dass mich jeder hier das gleiche fragt?“ Karl war schon unterwegs zu Ronja Bergström, um sie zu verarzten. „Paola und Veronika versuchen es gerade herauszufinden.“
„Na schön!“ Klaus sah sich um, die zwei Frauen arbeiteten bereits an ihren Instrumenten, Karl kümmerte sich um Ronja und Dimitris rappelte sich ebenfalls gerade auf. Der CO kontrollierte rasch an seinem Pad die Schadensanzeigen – keine Lecks, keine Brüche, keine Probleme mit der Zelle, Sauerstoff – okay, Energie – der Reaktor lief, Triebwerke – grün, Transitfeldgenerator –
„WAS? Jå då varreckst, du Kripplgspüh!“ fluchte der Freiherr. „Nur no guat fir eppa 20.000 Lichtjåhr?“
„Das glaube ich nicht!“ schrie auch Paola unbeherrscht laut auf. „Vaffanculo! Das kann es nicht geben!“
„Was ist los?“ Klaus trat, immer noch aufgewühlt, aber beherrscht genug, um nicht weiter seine heimatliche Mundart zu benützen, an ihre Station.
Sie zeigte auf ihre Instrumente. „Dieser Sternhaufen hier ist M 13, dieser Stern ist Imperators Wacht, das dort Atair. Nach der Triangulation sind wir etwa 22.500 Lichtjahre grob ein wenig spinnwärts und in der Richtung vom Zentrum M13 nach Miridan gesprungen. Und über Miridan weit hinaus.“
„Was?“ fuhr Klaus auf. „Wie weit sind wir von der Zivilisation entfernt?“
„Der näheste eingetragene bewohnte Planet ist 21.578 Lichtjahre entfernt.“ Veronika hatte schon in den Katalogdateien gesucht, Klaus ließ sich wieder in seinen Sessel fallen.
„Zur Information, meine lieben Freunde, unser Antrieb ist nur noch für knapp 20.000 gut. Die Anzeige steht auf 19.831 Lichtjahre.“
„Skata! Olli i Diavoli Ein wenig mehr könnte ich vielleicht herausholen“, überlegte Dimitris. „Aber mehr als 1.500 Lichtjahre? Mit Hege und Pflege – hm, mit jeder Menge Glück, nein ich fürchte, die Differenz bleibt zu groß! Und ohne Schwerkrafttrichter … nada, nix, niente.“
„Das war’s dann wohl!“ Paola hob die Hände. „Signori, wer möchte zu meiner Lilith den Adam geben?“
„Zuerst wünsche ich mir ein schönes Paradies, dann könnte ich mich dazu vielleicht überwinden“, gab Klaus Friedrich zurück. „Und wieso Lilith und nicht Eva?“
„Weil sie die Erste und nicht die Letzte sein will!“ mutmaßte Ronja Bergström, und Paola antwortete lachend.
„Eine Eva darf nach mir an den Cavaliere, wenn ich von dem Tipo genug habe und mir einen noch unverbrauchten suche!“
„Vielleicht habe ich sogar einen Kandidaten für ein mögliches Paradies“ mischte sich Veronika ein. „Grob in Richtung Imperators Wacht gibt es einen F – Stern, unbekannt, unerforscht, wie der gesamte Sektor. Aber – diese Spektralklasse hat oft Planeten in der habitablen Zone.“
„Wie weit?“ fragte Franz, und Paola legte die Daten, die sie von den Angaben Veronikas rasch berechnet hatte, auf seinen und Franz Konrads Schirm. „Kaum zwanzig Lichtwochen!“
„Das schaffen wir doch noch ganz easy!“ meinte Klaus. „Zumindest, um dann hoffentlich einige frische Vorräte aufzunehmen und etwas anderes als arkonidische Rationen fressen.“ Franz nickte bestätigend und beschleunigte die HAK’HOOR, flog eine weite Kurve und wollte eben dem Rechner die Kontrolle übergeben.
„Stop!“ Ein Schrei Veronika Rutlis ließ ihn die Hand zurück reißen, die Berechnungen wurden im Bruchteil einer Sekunde zur Makulatur. „Schwerkrafts-Ortung! Ein Objekt zeichnet, korrigiere, mehrere Objekte zeichnen steuerbord querab voraus! Eine große und mindestens sechs kleinere Metallmassen, stationär.“ Klaus von Viertelwald stand wieder auf, trat hinter sie und studierte die Anzeigen.
„Veronika, also, die letzten Tage…“ flüsterte er.
„Ich weiß“, antwortete die leise. „Das waren Vroonka und Khloos. Nicht, dass ich das Geschehene bedauern würde.“
„Ich auch nicht“, hauchte der Oberst. „Ich bin nicht unzufrieden, dass man gerade uns… Jedenfalls, wenn wir einmal das Ganze hinter uns haben, sollten wir uns zusammen setzen und uns kennenlernen!“
„Das könnte verdammt lange dauern, Chef“, war ihre leise Antwort. „Ich bin nicht sicher, ob ich so lange warten möchte!“ Dann setzte sie lauter hinzu.
„Ich habe aber noch eine andere Frage, grand Patron. Wieso wissen wir wieder, wer wir sind? Nicht, dass ich mich beschweren möchte, aber erreicht haben wir den Miridan Sektor doch noch nicht.“
„Je n’au aucune idée, Mademoiselle!“ hob Klaus ratlos die Arme. „Wir werden Herrn Ishibashi fragen, wenn wir nach Hause kommen.“
„Sieben Objekte, Chef, eindeutig. Ein gigantisches und sechs sehr große.“ Veronika Rutli hatte ihre langen Haare zu einem langen Zopf geflochten, sie lachte immer, wenn sie darauf angesprochen wurde. „Wenn schon alle glauben, wir Schweizer tragen komische Kleider und einen Zopf, warum soll ich dann nicht einen solchen flechten? Obwohl die meisten Mädels zu Hause ganz normale Jeans und offene Haare tragen und wir Schweizer uns auch nicht mit Jodeln verständigen, genau so wenig wie die Österreicher.“ Aufgewachsen in Bern, der Hauptstadt der Schweiz, hatte sie in jungen Jahren den Beitritt ihrer Heimat in die Europäische Union miterlebt und sich bald darauf mit erlangen ihrer Volljährigkeit in Zürich zur Ausbildung bei der Sûreté de Union européenne, kurz SUE, dem Sicherheitsdienst der EU, gemeldet. Ihre große Spezialität war nano- und später Picotronik, sie war eine ausgezeichnete Programmiererin, die auch aus nicht-neural vernetzten Rechnern eine Menge herausholte. Mit einer Größe von 168 Zentimetern und 56 Kilogramm war sie das zarte Federgewicht der Mannschaft, aber trotzdem konnte sie ohne Waffen blitzschnell einen doppelt so schweren Mann von 190 Zentimeter auf 23 verschiedene Arten umbringen. Auf neun Arten, ohne es als unnatürliche Todesursache aussehen zu lassen, aber das konnten eigentlich alle Agenten des Geheimdienstes, die im Außendienst tätig werden sollten. Es war sozusagen die Grundausbildung, um weiter zu lernen und sich spezialisieren zu können.
„Wie ist die Größe der Körper?“ fragte der Kommandant, die Antwort erzeugte ein heftiges Keuchen im Kontrollraum.
„Der kugelförmige Körper hat einen Durchmesser von 5 Dran!“ sagte Veronika, mit Anstrengung ihre Stimme ruhig haltend.“
„Das sind…“ begann Klaus, und Veronika unterbrach ihn.
„Hab’s schon gerechnet, Chef. 7,35 Kilometer.“
„Das – das kann doch gar nicht sein!“ Ronja Bergström war in ihrer Tarngeschichte für die Finanzen der HAK’HOOR zuständig gewesen, und hätte diesen Job durchaus erfolgreich ausüben können, doch ihre wahre Spezialität und Leidenschaft waren Waffensysteme aller Art. Die Walküre mit ihren 198 Zentimetern Größe war die größte Person an Bord, und sie war normalerweise nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Aber diese Masse brachte selbst sie dazu, an ihren Ohren zu zweifeln und ihr Erstaunen laut hinaus zu rufen.
„Tut mir leid, Ronja, Du wirst es glauben müssen.“ Veronika war noch nicht fertig. „Sechs zylinderförmige Körper, Länge 1,45 Dran, größter Durchmesser 0,6 Dran. Oder in Metern 2.132 Meter zu 882 Meter. Dagegen ist eine Tussan-Klasse klein“
„Sonst noch etwas?“ Klaus überlegte fieberhaft. Sollten sie näher gehen oder Abstand halten. Er beugte sich einmal mehr über Veronikas Schulter. Oberst Klaus Friedrich Baron von Viertelwald war der Allrounder im Team, der Koordinator ein und gewiefter Taktiker, dazu ein guter Analyst. Und manchmal war seine Intuition geradezu sagenhaft, schon nahe am Extrasinn der Arkoniden. Manchmal handelte er, ohne sagen zu können, was ihn dazu veranlasst hatte, und er lag richtig damit.
„Wie weit entfernt?“ fragte er Veronika.
„Nicht sehr weit. Wir haben sie eben in die Reichweite bekommen, unsere nicht mehr ganz taufrischen Instrumente für den Nahbereich schlagen bei Gegenständen unter Planetengröße erst ab 3 Gigadran an. Na ja, innerhalb eines durchschnittlichen System reicht es ja, und die Mehandor und Arkoniden haben derzeit auch keine viel besseren Geräte. Was ich damit sagen will, im Moment sind es noch etwas über 2.936,74 Megadran. Also, heimatlich in terranischen Einheiten ausgedrückt 4.317.011.402 Kilometer und ein paar zerquetschte. Knapp unter 4 Lichtstunden, 28,9 terranische Astronomische Einheiten oder 0,0014 unserer Parsec. Soll ich dir die Meilen, englisch, amerikanisch und Seemeilen auch ausrechnen?“ Veronika versuchte mit diesem Wortschwall ihre Erregung abzubauen, Klaus winkte ab.
„Energie?“ fragte er und kratzte sich das Kinn mit Khlooses Dreitagesbart. Ob er ihn behalten sollte? Vroonka hatte er gefallen, aber… Veronikas Stimme riss ihn aus seiner Überlegung.
„Tot wie Cäsars Körper, Klaus. Nicht einmal genug für eine mickrige LED-Lampe.“
„Hmm.“ Er sah weiter über ihre Schulter, sie lugte seitwärts zu ihm hoch. „Geht ein Transit oder müssen wir im Normalflug hin, Nav?“, wandte er sich an Paola, die schlanke Italienerin mit dem großen Busen.
„Normalflug, würde ich sagen.“ Die schwarzhaarige Schönheit rechnete kurz. Rechnen, das war Paolas große Stärke, schnell im Kopf rechnen und gute Instinkte, was Zahlen anging, dazu einen ganz guten Orientierungsinn. „Wir sollten unsere Kapazität aufsparen, bis wir einen Planeten gefunden haben. Vielleicht, wenn irgendwo genug Hyphum zu finden ist, kann Dimitris etwas zaubern!“
„Ich kann Dir vielleicht eine Karte aus dem Ohr oder der Nase zaubern“, stellte der Kreter richtig „aber einen Hyperantrieb, der hinüber ist? Da brauche ich mehr als Hyphium!“
„Na schön, hören wir vorderhand auf zu albern“, mahnte Klaus. „Franz, Kurs auf die Körper.“
„Dan mer, Chef!“ bestätigte Franz Konrad, der vierschrötige, bullige Innsbrucker mit dem prächtigen Andreas-Hofer-Bart in beinahe Mehandordimension und dem kurzen, etwas schütteren Haupthaar.

*

Fassungslos sah die Besatzung der HAK’HOOR auf das sich ihnen bietende Bild auf dem Orterschirm, denn hier, in diesen Teil des Weltalls verirrte sich kein Lichtstrahl, der eine direkte Sicht ermöglicht hätte. Darauf war man auch nicht unbedingt angewiesen, wenn man sich mit schwarz/weiß – Bildern begnügte, die Ortungsgeräte hätten jede Niete ober Schweißnaht besser erkennbar abgebildet als ein optischer Sensor. Falls es solche Nieten oder Schweißnähte überhaupt gegeben hätte, versteht sich. Eine Kugel, wie bereits angemessen, mit dem Durchmesser von 5 arkonidischen Dran, also 7,35 Kilometern Durchmesser schwebte inmitten eines Hexagons aus Walzen, denen noch je zwei Kegelstümpfe übergestülpt wurden und über diese noch ein Wulst. Mehr als zwei Kilometer, exakte 2.132 Meter lang. Allmählich erreichten die ersten Lichtquanten aus den mächtigen Flutlichtanlagen des Springerbootes, die für Verladetätigkeiten in Umgebungen mit extrem schlechten Sichtbedingungen eingebaut waren, die Objekte und entlocken auch den optischen Aufzeichnungsgeräten erste Bilder!
„Ich weiß ja nicht, wozu Starlight die Dinger gebraucht hat“ murmelte Veronika und benützte die riesigen Flutlichter wie einen Suchscheinwerfer. „Aber ich bin dankbar, sie zu haben.“
„Dort, das könnten Schriftzeichen sein!“ rief Veronika, und Paola bestätigte.
„Alte arkonidische Buchstaben. Moment – ‚GLORIE DES VELOZ‘!“
„Teufel noch mal!“ fluchte Franz. „Der Psychopath hat wohl mehr geheime Werften und Stationen als Haare auf dem Kopf gehabt, das ist ja geradezu paranoid von ihm gewesen!“
„Seht mal!“ wies Ronja auf den Schirm. „Ein Drittel der Kugel ist eine durchsichtige Kuppel, und darunter steht auf einer Art Hügel im Zentrum ein Komplex mit sechs Trichterbauten um einen größeren, zentralen.“
„Kristallpalast plus“, mutmaßte Dimitris. „Größer, mächtiger, prunkvoller. Sogar hier, wo es niemand mitbekommen kann, denn ich sehe nicht, wie man diese Station bewegen könnte. Nicht einmal mit der Rhodan- oder Starlighttechnik. Es gibt nichts, aber schon überhaupt nichts, das nach einem Triebwerk aussieht. Und so ischyrós, also so stark waren die Feldantriebe zu Atlans Zeiten auch nicht, sonst hätte er doch davon gesprochen.“
„Die Schiffe könnte man schon ganz normal bewegen!“ Klaus schätzte die ungefähr zu erwartende Leistung anhand der Düsengröße und der bekannten arkonidischen Technik zur Zeit der Methankriege ab. „Ich würde mal schätzen, das sind normale Korpuskulartriebwerke, also 460 bis 480 Kilometer im Sekundenquadrat. Dimi?“
„Könnte hinkommen, würde ich schon auch sagen“, bestätigte der Techniker. „Das war wohl als Reserve gedacht, falls man ihn entthront“, spekulierte Klaus. „Dieses Schiff dort, es heißt RACHE DES IMPERATORS. Und jenes dort? Oh! ARKONS WIEDERKEHR! Gar nicht anmaßend, dieser Onkel Atlans.“
„Energieortung!“ Veronika japste nach Luft. „Merde! Da drüben…“ Sie starrte auf ihre Anzeigen.
„Ja?“ fragte Klaus Friedrich.
„Cela ne peut pas être vrai! Auf diesen Schiffen gibt es gut abgeschirmte Magnetfelder!“ Oberleutnant Rutli starrte den Schirm an.
„Zeig’s mir!“ Klaus Friedrich nahm sein Pad zu Hand und studierte die Fakten.
„C’est impensable‘, flüsterte Veronika. „Aber wo ein Magnetfeld ist, muss auch ein Feldgenerator sein.“
Paola starrte sie an. „No! No! Ma questo sgnificherebbe… also, wo ein Feldgenerator funktioniert, muss auch eine Energieversorgung sein!“
Klaus erbleichte. „Und für die Zeit von Veloz bis heute kommt eigentlich nur…“ Auch er starrte auf den Schirm.
„Die Hülle sieht wie neu aus!“ sagte Klaus endlich.
„Ziemlich leere Gegend!“ bestätigte Veronika.
„Wir sind ja hier, wie auch M 13, schon aus der eigentlichen Galaxis raus!“ ergänzte Paola.
„Lass uns an Bord gehen“, schlug Dimitris Kapenakis vor. „Vielleicht finden wir ein Beiboot mit einem passenden Sprunggenerator!“
Klaus schloss die Augen. „Lilith, ich ziehe mein Angebot zurück, das Paradies muss noch warten. Dimitris hat recht, man könnte versuchen, über ein mechanisches Notschott hinein zu kommen. Schutzanzug ausziehen wird wohl da drüben nicht möglich sein, also großes Rückenpack zur Luftversorgung. Hm. Ronjdiedu bist die Beste, was EVA angeht, wir zwei sind wohl die Glücklichen, die es versuchen werden. Also, umziehen, noch einmal Pipi machen, sagen wir, in einer halben Stunde? Bon, gehen wir’s an!“

