Die Flusswelt der Zeit

(OT: To Your Scattered Bodies Go)

Von Philip José Farmer

Heyne 3639 (1979)

256 Seiten, TB

Aus dem Amerikanischen von Ronald M. Hahn

ISBN 3-453-30552-3

Richard Francis Burton, Schriftsteller und Reisender, zu Lebzeiten berühmt und berüchtigt zugleich, Übersetzer von „Tausendundeiner Nacht“ ins Englische, erster Europäer in Mekka und Medina, als Araber verkleidet, ist der Held dieses Romans. Als er im Jahre 1890 in Triest im Alter von 69 Jahren zittrig und kraftlos stirbt, glaubt er nicht an ein Fortleben im Jenseits, nicht an eine Wiedergeburt. Er ist zeitlebens Atheist geworden und wünscht sich nur noch Erlösung von seinen Qualen.

Er wird enttäuscht.

Burton glaubt sich in einem Alptraum, als er die Augen nach dem Sterben bizarrerweise erneut öffnet: er schwebt in einem offensichtlich grenzenlosen Raum, der erfüllt ist von unzähligen gleich ihm schwebenden Körpern, alle nackt und völlig haarlos, ja, manche sogar noch in einer Art Baustadium, manche ohne Haut, hin und wieder lediglich Skelette mit darin treibenden Organen. Endlose Stäbe erstrecken sich zwischen den Schwebenden senkrecht, und er fühlt sich wie auf einen unmenschlichen, teuflischen riesenhaften Grill, so dass sich seine Kämpfernatur regt. Mit einem Körper ausgestattet, der sein eigener etwa im Alter von fünfundzwanzig Jahren ist, versucht er, dieser Welt zu entkommen, doch bevor er etwas erreichen kann, erscheinen menschenähnliche Fremde in einem schwebenden Fahrzeug, dirigieren ihn an seinen Ort zurück und betäuben ihn erneut.

Das nächste Erwachen findet auf einer grasbedeckten Ebene statt. Noch immer ist er völlig nackt, und überall um ihn herum erstreckt sich eine endlos scheinende Schar von ebenfalls erwachenden Menschen. An sein Handgelenk ist mit einer schmalen Kette ein langer Metallzylinder gebunden, etwas, was man später als GRAL bezeichnen wird. Fügt man diese GRALE in die Vertiefungen der regelmäßig über die Ebene verstreuten „Pilzsteine“, so geben sie dreimal am Tag, nach einer mörderischen, flammenspeienden Entladung, offensichtlich eine Art Energie-Materie-Transmission, daraufhin Nahrungsmittel und Genussgegenstände frei, später auch diverse Kleidungsstücke.

Burton und seine vielfältigen Gefährten entstammen verschiedensten Zeitepochen und Ländern, wie sie rasch herausfinden. Viele verfallen wegen der Diskrepanz dieser Welt gegenüber den religiösen Verheißungen von Paradies oder Hölle in Wahnsinn oder Raserei. Unter dem Einfluss eines psychedelisch wirkenden Traumgummis kommt es besonders am Anfang zu entsetzlichen Massakern. Doch niemand scheint etwas von jenem ANDEREN Raum zu wissen, in dem Burton das erste Mal erwacht ist. So begreift der Abenteurer, dass er offensichtlich von irgendjemandem oder irgendeiner Macht auserwählt worden ist, dass ihm ein Einblick zuteil wurde, der nicht erlaubt ist. Und natürlich fragt er sich nach dem Grund.

Er beginnt sich bald noch mehr zu wundern. Er begegnet Monat Grrautut, einem Wesen von Tau Ceti, das von sich behauptet, im Jahre 2002 durch einen unglücklichen Zufall alle sechs Milliarden Menschen getötet zu haben und damit direkt für das Ende der menschlichen Rasse verantwortlich zu sein.1 Monat wird genauso wiedererweckt wie die Menschen, doch niemand kann sagen, ob das als Strafe passiert, nicht einmal er selbst.

Burton und ein Kreis prominenter Wiedererweckter versucht bald darauf, per Schiff den Fluss zu befahren, der schier endlos lang zu sein scheint. Und während der Fahrt, die Jahre dauert, hören sie Geschichten. Geschichten von einem Abschnitt des Flusses, wo die Sonne ewig am Himmel steht, wo es kalt ist, wo die allgegenwärtigen Pilzsteine aufhören und gigantische Vorzeitmenschen hausen, die jeden Besucher umbringen. Und sie erfahren von der Nebelsee und dem Großen Gral, der zugleich Anfang und Ende des Flusses sein soll, ein mythischer Ort. Jeder, der ihn findet, stirbt auf unergründliche Weise. So wird jedenfalls behauptet.

