Blanvalet 6272, 2021

496 Seiten, TB

Übersetzt von Marianne Schmidt

ISBN 978-3-7341-6272-5

Ich schätze Romanzyklen, bei denen die Bücher zunehmend an Länge gewinnen. Vielleicht ist das zu vollmundig vermutet, aber es deutet für mich an, dass die VerfasserInnen mehr Ideen in ihren Geschichten unterbringen wollen, dass ihnen die Storyline buchstäblich unter die Haut gegangen ist und es ihnen schwer fiel, mit dem Fabulieren aufzuhören. Im Fall von Jodi Taylor kann man das eindeutig so sehen … auch wenn es in diesem Roman fast so aussieht, als käme alles an ein durchweg desaströses Ende.

Doch ich sollte besser vorn beginnen.

An dem Tag, an dem Doktor Madeleine „Max“ Maxwell, ihres Zeichens jetzt schon sehr erfahrene Historikerin am St. Mary’s Institut für Historische Forschung engagiert und hier seit Jahren mit den Pods genannten Zeitmaschinen unterwegs in der Vergangenheit, um die Geschichte zu beobachten und (in extremen Ausnahmefällen) auch in Maßen zu beeinflussen … also, an jenem Tag, an dem Max ihre Kollegin Kalinda Black bei der Thirsk-Universität besucht und zurückkehrt, findet sie zu ihrer Bestürzung all ihre Historikerkollegen mit knallblauer Haut vor. Offenbar nicht abwaschbar – was den Chef ergrimmt, da nun alle seine Anbefohlenen nicht mehr einsatztauglich sind. Wie das alles damit zusammenhängt, dass ein Experiment mit einem nachgebauten Stonehenge-Monolithen fehlschlug und wie sich das alles dann doch auf (durchweg teure) Weise klärt, sei hier nicht verraten.

Das ist ja erst der Anfang.

Der nächste Auftrag scheint auch einfach zu sein – sie soll einen Freund des Direktors, der an der Universität in Ruhestand geht, den Gefallen tun und ihn einen Blick auf Sir Isaac Newton in Cambridge werfen lassen … dass sie dabei schließlich um ihr Leben rennen müssen, ist nicht wirklich vorhersehbar. Auch diese bizarre Geschichte mit dem Käselaibrennen und seinem desaströsen Ausgang sei hier nur im Vorbeigehen angedeutet, ebenfalls höchst lesenswert. Könnte von Terry Pratchett stammen.

Und dann geht es an Max´ Lebenstraum als Historikerin (Althistorikerin, soviel Korrektheit muss schon sein): Troja! Es gibt so viele Fragen, nicht nur an die Überlieferung durch Homer und seine Nachfolger, sondern auch Grundsatzfragen – ist beispielsweise tatsächlich der Raub der schönen Helena und deren Entführung nach Troja Anlass des Trojanischen Krieges gewesen? Gab es ernstlich das Trojanische Pferd, mit dem sich die Achäer (Griechen wäre eigentlich unhistorisch, das alles spielte sich im 13. vorchristlichen Jahrhundert ab, da gab es das Wort „Griechen“ noch gar nicht) in die belagerte Stadt schmuggeln ließen? Was ist mit der sagenumwobenen Prophetin Kassandra? Und was war mit dem legendären Duell der Helden Hektor und Achilleus? Und so weiter und so fort …

Max organisiert also eine richtig große Expedition. Zahlreiche Pods. Eine massive Häufung von Historikern, flankiert von Sicherheitspersonal, vorbereitet über Wegbereiter, die das Terrain abstecken. Zwei Missionen, um genau zu sein: eine zehn Jahre früher, also vor Beginn des Krieges, dann eine mitten im Endkampf um die Stadt. Eigentlich könnte alles so schön laufen … aber dann machen sie die Bekanntschaft mit zwei niedlichen trojanischen Kindern, und die Dinge entgleisen auf höchst unschöne Weise.

Nachdem Max und die anderen bei der zweiten Mission Troja nur knapp mit dem Leben davongekommen sind, haben sich auf emotionaler Ebene zwischen ihr und ihrem Kollegen und Geliebten, dem Techniker Chief Leon Farrell, dramatische Veränderungen ergeben. Aber warum das letztlich dazu führt, dass Max in die Kreidezeit entführt und dort zum Sterben zurückgelassen werden soll … und was zum Henker noch später auf dem Schlachtfeld von Azincourt in Frankreich geschieht, das möchte ich echt nicht vorwegnehmen – jedenfalls zu behaupten, Max käme nicht in Schwierigkeiten, hieße in diesem Fall glatt zu lügen …

Ich muss an dieser Stelle wohl unvermeidlich auf eine Person kurz eingehen, ohne die dieser Roman wohl nicht funktioniert hätte: Mrs. Partridge. Ihre Schwester war im Band 1 wesentlich verantwortlich dafür, dass Max überhaupt nach St. Mary’s gelangte und hier den Lebensweg einschlug, den sie nun einmal eingeschlagen hat. Und Mrs. Partrigde ist gewissermaßen, neben ihrer Funktion als gute Seele von St. Mary’s, eine mythologische Gestalt. Näheres sollte man in den Romanen nachlesen. Jedenfalls ist im Grunde jeder Wink ihrerseits elementar für Max´ Lebensweg, auch wenn sie sich das nur höchst ungern eingesteht.