*

Die grauen, alten Raumpanzer der Arkoniden und Mehandor an Bord der HAK’HOOR waren nicht die bequemste Ausführung. Selbst die als konservativ bekannte arkonidische Flotte hatte bereits bessere besessen, als noch Personen an Bord der Schiffe dienten. Aber selbst diese relativ luxuriösen Anzüge aus arkonidischer Produktion hätten wohl kaum zu den Moklarmern gepasst, als die Oberst Klaus Friedrich Baron von Viertelwald und seine Leute auftreten sollten. Und so waren eben die klobigen, seit halben Ewigkeiten ausgemusterten Rauminfanterieanzüge die einzige Alternative gewesen. Hundertmal überholt, repariert und geflickt waren sie immer noch ein zuverlässiger Schutz gegen die Unbillen des freien Alls.
Baron, oder vielmehr Freiherr, denn er stammte ja aus Bayern, Klaus Friedrich aktivierte die Lebenserhaltungssysteme und setzte den Helm auf. Er war noch relativ jung, kaum 55 Jahre, und hatte für diesen Einsatz eine Beförderung über zwei Stufen erhalten, vom Major direkt zum Oberst, und er hatte nicht widersprochen. Die Viertelwalds waren alter Adel, aber nie reich gewesen, sondern immer im Gefolge des ‚Kini‘ geritten. Ohne ein eigenes Lehen zu besitzen, ohne Ländereien und große Einkünfte. Nach der Monarchie hatten sie ihren Titel behalten dürfen und wurden, wie sie es eigentlich immer schon waren, Soldaten für die Heimat. Sie sahen sich selbst als Paladine, als treue Diener des Staates, zuerst des bayrischen, dann der Weimarer Republik, danach der Bundesrepublik, dann des ganzen Deutschland und später der Europäischen Union. Nur in den Zeiten zwischen den Republiken war kein Viertelwald im Feld, Opa Friedrich Maria war in Pension und nicht bereit, diese für den ‚Irrsinn eines Verbrechers gegen die Ritterlichkeit‘ aufzugeben, Vater Alfred Friedrich war gerade in Amerika und wurde sofort interniert, er änderte nach dem Krieg seinen Namen in Fred Woodland und verließ das Land nie wieder. Junior Friedrich Alexander war zu jung, um schon eine Waffe in die Hand zu nehmen, und das rettete sehr wahrscheinlich nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das Geschlecht der Viertelwalds vor dem Aussterben. Als der Geheimdienst der Europäischen Union, die Sûreté de Union européenne, oder kurz SUE, gegründet wurde, war ein Viertelwald unter den ersten Bewerbern, und Klaus Friedrich folgte der Familientradition. Eine Zeitlang liebte er es, sich mit ‚mein Name ist Viertelwald, Klaus Friedrich Viertelwald‘ vorzustellen. Doch nachdem kaum jemand mit der Anspielung etwas anzufangen wusste, gab er das Spiel bald wieder auf. Seine Größe von 196 Zentimeter dehnte den XL Anzug auf das Maximum, was den Tragekomfort nicht eben verbesserte, doch das einzige XXL – Exemplar an Bord trug nun einmal Ronja, die nicht nur 2 Zentimeter größer war, sondern auch sonst mehr Platz im Anzug benötigte. Genauer gesagt, zwei mal mehr Platz, einmal über und einmal unter der Gürtellinie.
In ihrer Heimat Visby auf Gotland war sie schon aufgefallen, als sie noch ein Kind war, man fragte sich, wo soll das Mädchen denn noch hinwachsen? Nun, sie beendete ihr Wachstum mit fünfzehn Jahren zwei Zentimeter unter der zwei-Meter-Marke, gewann mit ihren Team zwei Landesmeisterschaften im Basketball und begann, nun auch horizontal zu wachsen und sich für das andere Geschlecht zu interessieren. Auf einer Waffenschau des schwedischen Heeres erkannte sie ihre wirkliche Berufung, sie meldete sich nach der Reifeprüfung bei der Eliteeinheit der kungling Valkyries, einer Flugpanzerbrigade, dann zu den blå och gul Pionjärer, einer schweren Pioniereinheit. 2079 meldete ihr Vorgesetzter nach Zürich, er hätte vielleicht ein Talent für den SUE, bald darauf war sie Agentin des Geheimdienstes und meldete sich mit 30 Jahren als Oberleutnant für diesen Einsatz.
„Bereit?“ fragte Klaus seine Einsatzpartnerin, und Ronja zeigte den erhobenen Daumen.
„Alle Idiotenlichter zeigen grün. Bereiter kann ich nicht mehr werden.“
„Na schön. Zentrale, Bergström und Viertelwald bereit“, meldete er sich im Schiff, und Franz bestätigte.
„Verstanden. Pumpe Luft aus der Schleuse.“ Zuerst hörten Ronja und Klaus noch das Geräusch, mit dem die Pumpen die Luft aus der Kammer zogen, doch dieses wurde schnell leiser und verstummte schließlich ganz. Übrig blieb in der einsetzenden Stille nur das niederfrequente Brummen der Energieversorgung und der Pumpen, welches durch die Sohlen übertragen wurde. Als sich dann das Außenschott öffnete und sie sich vom Boden abstießen, verschwand auch dieses Geräusch. Übrig blieb nur ihr eigener Atem, der überlaut zu hören war und ein leises, entferntes Rauschen, fast wie die Brandung eines Ozeans. Es war ihr eigenes Blut in den Ohren, welches sich in der sonst absoluten Stille zwischen zwei Atemzügen bemerkbar machte, pulste und toste. Die beiden Kosmonauten setzten ihre Feldantriebe ein, und zwei kleine, graue Gestalten schwebten langsam auf den Giganten, an dessen Flanke der Name ARKONS WIEDERKEHR zu lesen stand, zu und später an dessen Wand entlang.
„Dort!“ Ronja wies mit der behandschuhten Hand auf eine rot – grün gestreifte Linie, sie hatte die bei den Arkoniden übliche Markierung für ein Notmannschott gefunden. Gemeinsam steuerten sie darauf zu, Klaus verankerte vorsichtshalber seine Stiefel in der dafür vorgesehenen Vertiefung und fixierte sie mit einem verschiebbaren Stift, der dazu in der Wandung eingelassen war. Danach klappte er die Handkurbel aus der Halterung und begann zu drehen. Langsam, unendlich langsam öffnete sich das Schott. Ronja schwebte in die Kammer, verschaffte sich Halt und zog dann Klaus zu sich ins Innere.
„Välkommen till mitt lilla Rum“, lachte sie und kurbelte das Außenschott wieder zu, ehe sie nach einer Möglichkeit suchte, das Innenschott zu öffnen. „So hätte ich es mir allerdings nicht vorgestellt, mit dem Chef ganz allein zu sein!“ flachste sie weiter.
„Sollen wir Euch allein lassen?“ Paola hatte die Funkstation übernommen. „Wenn Ihr ein kleines Tête á Tête aus der Exkursion machen wollt?“
Die Helmlampen rissen runde Wandstücke aus der Dunkelheit, in die sie wieder versanken, wenn die Menschen weiterschwebten.
„Wenn die Erbauer die Farbmarkierung der Arkoniden benutzen, wovon ich stark ausgehe, dann ist das die Kommandoebene.“ Ronjas Lampe folge dem schmalen, hellgelben Streifen, der den Fußboden einrahmte.
„Gott sei Dank haben sie es ihren Besatzungen leicht gemacht, sich zu orientieren“, antwortete Klaus. „Da haben wir auch schon den Hauptgang.“
„Wozu sind wir so weit zur Mitte gegangen?“, wunderte sich Ronja. „Ich dachte, wir suchen den Hangar?“
„Später!“ Oberst Viertelwald wandte sich nach links. „Zuerst wollen wir uns orientieren. Ich habe das Gefühl …“
„Das reicht!“, wiegelte Ronja ab. „Dein Gefühl war immer ganz gut, ein CO sollte darauf auch mal hören!“
„Lauter offene Schotts, die Kabinen eingerichtet, das hier müssen der Lage nach Quartiere für Offiziere gewesen sein“, murmelte der Oberst.
„Ein Rundgang, da oben an der Türöffnung, rot-goldene Markierung“, rief Ronja. „Ich denke, wir sind da!“ Langsam leuchteten die SUE – Agenten die Kommandopulte ab.
„Keine Überraschungen. Instrumente à la Arkon. Standard. Alles auf Null!“ Er wandte sich zur Energiekontrolle, die Teil der Steuerabteilung war, und schob einen der Regler ein Stück aus der Nullstellung.
„Was habt Ihr gemacht?“, rief Paolas Stimme aus den Lautsprechern. „Das Magnetfeld wird stärker und das Messgerät zeigt auch steigende Energie an!“
„Es funktioniert noch“, überlegte Klaus. „Wie ein Landsmann von mir sagte, schaugn mer mal, dann segn mas schon.“ Entschlossen zog er alle Regler noch weiter nach oben. Rings um ihn erwachten Bildschirme zum Leben, zeigten einen einfärbig blauen Schimmer mit einem einzelnen pulsierenden Punkt. An der wissenschaftlichen Station tippte Ronja an einer Tastatur. Die Zeichen erschienen auf dem Screen, sonst tat sich genau nichts.
„Helvete Skit!“ rief Ronja. „Auf diesem Rechner ist das Betriebssystem und sonst nichts!“
„Ronja!“ Veronikas Stimme klang aufgeregt. „Tippe doch einmal ein. In Kleinbuchstaben d-y-p Abstand Karo-Stern-Karo-Winkel Aufwärts, Enter. Was steht da?“
„Eine Liste mit fünf Posten, alle in einer Art Klammer“, gab Ronja durch.
„Lies doch mal vor!“ Klaus blendete das Gespräch aus und ging weiter durch die Kommandozentrale.
„Ich muss rüber“, riss ihn der Ruf Veronikas aus seinen Gedanken.
„Warte“, rief er. „Es gibt hier bestimmt ein centre de contrôl du trafic, und sowohl Hangare als auch Außenschotts müssen doch auch per Handschaltung geöffnet werden können.“
Im Rumpf des Raumgiganten glitt ein viereckiger Ausschnitt zur Seite, die Ränder der Öffnung leuchteten zuerst rot, dann, als das Schott endgültig geöffnet war, in klarem weiß.
„Das Schott steht sperrangelweit offen, Klaus“, gab Paola durch. „50 Zentidran hoch und 200 lang.“
„Was ist dahinter?“ fragte der Oberst und hielt die Luft an.
„Ein leerer Schleusenraum“, antwortete Paola. „200 Zentidran lang mal 50 hoch mal 60 tief. Also 294 Meter mal 73,5 mal 88,2.“
„Ich habe es befürchtet“, seufzte Klaus. „Das Ding ist zwar fertig, aber noch nicht voll ausgerüstet. Wenn die Nanotronik gerade mal ein Betriebssystem aufweist, war es ja nicht anders zu vermuten. Es wäre zu schön gewesen, ein kleines Boot mit Hypertriebwerk zu finden.“
„Warte noch mit der Hoffnung auf ein Paradies mit Paola als Lilith! Lass mich erst einmal an den Rechner“, gab Veronika noch nicht auf. Vorsichtig steuerte Franz Konrad das Schiff in den Hangar und verankerte es magnetisch, dann rief er den Kommandanten wieder an.
„Du kannst die Schleuse wieder schließen, Klaus. Wir sind drinn‘.“

*

Die Kommandozentrale der WIEDERKEHR sah nicht anders aus als bei jedem anderem arkonidischen oder auch terranischem Schiff, sie war nur um vieles größer. Nach dem Aufflammen der Deckenleuchten, durch einen manuellen Schalterdruck ausgelöst, konnte man die Ausmaße des Saales erst so richtig erkennen.
„Heiliges Kanonenrohr“, fluchte Franz, als er die Zentrale betrat. „Hier kann man sich ja richtig verirren“, übertrieb er ein wenig, dann nahm er die Ruderkonsole in Augenschein. „Sieht normal aus, würde ich sagen.“ Über Veronikas Bildschirm in der wissenschaftlichen Station schossen Zahlen und Buchstaben über den Bildschirm, auf einer Leiste am linken Rand leuchteten grüne Punkte auf.
„Da! Ich wusste es, eine drahtlose Schnittstelle“, rief sie begeistert. „Die halbe Miete!“ Rasch tippte sie das Programm, welches sie zur Verbindung benötigen würde, sie kannte die arkonidischen Protokolle auswendig, und wie die Technik hatte sich auch die Software kaum weiterentwickelt. Nach etwa 30 Minuten wurde Veronika Rutli mit einem grünen Balken, der sich zu einem Kreissegment entwickelte und dem kompletten Kreis zustrebte, auf dem Bildschirm belohnt, sie holte ihr Pad und begann darauf mit der Suche nach dem Router, und es dauerte nicht lange, und zumindest die Verbindung stand. Nach nochmals einer Stunde stand Veronika auf, dehnte ihren Rücken und bemerkte.
„Jetzt ist es nur noch eine Frage von einigen Stunden, bis alle Programme überspielt sind, die Routine läuft. Fürs erste können wir auf die HAK’HOOR zurückkehren, eine Kleinigkeit essen, trinken, duschen und schlafen.“

Klaus nickte. „Hört sich gut an. Also Leute, ab nach Hause.“
Veronika lachte bitter auf. „Das wird noch dauern. Nach dem Überspielen müssen die Programme den Parametern angepasst werden. Das geht zum Teil automatisch, klar, aber eine optische Kontrolle einiger Grundwerte sind nicht zu umgehen, und leider arbeite ich bei weitem langsamer als die Nanotronik. Zwei, drei Wochen, vielleicht vier. Dann müssen wir müssen wir einige Subroutinen aus dem Ärmel schütteln, wir sind nur zu sechst auf diesem Kahn, da muss einiges besser synchronisiert werden. Als Kriegsschiff werden wir das Schmuckstück nicht einsetzen können, aber den Miridanern übergeben können wir es, und dann finden wir einen Weg nach Hause. Aber das wird noch Arbeit. Harte Arbeit. Wir werden noch einige Zeit benötigen, bis wir das Ding gezielt bewegen können. Und dann noch die Reise über 20.000 Lichtjahre, also Weihnachten werden wir nicht zu Hause verbringen. Mit Glück kommen wir im Januar an, da können wir schon stolz auf uns sein!“

*

„Ruder?“ fragte Oberst Klaus von Oberwald seinen Nachbarn. Ein Blick auf die Instrumente hätte gereicht, doch alle wollten sie die Tradition der Meldungen voll auskosten. Jeder trug natürlich einen Raumanzug, es war nicht genug Luft vorhanden gewesen, um das Schiff damit zu füllen.
„Ruder ist klar, Kapitän!“ schmetterte Hauptmann Franz Konrad.
„Nav?“
„Nav ist klar, Capitano!“ sagte Paola ruhig.
„Wissenschaft?“
„Wissenschaft klar und bereit, mon Capitaine!“ Laut, klar, deutlich, voll konzentriert antwortete Veronika.
„Waffen?“
„Waffen bereit, Kapten!“ Ronja war froh, wieder in ihrem Gebiet tätig zu sein.
„Technik?“
„Bereit, Kapitan!“ rief Dimitris.
„Schiff und Besatzung bereit“, meldete Klaus niemand Besonderem und doch allen. „Leute, die Heimat wartet! Zuerst aber, 20 Lichtwochen, auf ins Paradies, Freunde!“ Paola lachte.
„Also, Franz oder Dimitri, wer möchte Adam sein. Klaus hat sich ja selber aus dem Rennen genommen!“ Veronika lächelte. Klaus hatte sie umworben, sie ließ sich nur zu gerne erobern, und dann war er öffentlich zu dieser Liaison gestanden. Keine Heimlichkeiten an Bord, sie hatten alle gefeiert, als wäre es ein Verlöbnis.
„Ruder, bringen Sie uns hin.“ Aus 24 Schuböffnungen brachen grellweiße Feuerzungen weit ins Weltall, das schwere Schiff überwand seine Trägheit und hielt immer schneller werdend dem Stern Paradies zu.
„Übergebe Sprungkontrolle an Nanotronik!“ meldete Franz. Die große Station schaffte gerade genug Gravitation für den Transit.
Zwanzig Lichtwochen. Ein Katzensprung, und doch hatten alle die Luft angehalten, jetzt würde sich zeigen, ob Veronika alle Fehler behoben hatte. Der Sprung hatte aber wie geplant funktioniert, ohne Abweichungen waren sie an ihr Ziel gekommen, genau auf den Kilometer. Jubel war ausgebrochen, als die Messergebnisse feststanden, aufgestaute Emotionen schlagartig frei geworden. Es lag noch ein weiter Weg vor ihnen, aber ein großer Schritt war getan.
„Sieben Planeten“, meldete Veronika von der wissenschaftlichen Abteilung. „Zwei Kandidaten für Pflanzenwuchs und Sauerstoff.“
„Sehen wir es uns an! Welcher ist näher?“, fragte der Kommandant, und sofort bekam er die Antwort.
„Zwo ist näher, drei liegt ziemlich querab.“
„Also“, Klaus rollte die Schultern. „Ruder, Kurs auf zwo. Geht es nur mir so, oder möchte noch jemand den Raumanzug los werden. Diese alten Dinger jucken verdammt, und kratzen kann man sich auch nicht.“

*

Paradies II

Kert schleppte seine müden Knochen den Hügel hinauf. Er war alt, und er fühlte, dass sein Leben bald vorbei sein würde. Stöhnend blieb er stehen, hob den ledernen Lendenschurz und schlug sein Wasser gegen einen Baumstamm ab. Auch das war heute anders, öfter, aber nur ein paar schmerzhafte Tröpfchen, nicht wie früher, als er Stunden nicht musste. Früher! Da war er mit den Walpits um die Wette gelaufen, und er hatte die jährlichen Kämpfe mehr als einmal gewonnen und war bis zum nächsten Jahr Häuptling gewesen. Früher war er ein großer Jäger und Liebhaber, der Fleisch in Mengen nach Hause brachte und eine Menge Kinder mit den Frauen zeugte. Jenen Frauen, die abseits von den Männern in ihrem befestigten Dorf wohnten und nur den Mann an sich heran ließen, der stark, klug und mutig genug war, ihnen auch einen Beweis dafür brachte und die Prüfungen bestand. Ihn hatten sie gerne immer wieder in ihre Burg gelassen, jedes Mal hatte er die Prüfung bestanden. Ja früher! Da hatte er das weißblonde Haar voller Stolz offen und lang getragen, der Wind hatte darin gespielt und es wie seine Fahne wehen lassen. Da hatte er mehr als einen Pergh bezwungen und ihm das gestreifte Fell abgezogen, es den Frauen als Beweis für Mut, Geschick und Kraft gebracht, die Zähne stolz auf der Brust getragen. Sein Messer aus dem grauen Metall war scharf und schnell gewesen, er hatte mehr als einen Angriff des Nachbarstammes abgewehrt, in ehrlichem Zweikampf. Jetzt war es genug, heute sollte es endlich vorbei sein. Am Waldrand nahe des Gipfels der Erhöhung würde er auf sein Ende warten, betend, meditierend, wie es üblich war, wenn man dem Stamm nur noch eine Belastung war. Irgendwann würde einer seiner Söhne das Messer sehen, das er zu Hause gelassen hatte, ihm folgen und seiner Qual mit eben diesem Messer ein Ende bereiten, wie er es bei seinem Vater getan hatte und vorher dieser bei seinem.
Knapp vor der Baumgrenze, wo der nackte Fels begann, blieb er überrascht stehen. Ein silbrig glänzendes Gebilde flog in der Luft, Wolken zogen zu ihm hin, wurden von dem Ding eingesogen. Er fühlte einen leisen Luftzug, gebannt beobachtete er das Geschehen am Himmel. Dann fühlte er, wie Dunkelheit heranwogte, in seinem Mund war ein seltsamer Geschmack, sein Herz begann zu rasen, Kert brach mit krampfenden Muskeln zusammen. Dann hörte sein Herz wieder zu rasen auf, schlug langsamer, hörte schließlich ganz auf zu schlagen. Kert war tot.

*

Einige Hügel entfernt hatte Myliah ihren Speer genommen, um ihren Kindern und Mitfrauen frisches Fleisch zu besorgen. Der Khaßalbock von gestern bestand nur noch aus Knochen, und nun musste sie wieder aus der Burg. Sie liebte die Jagd, und sie liebte es, allein zu jagen. Das Gefühl, wenn man das Wild aufspürte, hetzte und zuletzt wieder in die Nähe der Burg trieb, um es zu erlegen. Ihre Lunge war kräftig, die Muskeln ihrer langen Beine eisenhart, das lange Haar trug sie mit einem Lederband nach hinten gebunden. Sie pirschte an einer Lichtung vorbei, sah ein Walpit friedlich äsen, vielleicht war es ohne lange Jagd zu erlegen. Dann könnte es heute vielleicht ein doppelter Erfolg werden, eine zweite Beute, sie könnte noch einmal hinaus. Ein Geräusch ließ sie aufblicken, ein riesiges Ding schwebte über den Himmel, gab ein seltsam brausendes Geräusch von sich, das Walpit äugte heftig witternd zu diesem Ding nach oben. Eine große Chance, sie packte ihren Speer fester, schlich weiter, der Arm wurde zurückgezogen und schleuderte den Speer zielsicher nach der Beute. Dann lud sie sich das Tier auf die Schultern und trug es, immer auf gute Deckung nach oben bedacht, nach Hause.
*
Zwischen einigen Hügeln und auch einigen hohen Bergen lag ein großer, stiller Bergsee, seine Ufer von Bäumen und Sträuchern bewachsen, durch welche ungezählte Wildwechsel und einige ausgetretene Pfade führten. Dryss trug den Stock mit den zwei Ledereimern routiniert auf der Schulter, beschwingt ging sie vom versteckten Dorf zum See, noch waren die Eimer leer und leicht. Dryss war sechzehn, kein Kind mehr, aber noch lange keine Frau. Sie war, wie alle zwischen zehn und zwanzig Jahren, eine Jäghălint, eine Helferin der Alten, und trug nur Lendenschurz, Schuhe und den gepolsterten Schulterschutz aus Leder, den Lederponcho der Erwachsenen bekäme sie erst mit 20, wenn man sie in die Gemeinschaft der Frauen aufnehmen würde. Wie alle Obschålint hatte sie gelernt, dass der Tod zumeist von oben kam, und dass man sich immer vor den Blicken von oben verstecken musste. Besonders Nachts, denn der Feind kam von den Schwestern der Nacht, die so verführerisch auf der einen Seite des Himmels funkelten, so sagten es die uralten Sagen. Sagen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden – oben war der Schrecken zu Hause.
Jetzt kam die junge Obschålint an den Rand des Waldes und blickte gewohnheitsmäßig nach oben, ihr Herzschlag stockte kurz. ‚Von oben kommt das Böse‘ gellte es in ihren Ohren, in ihrem Gehirn, in ihrer Seele, da war es, das Böse, direkt über ihr, über dem See. Es senkte sich herab, schwamm auf dem See. Ein riesiger Drache mit silbernem Leib, ein Gigant. Leise schlich Dryss zurück, bis sie in guter Deckung war und warnte das Dorf. Die Sagen haben nicht gelogen, jetzt war der Feind da. Und er war durstig, er trank das Wasser des Sees.

*

Auch auf der anderen Seite des Sees blieb die Ankunft des Drachen nicht unbeobachtet. Dshuseip war mit seinem Vater Feillei auf der Jagd, der Alte unterwies seinen Sohn im Spurenlesen und anderen Techniken. Sie wollten ein wenig rasten und von dem frischen Wasser aus dem Gebirgssee trinken. Auch sie sicherten zuerst nach oben, ehe sie sich zeigten, und auch sie sahen, wie sich von Sonnenaufgang der Drache nahte, kurz in der Luft verharrte und sich im Wasser niederließ. Sofort duckten sich Vater und Sohn hinter einen Busch.
„Wenn er nur das Dorf der Frauen nicht findet“, murmelte Feillei bedrückt. Dshuseip nickte nur angespannt. Auch wenn bisher die Sache mit Männern und Frauen für ihn reine Theorie war, und er sich nicht so recht vorstellen konnte, dass sich das für ihn je ändern sollte, die Unantastbarkeit der Frauen stand für ihn außer Frage.

*

„Der Planet hat gute Luft“, jubelte Veronika Rutli, als sie die Daten ablas. Vorsichtig und langsam manövrierte Franz Konrad die WIEDERKEHR in die Lufthülle, das schwere Schiff wurde nur von Antigravfeldern gehalten und dem Feldantrieb bewegt.
„Ich finde auch keine Viren, die uns gefährlich werden könnten. Der normale Fremdstofffilter, wie in die Arkoniden schon seit ewigen Zeiten überall eingebaut haben, müsste reichen.“ Klaus schaltete bereits, eine Pumpanlage sog Luft aus der Atmosphäre des Planeten, reinigte sie von Bakterien, Viren und chemischen Schadstoffen, warf Kubikmeter um Kubikmeter in das Innere des Giganten. Langsam stieg der Druck, alle beobachteten ungeduldig das Barometer.
„0,3 bar. 0,4. Ein halbes! 0,6“, kommentierte Veronika den Druckanstieg. Dann „0,8! Wir können die Raumanzüge ablegen!“
„Halleluja! Allen Göttern sei es gepfiffen und getrommelt“, seufzte Dimitris. „Jetzt fehlt nur noch eine heiße Dusche. Wir werden hier ja hoffentlich sauberes H2O finden.“
„Hat’s schon!“ Veronika wies nach vorne. „Ein See, klar wie die Seele einer Jungfrau!“
„Herr, Gott im Himmel, ich danke dir für gute Filteranlagen“, betete Ronja. „Denn wenn der See so rein wäre wie meine Gedanken vor dem ersten Mal…“
Die HEIMKEHR füllte ihre Tanks, nahm aus vielen Seen nur soviel, dass das Ökosystem nicht zu sehr geschädigt wurde. Es gab üppige Flora und den Spuren nach auch einiges an Fauna, zu sehen bekam die Besatzung nur einige hirschähnliche Wesen und solche, die wie Büffel wirken, einmal sahen sie einen geschmeidigen, mit gestreiftem Fell versehenen Fleischfresser auf der Jagd nach einem der Hirschähnlichen.
„Ich bin froh, dass ich auf Paradies nicht bleiben muss“, bemerkte Paola. „Es ist zwar schön, und ihr drei wärt mir durchaus willkommen gewesen, aber – bella Italia, der Rotwein, die Pasta!“
„I Mandolini, I giovani uomini in pantaloni stretti!“, ergänzte Veronika.
„Wozu die engen Hosen?“ fragte Paola zurück. „Da dauert doch das Ausziehen viel zu lange!“
„Wir haben Glück, mon Capitaine!“ Veronika sah von ihrem Bildschirm, den sie für die Mikroskopdarstellung verwandte, auf. „Diese Algen sind perfekt für die Luftaufbereitungsanlage geeignet. Chlorophyll zum Abwinken, leicht zu züchten. Ich würde sagen, wir sind bereit für den Heimflug!“
Klaus Friedrich nickte zufrieden. „Dimitris und Ronja haben ein paar schöne Braten für die Tiefkühltruhe geschossen, damit der Nährbrei nicht so langweilig wird. Morgen ist Weihnachten, das feiern wir gemütlich, und dann …“
„Es war a launger Weg – oba i bin eam gaunga…“ sang Franz das Lied von Wolfgang Ambros.