Burton erfährt von der Gralsklaverei, von dem Wiederaufleben diktatorischer Staatengebilde charismatischer Führergestalten, und er bekommt es recht handfest mit den absoluten Pazifisten der „Kirche der Zweiten Chance“ zu tun. Einer der gläubigsten Anhänger dieser Lehre ist niemand Geringeres als Hermann Göring.

Doch dann erhält Richard Francis Burton eines Nachts Besuch von einem schemenhaften Wesen, das sich „Ethiker“ nennt und ihm erklärt, dass er jener Rasse angehört, die für das „Experiment Flusswelt“ verantwortlich ist. Seine Rasse sei uralt und hätte seit Anbeginn der Zeiten die Menschen bzw. deren Seelen aufgezeichnet und nach dem überraschenden Ende der menschlichen Zivilisation im Jahre 2002 diese Wiederbelebung begonnen.

Aber er selbst, den Burton bald „X“ zu nennen pflegt, sei nicht der Ansicht seiner Artgenossen. Sie würden ein Verbrechen begehen, die Menschen entwürdigen, und darum habe er Burton ausgewählt, zur Quelle des Flusses zu reisen und zum Polturm vorzudringen, in dem der Steuercomputer der Ethiker für die Flusswelt stehe. Aber er müsse Acht geben, weil die Ethiker zahllose Agenten in menschlicher Gestalt hätten, insbesondere in der „Kirche der Zweiten Chance“, die direkt von den Ethikern ins Leben gerufen worden wäre.

Und in der Tat wird Burton alsbald Gejagter der Ethiker, die auf seine Spur kommen. Die einzige Möglichkeit, ihnen zu entgehen, scheint der Tod zu sein.

Und so stirbt Burton. Wieder und wieder, bis …

Man kann „Die Flusswelt der Zeit“ mit Fug und Recht einen ausgemachten Klassiker der Science Fiction-Literatur nennen, wiewohl er erst runde 50 Jahre alt ist. Das Konzept, rund 36 Milliarden Menschen aus einem Zeitraum von gut 2 Millionen Jahren Erdgeschichte wiederzubeleben und auf eine Welt zu versetzen, die aus einem einzigen Flusstal besteht, dessen Windungen durch hohe und undurchquerbare Bergketten voneinander getrennt sind, wobei zugleich jeder Tod erneut zu einer erneuten Wiedergeburt führt – die aber irgendwo am Fluss erfolgt, scheinbar durch eine Art Zufallsselektion willkürlich gesteuert, das ist schon ein grandioser Einfall. Die Personen, die dabei als dramatis personae auftreten können, ist gleichzeitig schier unendlich, steht doch jedes namhafte Individuum der menschlichen Kulturgeschichte zur Verfügung und kann als Akteur wiedererweckt werden.

Im Prinzip kann man den ersten Roman (von insgesamt fünf, obwohl damals weitere angekündigt wurden, die sich mit „Seitensträngen“ der Flussweltserie beschäftigen sollten – ob sie je erschienen sind, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten, auf den deutschen Markt haben sie es augenscheinlich nie geschafft) darum als eine Art romanhaft verlängerten Prolog betrachten. Es wird eine Ausgangssituation vorgestellt, eine Fahrt zum Anfang oder Ende (was dasselbe ist, da im Polsee der Fluss sowohl entspringt als auch endet) begonnen, ferner ein paar Andeutungen gemacht, was hinter dem Rätsel der Flusswelt stecken mag. Aber man kann das eigentlich nur wittern, nicht wirklich fassen. Dieser Sache widmen sich dann wortreich die nächsten Bände. Wie es letztendlich ausgeht, weiß ich noch nicht, weil ich vor zehn Jahren lediglich bis Band 4 las. Der letzte Roman, „Die Götter der Flusswelt“, steht mir also noch bevor. Zu geeigneter Zeit auch passende Worte dazu …

© 1998/2020 by Uwe Lammers

Braunschweig, den 23. Juli 1998

Leicht bearbeitetes Digitalisat: Braunschweig, den 30. Mai 2020

1 Nachtrag vom 30. Mai 2020: Dieses Datum war natürlich für Farmer anno 1979 noch reine Science Fiction, und selbst für mich, als ich den Roman anno 1998 rezensierte, war das noch ein Weilchen in der Zukunft. Heutzutage, wo sich die Menschheit nach wie vor munter vermehrt und auf die 8-Milliarden-Individuen-Grenze zusteuert, wäre es vielleicht tatsächlich besser gewesen, wenn wir auf die obige Weise anno 2002 die Reißleine gezogen hätten … so ist das im Roman genannte Fixdatum für das Ende der menschlichen Rasse so unrealistisch wie Arthur C. Clarkes Jupiter-Flug anno 2001. Darüber muss man heute einfach hinweglesen.