Für mich als Fan der Althistorie war dieses Buch natürlich wieder kolossal lesenswert, das ist nicht anders zu nennen. Mit Troja bin ich gewissermaßen aufgewachsen. Und so wie Max durch ein Buch zur Schlacht von Azincourt von Kindesbeinen an zur Historie hingezogen wird, geschah das bei mir realiter durch C. W. Cerams „Götter, Gräber und Gelehrte“, das ich zig Male bis heute durchgeschmökert habe. Weswegen dieses Buch von den historischen Fakten her in weiten Teilen wieder ein echtes Heimspiel war.

Das beschränkte sich aber nicht nur auf das Troja-Setting, sondern auch die Schlacht von Azincourt war ein Aha-Erlebnis der besonderen Art. Spätestens seit ich in den 1990er Jahren für mein Geschichtsstudium den Klassiker „Das Antlitz des Krieges“ des britischen Militärhistorikers John Keegan las, wusste ich enorm viel gerade über diese Schlacht. Das übrigens ebenfalls höchst empfehlenswerte und extrem gut lesbare Buch thematisiert die Schlachten von Azincourt (15. Jahrhundert), Waterloo (1815) und der Somme (1916) und zerlegt sie quasi in historische Miniatur-Kurzgeschichten mit ausgesprochen blutigem Verlauf. Und Jodi Taylor kennt ihre Klassiker von Homer bis Keegan eindeutig sehr gut und ist ständig beeindruckend trittsicher.

Fast könnte man denken, dies sei nur eine Trilogie, denn wie, bitte, überlebt man es, im 15. Jahrhundert von einem Schwert aufgespießt zu werden? Aber die Autorin hat noch ein paar Überraschungen im Ärmel. Sie kommen hier zum Tragen, aber die Geschichte geht ja weiter. Und es juckt mich verflucht noch mal in den Fingern, das Buch aufzuschlagen und da weiterzumachen, wo sie mit der Erzählung innehalten musste. Ich denke, das wird euch ganz genauso gehen.

Übrigens … auch hier kommt der Humor nicht zu kurz. Die bisweilen höchst launigen Kommentare seien hier mal sehr unvollständig kurz als neue Appetizer eingebracht.

So heißt es etwa an einer Stelle: „Professor Penrose. Ist er fit?“ „Fitter als du, Max. Andererseits habe ich schon zehn Tage alte Leichen gesehen, die fitter waren als du. Eines Tages wird dich dein Knie im Stich lassen.“

Oder: „Kleine grasende Schafe hoppelten auf dürren Beinchen herum. Wahrscheinlich wurden sie der Wolle wegen gehalten, denn ich hatte schon mehr Fleisch an einem Pommes gesehen – um mal einen etwas bildhaften Vergleich zu bemühen.“

Oder: „Einmal hatte ich mir beinahe mit einer Axt den eigenen Fuß amputiert, und niemand, der bei klarem Verstand war, würde etwas essen, das ich gekocht hatte.“

Oder: „Der Ausdruck ‚das letzte tote Huhn im Laden’, mit dem man gewöhnlich den ungewollten Anblick eines baumelnden Gemächts bezeichnet, wollte mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen.“

Oder „Nur um der Frage vorzubeugen: Trojanischer Wein, griechischer Wein, jeder Wein aus dieser Gegend schmeckte abscheulich. Wirklich fürchterlich, nach Lakritze und Schwefel. Sie hatten Batteriesäure erfunden, und zwar ein paar Jahrtausende, ehe diese benötigt wurde, und sie nannten sie Wein und tranken sie.“

Das sei als kleiner Appetitanreger hinreichend … es gibt unzählige solche höchst unterhaltsame Stellen, die dann von den eher unappetitlichen Stellen wie zerhackten Leichen, aufgespießten Pferden, von Sauriern zerfleischte Böslinge usw. ablenken. Alles in allem eine höchst kurzweilige Mischung, da ist – sage ich mal so – für jeden was dabei. Und etwas Romantik kommt natürlich auch noch vor.

Auch hier also wieder: eine klare Leseempfehlung.

© 2025 by Uwe Lammers

Braunschweig, den 7. April 2025