⭐️

System Reggy
An Bord der HEPHAISTOS

Der Pilot erster Klasse Alexander Schmid räkelte sich, nachdem er aufgewacht war, noch ein wenig gemütlich im Bett. Was für ein toller Abend das doch gewesen war, ein grandioser Auftakt für seinen Urlaub!
Alexander war als Pilot zweiter Klasse Chefpilot der guten, alten CYRANO gewesen, bei seiner letzten Landung hatte ihn eine Beförderung erwartet, und ein neuer Posten, er sollte Chefpilot auf der neuen JEANNE-ANTOINETTE DE POMPADOUR werden. Schmid war mit seinen Freunden feiern gewesen, wie es sich gehörte, und dabei hatte er diese umwerfende Frau kennengelernt. Sehr gut kennengelernt sogar. Es war wie ein Traum gewesen, als er bemerkte, dass Ashy ihn wirklich einlud, er war mitgegangen und – es war ein absolut überwältigendes Erlebnis geworden. Er tastete über die andere Betthälfte, sie war leer, aber von nebenan hörte er leise Geräusche. Also schwang er seine langen Beine aus dem Bett und tappte hinüber in den Wohnraum.
Ashyagada saß zurückgelehnt auf ihrer Couch, die Beine auf einem kleinen Tischchen, auf ihren Oberschenkeln balancierte sie ein Pad und vor ihr schwebte eine Formel in der Luft. Als Alexander durch die Tür kam, blickte sie auf und lächelte ihm zu.
„Hallo, Großer. Gut geschlafen?“
„Himmlisch“, grinste er. „Mich hat ein Engel ins Paradies geführt. Mama hatte also doch recht, nur hat sie immer behauptet, er nähme mich an der Hand.“
Ashyagada sah auf ihre Hand und spreizte die Finger. „Na, wenn es dir Freude macht? Das kannst du haben, komm doch einmal her!“
„Sofort, mein kleiner Engel! Ups! Äh, das ist jetzt aber nicht meine Hand!“
Sie hatte beherzt zugegriffen. „Oh! Nisch die Fingeer?“, lachte sie mit falschem französischen Akzent. „Muss isch schau genaueer!“
Alexander saß auf der Couch. Sein Atem wurde langsam wieder ruhiger, sein Herzschlag beruhigte sich, er fühlte sich völlig entspannt und träge. Ashy hatte sich in die kleine Kochnische ihrer Wohnung zurück gezogen, von wo zischende Geräusche und ein angenehmer Geruch die baldige Fertigstellung guten Kaffees versprachen, wie er auf der HEPHAISTOS üblich war. In der Zwischenzeit bewunderte Alexander ihren Rücken durch die immer noch in der Luft schwebenden Formel, einige Passagen lenkten jedoch seine Aufmerksamkeit von ihrer Kehrseite ab und auf die Zeichen vor ihm.
„Danke!“ Er sah kaum mehr auf, als sie ihm die Tasse hinhielt. „Was ist denn das für eine Formel?“
„Eine unvollständige“, antwortete Ashyagada seufzend. „Ich weiß, dass da etwas fehlt, das so knapp…“, sie legte Daumen und Zeigefinger beinahe aneinander „…von mir entfernt ist, und ich komme nicht und nicht dahinter! Eine ergänzende Lösung zur raumfahrenden Wurmlochtechnologie, eine echte Einstein-Rosen-Brücke. Kleiner Energieaufwand, beständige Existenz, ohne Raumschiff, das erst jenseits der Planetenbahnen den Transit vollziehen kann, sondern in der Atmosphäre, auf Bodenniveau. Mit einem Schweber, einem Bike oder einer Art Metro.“
„Hey, was hast Du gegen Raumschiffe? Mach mich doch nicht arbeitslos“, rief er, es nicht ganz ernst meinend, sie stupste ihren Ellenbogen in seine Rippen. „Ich habe der Tubeway in Afrika alles, was ich bin und vielleicht sogar mein Leben zu verdanken. Und jetzt stell dir vor, du fährst hier mit einer Magnetbahnkapsel los und steigst in Galacto City wieder aus, vielleicht 5, 10 Minuten später, wann immer Du willst! In GC nimmst Du eine Kapsel nach Afrika, ebenfalls per Einstein-Rosen, zum ‚Verteilerbahnhof‘. Also – in wenigen Stunden wäre ich bei meinen Eltern in Namibia.“
Alexander nickte. „Du musst einmal mit Onkel Neil sprechen! Ihr würdet Euch verstehen.“
„Oh! Langweile ich Dich denn schon?“, neckte sie und klimperte mit den langen Wimpern.
„Time out!“ Er legte die Hände aneinander, so dass sie ein ‚T‘ ergaben. „Dies ist die Sprache…“ Er wies auf die Formel. „…in der Ihr Euch unterhalten und verstehen werdet, und mein Neu-Niederarkonidisch wird Euch langweilen!“
„Dann!“ Sie nahm noch einen tiefen Schluck von ihrem Kaffee. „Dann behalte ich dich eben für nur noch die Freizeit, ausschließlich für mein Vergnügen! Da musst du dich aber ein wenig anstrengen. Ich warne dich, ich bin eine sehr anspruchsvolle Frau.“

*

Ashyagada und Neil Schmid verstanden sich tatsächlich ausgezeichnet. Nach einigen vorsichtig tastenden Mails kam es zu einem regen Gedankenaustausch, auch einmal per Videotelefonie. Die Formeln des älteren Professors der technischen Universität Wien und der jungen Himba ergänzten einander wirklich und ergaben bereits nach kurzer Zeit ein theoretisch mögliches Ganzes, und dann überraschte Neil Ashyagada mit einer Mittelung.
„Treffe am 28.1. mit CYGNUS ein. Schöne Grüße an Alexander! Gezeichnet Neil!“



Orion Ln 7G II
An Bord der PB HS 51

In mühevoller Arbeit hatten die Rechner der ACHASSA und der 51 ein Übersetzungsprogramm erschaffen, und nun saßen Rhossoma und Lydia Halverdorn einander im Aufenthaltsraum des Diskusbootes gegenüber, jeder mit einem Knopf im Ohr, der die von der Bordneuronik übersetzten Worte des anderen empfangen sollte. Der Ssossri war überrascht gewesen, dass Lydia ein Säuger war. Da hatte er noch mit dem alten General vor seinem Start darüber Witze gemacht, und jetzt? Jetzt war das vorher undenkbare Wirklichkeit geworden. Und er hatte erfahren, dass es nicht nur die eine intelligente Säugetierrasse und auch noch intelligente Insekten gab, außerdem mindestens zwei andere Echsenvölker im weiteren Umkreis. Und es gab die Pthokorr, die eierlegend mit Schlangenkörper, aber trotzdem keine Reptilien waren. Sie waren etwas Besonderes, ganz Eigenes.
Lydia Halverdorn war ein Kind des Raumzeitalters. In ihrer Welt gab es Raumfahrt schon immer, und seit sie sich erinnern konnte, wusste sie, dass eines Tages ihr Platz hier draußen an der Grenze sein würde. Sie war aufgewachsen in dem Bewusstsein, dass es intelligente Wesen gab, die körperlich so gar nichts mit Menschen gemeinsam hatten, dass sie aber charakterlich ebenso gut oder böse wie Menschen waren. Topsider waren in ihrer Gedankenwelt Menschen mit anderen Sitten und Gebräuchen, die anders aussahen, einen Schwanz hatten und Eier legten, sonst aber dem Menschen gleichwertig. Weder überrascht noch aufgeregt hatte sie später von der Existenz der mantiden Miridaner erfahren, für sie war das nur eine Bestätigung ihrer Annahme, dass es Unterschiede im Aussehen geben mochte, diese aber völlig unwichtig waren.

Ihr Traum war Wirklichkeit geworden, als ihr Vater eine Stelle als Ingenieur bei Starlight Enterprises angenommen hatte. Sie hatte die Raumfahrtakademie besucht, die damals noch keine Akademie, sondern einfach eine Schule mit Lehrern. Wissenschaftler, die eigentlich forschten und experimentierten, nebenbei aber den Nachwuchs unterrichteten und die Interessiertesten auch schon einmal mit in die Labore mitnahmen. Diese Wissenschaftler zählten zu den Besten in dem Bereich, den sie lehrten, und sie wurden trotzdem von einigen ihrer Schüler positiv überrascht. Jungen, interessierten Leuten, die Berechnungen oder Experimenten manchmal einen ganz neuen Ansatz gaben. Heute, mit 28 Jahren, war Lydia seit drei Jahren Oberleutnant, trug ihre flachsblonden Haare in einer praktischen Kurzhaarfrisur und liebte es, hautnah am Geschehen zu sein. Diese kleinen Patrouillenboote waren wie für sie gemacht.
Rhossoma hatte die Fähigkeiten dieses kleinen Schiffchens zu Beschleunigung und Manövrierfähigkeit in den Aufzeichnungen seiner Ortungsgeräte mit eigenen Augen gesehen, und er war beeindruckt gewesen, wie diese schlanke und zarte Frau solche Kräfte aushalten konnte. Dann aber hatte er akzeptieren müssen, dass es wirklich eine Erfindung gab, mit welcher man die Beschleunigungskräfte neutralisieren konnte. Nun, die Utopisten hatten zwar darüber eher fabuliert als spekuliert, wie ein solches Gerät funktionieren könnte, und bisher hatte er nie gedacht, dass er den Einsatz solcher Geräte noch miterleben könnte. Aber hier schwebte der Beweis vor ihm. Chussogh hatte wohl recht, wenn sie sagte, dass diese Menschen über die Waffen der Ssossri nur lachen würden.
„Lydia, Sie sagen, dass Sie, also, ihre Vorgesetzten, keinen Anspruch auf dieses System erheben?“, vergewisserte sich Rhossoma, und Lydia konnte das bestätigen.
„Ich habe mit meiner Basis Rücksprache gehalten, und kann Ihnen versichern, dass wir Ihren Wunsch nach einer neuen Heimat respektieren. Wir werden in diesem Sektor sicher noch genügend Welten für beide Spezies haben.“
„Ihr Menschen seid sehr großzügig.“ Rhossoma konnte es kaum fassen. „Was erwarten die Menschen von den Ssossri dafür?“
Lydia hob die Hände, als wolle sie etwas abwägen. „Frieden zwischen den Völkern. Gegenseitige Achtung. Gedankenaustausch. Handel. So etwas in der Richtung.“
„Keine Steuern, keine Huldigung?“, fragte er nach, immer noch ungläubig.
„Ich bin kein Politiker, Rhossoma.“ erklärte Lydia. „Aber, ihr seid ein stolzes Volk, und wie gesagt, für die nächsten tausend Jahre ist genug Platz für alle da. Unter Umständen könnten Ssossri in unseren Schiffen anheuern, wenn sie das möchten. Zu den gleichen Bedingungen wie alle anderen Völker, wir könnten Technologie liefern.“
„Ist das die allgemeine Meinung der Menschen“, hakte er nach. „Oder werden wir mit Einwänden zu rechnen haben?“
„Einwände gibt es immer“, winkte Lydia ab. „Ein paar Idioten sind sogar noch der Meinung, dass die Hautfarbe oder die Herkunft eines Menschen diesen mehr oder weniger Wert macht.“
Rhossomas Halsschild blähte sich auf, und seine Federchen zeigten seine Erregung. „Solche haben wir auch. Wir nennen sie die Traditionalisten. Leider haben sie sogar ziemlich viel zu sagen, in meiner Heimat.“
„Nun, bei Ihnen herrscht doch Demokratie, oder?“, fragte Lydia. „Mit einem nagelneuen Planeten könnten die ‚Fortschrittlichen Kräfte‘ doch sicher punkten.“
Rhossoma seufzte. „Das Problem ist, dass wir eine sehr fruchtbare Spezies sind. Und solange wir keine Eiablageregelung treffen können, wird das Problem rapid schlimmer, und wir werden immer noch mehr Platz benötigen. Ich bin ein Fortschrittler, aber auch ich fühle den Wunsch in mir, mit meiner Gefährtin Nachwuchs zu produzieren.“
„Ein bekanntes Problem“, gab Lydia zu. „Und ich kenne keine Lösung. Der Mensch möchte zuerst seine Bedürfnisse stillen, die der Anderen sind ihm zumeist völlig egal!“
Rhossoma rang nach Worten. „Und trotzdem überlasst Ihr uns den Planeten?“
Lydia beugte sich vor. „Es gibt Ausnahmen, die einen möglichst großen Wohlstand für einen möglichst großen Teil der Menschen anstreben, ganz egal, ob dieser Mensch inner- oder außerhalb seines Körpers ovuliert.“
„Also“, die Kopffedern des Kapitäns stellten sich auf. „Für Sie sind auch wir Menschen?“
„Intelligent, fühlend – ich würde sagen, bis wir uns auf ein anderes Wort geeinigt haben, ja, und es gibt viele, die meiner Meinung sind. Intelligent-emotionales Wesen klingt etwas sperrig, also, bis auf weiteres bin ich für Mensch!“
„Einverstanden!“ Rhossomas Gefieder verriet sein Amüsement.

*

An der Grenze zum System kam ein sechshundert Meter durchmessendes Kugelraumschiff aus dem Transit, auf seiner Flanke oberhalb des äquatorialen Ringwulstes war das Abbild einer Frau, die den Betrachter neckisch anlächelte und die doppelte Krone des antiken terranischen Ägyptens trug. Die TSS KLEOPATRA machte sich auf den Weg in das Innere des Systems, zum zweiten Planeten, den die Ssossri Ssossiss genannt hatten.
„Ortung!“ rief Netta aus der Zentrale der 51. „Transpondercode TSS KLEOPATRA.“
„Danke, Netta!“ gab Lydia zurück, und zu Rhossoma gewandt. „Jetzt kommt einer unserer Chefs, keine Sorge, er ist ziemlich nett. Kommen sie mit in die Kommandozentrale und sehen sie zu“, lud Lydia den Ssossri ein, und Rhossoma schluckte, als er die Zentrale betrat und durch die Klarstahlkanzel blickte. Vom wolkenlos blauen Himmel schwebte scheinbar leicht wie eine Feder ein Gigant herab, eine Kugel, die im Durchmesser größer war als die ACHASSA lang, und sie kam neben der 51 zum Stillstand. Nahe des Südpoles klappte ein Stück der Wandung auf, aus der Öffnung schwebte eine Plattform, eine runde Scheibe, drei Meter dick und zehn im Durchmesser. Ein Geländer, etwa 120 Zentimeter hoch, umgab die obere Fläche, auf welcher sich ein großer Tisch, einige fest montierte Stühle und, um den Rand verteilt, einige Kuben standen.
„Eigentlich ist das Ding ja als Badeinsel gedacht, wenn die KLEOPATRA in der Nähe eines geeigneten Planeten ist und ein paar Leute in ihrer dienstfreien Zeit schwimmen gehen wollen“, erklärte Lydia. „Normalerweise sind Sonnenliegen und -Schirme aufgestellt, aber dem Anlass gemäß haben unsere Techniker schnell etwas improvisiert.“
„Diese Scheibe ist allein für das Vergnügen gebaut?“ Rhossoma staunte. „Für hochrangige Offiziere und Politiker, nehme ich an?“
„Aber nein“, lächelte Lydia, sorgsam bedacht, die Zähne mit den Lippen bedeckt zu halten. „Wir sind, ich habe es schon erwähnt, eine Firma. Keine Politiker. Hochrangige Offiziere, nun die gibt es schon. Die Raumschiffe und die Sicherheitskräfte sind natürlich paramilitärisch organisiert, anders funktioniert es nicht. Im Ernstfall muss eine Kommandostruktur, eine Rangordnung, ein Dienstweg existieren. Zum Beispiel wird die Chefin nie sagen ‚Ruder, steuern Sie diesen oder jenen Kurs‘, außer sie sieht eine Gefahr oder etwas besonders Interessantes. Dann könnte Sie schon mal ‚Ruder hart Steuerbord‘ oder ‚Stopp‘ rufen. Aber das darf jeder, wenn er ein Problem voraus erkennt. Im Normalfall aber wird Miss Starlight der Kommandantin mitteilen, wo sie die Station haben möchte, und die Kommandantin wird diese Wünsche nach Möglichkeit erfüllen. Die Kommandantin kümmert sich aber ausschließlich um den raumfahrerischen Aspekt, und es unterstehen ihr auch nur jene Besatzungsmitglieder, welche damit zusammenhängen. Zoll, Polizei, alles, das nicht unmittelbar mit der ‚Schiffsführung‘, der Kosmonautik, zu tun hat, kümmert sie nicht. Das ist die Sache der Chefin, sie ist die Besitzerin und letzte Instanz. Wenn sie abwesend ist, so wie jetzt, ernennt sie eine Vertretung. Allerdings gelten an Bord auch und in erster Linie die Gesetze, wie sie von der Staatengemeinschaft ihres Heimatplaneten anerkannt sind, und sie hat Richter und Anwälte von der Erde kommen lassen. Sie hält sich an Verträge, wenn sie geschlossen sind, und erwartet das auch von anderen.“
„Oh. Eine fehl- und makellose perfekte Heldin also“, meinte Rhossoma sarkastisch, er glaubte nicht an so viel Güte und Weisheit.
„Natürlich nicht. Tana Starlight ist eine clevere Geschäftsfrau, die schon auf ihren Vorteil bedacht ist. Aber sie hat eingesehen, dass ehrliche Verträge vor allem langfristig Vorteile bringen, nicht nur einen schnellen Gewinn. Und sie denkt zu recht, dass gut ausgebildete und zufriedene Angestellte ein gutes Kapital darstellen und loyale Mitarbeiter sind. Also zahlt sie angemessene Löhne und sorgt für Möglichkeiten, auch die Freizeit genießen zu können. Sport, Lokale, fast alles, was er auf einem Planeten gibt, existiert auch auf der HEPHAISTOS. Und die neue Station, von der man noch nicht sicher weiß, ob sie VUKANOS, OLYMPOS oder HEPHAISTOS II heißen soll, wird es noch einiges mehr geben!“
Rhossomas Kinnfedern bebten in seiner Erregung. „Sie ist also aus durchaus egoistischen Gründen altruistisch. Sie will gut leben und sich alles leisten können, was sie will, daher sorgt sie dafür, dass auch Andere ohne Sorgen leben können, damit diese Anderen ihr helfen, ihren Luxus zu erhalten und zu genießen?“
„Das trifft es nicht schlecht“, schmunzelte Lydia. „Sie selbst nennt es ‚Sozialkapitalismus‘.“
„Eine witzige Wortschöpfung“, amüsierte sich Rhossoma. „Das ist doch eigentlich ein Antonym, so sie etwa Politikerehrlichkeit.“
Lydia kicherte. „Richtig, so in etwa, aber derzeit funktioniert es ganz gut, und Junior Reginald Starlight scheint in die Fußstapfen seiner Mutter zu treten. Nun ja, wie die übernächste Generation das handhaben wird, können wir nicht sagen, aber welcher gute Zustand hält schon ewig?“
„Keiner“, stimmte der Ssossri zu. „Aber auch kein schlechter!“
Mittlerweile war die Scheibe gelandet und schwamm ruhig in der sanften Dünung des uferlosen Ozeans von Ssossiss. „Kommen Sie, Rhossoma, ich stelle Sie vor. Möchten Sie noch andere Mitglieder Ihrer Mannschaft bei diesem Gespräch, das man durchaus als offizielle Kontaktaufnahme werten sollte, dabei haben?“
Der Ssossri überlegte kurz. „Meine Ingenieurin Chussogh, die Heilerin der Seelen, die gleichzeitig die Vertreterin des Staates auf meinem Schiff ist, und meinen Kommandanten der Bordwache.“
„Danke für ihr Vertrauen, Rhossama“, sagte Lydia Halverdorn schlicht, und die Federn des Ssossri bebten vor Vergnügen.
„Oh, es gibt ja noch unsere Vertreter! Nein, ich glaube nicht wirklich, dass wir die brauchen, aber jeder baut gerne vor.“

*

Rhossoma betrat die glänzende Energiebrücke zwischen seinem Schiff und der 51 schon gewohnheitsmäßig, er vertraute dieser Technik mittlerweile. Und er hielt es auch für nicht sehr wahrscheinlich, dass die Brücke ausgerechnet jetzt abgeschaltet wurde. An Bord seiner ACHASSA eingetroffen, rief er Chussogh, Ussichssu und Maghssochso zu sich.
„Wir waren in Sorge, Herr!“ Maghssochso stand wie üblich sehr steif vor seinem Kapitän, das automatische Gewehr mit Kaliber 5,82 Millimeter am Riemen von der Schulter hängend, die schwere Dienstpistole mit 11,452 Millimetern schräg links vor dem Bauch.
„Habt Ihr mein Signal denn nicht gehört?“ war Rhossoma verwundert. „Ich bin sicher, es abgeschickt zu haben.“
„Herr!“ Ussichssu war eine eindrucksvolle Ssossri, sie überragte selbst den Hünen Rhossoma, der immerhin 188 Zentimeter groß war, um einiges. Ssossri, welche über zwei Meter groß wurden, waren mehr als selten, für sie kam nur der heilige Beruf eines Heilers der Seelen in Frage, gepaart mit einem politischen Amt. Dazu strahlten Ussichssus Schuppen in tiefem Violett, und dieser Umstand war noch seltener als ihre Größe, diese Farbe wies sie als die Angehörige einer alten, einer sehr alten Blutlinie der Ssossri aus, die sich vom ersten Gelege ableitete und deren Erbe extrem selten zu Vorschein kam. Zur Verwunderung aller war Ussichssu nicht den Traditionalisten beigetreten, die ihr beinahe jeden Wunsch von den strahlend gelben Augen abgelesen hätten. Sie hatte sich den Fortschrittlichen Kräften angeschlossen, die sie zwar auch für viel zu konservativ, aber immer noch das kleinere Übel hielt. Sie war revolutionär, ihre Reden waren bei allen gefürchtet, egal von welcher Partei, jeder bekam ihre Schelte ab. Ihre radikale Idee, einmal für 50 Jahre ganz auf die Eiablage zu verzichten, egal welchen Standes oder welchen Vermögens man war, und einem Verstoß gegen diese Verordnung hart bei jedermann zu bestrafen, erregte Angst bei allen Regierenden. Sie selber sollten von dieser Regelung ebenfalls betroffen sein? Das Volk hätte diese Maßnahme, wenn auch ungern, aber doch mitgetragen, wenn es alle traf, nun gut. Aber für die Politiker und ihre Geldgeber ging das gar nicht, beide Parteien der Ssossri waren sich plötzlich einig, also schob man sie ab. Heilerin der Seelen auf der ACHASSA war eine Ehre, da konnte man doch nicht von Bestrafung oder mundtot machen sprechen! Die ACHASSA verdiente eben die Besten, die Elite, auch was den spirituellen Beistand betraf. Und so war Ussichsso an Bord gelandet, ihr offenes, herzliches, wenn auch manchmal schnoddriges Mundwerk und ihre Ehrlichkeit hatten ihr die Sympathie der Besatzung eingebracht. Diese Frau stand nun vor dem Kommandanten. „Herr, wir wussten nicht, ob Ihr das Signal freiwillig gegeben habt. Und“, ihre weißen Federn vibrierten belustigt, „wir haben uns an Eure Befehle gehalten. Ihr habt doch nicht befohlen, uns keine Sorgen zu machen.“
„Richtig“, stimmte Rhossoma zu, die Flaumfedern um die Augen tanzten, auch er zeigte seine Belustigung offen. „Sind wir bereit, der fremden Delegation entgegen zu treten? Ohne Waffen, Maghssochso!“
„Ich fühle ich nackt so ganz ohne!“ murrte der Kommandant der Bordwache, stellte jedoch das Gewehr neben das Schott und nahm das Pistolenhalfter vom Gürtel. Er legte beides wieder in den sicheren Waffenschrank, wie er in jedem Schleusenraum für die Besatzungsmitglieder, die seines Inhalts bedurften, bereit stand.
Von der Plattform ging sowohl zur ACHASSA als auch zur KLEOPATRA schimmernde energetische Rampen, die vier Ssossri schritten auf ihrer Seite hinüber, alle in die rostbraune Uniform der Raummarine Ssossris gekleidet. Lydia erwartete sie bereits.
„Werte Ssossri, ich darf ihnen den Delegationsleiter der Starlight Enterprises vorstellen. Crest da Zoltral, vom Planeten Arkon I.“ Der großgewachsene Mann mit dem spärlichen Haarwuchs, in eine lange, weite Robe gehüllt, neigte den Kopf.
„Phtrr Khurrgh vom Planet Topsid.“ Die Echse hob beide Hände in Schulterhöhe und senkte den Kopf.
„Enjuschkeii Khasi, Planet Kh’Entha.“ Die Kh’Entha’hur legte ihr Gesicht in die offenen Handflächen und strich sich dann die Mähne aus dem Gesicht.
„Und Netta, das Pthokorr, kennen Sie ja schon.“ Netta machte hinter ihrem Oberkörper eine hübsche Spirale mit dem Schlangenleib.
„Werte Freunde von der Starlight Enterprises, ich darf vorstellen. Rhossoma, der Kommandant.“ Er war groß, halbwegs breit gebaut, mit blauen Schuppen und roten Federn, ein Riese unter den Männern seines Volkes. Der Kapitän legte, die Handflächen nach vorne, in Brusthöhe die Fingerspitzen aneinander.
„Ussichssu, die Heilerin der Seelen.“ Sie war noch größer, zwei Meter 10 oder mehr, doch überaus schlank gebaut, wie die meisten weiblichen Ssossri, mit ihren geschmeidigen Bewegungen wie eine Peitsche wirkend, violette Schuppen, weiße Federn, die Augen statt in sattem Orange in glänzendem Gelb leuchtend, wiederholte sie die Geste Rhossomas.
„Chussogh, die leitende Ingenieurin der ACHASSA.“ Sie war nur wenig größer als Rhossoma, ebenfalls, wie Ussichsu, schlank wie eine Gerte, doch mit den grünen Schuppen des nördlichen Kontinents ihrer Heimatwelt und den weißen Federn, welche ein Zeichen ihrer Weiblichkeit waren. Auch sie legte höflich die Fingerspitzen aneinander.
„Maghssochso, der Kommandant der Bordwache.“ Der Soldat war der kleinste, aber auch der bei weitem breiteste der Ssossri, von ihm ging kaum gebändigte Energie aus, als er die Grußgeste ausführte, waren seine Bewegungen eckig und kantig.
„Bitte, wir haben ein kleines Buffet aufgebaut“, lud Crest die Ssossri ein. „Wir hoffen, die Speisen finden Euren Beifall. Lydia hat Euch ja gezeigt, wie unsere medizinische Einrichtung funktioniert, also sollte diese Nahrung für Euch gut bekömmlich sein. Der Geschmack – nun, ich fürchte, da konnten wir nur raten. Wenn ihr noch Gewürze benötigt, dann wollen wir versuchen, es zu besorgen.“



Republik Miridan, System Irrumbur
An Bord der ASTI’SPATITRI’IS

Gucky hatte Ishi Katamuri von der GIULIA FARNESE an Bord der ASTI’SPATITRI’IS gebracht und die junge Mutantin den Tawromeg vorgestellt. Voller Hoffnung starrten sie jetzt auf das knabenhaft schlanke Mädchen, das seine Hände auf den Rechner gelegt hatte und ihren Geist auf die Reise sandte. Tief drang Ishi Schicht für Schicht in die Software vor, fand Blockierungen, löste sie und verband Datenblocks neu miteinander. Seltsame Symbole rasten über die Bildschirme in der Zentrale der Tawromeg, der Antrieb sprang an und verzögerte die riesige, mehr als 25 Kilometer durchmessende Scheibe, welche, wenn sie Irrumbur II erreicht hatte, in einen Orbit schwenken könnte. Parankaletros sprang rasch vor, um das Mädchen aufzufangen, ehe es zu Boden stürzten konnte, plötzlich hatten ihre Beine nachgegeben.
„Armes Ding“, flüsterte Ypieipelekis. „Ich hoffe, es geht ihr bald wieder gut.“
Gucky, der die ganze Zeit mit ihr in Verbindung gestanden hatte, winkte beruhigend ab. „Sie ist auf dem Weg zurück, aber ein wenig dauert es, bis sie sich von dem Computer gelöst hat!“
Parankaletros kratzte sich an der Stirn. „Ich möchte nicht …“
Der Mausbiber fuhr herum und deutete mit seiner kleinen Pfote auf den riesigen Stiermenschen. „DU bist hier an gar nichts schuld, Parankaletros! Du und dein Volk am wenigsten!“
„Aber wenn …“ hub Yphieipelekis an, und wieder unterbrach Gucky.
„Es wird ihr wieder gut gehen. Seht doch nur, sie bewegt sich wieder, sie ist gesund! Ich bringe sie jetzt zu ihrem Mann, in der Zwischenzeit könnt ihr ja mal probieren, wie die Steuerung anspricht und besprechen, was ihr in Zukunft tun wollt.“

*

„Ach, Perry!“ Tana fächelte sich Luft zu und lächelte lasziv. „Kannst du der Versuchung widerstehen, diese Tawromeg für deine Zwecke irgendwie zu nutzen? Sie sehnen sich doch nach einem neuen Herrn, der ihnen sagt was sie tun sollen, war das nicht schon immer der Traum der Menschen? Bedingungslos treue Diener? Denk doch an die vielen gut gebauten Nubier mit den großen – äh, Fächerwedeln, die den leicht bekleideten Damen tagsüber frische Luft und kühlenden Luftzug verschaffen sollten und nachts …“, sie leckte sich die Lippen, „… den Schlaf ihrer Herrin bewachten. Wäre das nichts für Dich, Thora, zwei weiße Bullen, mit großen – Pfauenfächerwedeln, die für entspannende – hm, Ventilation sorgen, während du an einem heißen Tag in der Gobi gemütlich auf deiner Chaiselongue liegst, nur mit Sandalen bekleidet, damit der sanfte – ah, Luftzug jeden Quadratzentimeter deiner Haut treffen kann?“
Selbst Bully wurde es bei diesem mit leiser, warmer, beinahe hypnotischer Stimme gemaltem Bild ein wenig warm. Welchem Mann denn nicht, Victoria spielte ihre Rolle perfekt und Thora dalZoltral war eine schöne Frau mit toller Figur. Es schien manchmal, als hätte Tana Starlight Mutantenkräfte, wenn sie sprach, denn ebenso schnell, wie sie eine erotisch aufgeladene Stimmung erzeugen konnte, war sie in der Lage, den Bann auch wieder zu brechen. Rhodan räusperte sich die Kehle frei, auch er hatte sich dem Bild einer nackten Thora, die noch ebenso schön wie am Tag ihres Kennenlernens auf dem Mars war, auf der Chaiselongue lasziv hingestreckt nicht entziehen können.
„Wir müssen einfach einen Weg finden. Es geht doch nicht an, ein Volk auszubeuten, weil es sich nicht wehren kann.“
„Ach, und wenn es sich wehren kann?“, lachte Victoria. „Dann ist es in Ordnung?“
„Bleib ernst, Mädchen“, rügte Thora. „Wir müssen einen Weg finden, den Tawromeg zu helfen.“
„Das denke ich auch.“ Leslie Myers hatte ihre Hände verschränkt auf den Tisch gelegt. „Das ist ja das Dilemma, sie wollen Herrinnen und Herren, um Entscheidungen zu treffen. Gleichzeitig wünschen sie sich aber auch, keinen Herren zu brauchen. Das ist – hey, das hat etwas mit der kindlichen Entwicklungsphase gemeinsam, sie haben Verantwortung vorher nie kennengelernt. Bei den Menschen wächst es sich aus, bei den Tawromeg nicht. Vielleicht reicht eine Anleitung. Oder – schickt Kitai Ishibashi hinüber, vielleicht gibt es einen kollektiven, vererbten Hypnoblock.“
„Wäre möglich“, überlegte John Marschall. „Aber wir müssen uns die Frage stellen, ob sie danach nicht ziemlich brutale Krieger werden. Vielleicht hat eine fortgeschrittene Zivilisation sie deshalb so gemacht, um sie nicht ausrotten zu müssen!“
„Oder sie wurden so gezüchtet“. Ishi Matsu hatte sich zurück gelehnt und die Beine übergeschlagen. „Wie auch immer, wir müssen mehr erfahren.“

*

„Hier ist RO, wir haben eine Nachricht“, kam es aus den Lautsprechern an der Decke.
„Bericht, sprechen Sie“, forderte Victoria den Offizier auf.
„Ruf an Michael Freyt. Ich zitiere: ‚die Verspätung tut mir ehrlich leid, aber ich komme nicht mit leeren Händen! Gezeichnet Klaus von Viertelwald!“ Alle sprangen auf.
„Sie leben noch!“ Freyt war fassungslos.
Rhodan rief: „Hervorragend, bitte legen sie das Gespräch in diesen Konferenzraum!“
„Mister Rhodan?“ Die Stimme Klaus von Viertelwalds Stimme klang erstaunt. „Ist zu Hause alles in Ordnung?“
„Ist es, Oberst. Ich bin gespannt auf Ihren Bericht. Wie ist Ihre Position?“
„Imperators Wacht, Sir, und wir sind nicht zu übersehen, wenn Sie kommen. Es ist die etwas über zwei Kilometer große Walze mit Aufbauten! Arkonidische Technik aus den Methankriegen vom feinsten. Einige Geschütze haben etwa das doppelte Kaliber als die auf der alten Tussan-Klasse. Atlan hätte sicher seinen linken Arm für einen solchen Kasten gegeben.“ Perry Rhodan nickte geistesabwesend.
„Admiral Anach, können wir das Schiff sicher hierher bringen lassen?“
„Natürlich, Mister Rhodan. Ich veranlasse alles nötige.“ Kya begann bereits mit ihrem Stab zu sprechen.
„Zwei Kilometer!“ Bully schüttelte den Kopf. „Wo nehmen wir jetzt einfach so eine Besatzung her?“
„Von den Miridanern, Bully.“ Perry hieb dem alten Freund auf die Schultern. „Von den Chrk’Ochkror, wenn ich richtig gehört habe, freuen sich die, wenn sie ein großes und kampfstarkes Schiff bekommen. Oder Admiral Anach legt sich ein neues Flaggschiff zu.“
Kya unterbrach sich und fuhr herum. „Sie wollen ein so großes Schiff mit den riesigen Kanonen wirklich verschenken?“
„Was Miridan hilft, hilft der Erde!“ Rhodan lächelte gewinnend und breitete die Arme aus. „Ganz ehrlich, im Moment habe ich mehr Material als Personal, ich weiß, es geht ihnen ähnlich, aber soll ich das Monster jetzt quer durch M13 bringen? Da ist es hier besser aufgehoben.“
„Wenn das so ist – der Truppentransporter KIN’SBETH, der uns neues Personal bringen soll, könnte leicht nach Imperators Wacht umgeleitet werden, eine volle Besatzung könnte das Schiff übernehmen und herbringen.“
„Einverstanden. Oberst, sie haben mitgehört?“, fragte Rhodan.
„Ja Sir! Sagen Sie Admiral Anach, sie soll auch einige Dosen Farbe mitschicken, der Name, der auf dem Schiff steht, wird ihr nicht gefallen, aber wir hatten keine Möglichkeit, ihn zu ändern“, meldete der Freiherr.
„Und wie heißt das Schiff, Oberst?“, fragte Kya neugierig nach.
„ARKONS WIEDERKEHR“, gab Klaus Bescheid.
„Das Arkon sollten wir tatsächlich übermalen!“ nickte Anach, „aber WIEDERKEHR passt schon. Herr Oberst, in drei Tagen wird die KIN’SBETH bei Ihnen sein, acht Tage später sind Sie hier.



Imperators Wacht
An Bord der WIEDERKEHR

„Drei Tage noch, dann sind wir die Verantwortung für den Riesenkasten los und auf der ersten Etappe nach Hause.“ Klaus lehnte sich gemütlich zurück. „Also, als Moklarner hab‘ i jå ‚s Bier net so vermisst, åber als Bayer – scho“, motzte er in seiner heimatlichen Mundart. „Trotzdem will ich mich nicht beschweren, ich würde den Einsatz wieder starten. Immerhin, ich hab etwas ganz wichtiges gewonnen.“
„Was könnte das denn schon sein?“, neckte Paola und legte all ihren Pathos in die Stimme. „Du hast sehenden Auges darauf verzichtet, der Stammvater eines großen Geschlechts zu werden, das dereinst einen Planeten beherrscht hätte!“
„Wozu ein großes Geschlecht von Herrschern?“, fragte Klaus und grinste. „Mir reicht ein kleines Geschlecht, das sich über die Planeten verteilt, sie beschützt, nie herrscht, aber glücklich ist. So haben es die Viertelwalds immer gehalten. Und wenn es der demokratischen Schweizerin konveniert, dann wird die nächste Generation genau so.“
„Wenn das ein Antrag sein soll, mein lieber Freiherr von Viertelwald“, besagte Schweizerin sprang auf, die Hände in die Hüften gestemmt funkelte sie Klaus grimmig an. „Dann fehlt noch eine ganze Menge. Wo ist das ‚ich liebe dich? Wo der Ring und der Kniefall? So leicht kommst du mir nicht auf die Alm!“
Klaus Friedrich erhob sich, ging vor Veronika auf das rechte Knie und ergriff ihre Rechte, die sie ihm scheinbar widerstrebend überließ. Er drückte einen innigen Kuss darauf, sah zu ihr auf und sagte schlicht.
„Veronika Rutli, ich liebe dich von ganzen Herzen und ich bitte dich vor Zeugen, verwendbar vor jedem Gericht, meine Frau zu werden. Ich habe zwar keinen Verlobungsring mit auf die Mission gebracht, aber nimm das hier bitte als Ersatz. Es ist nur ein Dichtungsring aus MV-Stahl, den ich mit dem Desintegrator etwas zurechtgeschnitzt habe, aber bis wir zu Tiffany oder Cartier kommen …“

„Der bleibt!“, stellte Veronika resolut fest. „Ich brauche keinen Designerring aus New York, der ist mir lieber, er ist etwas ganz Besonderes.“
„Hast du nicht etwas vergessen?“, fragte Paola, und Veronika überlegte mit zuckenden Mundwinkeln.
„Vielleicht solltest du ‚ja‘ sagen!“ Ronja war aufgestanden und zu Veronika getreten. „Das heißt, wenn du den Knirps möchtest. Aber unter Umständen wächst er ja noch.“
„Zumindest temporär und partiell bestimmt“, grinste Veronika. „Und mir ist er groß genug. Ich genieße es gerade, einmal nicht aufsehen zu müssen.“
Dann trat sie dicht an Klaus heran, nahm sein Gesicht in beide Hände, flüsterte „Vor Zeugen, ja!“ und küsste ihn, lange und ausgiebig. Ohne die Stellung zu verändern fragte sie
„Dimitri, übernimmst du bitte meine Wache für die nächsten zwei Stunden?“, und Klaus flüsterte sie, nur für ihn bestimmt. „Ich muss dich doch zumindest temporär und partiell etwas zum Wachsen bringen.“



April 2085
System Reggy
An Bord der GIULIA FARNESE und der HEPHAISTOS

Am Rand des Systems um Reggys Stern kam die GIULIA FARNESE aus der typischen Transitverformung und nahm Kurs auf die HEPHAISTOS, neben welcher die bei weitem größere, neue Station endlich fertig war und nur noch auf Einrichtung und Bewohner wartete. Es war in den letzten Monaten eine Menge geschehen, sowohl hier als auch in der Republik Miridan. Der Kontakt zu den Tawromeg, für deren Dilemma nur eine halbe Lösung gefunden wurde. Den Mutanten war es nicht gelungen, das tiefsitzende ‚Dienersyndrom‘ komplett aufzulösen, das beinahe alle Angehörigen des Volkes befallen hatte. Nur die weißen männlichen und die schwarzen weiblichen Wesen waren von dieser Gewohnheit nicht mehr befallen und zu eigenständigen Entscheidungen bereit – und sie mussten in erster Linie das Problem ihres Volkes lösen. Ansätze wie die Einrichtung besserer Bildungsmöglichkeiten und Lehrgänge für ein effektives Selbstbewusstseinsmanagement waren vorhanden, aber es würde noch einige Zeit dauern, bis sich ein signifikanter Erfolg einstellte. Die Hoffnung ruhte auf der nächsten Generation, jedenfalls würde die Insel nicht mehr Jahrhunderte zwischen den Sternen ziellos herum treiben. Agatha the Rod Nyssen wurde zum kommandierenden Admiral der BRIGADA INTERNACIONAL ernannt, während Michael Freyt auf eine Korvette der GIULIA, die IL PAPA ALESSANDRO VI, umstieg und als Botschafter der GCC und auch Terras mit Gucky weiter bei den Miridanern und Tawromeg blieb. Auch wenn Freyt sich öfter auf der INNKU’ULULEKO, auf welcher Kya Anach wieder ihre Flagge gehisst hatte, als an Bord der ALEX aufhielt.

Die sechs Großschlachtschiffe, welche die Besatzung der HAK’HOOR gefunden hatte, wurden von ihren neuen Besatzungen aus dem Leerraum geholt, je zwei von humanoiden, mantiden und, da sie offiziell der Republik beigetreten waren, reptiloiden Miridanern bemannt und auf die Flotten verteilt. Zwei wurden an die vordere, je eines an die linke, die rechte, die obere und die untere Flanke verlegt. Was für die sechs Europäer lange und harte Arbeit gewesen war, gelang einer Nachschubflotte mit dutzenden Spezialisten naturgemäß in kürzerer Zeit, aber ein leichter Ausflug war es dennoch nicht gewesen. Die große Kugel blieb derzeit noch unbeachtet, praktische und pragmatische Arbeit wie die Erprobung der Superschlachtschiffe, neue Planungen und die Ausarbeitung neuer Strategien und Taktiken hatten verständlicherweise Vorrang. Doch Perry Rhodan hatte sich eine Untersuchung ‚bei Gelegenheit‘ erbeten und die Erlaubnis erhalten, ebenso wie zur Untersuchung des Systems von Eden, wie der Planet genannt werden musste, nachdem Paradies schon vergeben war. Die Korvette ORSINO ORSINI war dazu ausgesandt worden, mit Betty Kendall und Ras Tschubai zur Unterstützung. Falls es so etwas wie intelligentes Leben geben sollte, denn natürlich hatte das Team während ihres Kurzbesuches nicht sorgfältig geforscht, sondern unter Zeitdruck gearbeitet.

Die sechs von der HAK’HOOR waren natürlich nach ihrer Reise ausgiebig gefeiert worden und stiegen auf die GIULIA um, die HAK’HOOR war wieder an Bord genommen worden. Vielleicht konnte man ein altes Springerboot wieder einmal brauchen, wer wusste schon, was die Zukunft so alles bereit hielt. Derzeit waren sie unterwegs zur Erde, gemeinsam mit Atlan und Reginald Bull. Nach verlassen des Imperiums waren sie und die restlichen Mutanten in die IL PAPA PAOLO III umgestiegen, um ohne größeren Umweg ihr Ziel zu erreichen, während Thora, Perry Rhodan und ihre Wissenschaftler noch an Bord der GIULIA geblieben waren.

Der Kontakt mit den Ssossri war befriedigend verlaufen. Victoria war dankbar, dass der routinierte Crest die Sache in die Hände genommen hatte, sparte aber, als sie in bequeme Kommunikationsreichweite gekommen waren, auch nicht mit Lob für Lydia Halverdorn und die Besatzung der 51, die gute Vorarbeit geleistet hatten. Crest hatte mit der KLEOPATRA die vier Offiziere der ACHASSA nach Ssossri gebracht und Regierungsvertreter des Planeten auf die HEPHAISTOS zu weiteren Verhandlungen eingeladen. Der alte General Possessa war mit zwei anderen Politikern der fortschrittlichen Kräfte und vier Vertretern der Traditionalisten mit ihren Stäben der Einladung gefolgt, und selbstverständlich waren auch Rhossoma, Ussichssu, Chussogh und Maghssochsso mit an Bord. Auf Orion Ln 7G II wurde in der Zwischenzeit ein schwimmendes Habitat zu Wasser gelassen, eine Standardkonstruktion für die Erforschung maritimer Gebiete, wie es die Arkoniden schon sein Jahrhunderten benützten. Und auch gut vermahlener und gesiebter Sand der gewünschten Qualität wurde vom dritten Planeten herangeschafft, als Geschenk und Zeichen des guten Willens der Menschen. Wie erwartet kamen von Seiten der Traditionalisten einige Einwände, welche auf Passagen aus ‚den acht Rollen‘ fußten, doch schon die Existenz von intelligenten und technisch weiter fortgeschritteneren Wesen, besonders Säugern und Insekten, erschütterten die eiserne Überzeugung in die Unfehlbarkeit der Überlieferung. Da waren eindeutige und erlebbare Fakten, die nicht einmal der gewiefteste Schriftenausleger wegdiskutieren konnte. Sie waren auf einem riesigen Schiff mit einer Beschleunigung gereist, welche sie ohne Neutralisatoren nicht überlebt hätten, sie waren schmerzlos durch die Raumkrümmung geflogen und sie standen ohne jeden Zweifel auf dem Deck der HEPHAISTOS. Was die Ernährung anging, nun, auch an Bord der Station gab es Liebhaber rohen Fleisches und ungekochten Fisches, und so war die Ernährung selbst der traditionsbewussten Mitglieder der Ssossri, die nach dem Umdenken von Prspissasse nur noch zu dritt waren, kein Problem.

Ashyagada und Neil Schmid hatten seit dem Eintreffen des Professors auf der HEPHAISTOS ein großes Pensum an Arbeit geleistet. Alexander, der in seiner dienstfreien Zeit immer wieder und möglichst viel Zeit mit der jungen Mathematikerin verbrachte, traf die Beiden zumeist in der mathematischen Abteilung an, wo sie auf großen Bildschirmen Termen, Zahlen, Buchstaben und Symbole verschoben. Einmal hatte er gesehen, wie sein Onkel zum Taschenrechner griff, um eine einfache Multiplikation von drei mal acht einzutippen, so sehr waren sie in ihrem Universum versunken gewesen. Wenn sich Alexander dann bemerkbar machte, sahen beide erschrocken auf die Uhr, wieder hatten sie durchgearbeitet, es meldete sich der Hunger.
„Jetzt ein großes Gulasch und ein Helles“, hatte Neil einmal gesagt, und Alexander, der den Onkel kannte, hatte ihn zu Mizzis Beisl gebracht. Mizzi, das war die Maria Kučera, eine dralle und, wie sie sich öfter selbst gerne nannte, ein bisserl überwutzelte, aber immer no fesche Katz‘, also eine nicht mehr ganz junge, aber noch gut aussehende Frau.
Sie war Witwe, das Kaffeehaus in Landstraße, einem Wiener Bezirk, war auf ihren seligen Gatten geschrieben gewesen, ein Gastgewerbeschein ohne jede entsprechende formale Ausbildung in unerreichbarer Ferne. In den letzten Tagen, die es noch in Mizzis Besitz geöffnet hatte, war auf einer Europareise Tanas Exmann Gunnar Gunnarson vorbei gekommen, einfach, weil er hungrig und durstig gewesen war. Das Lokal hatte ihm gefallen, er hatte gut gegessen und bei einem Schnapserl auf Kosten des Hauses die Geschichte desselben erfahren. Da ihm das Essen bei der Mizzi hervorragend schmeckte und er die Frau außerdem recht sympathisch fand, hatte er ihr einfach ein Empfehlungsschreiben gegeben und ihr gesagt, seine Exfrau sei auf der Suche nach Leuten, die ein Lokal betreiben wollen. Sie müsse nur bereit sein, Wien und Österreich zu verlassen. Die Kučera war sofort dabei, und der Huber Gustl, also der August Huber, der ihr Kellner war, ging gerne mit seiner Prinzipalin mit. Mit seinen 60 Jahren hätte ihn niemand mehr genommen, und seine Rentenjahre konnte er auch auf der HEPHAISTOS abarbeiten und einzahlen. Zehn Jahre, und dann wird sich’s schon weisen, weil, so ein kleiner Ober hätt‘ sich damals die teuren Geriatriepulverl nie leisten können. Auf der HEPHAISTOS war es dann ein bisserl anders als gedacht gekommen. Die Chefin, also die Starlight Tana, war ganz wild auf guten Kaffee und gute Küche, also hatte sie eine Wiener Beisltant‘ mit offenen Armen empfangen. Im Laufe der Zeit wurde das Kaffeehaus Mizzis Beisl ein gerne genütztes öffentliches Wohnzimmer für eine ganze Menge Leut‘, wo man gerne auch die deftige Hausmannskost wie etwa Schnitzerl oder ein Gulasch verspeiste. Die Spezialität der Mizzi aber blieben die Buchteln, gefüllt mit Zwetschgen- oder Marillenmarmelade, dazu ein Bier. Oder auch zwei, wenn der Durst zu groß war. Der Huber war mittlerweile eine Institution in der Lokalszene, der alte, immer ein wenig grantige Kellner hatte doch noch eine gut anschlagende Antigeriatriebehandlung erhalten. Die ‚Gäst‘ wollten halt net auf mich alten Grantscherben verzichten‘ erzählte er immer wieder. Und so spielte der Mann im schwarzen Anzug, zu welcher er immer noch eine Fliege trug, seine Rolle immer weiter.

Neil war sichtlich aufgeblüht, als er das altbackene, aber gemütliche Mobiliar zu Gesicht bekam und sie an einem der Tische Platz nahmen.
„Herr Ober“, hatte er gekräht, „haben Sie Froschschenkerl!“
Der Gustl verdrehte die Augen. „Ja, ich hupf in die Kuchl und hol‘ Ihnen ein kleines Gulasch. Der Schmäh ist schon so alt, dass der Bart schon ein paar Mal um den Saturn geht. Was meinen’s denn, aus was die Ring besteh’n? Mit Semmerl, Nockerl oder Knödl, der Herr?“
„Mit einem Semmerl, ein großes Gulasch und ein Krügerl!“
„Gschamsta! Und die junge Dame? Ein Backhenderl, ganz frisch? Oder ein Schnitzerl, auch frisch aus dem Pfanderl?“ Ashyagada blickte ihre Begleiter ratlos an.
„Probier‘ doch einmal das Gulasch mit Semmel“, riet Alexander. „Das ist ein Eintopfgericht und ganz schmackhaft. Oder gebackene Knödel mit Ei. Schnitzel ist natürlich ein Klassiker, mit Erdäpfel- entschuldige, Kartoffelsalat und einer Zitronenscheibe.“
Ashy nickte zaghaft. „Ich versuche es!“
„Kalb, Schwein, Pute?“, fragte der Gustl und Ashy entschied sich für die klassische Variante vom Kalb und ein kleines alkoholfreies Bier. „Ein Kalberl, ein kleines Kastriertes“, bestätigte Gustl. „Und was woll’n der Herr?“
„Ein Backhenderl und ein Krügerl für mich“ bestellte Alexander rasch entschlossen.

Solche gemeinsamen Unternehmungen blieben aber die Ausnahme, Ashyagada trennte strikt zwischen Beruf und Freizeit. Wenn Alexander auftauchte, waren es nur noch ein paar abschließende Eintragungen, der Rechner wurde ausgeschaltet und der Abend gehörte dem Freund, gemeinsam gingen sie auf Entdeckungen in der Station. So führte Ashy ihren Alex auch auf den FKK Strand und brachte ihn dazu, sich nackt zu zeigen, was ihm in aller Öffentlichkeit zuerst schwer fiel. Er war daran einfach nicht gewöhnt gewesen, auch wenn Wien über ein sehr weitläufiges Nacktbadegebiet verfügte. Er entspannte sich dann aber bald. Er freundete sich auch mit Wrch Pchogh an, dem Topsider, der diesen Abschnitt öfter zu besuchen schien.
„Als Biologe finde ich diese Studien am lebenden Objekt sehr interessant“, hatte der Topsider Alexander anvertraut. „Dieses harmonische Spiel der Muskulatur – auf Topsid können wir das nur in einer Simulation beobachten, sonst sind unsere Schuppen im Weg. Und als halber Ethnologe komme ich hier auch zu interessanten Erkenntnissen.“
„Zum Beispiel?“, hatte Alexander nachgefragt.
„Nun, als wir Topsider die Menschen kennengelernt haben, sahen wir ein Volk mit einem starken Nacktheitstabu“, führte die Echse aus. „Die Kleidung der Menschen bedeckte immer den gesamten Körper, mit Ausnahme von Gesicht und Händen. Vielleicht noch, dass von Terranern bei großer Hitze die Oberarme frei gemacht wurden, von Ferronen hingegen nie, auch nicht in der Freizeit.“
„Nun, ja, bei uns ist es üblich, bekleidet auf die Straße zu gehen“, bestätigte Alexander. „Das ist – also, so bin ich aufgewachsen.“ Ein wenig ratlos blickte er von Ashy zu Wrch Pchogh.
„Ich nicht“, lachte Ashyagada. „Ich habe etwa so lange gebraucht, mich an das Konzept Kleidung zu gewöhnen wie du, die Nacktheit zu akzeptieren. Warum glaubst du, habe ich dieses Ganzkörper – Permanentmakeup? Natürlich, damit mein Gewand sauber bleibt. Und außerdem, wie denkst du denn, wie Butterfett mit zerriebenem Ockerstein nach einem Tag riecht – ganz abgesehen, das es zwischen den Zähnen knirscht und scheußlich schmeckt?“ Sie hob schalkhaft eine Braue. „Du solltest dankbar sein, dass ich dir diesen Geschmack erspare! So viele Duftkräuter kann man gar nicht dazu mischen!“ Sie schüttelte sich ostentativ.
„Sss – sss – sss!“ Allmählich hatte Alexander sich an das zischende Geräusch gewöhnt, das der Topsider machte, wenn er sich amüsierte. „Ich glaube, ich kann das nachvollziehen“, sagte er. „Vor der Erfindung geruchloser, synthetischer Öle waren auch wir Topsider nicht sehr wohlriechend.“

Ashyagada schnupperte. „Also ich mag dieses zarte Aroma von Zimt und – hm, Koriander!“
„Sss – sss!“ Wieder lachte Wrch Pchogh. „Geruchlose Körperöle, ich sagte es schon! Die alten Tierfette, die wir früher benutzen, wurden ganz schnell ranzig. Aber, wenn ich zurück zum Tabu der Menschen kommen darf? Also, wir Topsider tragen aus drei Gründen Kleidung. Als Schutz bei potentiell gefährlichen Arbeiten oder Umgebungen, als Schmuck, um besser auszusehen und leichter unseren Partner oder Partnerin zu stimulieren und als Uniform bei den Streitkräften. Wobei letzteres durchaus etwas von den beiden anderen in sich hat. Sss – sss – sss“, amüsierte sich die Echse. „Gut, also, nach unseren Beobachtungen gingen wir dann davon aus, dass es bei den Menschen umgekehrt sein musste, dass also ein nackter Körper sexuell extrem stimulierend auf das andere Geschlecht wirken muss. Hier, auf diesem Strand, machte ich dann die Erfahrung, dass dies nur begrenzt richtig ist.“
„Ich glaube, hier muss ich widersprechen“, ergriff Alexander wieder das Wort. „Für meinen Teil, also, ich finde einen unbekleideten Frauenkörper manchmal sehr wohl stimulierend.“
Der Topsider wies mit einer weit ausholenden Geste um sich. „Wirklich? Ich kann bei keinem der Wesen hier so etwas wie Paarungsbereitschaft …“ Alexanders Bier verteilte sich in einem feinen Sprühnebel in der Luft vor ihn, er hustete, Ashyagada klopfte ihm auf den Rücken. „Habe ich ein falsches Wort benützt?“, sorgte sich der Topsider. „Ich möchte niemand beleidigen.“
„Schon gut. Ich werde es überleben.“ Alexander atmete tief durch. „Ich, wir sind einfach nicht daran gewöhnt, so direkt davon zu sprechen.“
„Ich schon“, bekannte Ashy. „Bei uns sprechen wir ganz offen über die Ausstattung oder Ausdauer eines Mannes, und sie sprechen wahrscheinlich auch ähnlich über uns.“
„Na schön, also, niemand zeigt – Paarungsbereitschaft.“ Alex lenkte ein wenig ab, er hatte sich überwunden und das Wort selbst ausgesprochen. „Wir sind hier in der Öffentlichkeit, das ist wohl kaum der richtige Ort dafür.“
Wrch Pchogh schob sein drittes Augenlid vor, das Äquivalent zum Heben der Augenbraue bei den Menschen. „Nein? Meine Beobachtungen deuten auf etwas anderes hin. Wenn man die Menschen am Nicht-Nacktstrand beobachtet, so bemerkt man, dass Männer den kaum, aber doch verdeckten sekundären Geschlechtsteilen der Frauen und diese wiederum den primären der Männer, die ebenso verdeckt sind, sehr viel mehr Beachtung schenken als hier, wo doch alles sozusagen auf dem Tisch liegt.“

Alexander sah sich um, tatsächlich sah er, wo immer er hinsah, mehr oder weniger anziehende Körper, die sich ungehemmt seinem Blick darboten. Und es interessierte ihn nicht im Geringsten, ebenso wenig, wie er größere Beachtung fand.
„Das ist seltsam“, gab er zu. „Aber es muss mit der Situation zu tun haben, denn wenn wir allein sind, finde ich – entschuldige, Ashy, wenn ich so offen bin, also ich finde im privaten Umfeld eine unbekleidete Ashyagada sehr wohl sehr erregend und stark stimulierend. Ups – besser nicht jetzt daran denken!“
Der Topsider ersparte Alex sein Lachen. „Nun, natürlich macht auch die Gelegenheit etwas, aber die Anbahnung dieser Gelegenheit – nun, ich denke, da ist bei Menschen schon ganz viel ein Spiel mit der Phantasie dabei. Es ist sehr faszinierend.“
„Wie funktioniert es denn bei Euch?“ fragte Ashyagada neugierig.
„Sehr einfach“, antwortete die Echse. „Wir versuchen in den ersten Jahren unserer Geschlechtsreife, die Aufmerksamkeit möglichst vieler Frauen auf uns zu lenken, bis wir einen genetisch adäquaten Partner gefunden haben. Wir können es riechen, die Schuppen an der Genitalfalte, in der wir unsere Fortpflanzungswerkzeuge üblicherweise verbergen, beginnen fühl- und sichtbar zu vibrieren, und dann warten wir auf die Entwicklung des ersten Geleges. Wenn die Frau zur Empfängnis bereit ist, sondert sie ein Pheromon aus, das den Mann seinerseits stimuliert und zur Befruchtung führt. Auch etwas, das mich am Menschen fasziniert, ist, dass Vereinigungen auch ohne Ovulation der Frauen stattfinden. Teilweise sogar dann, wenn eine Befruchtung ausgeschlossen ist. Also eigentlich – ausschließlich zum Vergnügen! Was für eine Energieverschwendung!“ Wrch Pchogh blähte die Backen, das topsidische Äquivalent zum Schütteln des Kopfes. „Aber zurück zur Fortpflanzung der Topsider. Nach der Vereinigung dauert es noch im Durchschnitt ein bis anderthalb Tage, bis die Frau ein Ei legt, welches sie dann beschützt und umhegt, bis nach 285 Tagen der Nestling schlüpft. Dieser benötigt dann etwa 19 Jahre, bis er selbst in das geschlechtsreife Alter kommt. In dieser Zeit entwickelt er sich zum männlichen, weiblichen oder geschlechtsneutralen Topsider. Ich muss gestehen, dass uns der Mechanismus, der zu Ausprägung männlicher oder weiblicher Genitalien entscheidet, noch völlig unbekannt ist. Es ist nur bekannt, dass sich manchmal, wenn zu wenige Frauen auf einer Welt leben, bei einigen Männern sich der Phallus zurück entwickelt und dafür Eierstöcke und die Legeöffnung entstehen. Ach, Lester, machst du mir bitte noch einen Espresso? Danke dir!“
„Für noch ein Coke, danke“, rief Ashyagada dem Mann mit der Schürze noch nach.

„Also, für Euch dient der Koitus rein der Fortpflanzung?“ fragte sie, und der Sauroide legte den Kopf schräg.
„Wozu sollte er sonst dienen?“
„Kein bisschen Spaß an der Sache an sich?“, insistierte Ashy weiter.
„Nur eine Erleichterung, wenn der Druck der produzierten Spermien im Bereitstellungsorgan nachlässt. Es kann unangenehm sein, wenn die Ovulation der Frau fernab einer Stätte, die sich zur Vereinigung eignet, stattfindet. Manchmal sogar recht schmerzhaft, denn die Produktion hält an, solange die Frau stimulierende Pheromone absondert, und dies geschieht in der Regel, bis das Ei befruchtet ist.“
„Oh!“ Alex schien es nachvollziehen zu können. „Kann man den Zyklus der topsidischen Frauen eigentlich berechnen?“
„Ja, in etwa!“ Wrch Pchogh züngelte ein wenig. „Etwa alle zwanzig Jahre. Da mein Nachwuchs jetzt fünf ist, sollte ich in fünfzehn Jahren zu Hause sein, da wird die nächste Ovulation meiner Frau fällig!“
Aschy nickte. „Viel Erfolg! Aber wie ist das mit den Geschlechtsneutralen?“
„Die entstehen vor allem dann, wenn es zu viele von uns auf einem Planeten geben sollte.“ Der Topsider hob den Zeigefinger. „Die Natur hat hier vorgesorgt, sonst müssten wir sehr viel mehr Planeten erobern, weil wir uns zu schnell vermehren.“
Alexander zuckte die Achseln. „Na ja, bei den Menschen kommt es eher selten zu Neutren, aber ab und zu wird schon eines geboren!“
„Dafür kommt es bei Überbevölkerung zu anderen Regulativen“, warf Ashy ein. „Leider sind nicht alle so harmlos wie die Liebe zum eigenen Geschlecht!“

*

Als die GIULIA FARNESE an der neuen Station vorbeiflog, musterte Victoria seufzend das Gebilde. „Ich fürchte, ich werde mich bald für einen Namen entscheiden müssen“, sagte sie zu Christian, der neben ihr stand. Auch er bestaunte die neue Station, eine Scheibe, 1500 Meter dick, 5.000 Meter im Durchmesser. Mit den neuen Technologien waren nur noch zwölf an Stelle der geplanten 18 an Springerschiffe erinnernden Türme am Außenrand nötig, jeder 1.600 Meter lang und 500 Meter im Durchmesser. Auf halbem Radius, also 1250 Meter vom Mittelpunkt entfernt war ein Hexagon von ebensolchen Türmen, von denen man allerdings nur die obersten 100 und die untersten 50 Meter sehen konnte. In der Mitte reichte ein 500 Meter durchmessender Schacht bis unter die aus kaum sichtbarem, aber dickem Klarstahl bestehende Kuppeldecke, welche sich dort 60 Meter über dem obersten Deck befand und sich in einem eleganten Schwung auf 5 Meter am Rand senkte. Ganz dort oben war mit freiem Ausblick nach oben und den Seiten unter anderem das neue Chez Catherine eingerichtet, gleich darunter lag der große Theater- und Ballsaal und einige Besprechungsräume, welche von James Berry, dem alten Smokebeard Murphy, persönlich mit Speisen und Getränken versorgt wurden.

Man hatte einige Dinge neu geregelt, so war jetzt eine horizontale ‚Nord-Süd‘-Achse eingeführt, eine 200 Meter breite Straße, verlief von einem Außenturm durch die zentrale Röhre bis zum gegenüber liegenden. In deren Mitte hatten einige Geschäfte und Lokale ihren Sitz und sie war mit den Leuchtfeuern auf den Dächern im Normalfall selbst aus dem All noch gut zu erkennen. Diese Straße, die Canal Street oder auch Star Avenue genannt wurde, kennzeichnete eine willkürliche festgelegte Linie, und sie trennte nicht nur die westliche Seite und die östliche, sondern war auch die Grenze zwischen dem Textilstrand und dem Textilfreien, der sich schon auf der HEPHAISTOS immer größer werdender Beliebtheit erfreut hatte und immer mehr hätte erweitert werden müssen.

Unter dieser Straße hatte man eine Magnetbahn gebaut, wie auch in der Grundebene eines jeden 50 Meter hohen Decks, welches aus je 14 Etagen bestand, sodass jede Wohnung eine Höhe von etwa dreieinhalb Meter aufwies. Ein Deck war derart aufgebaut, dass die unterste Etage einer breiten Straße mit Hausfassaden glich, und nichts anderes war es im Prinzip auch, nur dass oben nicht freier Himmel, sondern die Unterseite des nächsten Decks war. Natürlich hatte man sich Mühe gegeben, diese Unterseite und die Hausfassaden möglichst ansprechend zu gestalten. Victoria Rhodan alias Tana Starlight wollte, dass die Bewohner sich auch wohl fühlten. Mit Sonnenlichtlampen, Hologrammen, kleinen Parks mit Bäumen und Pavillons, Bäumen auf der Straße und viel Farbe. Die Wohnungen hatten sogar Fenster auf jene Straßen, und mehr Ausblick auf grüne Pflanzen, als der Bewohner so mancher Stadt der Erde des beginnenden 20 Jahrhunderts. In jedem dieser Decks fanden die Bewohner Einkaufsmöglichkeiten, kleine Kneipen, Imbissstände und andere Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten. Minigolfbahnen, Tennis- und Fußballplätze, die Möglichkeit Base- oder Volleyball zu spielen, Skateboard oder Rad zu fahren, Fitness- und Sportstudios, Massage- und Wellnesseinrichtungen, Ärzte, Apotheker. Jedes Deck war eine kleine Stadt für sich, und so hatte man den Decks auch Städtenamen verliehen. So hieß das erste Deck unter dem Sonnendeck ‚London‘, denn Victoria nannte ihre Bleibe immer noch mit etwas Ironie ‚Number ten, Downing Street‘. Ein Deck tiefer lag Cambridge mit der Akademie, die dritte hieß New York. Es war geplant, die Bewohner eines Decks zukünftig einen Bürgermeister wählen zu lassen, um eine unabhängige Verwaltung der einzelnen ‚Städte‘ zu etablieren.

Magnetbahnen verbanden auch die anderen Türme sowohl mit dem Zentrum als auch untereinander in jedem Deck und woben ein dichtes Netz aus Radial- und Ringlinien, niemand musste längere Strecken zu Fuß gehen. Ebenso gab schmale Brücken, von denen man einen tollen Ausblick vor allem auf den Park hatte, der auf dem Sonnendeck den zentralen Schacht in einem Ring von 1650 Metern Radius umgab. Auch die Hausfassaden der einzelnen Decks waren manchmal mit Stegen verbunden, auf denen Anwohner einige Zierpflanzen in Eimern ziehen und einige Tische und Stühle aufstellen konnten. Die Zeit der engen Gänge war vorbei, es gab große, luftige Räume, weite Blicke, breite Wege, dank Angelpower war noch mehr Platz vorhanden als ursprünglich gedacht. Nicht verzichten konnte man allerdings auf die dicken Wände, welche alle fünfzehn Blocks jedes Deck in Sektoren teilten, mit festen, luftdichten Schotts für den Fall eines Druckabfalls. Immerhin war es eine Station mitten im Weltraum, wo Luft bekanntlich nicht vorhanden war.

Auf dem Sonnendeck, dass viele Bewohner der HEPHAISTOS bereits vorab besucht hatten und das inoffiziell bereits Waikiki genannt wurde, luden in dem prächtigen Central Park zahllose Wege und Teiche zum flanieren ein und machten einen Spaziergang sowohl angenehm als auch abwechslungsreich. Zahlreiche Imbissstände luden zur Rast, auf einigen Liegewiesen mit bequemen Sitz- und Liegemöbel konnte man die Stille genießen oder man konnte sich eine Ecke suchen, wo es mehr Trubel gab. Der innere Strip, eine 20 Meter breite Promenade, umschloss den Park. Der nächste Ring beherbergte noch mehr Lokale, noch mehr Geschäfte, der Übergang vom 60 Meter breiten ‚Innen‘ der Läden und der Promenade war ebenso fließend wie jener zur Promenade des äußeren Strip, wieder 20 Meter breit. Noch weiter außen, anschließend an den äußeren Strip, war ein 200 Meter breiter Strand, auf welchem so manches Lokal auch noch Stühle und Tische stehen hatte.

Ganz außen umgab, wie einst nach dem Weltbild der antiken Hellenen der Okeanos die ganze Welt umfloss, ein 300 Meter breiter Wasserring den Strand. Nicht in einer geraden Linie selbstverständlich, sondern mit möglichst natürlich wirkenden Buchten und Halbinseln aufgelockert. Ganz draußen an der Außenwand luden zwischen zwei Türmen auch kleine Inseln zur Rast ein. Überdies bestand der Strand nicht überall aus Sand, auch Kies und Felsen, von vielen Planeten wegen ihrer Musterungen importiert, waren vorhanden. Es gab an den Ufern zudem die Möglichkeit, sich ein Kanu oder anderes Boot auszuborgen, selbst ‚stand up paddling‘ war durchaus möglich. An vier Stellen hatte man sogar einen 300 Meter breiten und 400 Meter langen Wellenkanal für Surfbegeisterte eingerichtet, die künstliche Brandung konnte es durchaus mit jener Hawaiis aufnehmen. Im Süden hatte man die Canal Street, welche hier Southside Canal genannt wurde, sowie einen 20 Grad messenden Ausschnitt des Sonnendecks für durchreisende Touristen freigehalten, die sich nicht den strengen Zoll- und Ausweiskontrollen, wie sie für die Angestellten oder länger bleibende Gäste üblich waren, unterziehen wollten.

Die insgesamt 18 Türme trugen an ihren über die Kuppeldecke ragenden Spitzen mächtige Triebwerksöffnungen, welche es schafften, die Station immerhin mit knapp über 500 Kilometer im Sekundenquadrat zu beschleunigen. Langsam im Vergleich mit einem Schiff natürlich, aber dass ein solches Riesenmonster überhaupt mit signifikanten Werten beschleunigen konnte, war ein Meisterstück! Außerdem war in jeder Kuppel sowohl im Norden als auch im Süden eine Konverterkanone eingebaut, insgesamt also 36 Stück. Zusätzlich zu der starken konventionellen Bewaffnung natürlich, welche über die gesamte Höhe der Zylinder verteilt war. Die Station könnte schon kräftig austeilen, wenn es nötig wurde.

Ettore Rimaldi hatte es geschafft, sich einen guten, nein, den besten Platz an der Nord-Südstraße zu sichern. Er lag gleich am äußeren Strip, zwischen den Stränden, und er hatte vor, für beide Seiten einen Service zu bieten. In der Mitte des Lokales lagen zwei Theken mit der Speisen- und Getränkeausgabe, so angebracht, dass sich niemand von der anderen Seite belästigt fühlen musste. Die Spanner sollten gefälligst die Hose hinunterlassen und sich auf die andere Seite setzen, genau so nackt wie alle anderen, die sie begaffen wollten. Giovanna wollte weiterhin so offenherzig und ein wenig aufreizend wie immer, aber nicht ganz nackt servieren, und Ettore war damit einverstanden. Er musste ohnehin zwei Servierkräfte einsetzen, also hatte Giovanna die bei weitem älteren Rechte und konnte wählen. Derzeit führte sie das Lokal auf der HEPHAISTOS, während Ettore die Einrichtung des neuen Herculanum hier in der neuen, immer noch namenlosen Station beaufsichtigte. Immerhin sollten die Fresken an den Wänden und die Mosaike auf dem Boden, die er jenen der römischen Villen in der Bucht von Neapel nachempfunden hatte, richtig zur Geltung kommen. Auch die deftigeren, die er auf beiden Seiten der Theken anzubringen gedachte. Er grinste still vor sich hin, wenn er an die Gesichter seiner Gäste dachte. Auch mit Chiara hatte er einen Glücksgriff gemacht, die für die östliche, die textilfreie Hälfte des Herculaneum einstellte. Nicht nur, dass die junge Dame aus Pisa hübsch war und eine durchaus ansehnliche Figur aufwies, sie bewegte sich ohne Kleidung ganz natürlich wie eine Löwin in der Savanne, geschmeidig und graziös. Derzeit war sie noch in voller Bekleidung auf der HEPHAISTOS beschäftigt, doch sie hatte sich Ettore bereits in ihrer neuen Uniform, einem weißen Schürzchen auf mediterran gebräunter Haut und einem ebenso weißen Diadem aus Stoff im pechschwarzen Lockenkopf präsentiert. Und er wusste auch schon, welche Ecke er für die Donna nobile freihalten würde. Ganz am Rand, mit freiem Ausblick auf die Sterne, gab es leider keinen Platz mehr, aber der war auch auf der HEPHAISTOS der neuen Konstruktion zum Opfer gefallen. Der Platz für Tana lag am Ende der Theke, von jeder Seite erreichbar und mit gutem Ausblick auf den Rand.

John Forthingdale saß auf seinen Fersen am Strand der neuen Station und ließ den Sand durch seine Finger rieseln. „Sektion 5, bei Meter 33, ist der Sand nicht grob genug“, sprach er in sein Funkgerät und scheuchte sein Team herum. „Da bekommt man ja eine Staublunge. Hinaus mit dem Schrott, und besorgt neuen! Dalli, nächstes Monat soll die Festung komplett fertig und das meiste übersiedelt sein.“

Der Sfakiote Mikis Papadakis kontrollierte die Statuen griechischer Götter, zwischen welchen rasch ein optisch oder akustisch abschirmendes Feld aufgebaut werden konnte. Die für den praktischen Gebrauch viel zu grobmaschigen Fischernetze hatte der eigenhändig unter der Decke drapiert und mit allerlei maritimem Zeug dekoriert. Die Stühle waren Meisterwerke, sie sahen aus wie geflochtene griechische Sessel, waren aber absolut bequem und leicht sauber zu halten. Seine neue Taverna lag einige Grade von der Canal street nach West, näher hatte ihn Eleni, seine ihm angetraute Ehefrau, nicht an den Nudistenstrand gelassen.
„Das wäre zu viel Ablenkung von Deiner Arbeit, diese ganzen nackten Tatsachen“, hatte sie argumentiert, nun, wahrscheinlich nicht ganz falsch. Mikis riskierte schon mal gerne ein Auge, oder auch zwei.

*

Auf der HEPHAISTOS, in der wissenschaftlichen Abteilung, hatten Ashyagada und Neil Schmid zu einer Konferenz gebeten, zu der auch Thora, Rhodan, Crest und Kono Killikioauewa sowie David Spencer gekommen waren. Ashyagada trug an diesem Tag einen Hosenanzug in gedecktem grau mit einer weißen Bluse und wirkte ausgesprochen professionell, ihre Zöpfchen waren am Hinterkopf zusammengebunden, wie es sich für eine derzeit vergebene Singlefrau gehörte.

„Professor Schmid wird später zu uns stoßen, bitte entschuldigen Sie“, begann die junge Frau ihren Vortrag und schaltete ihr Pad ein. „Nun, ich muss vorausschicken, dass alle folgenden Beschreibungen natürlich nur vereinfachende Analogien darstellen, um ein halbwegs stimmiges Gedankenbild zu erzeugen. Die Formeln zu meinen Ausführungen werden selbstverständlich eingeblendet.“ Eine kurze Schaltung erweckte die Projektoren zum Leben. „Unsere Wurmlochtechnologie funktioniert vereinfacht ausgedrückt, indem wir Richtung und Entfernung zuerst genau berechnen, bei den zurückzulegenden Entfernungen auf den tausendsten Teil einer Bogensekunde und nach Möglichkeit auf den Meter genau. Das ist zum Beispiel bei einem Flug Erde – Wega kein großes Problem, wir kennen alle Parameter wie die unterschiedlichen Geschwindigkeiten beider Systeme, die divergierenden Richtungen und so weiter sehr genau, daraus lässt sich relativ simpel ein Punkt sagen wir 10 AE von Rofus, dessen Standort auf seiner Umlaufbahn ebenfalls exakt zu jedem Zeitpunkt bekannt ist, berechnen. Wenn wir jetzt einen Punkt in einem nicht so bekannten und weiter entfernt liegenden System anfliegen wollen, beginnen die Schwierigkeiten, wir müssen die Reise in kleine Etappen aufteilen, da ansonst die Treffsicherheit natürlich leidet.“ Sie breitete ihre Hände auseinander. „Die alte Regel, es kennt sie mittlerweile sogar schon jeder Laie. Jetzt kommen wir zu dem – sagen wir ‚technischen‘ Teil. Wir senden in die gewünschte Richtung ein hyperschnelles Energiefeld aus, dass den Teil des Universums vor dem Raumschiff ausdehnt und eine ‚Delle‘ bildet, welche wie ein dünner Faden bis zum System der Wega reicht und sich am anderen Ende sozusagen ‚einhakt‘ und den dortigen Teil des Universums zu uns zieht!“ Sie demonstrierte es mit einer in der Luft schwebenden Graphik. „Die beiden ‚gekrümmten Raumausbuchtungen‘ durchdringen nun einander, dadurch kommt es zum optischen Eindruck einer kugelförmigen Linse. Beide Stellen des Universums sind noch intakt, aber ein Teil des System von Wega ist bis hierher gekrümmt, der Teil von hier bis zur Wega. Ein Körper ohne eingeschalteten Hyperantrieb könnte den Ort der Wega, den wir gekrümmt haben, passieren, ohne es zu merken. Dass sich ein Körper im Bereich des Widereintrittes befindet, das ist natürlich das Risiko bei jedem Transit. Ich habe gehört, Mister Rhodan ist mit einer alten Bombe kollidiert, die sich in diesem Bereich aufhielt. Darum springen wir ja so weit außerhalb der Systeme, es gibt dort keinen – oder doch deutlich weniger – Verkehr. Weiter! Nun setzen wir den Sprungimpuls frei und durchdringen mit unserem Schiff die ‚Haut‘ dieser ‚Blase‘, dabei sind wir für den Bruchteil einer Sekunde teilweise noch im Sonnensystem und teilweise bereits im Wegasystem ankommen. Optisch wirkt die Überschneidung zwar wie eine Kugel, und sie krümmt das Licht wie eine Linse, aber quantenphysikalisch gesehen hat sie eigentlich eine nur zweidimensionale Ausdehnung!“ Die Graphik zeigte eine rote Kugel, die durch eine Wand aus blauem Licht flog, an den Berührungspunkten zuckten lange grelle, weiße Blitze, in kleinen Bereichen verschwand die Farbe ganz. „Das Durchdringen dieser ‚Haut‘ zerreißt die pseudomaterielle Energiebarriere und setzt damit eine Menge mess- und sogar sichtbarer Energie frei, auch im Hyperwellenbereich. Das Gunnarson-Gleitfeld verhindert einen Riss in der Barriere, indem es die ‚Haut‘ zu einem genau schiffsgroßen ‚Loch‘ ‚ausdehnt‘, ein Teil der Wand wird und den Durchbruch danach heilt. Kein Riss, kein Energieausbruch, ein sanftes Gleiten.“ Wieder flog eine rote Kugel durch eine blaue Energiewand, doch dieses Mal verfärbte sich der Teil der Kugel, der mit der Wand in Berührung kam, zu einem dünnen, blauen Ring, die spektakuläre Lichterschau blieb aus.

„Professor Neil Schmid von der Universität Wien und ich haben eine weiterführende Formel entwickelt. Eine alternative, eine erweiterte Wurmlochtechnologie. Stellen Sie sich vor, wir könnten diese zweidimensionale Kugellinse aus der Gleichung entfernen und nicht nur berechnen, wo wir landen, sondern es auch sehen! Dazu benötigen wir derzeit allerdings ein zweites Feld am anderen Punkt. Aber wenn wir den Durchgang von beiden Seiten öffnen, können wir den Raum nicht nur krümmen und falten, sondern auch umschlagen und verkleben. So können wir mit minimalem Energieverbrauch den Durchgang geöffnet halten. Das ist nicht nur möglich, sondern auch schon im Experiment machbar.“ Sie trat an eine Wand, an der ein falsches Bullauge von etwa zwei Meter Größe so tat, als wäre es ein Fenster in eine geheimnisvolle Welt mit Strand, Meer und Palmen. Die Brandung rauschte und man erwartete beinahe das Auftauchen leicht geschürzter Polynesier. „Ich habe einmal während meines Studiums einen Zauberer bestaunt“, lächelte Ashyagada und klopfte an den Bildschirm. „Ich möchte Sie, ebenso wie damals dieser Magier, nun alle bitten, sich diesen Bildschirm genau anzusehen, ob Ihnen etwas auffällt.“ Sie setzte sich auf ihren Stuhl und schloss die Augen, versuchte ihrer nervösen Erregung Herr zu werden, während alle aufstanden und genau nachsahen.
„Niemand hat etwas gefunden, Miss Ashyagada!“ sprach Tana Starlight als Hausherrin für alle. „Bitte fahren sie fort!“
Die Mathematikerin erhob sich und ging, dabei auf die Uhr blickend, zu dem falschen Bullauge. „Ich bitte um etwas Geduld, meine Damen und Herren, wir waren schneller, als der Professor und ich erwartet haben.“
„Wo ist denn der Professor?“ Kono sah sich um. „Er wollte doch…“
„Bitte, fragen Sie ihn selbst, Miss Kono. Es ist jetzt Dreizehnhundert, nach militärischem Sprachgebrauch!“ Auf dem Bullauge war ein grünes Licht erschienen, Ashy drückte auf eine Taste, und im Bullauge erschien Professor Schmid.
„Wo sind sie, Neil?“, fragte die Mathematikerin, und Schmid antwortete.
„Ich bin an Bord der 51. Kommandantin Tretjakowa hat mir den Diskus netterweise für die Demonstration zur Verfügung gestellt.“
„Okay, was möchten Sie uns zeigen?“ Thora war gespannt, was dort in dem kleinen Boot geschehen würde, doch auf das kommende war sie nicht gefasst.
„Neil, bitten Sie doch die Kommandantin um ein paar Manöver.“ Im Hintergrund hörte man Lydia Halverdorn sagen:
„Tob‘ Dich aus, Wassili.“
„Bitte, Miss Tana, fragen Sie in der Zentrale, was die Ortung über die 51 sagt“, bat Ashyagada ihre Chefin. Die nahm Verbindung zur Brücke auf.
„Moira, was macht die 51?“
Aus den Lautsprechern hörten alle die Worte „Macht gerade die wildesten Kapriolen zwischen dem zweiten und dritten Planeten.“
„Danke! Tana Starlight aus!“ Victoria wandte sich wieder an Ashyagada. „Und nun?“
Ashy lächelte breit und hielt ihre offene Hand vor das Bullauge. „Neil, Sie haben doch das Rohr aus der Technik besorgt? Geben Sie es mir bitte.“ Durch das Bullauge wurde ein vielleicht ein Meter langes und daumendickes Rohr geschoben und in ihre Hand gelegt, sie zog es vollends heraus und ging damit zum Tisch. Mit metallischem Scheppern landete es auf der Platte, und alle standen auf den Beinen, sahen vom Bullauge zum Rohr und wieder zurück.
„Ich möchte betonen, kein Trick, kein doppelter Boden“, sagte Ashyagada in die absolute Stille. „Bitte, gesellen Sie sich nun zu uns, Neil.“

Professor Neil Schmid trat durch das zwei Meter durchmessende Bullauge, nachdem er sich bei Lydia Halverdorn und ihrer Mannschaft bedankt hatte, küsste formvollendet Victoria und den anderen Damen die Hände, danach reichte er jedem der Anwesenden die Hand. Alle, außer natürlich Ashyagada, waren verblüfft.
„Sie sind schon fertig, Ashyagada?“ Tana Starlight stand auf. „Ich hatte nicht unter einigen Jahren gerechnet!“
„Aber – wir sind doch noch lange nicht fertig“, wehrte Ashyagada ab. „Wir sind doch erst ganz am Anfang. Sechs Meter im Durchmesser ist der größte Durchgang, den wir schaffen, und wir haben noch keinen Dauertest gemacht, und wie die Struktur auf große Massen reagiert, wissen wir auch noch nicht!“
„Es sollte keine Probleme geben“, ergänzte Neil Schmid. „Aber genau das sollte hat schon mehr Leute unter die Erde gebracht, als Pest und Cholera gemeinsam.“
„Und wie groß ist die Reichweite?“ Tanas Hände strichen zärtlich über den Rahmen des Durchganges.
„Wie, Reichweite?“ Ashyagada blickte zu Neil, der in Lachen ausbrach.
„Es ist egal, ob die Gegenstation auf der Erde, in der Republik Miridan oder im Andromedanebel ist. Wenn die Koppelung geschaffen ist, dürfte es keine Grenze geben.“
„Oh!“ Tana setzte sich. „Na schön, wir sollten an den Transitraum auch einen Bahnsteig bauen. Zug nach Galacto City, Terra, Ankunft in 2 Minuten, fährt von Gleis zwei ab. Bitte nicht mehr zusteigen!“

Teegardens Stern
Shûguāng

Ma Jung starrte in den tiefblauen Himmel von Shûguāng, es würde ein warmer, schöner Tag werden. Sein Blick schweifte weiter zum Bolí Lóng, dem gläsernen Drachen, der die weite Ebene des Lü Hé, des grünen Flusses durchschnitt. Nachdem die Expedition der JADEPHÖNIX den Planeten im September 2084 entdeckt hatte, kaufte die Regierung von der General Cosmic Company die ADMIRAL ZHANG HE, einen schwach bewaffneten 800 Meter Raumer und für viele Kilometer Module für eine Tubeway, den man hier den ‚gläsernen Drachen‘ nannte. Eine Hommage an die chinesische Mauer, welche man den ‚steinernen Drachen‘ genannt hatte. Im Dezember standen die ersten 800 Kilometer des Drachen entlang des breiten und gemächlich fließenden Stromes, den man den grünen Fluss genannt hatte und welcher eine breite Ebene be- aber auch entwässerte. Fruchtbares Land für Getreide und, näher am Ufer, bestens für Reis geeignet.

Ma Jung und seine Frau Liánhuā waren unter den ersten Ankömmlingen gewesen. Sie hatten als Erstes beim Bau des Drachen geholfen und waren nach seiner Fertigstellung mit ihren Freunden unter den ersten Agrarkollektiven gewesen, die Land und Geräte zugewiesen bekamen, um das Land nahe des Flusses und entlang des Drachen zu bestellen. Das Kollektiv LüsèDeShou, die grüne Hand, baute unter einer Kuppel Häuser, Scheunen und Stallungen für einheimische Huftiere, deren Geschmack entfernt an Yaks erinnerte, aber viel zarter war. Es war harte Arbeit, aber die Menschen von LüsèDeShou hatten damit noch nie Probleme gehabt. Sie hatten schon immer viel arbeiten müssen und wenig dafür bekommen. Eine oder zwei Schalen Reis am Tag mit etwas Gemüse, zwei Mal in der Woche vielleicht ein klein wenig Fisch oder Fleisch, sie hatten genügsam Leben müssen. Zu wenige Ressourcen für zu viele Menschen. Hier sah es, den himmlischen Mächten sei Dank, ganz anders aus. Das Kollektiv war bereits annähernd autark, auch die Baumwolle gedieh prächtig und würde in kurzer Zeit eigene Kleidung liefern, die Gemüsebeete versprachen Vitamine und Wohlgeschmack, im Fluss gab es essbaren Fisch, der nach Wels schmeckte. Die Tiāntáng de Lìliàng meinten es gut mit Ma Jung, er war mehr als zufrieden mit den drei Schalen Reis mit Gemüse, die sie jeden Tag essen konnten, einmal am Tag aßen sie sogar ein Stückchen Fleisch oder Fisch und sogar Fett zum braten der Speisen war immer reichlich vorhanden. Auch Liánhuā bekam wieder ein wenig Fleisch auf die Rippen und die Hüften, ein Dank auch an Quan Yin, dass seine Frau und er zu den Glücklichen gehören durften.

Der Lóngtóu, also der Drachenkopf, die Stadt, wo die Straße begann und sich auch der Fährhafen befand, wuchs ebenfalls, die Familien der Arbeiter, welche auf Hángyè Yī beschäftigt waren, lebten hier und benötigten Infrastruktur, Schulen, eben alles, was für eine funktionierende Stadt nötig war. Ein Kreislauf sollte beginnen, Technik und Techniker aus der Stadt aufs Land kommen und Nahrung vom Land in die Stadt. Vorderhand war geplant, dass nur ein wenig von der Ernte auf die Erde gelangte, aber es sollte mehr werden, wenn die Kolonie wuchs. Es war schnell gegangen, die erste Reisernte konnte bereits im Jänner erfolgen, seit März erwirtschaftete das Kombinat einen kleinen Überschuss an Nahrung für die Stadt, alle acht Kombinate der ersten Welle hatten Erfolg gehabt. Die zweite Welle baute eben am Ausbau des Drachen, ehe sie ihre Arbeit in der Landwirtschaft aufnahm, dieses Mal waren die Elemente des Bolí Lóng bereits aus eigener Produktion von Hángyè Yī, dem innersten Planeten von Teegardens Stern.

Die Konstrukteurin der FĚICUÍ hatte sich ebenfalls in Lóngtóu niedergelassen und arbeitete an einem neuen Projekt für die Regierung der AF. Der Jadedrache hatte sich fraglos bei der Erkundung fremder Welten bewährt, aber jetzt musste für den Schutz des Systems gesorgt werden. Wang Li-Ming hatte ihren nanotronischen Pinsel wieder zur Hand genommen und sollte nun eine bedingt bewegliche Festung konstruieren, die MUSASHI. Frau Wang war nicht fixiert, sondern offen für Neues, und so studierte sie Pläne von gesehenen Raumschiffen, auch der FAUST DES THORT, aber keine Konstruktion begeisterte sie vollends, aber die Betrachtung des klassischen maritimen Schlachtschiffes der Yamatoklasse brachte sie auf eine Idee…

Anfang April wurde der Kiel einer kleineren Version, der HONGKONG, geschmiedet, also die große, zentrale Rumpfröhre in Angriff genommen. Eine ein Kilometer lange Konstruktion, im Querschnitt ein Hexagon mit einer Seitenlänge von hundert Meter – also 150 Meter hoch und 175 Meter breit, an Bug und Heck wurde der Rumpf elliptisch abgerundet. Jedes der sechs Decks sollten Aufbauten tragen, der erste 200 Meter von Bug und Heck entfernt, also 600 Meter lang, 90 breit, und 25 hoch, der zweite noch einmal 150 Meter zurückversetzt, 300 Meter lang, 80 breit und ebenfalls 25 hoch, mittig ein Turm 50 Meter hoch, 30 Meter lang, 10 breit, von einer 40 Meter durchmessenden und zwölf Meter runden, waagerecht liegenden Scheibe gekrönt. Diese Scheiben waren eine AF – Version der Starlight-Patrouillenboote mit durchaus beachtlichen Leistungen. Zwischen den Aufbauten sollten die Triebwerke in einer dreieckigen Verkleidung liegen, 200 Meter lang und 40 Meter hoch, je drei, also 18 Stück. Auf jeder Abstufung sollte ein trapezförmiger Geschützturm mit einer Länge von 100 Metern, 75 breit und 10 hoch mit drei überschweren 153 cm Impulsstrahlern sitzen, sechs pro Deck, 36 insgesamt. Auf deren Dach und den Kanten waren leichtere Thermostrahler und Desintegratoren als Fliegerabwehrwaffen verteilt. Wurmlochgeneratoren waren derzeit nur für die sechs Diskusschiffe vorgesehen. Dieses Mal sollten es die besten sein, die der Markt anbot, ebenso die Energieversorgung, und da war etwas Besseres als die Angelzelle noch nicht erfunden. Projektiert war eine Bauzeit von etwa einem Jahr, vier Schiffe dieser Klasse waren geplant, und sollte sich diese Baureihe bewähren, wollte Wang Li-Ming die MUSASHI und die YAMATO in Angriff nehmen, nach deren Fertigstellung konnte man über eine Sprungfähigkeit der HONGKONG-Klasse nachdenken.

*

Solares System,
Peking, Asiatische Föderation

Der Ministerpräsident der Asiatischen Föderation, Gao Bo-Chang, hatte den Bab, das Oberhaupt, der Bahai eingeladen, ihn in der neuen Stadt der Völker zu besuchen, und Mirza Kurosch Abdel Salam hatte die Einladung angenommen.
„Mirza Kurosch“, begann der mächtigste Mann der Asiatischen Föderation das Gespräch. „Ich bin dankbar, dass ihr gekommen seid!“
„Ich bin geehrt, empfangen zu werden“, entgegnete der Bab mit einer formellen Verbeugung.

Die Bahai waren eine der Abrahamitischen Religionen. Sie hatte sich zwar aus dem Islam entwickelt, aber auch einige buddhistische Lehren in sich aufgenommen. Ganz einfach ausgedrückt, verlangte der Glaube der Bahai, dass der Gläubige in diesem Leben Fähigkeiten für das Jenseits lernen solle, unter anderem die Tugenden wie Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft. Nicht, wie in den anderen Glaubensrichtungen auf eine bestimmte Gruppe beschränkt, sondern jedem Gegenüber. Der Leitsatz lautete ‚tue nichts Böses, sprich nichts Böses, denke nichts Böses“, und sie lehnten ein hedonistisches, ausschweifendes Leben ebenso ab, wie sie gegen totale Askese und absolute Enthaltsamkeit waren. Gutes Essen und Trinken gehörte zum Leben ebenso wie Sexualität und Fortpflanzung, und es war in Ordnung, alles zu genießen, solange es nicht das Leben beherrschte. Außerdem waren sie die Einzigen, welche die anderen Glaubensrichtungen als legitim und richtig anerkannten. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass die Bahai im Laufe der Zeit immer wieder Opfer von Verfolgungen wurden, und auch vor der Machtergreifung des Ministerpräsidenten Huyang Chang-Ni wurden sie als religiöse Gruppe von der AF verfolgt. Genosse Huyang verzichtete auf ein aktives Vorgehen, solange sie sich wie alle religiösen Gruppen nicht öffentlich betätigten. Da die Bahai ohnehin keine missionarische Kirche waren, fiel ihnen dieser Verzicht nicht wirklich schwer.

Jetzt aber war der Mirza Kurosch Abdel Salam in Sorge, an diesem Status könnte sich etwas ändern.
„Bab, ich möchte Ihnen ein Angebot unterbreiten.“ Gao Bo-Chang trat an ein Fenster, die Hände auf dem Rücken verschränkt. „Ich weiß, dass alle Religionen ihre heiligen Stätten habe, aber entschuldigen Sie, ich kann an keinen Gott glauben!“
„Ich habe nicht zu entschuldigen“, entgegnete der Bab ruhig. „Es ist nicht an mir, für Gott Entschuldigungen anzunehmen, aber Gott wird es sicher verzeihen, er ist die Güte!“
Bo-Chang lachte auf. „Wenn es einen gibt, sollte ich das mit der Güte besser hoffen! Das ist beinahe schon wie ein Zensatz. Also, Bab, mein Angebot, das ich allen Glaubensrichtungen mache, ist jenes, dass ich Sie mit den Schätzen Ihrer Religion ziehen lasse. Nicht ganz ins Paradies, aber Shûguāng liegt gleich daneben. Eine Insel, um eine für Sie perfekte Gesellschaft aufzubauen.“
Der Bab überlegte kurz, dann nickte er. „Einverstanden. Keine Verfolgung mehr?“
„Keine Verfolgung. Diese Insel gehört ganz Ihnen und Ihren Gläubigen, und sie erhalten die gleiche Unterstützung wie alle anderen Siedler. Ich habe ein ganzes Schiff für sie reserviert, im Juli könnten Sie abreisen!“
„Im Juli. Ich werde meine Gemeinschaft verständigen. Wie groß wird die Insel?“
„Kommen Sie“, winkte das Staatsoberhaupt dem Bab. „Suchen Sie sich eine von denen hier aus. Der Rest dort dürfte wohl zu klein sein.“

*

Solares System
Amerikanische Station Eagles Nest

Die Firma Merdun – Lookward hatte die X 87 an das Eagles Nest geschickt, um sie dort einem Test auf Herz und Nieren unterziehen zu lassen. Die alte Bell SI 5 Foxhound war eine giftige Wespe, die mit ihren 6 Strahlwaffen und 8 Raketen massiv austeilen und deren Schirm auch gut einstecken konnte, doch Merdun – Lookward wollten eine stärkere und schnellere Maschine bauen. Und vor allem wollten sie endlich die 0.8 Licht-Marke knacken. Daher die antriebsstarke X 87, mit der Einspritzung von flüssigem Wasserstoff wollte man zumindest die 950 der Falcon II schaffen, wenn möglich die 970 der Hawk.

Die X 87 war von außen ein Schmuckstück. Lang, mit einer spitzen Schnauze, links und rechts zwei Ausbuchtungen für je 5 Energiestrahler, gerade genug Flügel, um 8 Raketen unterzubringen, am Heck eine T – förmige Stabilisierungsflosse für einen eventuellen Einsatz in der Atmosphäre.
„Sieht schnittig aus!“ Gordon ‚Crash‘ Timber war einer von fünf Testpiloten, welche die ersten drei Muster des neuen Typs in Augenschein nahmen.
„Spritzt sicher davon wie Spucke von der heißen Herdplatte!“ John ‚Headbanger‘ Mitters war unter eine der Maschinen geklettert und besah sich den Bauch.

Die Familie von Molly Mohanan war vor Generationen irischer Abstammung gewesen, jetzt war sie eine echte Amerikanerin und verdammt stolz darauf. Die Sechzigjährige führte auf Eagles Nest ein Lokal, das am liebsten von den Testpiloten und, falls sie verheiratet waren, deren Frauen besucht wurde. Das Ride on Fire unmittelbar am Hangar. Unzählige Fotos, viele noch auf der Edwards Flight Base in schwarz/weiß aufgenommen oder von offiziellen Fotos kopiert, hingen an den Wänden, es gab kein überschüssiges Spielzeug, Bier und Coke in Flaschen, Whisky in Gläsern. Kaffee, dünn, Stunden auf der Warmhalteplatte – die Piloten kamen gerne und bekamen als einzige Gäste die wirklich guten Getränke aus dem Hinterzimmer. Sonst fand man hier eigentlich nur noch junge Mädchen, die sich an einen Testpiloten ranmachen wollten, oder lebensfrohe Witwen, die dasselbe im Sinn hatten. Molly ließ sie gewähren und stellte manchmal sogar ein Zimmer für die zwei Abenteurer bereit. Sie wollte für die Jungs, die bei jedem Flug ihr Leben riskierten, nur das Beste. Miss Monahan kam von der Jagdfliegerei, war aber vor einiger Zeit wegen gesundheitlicher Probleme ausgemustert worden. Das Schultergelenk war nach diesem dummen Unfall wieder ganz gut verheilt, aber die Space Force konnte niemand mit künstlichem Gelenk brauchen, niemand, der nicht zu hundert Prozent fit war, jetzt leitete sie hier das Cafe und gehörte so doch noch irgendwie dazu. Die hohen Offiziere konnten sich zumeist noch sehr gut an die Dame erinnern, die vielen von ihnen das Heck ihrer Maschine gezeigt hatte. Sie war rau, eckig, kantig und bärbeißig, aber die Testpiloten liebten sie und das Lokal, kamen immer wieder hierher.

„Mit dem Wasserstoff als zusätzlicher Stützmasse sollten wir doch endlich die 0.8 knacken“, trank James ‚Bloodhound‘ Sheffild seinem Freund und Kollegen Greg ‚Thunder‘ Washington zu.
„Es ist Zeit, dass einmal ein Amerikaner dieser grünhaarigen Starlight-Tusse zeigt, dass wir hier auch was auf dem Kasten haben und endlich den Rekord bricht“, hoffte Molly und stellte beiden noch ein Bier hin. Der magische Rekord! Am 18. November 2084 hatte Isbyël Samkal vom Planeten Bhekon ihre kurzen, smaragdgrünen Haare unter den Helm gestopft und war in den nagelneuen Starlight I 3 Hawk gestiegen. Nach der Erprobung von Flugmanövern hatte sie ordentlich Stoff gegeben und mit 972 km/s2 den alten Rekord von 971 gebrochen, und sie war bis O,799 auf dem Lichtmeter gekommen. Die Steuerung begann zu flattern, die Andruckabsorber ließen immer mehr Vibrationen in die Kanzel, und so brach sie ihren Versuch zur weiteren Geschwindigkeitsteigerung ab und begnügte sich mit einer nach ihrer Uhr 5 Minuten langen Schleife bei 79,9 % der Lichtgeschwindigkeit, an Bord der HEPHAISTOS vergingen während ihres Fluges acht Minuten. Auch das war ein Rekord, denn die letzten Spitzengeschwindigkeiten waren alle bei 79,5 gelegen.
„Das Ass hier schafft’s morgen schon.“ Frank ‚Oz‘ Baum hieb George ‚Spitfire‘ Decker auf die Schulter.
„Ma’am! Kann ich bitte noch ein Bier haben?“ Eine helle Stimme klang durch den Raum und Molly hob eine Augenbraue. Eine hübsche, junge Frau, etwa 30, winkte mit ihrer leeren Flasche Sam Adams. Sie war ein seltener Anblick, sonst waren die Frauen bei weitem jünger oder älter, und ihre Kleidung war auch bei weitem schmuckloser, als man es von den Groupies im allgemeinen gewohnt war.
„Klar, Schätzchen.“ Sie holte eine Flasche und stellte sie geschlossen auf die Theke, gekonnt öffnete die junge Frau still lächelnd das Bier an der Tresenkante und trank einen tiefen Schluck.
„Wenn einer die Marke schafft, dann bin ich das“, behauptete sie.
„Bist Du Fliegerin, Kleines?“
„Könnte man so sagen.“ Wieder huschte ein Grinsen über ihr Gesicht. „Mein Name ist Bellinda Straker, Rufname Amelia.“
„Hm!“ Molly taute ein klein wenig auf. „Dann bist Du wegen der X 87 hier?“
„Nope!“ Bellinda schüttelte den Kopf. „Ich warte auf die X 88, die 87 erinnert zu sehr an die alte F 104, die Witwenmacher.“
„Ich flieg die 87 morgen!“ rief Spitfire herüber. „Und ich breche die Marke! Darauf kannst Du Gift nehmen!“
„Ich bleibe beim Sam Adams, danke!“ Sie prostete ihm zu.
„Hey!“ Jack ‚Wildfire‘ Hopkins schob sich näher. „Vielleicht könnten wir zwei zusammen die achter Marke durchbrechen, Honey.“
„Bist Du sicher, dass Du es einmal bis zum Ende schaffst?“ Emilia sah von seinen Augen langsam tiefer, ihr Blick erreichte die Gürtellinie und wanderte wieder nach oben. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich glaube, da fehlt‘s an Durchhaltevermögen. Wie die alte X 82, schnell los und dann – Sendepause! Abbruch!“ Sie hob den Zeigefinger, um in dann abzuwinkeln. „Nein, mein Junge. Bleib bei den gelangweilten Ehefrauen“, wies sie in eine Ecke am anderen Ende der Bar. „Die glauben noch daran, dass ein Testpilot mit jedem Knüppel ein Zauberer ist.“
„Ich bin ein Zauberer mit dem Knüppel!“ betonte Wildfire.
„Glaub ich Dir“, grinste Amelia. „Solange Du ihn in der Hand hältst.“

„Sagen Sie mal, Miss!“ Eine der Frauen hatte sich einen Whisky bestellt. „Sind das alles Piloten an der Wand? Das müssen ja hunderte sein!“
Molly sah sich um und nickte. „Alles Testpiloten. Das sind die ganz Großen der Zunft! Eine Galerie der Besten!“
„Oh!“ Die Frau überlegte kurz. „Aber zum Beispiel Slick oder Wildfire sind doch auch tolle Piloten. Warum…“
„Wir leben noch!“ Spitfire sah gerade nach vorne, trank noch einen Schluck, dann wandte er sich zu der Frau um. „Hi, ich bin Spitfire.“
„Barbara. Was hat das mit dem Leben auf sich?“
„Man muss sterben, um auf Mollys Wand zu kommen!“ erklärte er.
„Oh!“ sie sah genauer hin. „Morgen könnte ein Bild mehr dort hängen“, erzählte Spitfire weiter. „Die meisten Flüge sind Routine, aber wir Testpiloten sollen ja möglichst ans Limit gehen, und bei neuen, unerprobten Mustern… Von den Ingenieuren ist ja noch keiner selbst geflogen. Ein Bier, Barbara? Und möchten Sie tanzen?“

*

Ein winziger, silberner Zylinder mit spitzer Schnauze raste, einen langen Feuerschwanz hinter sich herziehend, durch den äußeren Bereich des Sonnensystems der Erde.
„900!“ meldete Spitfire an die Basis. „930!“ Tief unter dem Flugkörper funkelten die prächtigen Ringe des Saturns, Spitfire legte die X 87 in eine weite Kurve. „940! Beginne Einspritzung Stützmasse!“ Ein mächtiger Feuerball loderte kurz auf und raste am Saturn vorbei weiter nach draußen.
„87, hören Sie mich? Spitfire?“ Der Funker versuchte noch ein Lebenszeichen zu erhalten, doch der Ortungsoffizier schüttelte traurig den Kopf.
„Wir hätten die AF geschlagen, aber die Einspritzung scheint doch noch nicht zu funktionieren.“

Im Ride on Fire hatten die Testpiloten den Funkverkehr und die Gespräche der Leistelle im Hinterzimmer live mitverfolgt, wie immer, wenn einer ihren unterwegs war.
„Das war’s wohl!“ Molly kramte einen Klebehaken hervor, und sie gingen in den Hauptraum, wo Molly eine Flasche Oban aus ihrem Versteck holte. „Spitfire hat ihn geliebt, kommt Jungs – und Amelia, auf den alten Spitfire, und möge Gott seiner armen Seele gnädig sein!“
„Auf Spitfire“, murmelten die Testpiloten und tranken ihren Whisky.
„Einer geht noch“, schenkte Molly eine zweite Runde aus, ehe sie einen Platz für Spitfires Bild an der Wand suchte.
„Ich hab’s ja gesagt, zu nah an der F 104. Schon der Pa von meinem Großvater ist mit einem Starfighter vom Himmel gefallen!“ Amelia trank ein Schlückchen.
„Ja, Spity war ein guter Junge und ein guter Pilot!“ Crash stand neben Amelia. „Ich glaube, wir werden die Kiste erst einmal ohne Nachbrenner auf ihre Spitze treiben, bei der Einspritzung müssen die Rechenschieber noch mal drüber gehen!“
„Gib auf Dich acht, Alter!“ Amelia stieß mit ihrem Glas gegen das seine.
„Ich hab gehört, Du wartest auf die 88?“ drehte sich Crash seiner Gesprächspartnerin zu.
„Mhm!“ Amelia nahm noch einen Schluck. „Sollte heute kommen. South Dynamic Industries, auch ein Abfangjäger. Sie haben früher mit der Entwicklung begonnen, aber Merdan – Lookward mussten ja ganz schnell einen Konkurrenten bauen. Ist ein harter Kampf um Aufträge.“
Crash nickte. „Nun, freien Raum und heiße Düsen, Amelia!“
„Gute Landung, Crash. Viel Glück mit dem Vogel morgen!“

„Crash ist trotz seines Namens ein netter Junge. Noch einen?“ Kurz betrachtete Bellinda Straker ihr leeres Glas, dann nickte sie.
„Bitte“, sagte Amelia. „Er ist ein netter Kerl, verheiratet und nicht hinter meinem Hintern her, sondern einfach freundlich. Ja, ich glaube, er ist ein guter Mann.“
Molly nickte. „Der einzige unter all den Kerls, denen ich mein Zimmer noch nie borgen sollte. Und es sollte Dich nicht wundern, dass die Jungs hinter Deinem Hintern her sind, kleine Miss Knackarsch!“
Amelia lachte launig. „Wenn ein richtiger Mann kommt, kann er ihn kriegen! Aber zu groß geratene Jungs und Angeber wie Wildfire – sicher nicht!“
„Crashs Frau ist Lehrerin hier auf der Base“, sagte Molly in warnendem Tonfall. „Ist ja nicht mehr so, als wären hier nur Militärs und Testpiloten zu Hause.“
„Ja, hat sich schön gemausert.“ Amelia drehte ihr Glas. „Als Dad hier stationiert war, gab es nur die Allan Shepard Space Base, eine Kuppel zum Wohnen, eine zur Wartung der Raumjäger und Fähren und diese endlose Halle. Das ‚Flugdeck‘ haben sie es damals genannt.“
„Ja, das… Moment! Straker? Colonel Edward ‚Ed‘ Straker? Bellinda – Lindy? Mit den langen, braunen Zöpfen? Die kleine ‚Ich will auch mal fliegen‘ – Lindy?“
„Erwischt!“ Amelia neigte ihr Glas Molly entgegen.
„Ich hätte darauf kommen sollen!“ Molly schlug mit der flachen Hand gegen ihre Stirn. „Die kleine Göre, die dauernd von Amelia Earhart geschwärmt hat! He“, klopfte sie an ihren umfangreichen Busen. „Major Molly Mohanan, dritte Staffel, zweites Abfangjägergeschwader!“
Bellinda sah genauer hin! „Ach ja! Die Frau, auf deren Schoß ich das erste Mal einen Steuerknüppel in der Hand halten durfte, auch wenn es nur ein Simulator war. Damned, ich dachte, sie hätten dir schon längst zumindest einen Stern auf die Schulter gepinnt!“
„Sollte nicht sein, Baby.“ Molly zuckte mit der rechten Schulter und wies mit der linken darauf. „Die ist aus Titan. Ganz gut verheilt, aber so beweglich wie früher ist sie eben nicht mehr – und die Space Force benötigt dynamische Leute, die fit und beweglich sind.“
„Molly, Du hast nicht aufgepasst. Der Arkonide Atlan sucht für sein Flaggschiff händeringend Leute. Wenn Du schon nicht als Kampfpilot fliegen kannst, ich denke, er ist auch über erfahrene Fluglehrer glücklich!“
Molly wiegte den Kopf. „Na ja, wieder nicht viel mehr als eine Klarstahlscheibe zwischen dem Raum und mir, das Triebwerk tobt und brüllt, das Tempo…!“ Mollys Gesicht wurde träumerisch. „Aber Mädel, ich bin schon etwas alt! Warum gehst Du nicht zu den Vereinten Nationen?“
Linda beugte sich vor. „Ich war von Anfang an bei der 88 dabei, jetzt will ich sie unter realen Bedingungen unter dem Arsch haben. DANN, wenn das Ding hält, was es verspricht, bieten wir es der UNO an, und dann – warten wir es ab.“

Noch am selben Tag brachte eine Transportfähre zwei Exemplare der X 88, dem neuesten Versuchsflugzeuges der USA. Ein dreieckiger, 16 Meter langer Rumpf mit stark abgerundeten Kanten, zwei Meter hoch, die Basisfläche vier Meter breit, ohne das abgerundete ein perfektes rechtwinkeliges Dreieck. Links und rechts zwei auf der abgerundeten Spitze stehende, abgerundete Dreiecke, ein Meter hoch, zwei breit und 6 lang, direkt am Rumpf montiert, in denen zwei voneinander unabhängige Triebwerke mit je 3 Lavaldüsen nach Bug und dem Heck weisend untergebracht waren. Auf der Oberseite der Triebwerksgondeln befanden sich je 4 Raketenhalter, an ihren freien Seiten je 2. Im Rumpf starr in Flugrichtung feuernd sechs Energiewaffen, im Heck vier, in Modulbauweise, je nach Lage oder Geschmack des Piloten konnten vor dem Start verschiedene Konfigurationen gewählt werden. Wenn das Gerät hielt, was es versprach, war es beinahe revolutionär, denn nach den Berechnungen sollten die beiden Thunderbolt-Triebwerke die X 88 bei voller Bewaffnung mit 940 Kilometer im Sekundenquadrat beschleunigen, das war ganz nahe an der Falcon II. Ohne Bewaffnung sogar mit 955, also um 5 Kilometer im Sekundenquadrat stärker als der Jäger der GCC. Die X 88, die den Namen T-Rex tragen sollte, wenn sie denn ausgeliefert wurde, war ein Arbeitstier. Stark und zuverlässig, trotzdem schnell, ihre Jagd sollte Banditen gelten, nicht Rekorden wie es bei der X 87 der Fall war. Am nächsten Tag wollte Bellinda Straker allen beweisen, was in der Maschine steckte.

Heute war aber zuerst Crash Timber mit der 87 an der Reihe, wieder hatten sich die dienstfreien Testpiloten im Mollys Hinterzimmer versammelt und lauschten dem Funkverkehr zwischen der Einsatzzentrale und Crash, der die X 87 heute einem erneuten Test unterziehen sollte. Allerdings ohne die leistungssteigernde Wasserstoffeinspritzung. Er wollte einfach das Triebwerk im Normalmodus an die Spitze treiben, wie es eigentlich auch Spitfire machen sollte, der aber hatte eigenmächtig beschlossen, alle Rekorde schon am ersten Tag brechen zu wollen. Normalerweise vergab man Piloten schon solche Extratouren, wenn sie erfolgreich waren. Und wenn sie es nicht waren – den Witwen wollte man die Pension nicht auch noch nehmen. Das Problem vieler Testpiloten war eben, sie wollten schneller, weiter, mehr, die Maschinen bis ans Limit treiben, vielleicht auch noch darüber hinaus. Zu Anfang wohnte der Dämon der Piloten bei Mach 1, dann an der Grenze des Weltalls, wo die Luft für normale Strahltriebwerke zu dünn wurde. Der Mensch erfand die Staustrahltriebwerke und die Raketenantriebe, der Dämon zog sich in die Mondumlaufbahn zurück, der Plasmaantrieb war der nächste Schritt, und wieder jagten diese tollkühnen Kerle den Dämon ein Stück weiter hinaus, bis zum Mars, von wo Perry Rhodan ihn wieder weiter trieb. Zuerst blieb der Dämon immer eine Zeitlang siegreich, bis ihn ein Pilot dann doch wieder besiegte, immer weiter und weiter verfolgte.

Mit der Zeit landeten aber alle Testpiloten an Mollys Wand – und nur ganz wenige starben im Bett. Chuck Yeager, der als erster die Schallmauer durchbrach, Al Shepard, der erste Amerikaner, der die Atmosphäre verließ, John Glenn, der erste Amerikaner, der die Erde umkreiste, Gordon Cooper, der letzte Amerikaner, der allein flog, sie alle waren eher die Ausnahme im riskanten und schlecht bezahlten Knochenjob als Testflieger. Und trotzdem fanden sich immer wieder Männer und manchmal auch Frauen, die in diese unerprobten Kisten stiegen und den Dämon, der sich derzeit bei 80 Prozent der Lichtgeschwindigkeit sicher wähnte, zu suchen und ihm ins Gesicht zu spucken. Denn kein Fluggerät kam ohne Praxistest aus, und nicht immer waren auf dem Papier perfekte Pläne es dann auch in der Praxis. Wie man gut an der X 87 erkennen konnte, deren Triebwerk auf dem Prüfstand hervorragend funktioniert hatte. Und bei jeder neuen Maschine hofften die Piloten, damit dem alten Dämon wieder einmal kräftig in den Hintern treten zu können.

Crash war eine große Ausnahme unter den Piloten. Im Cockpit verwandelte er sich neuerdings in einen eiskalten Klotz. Eine gut funktionierende Maschine, die keine unnötigen Risiken mehr einging. Seit Crash Betty kennengelernt und geheiratet hatte, ging er kein unnötiges Risiko mehr. Eben schloss er seinen Helm und startete die ACs, wie man die geheimnisvollen Energieerzeuger hier nannte, die Angel Cells. Ein kaum wahrnehmbares Summen erfüllte die Pilotenkanzel, während draußen die Techniker Deckung suchten und die Halle verließen.
„Alle Systeme klar und auf go“, meldete Gordon Timber und schloss das Kanzeldach.
„Roger! Alle Systeme auf go, kein Verkehr auf Kurs 320 zu 61, Startfreigabe jetzt!“
„Roger! Habe Startfreigabe, Kurs 320 zu 61, kein Verkehr. Starte Antigravfelder.“
„Sichtkontakt, X 87. Du schwebst“, kam die Nachricht aus dem Technikbunker.
„Sehr gut. Gehe kleine Fahrt voraus.“ Ein vorsichtiger Druck auf den Beschleunigungshebel des Feldantriebes brachte die schlanke Maschine aus dem Hangar. „Alle hinter mir in Deckung? Steht das Ablenkfeld?“ fragte Crash vorsichtshalber noch einmal nach.
„Alles Roger, Crash. Heiße Düsen und freien Raum, Pilot“, kam die Antwort vom Tower.
„Na dann wollen wir mal! T max – JETZT!“ Es war nur kurz ein Aufblitzen zu sehen, und Crash ritt auf seinem eigenen Feuerschwanz der Grenze des Sonnensystems zu. „Beschleunigung gut, 930, sie liegt gut, lässt sich sauber dem Tempo angepasst manövrieren.“
„Bestätigen die 930! Damit ist der Feuerdrache der Asiaten fürs Erste geschlagen“, gab der Tower durch.
„Prima!“ freute sich Crash. „Verhalten ist gut.“ Die Geschwindigkeit der X 87 näherte sich allmählich den relativistischen Bereichen, im Tower hörte man den Piloten immer langsamer, brummender sprechen, während er den Eindruck hell zwitschernder Stimmen hatte. „Null sechs eins“, gab Crash durch. „Null sechs sieben! Null sieben drei, Kontrollen beginnen zu flattern, Masse wird zu hoch für die Steuerung. Breche Versuch ab, gehe auf null fünf und kehre zurück!“
„Roger, Crash.“ Die Bodenstation bestätigte den Eingang der Meldung. „Ende Beschleunigungsphase bei 73 Prozent der Lichtgeschwindigkeit, um 1347 und 25 Sekunden. Rückkehr zur Basis mit halber Lichtgeschwindigkeit. Alles klar für Rückkehr. Gratuliere, Crash. Jetzt liegen nur noch Rhodan und Starlight vor uns!“
„Danke Tower!“ entgegnete Gordon Timber mit entspannter Stimme. „Ich mach noch ein paar Manövertests auf dem Rückflug!“
„Genehmigung erteilt, Ass der Asse!“

„Ich hab‘s gewusst!“ Mollys ballte die Rechte zu Faust und zog den Ellenbogen ruckartig zur Hüfte. „Ich habe es Euch gesagt, der Mann bringt lieber die Maschine und die Daten zurück, ehe er Dummheiten macht! Das ist ein Mann, kein dummer Junge!“
„Schon gut, Molly, hast recht!“ musste Wildfire eingestehen. „Der Mann ist verdammt gut! He, Amelia, glaubst Du, die 88 schlägt das?“
„Mal sehen, Wildfire!“ Bellinda trank ihren Whisky aus. „Versuchen werde ich es jedenfalls. Gute Nacht, allerseits.“

*

Eagles Nest, die amerikanische Mondstation war bereits 2028 an der Stelle von Armstrongs kleinem Schritt im Meer der Ruhe gebaut worden, damals, als alle Welt dem Wettlauf zum Mars entgegen fieberte. Zuerst nur eine militärische Einrichtung der US Space Force unter dem Namen Alan Shepard Space Base mit einer Wohneinheit und eine Kuppel, in der vor allem Spionagegeräte und die Steuerung der Orbitalbomben rund um die Erde untergebracht war. Natürlich nannte man es wissenschaftliche Forschungen und Vermessungen, aber eigentlich konnte man noch nicht einmal das eigene Volk davon überzeugen. Die anderen noch viel weniger, und so hatte man unter Präsident James B. Curver Junior einige Jagdmaschinen mit Plasmaantrieb zur Verteidigung an der Shepard Base stationiert. Was natürlich auch Unterkünfte für die Jagdpiloten erforderte, wenn auch nur spartanische Kajüten für zwei Mann Belegung mit schmalen Kojen. Ein Aufenthaltsraum mit Spielen und einen riesigen Curved Flat TV, die Filme wählte das Kommando der Space Force, ein Gemeinschaftsbad mit rationiertem Wasser. Es war gerade so auszuhalten, eine Schicht dauerte nicht länger als zwei Monate, dann zwei Monate Urlaub und zwei mit leichtem Dienst und Weiterbildung, trotz des spartanischen Lebens gab es immer genug Freiwillige.

Nach Rhodans Marsflug sah sich die Space Force neuen Herausforderungen gegenüber. Die Römer hatten ihr Imperium zu Lande beherrscht, weil sie die besten Straßen hatten, die Briten ihr weltweites Imperium mit den besten Schiffen, und schließlich hatten die USA ihre Vormachtstellung von der Erde auch in das Weltall übertragen. Plötzlich aber waren sie nur noch Zweite, ihre Plasmaflieger blieben weit hinter den Raumschiffen und Jägern der Arkoniden zurück. Ein traumatisches Erlebnis, dass sie lange Zeit beinahe lähmte. Sie entwickelten keine eigenen Raumschiffe mehr, sondern kauften für den Nahverkehr bei der GCC. Erst als Stan Lee Johnson mit seiner ITC das erste amerikanische Fernraumschiff mit topsidischem Antrieb und Sprungaggregat bauen ließ, erwachte das Land aus seiner Schockstarre und entwickelte aus dem Antrieb der Topsider eigene Korpuskulartriebwerke für unterlichtschnelle Jagdmaschinen und einige Kanonenboote. Die Shepard Base wurde 2041 ausgebaut, um als Testgelände für die neuen Raumjäger zu dienen. Eine neue, große Kuppel mit einer Kaserne und Wohnhäusern, damit auch Familien hier wohnen konnten, wurde gegossen, eine weitere für diverse Arbeiten und ein neues Flugfeld. Dort wurden jetzt die Testmaschinen gewartet, startklar gemacht, umhegt und verhätschelt. Für den Schutz der Basis benötigte man klarerweise wieder Raumjäger, bald konnte man welche bauen und stationierte einige Geschwader, neue Kuppeln mussten gebaut werden, Infrastruktur, die Planung kam kaum nach.

Mittlerweile waren rund um das auf dem Mond verbliebenen Modul des Landers der Eagle acht Kuppeln erbaut worden, und die Station wurde Eagels Nest genannt. Sie war nicht mehr rein militärisch, aber immer noch war die Allan Shepard Space Base das Herzstück, und noch immer war die Basis das Testgelände für neue Flieger und Triebwerke. Da die Shepard Base die älteste Basis auf dem Mond war, entschloss man sich letztlich, sie nicht zu verlegen. Und so war sie ein ganzes Stück von den Stationen der anderen Staaten der Erde entfernt. 2058 war Colonel Ed Straker Kommandant von Shepard Base geworden und hatte seine Frau und seine damals achtjährige Tochter mitgebracht. Mit großen Augen hatte das Mädchen die Fotos an den Wänden der Kaserne betrachtet, besonders die von Harriet Quimby, Melli Beese-Bouthard, Ruth Law, Katherine Stinson und vor allem Amelia Earhart, alles weibliche Pioniere der Luftfahrt. Und sie hatte die schnellen Jets bewundert, die beinahe täglich über Kuppeln hinwegrasten.
„Ich will auch einmal fliegen“, hatte sie immer wieder betont, eine Bekannte ihrer Mutter hatte sie zu einem Simulatorflug mit einem der Jets mitgenommen, bei dem sie den Steuerknüppel nach den Angaben der Pilotin bewegen durfte, welche die Pedale trat. Einige Bruchlandungen später schaffte es Bellinda, bei der simulierten Landung nur noch das virtuelle Fahrwerk zu ruinieren. Es war deutlich, das Mädchen begeisterte sich nicht nur, sie hatte durchaus Talent. 2021 waren Colonel Straker und seine Frau bei einem Flugunfall mit einer motorisch umgebauten Cessna 337 Skymaster ums Leben gekommen, der hintere Rotor hatte sich gelöst und den linken Ausleger zerstört. Bellinda war an diesem Tag bei ihrer Tante geblieben, die sie nach diesem Unfall bei sich aufnahm und die Waisenrente ihrer Nichte in einem guten Ausbildungsfond anlegte.

Nach ihrem Abschluss am MIT war Bellinda, welche ihre Faszination für die Fliegerei trotz des Todes ihrer Eltern nie verloren hatte, erst einmal Ingenieurin bei South Dynamic Industries in New Mexiko geworden, hatte an einigen Shuttlekonstruktionen mitgearbeitet und war schnell aufgestiegen. Mit 29 hatte sie ein Team aufstellen und die ersten Entwürfe für einen neuen Abfangjäger liefern sollen, also machte sie sich an die Arbeit und entwarf mit ihren Leuten ein erstes Konzept. Die Form, die modulare, leicht zu wechselnde Bewaffnung, sie griffen teilweise tief in die technische und mechanische Mottenkiste, wie etwa der Lavaldüse, um noch ein klein wenig mehr an Beschleunigung herauszuholen. Dann kam Starlight Enterprises mit der Angel Cell und warf alles über den Haufen, brachte um vieles mehr Energie mit einem Bruchteil an Platzverbrauch. Bellinda überarbeitete mit ihrem Team die Verhältnisse also noch einmal, reduzierte Größe und damit Masse, und fertig war die jetzige X 88. Also, theoretisch natürlich, denn jetzt mussten einige Teile noch entwickelt und praktisch erprobt erden. Es dauerte also noch, einen Prototyp zu bauen, mit den neuen, leistungsfähigeren Energiezellen musste das Triebwerk noch einmal auf den Prüfstand, dann wurden die Leistungen mit einem zweiten verifiziert und diese wurden letztendlich gemeinsam getestet. Die Synchronisation musste perfekt funktionieren. Daher kam die X 87 früher auf dem Mond zur Erprobung an, auch wenn die Planung erst später begonnen wurde.

Bellinda ‚Amelia‘ Straker hatte darauf bestanden, den ersten Flug mit der X 88 selbst zu unternehmen, und so saß sie nun im Cockpit und ging noch einmal die Checkliste durch. Power, Lebenserhaltung, Triebwerk, Stabilisierung, Steuerdüsen, Instrumente, Rechner – alles zeigte grün. Sie lehnte sich zurück und atmete einige Male tief durch. Zwei Minuten noch. Sie wusste alle Testpiloten am Empfangsgerät in Mollys Hinterzimmer, und sie hoffte stark, nicht jetzt schon einen Platz an ihrer Wand zu erhalten. Molly hatte sie an ihr Herz gezogen.
„Freien Himmel, Baby!“ Die ehemalige Pilotin konnte den Kloß in ihrem Hals kaum verbergen, Crash hatte am Eingang zum Hangar gewartet.
„Gute Landung, Amelia. Hast ein schmuckes Ding gebaut. Vielleicht kann ich auch mal damit fliegen?“
„Kannst Du, Crash. Danke! Bis später. Lasst mir noch ein Bier übrig!“ Eine Minute. Noch ein Kontrollblick, die Halle war leer, sie nahm Verbindung zum Tower auf und begann die Routine, rollte aus der Halle und jagte ihr Werk in den schwarzen Himmel des Mondes.
„Hier 88. Erreiche Beschleunigung 948“, meldete sie der Überwachung, und erhielt die Antwort
„Bestätigen 948 Kilometer im Sekundenquadrat! Neue US-Bestmarke erreicht.“
„Roger! Beschleunige kontinuierlich weiter“, sprach Bellinda weiter. „Null sieben. Null sieben drei. Null sieben vier, Steuerung wird flatterig und träge. Komme in einer Schleife mit Null sieben vier zurück! Tut mir leid, Crash. Die Trophäe geht an die X 88.“
„Teufelsweib!“ brüllte Crash begeistert. „Sie hat es doch tatsächlich geschafft!“
„Was für eine Konstruktion!“ tobte Wildfire und Slick rief noch
„So flott hat noch keiner einen Rekord geknackt!“
„Ob mit der die Null acht zu schaffen sind?“ spekulierte Headbanger.
„Egal! Ich will sie fliegen!“ rief Crash.
„Nicht nur du!“ Slick konnte sich gar nicht beruhigen. „Das ist eine robuste Konstruktion. Die 87 müssen sie noch einmal kräftig nachbessern!“
„Sie ist nicht schlecht“, beruhigte Crash. „Nur mit dem Nachbrenner stimmt etwas nicht!“
„Das kannst Du laut sagen!“ bekräftigte Molly. „Aber bis das in Ordnung gebracht ist, ist die 88 das bessere Muster!“

Amelia stürmte noch im Overall ins Ride on Fire. „Yaaahooouuuu!“, heulte sie wie ein Wolf und warf ihren Helm auf den Tisch. „Molly! Whisky für alle! Ich hab’s geschafft! Ich habe das Siegermodell entwickelt! Wer trinkt mit mir auf die T-Rex!“
„Zuerst werden wir Jungs auf die kleine Miss Knackarsch trinken, die selbst das heißeste Modell ist“, rief Slick. „Auf Amelia und ihren Rekord!“
„Gratuliere, Mädchen!“ Crash hob sein Glas. „Auf Deinen Rekord!“
Molly umarmte Bellinda. „Was für eine Woche! Da fliegt Crash einen Rekord, und dann, gleich am nächsten Tag kommt der nächste. Als nächstes fällt der GCC- und dann der Starlight-Rekord!“