Piper 8032
416 Seiten, TB, 2013
(Hier: 5. Auflage 2020)
Mythos Academy II
Aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch
ISBN 978-3-492-28032-7
Als das Gypsymädchen Gwen Frost seine Schule wechseln musste, um in North Carolina zur Mythos Academy zu gehen, war es alles andere als glücklich. Gut, Gwen wusste, sie besaß diese Fähigkeit, die sie allgemein als Psychometrie bezeichnete und die zur Folge hatte, dass sie durch Berührung von Personen und Gegenständen deren Geheimnisse, Emotionen und Geschichten lesen konnte. Sie nutzte diese Fähigkeit denn auch dazu, mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern insgeheim kleine Geschäfte zu machen und verlorene Gegenstände gegen Entgelt ausfindig zu machen.
Dennoch schien sie an der Mythos Academy einfach fehl am Platze zu sein. Hier stammten schließlich alle Schülerinnen und Schüler von berühmten Kriegergeschlechtern ab und wurden darauf trainiert, insbesondere im „Sportunterricht“, den man eigentlich als Waffentraining verstehen musste, sich gegen die so genannten „Schnitter des Chaos“ zu verteidigen, die menschlichen Diener des Finstergottes Loki, der befreit werden wollte, um so einen neuen magischen Krieg über die Menschheit zu bringen.
Gwen hielt nichts von alledem und glaubte weder an die hier für normal vorausgesetzten Götter und Konfliktlinien noch daran, dass sie als bescheidenes Mädel aus schlichten Verhältnissen unter diesen superreichen Kids irgendwie passend platziert wäre.
Nun, inzwischen sieht die Sachlage für sie vollkommen anders aus.
Mitzuerleben, wie eine Mitschülerin quasi vor ihren Augen getötet wird, dann beinahe von einer mythischen Raubkatzen-Kreatur, einem Nemeischen Pirscher, in Stücke gerissen zu werden und schließlich noch einer leibhaftigen Göttin zu begegnen, die ihr das sprechende Schwert Vic anvertraute und sie zu ihrem Champion machte sowie von einem Schnitter des Chaos fast getötet zu werden, das alles hat Gwens Sicht auf die Welt inzwischen grundlegend verändert.
Der Große Magische Krieg ist Realität.
Die Schnitter des Chaos sind sogar tödliche Realität.
Und letztendlich zu verstehen, dass die Champions der Götter quasi wandelnde Zielscheiben für die Diener Lokis sind, was sie sozusagen in die lebensgefährliche Logenposition katapultierte … das alles bleibt natürlich nicht ohne Einfluss auf die 17jährige Gwendolyn Frost. Mit einem Mal ist sie nicht mehr das harmlose, falsch platzierte Mädel auf der Akademie, sondern als Champion der Siegesgöttin Nike das Feindziel Nummer Eins, und as bekommt sie zu spüren.
In diesem zweiten Band des sechsteiligen Romanzyklus von Jennifer Estep versucht Gwen insbesondere daran zu arbeiten, ihre Selbstverteidigungsfähigkeiten zu verbessern, wobei ihr der Spartaner Logan Quinn hilft, ihr gar nicht so heimlicher Schwarm … aber obwohl es zwischen ihnen knistert, ist Logan dann doch ständig mit dieser Amazone Savannah Warren zusammen, um ihr „ständig die Zunge in den Hals zu stecken“, wie sie das Küssen herablassend nennt. Glücklicherweise hat sich Gwens anfänglicher Außenseiterstatus inzwischen etwas geändert. Sie gilt nicht mehr allein nur als „das seltsame Gypsymädchen“ ohne Modegeschmack, dessen Namen sich keiner merken will, sondern die Walküre Daphne Cruz, mit der der erste Band begann, ist inzwischen ihre beste Freundin.
Sie ist es auch, die sie dazu überredet, zum Winterkarneval in ein todschickes Ski-Resort mitzukommen. Das sei erstens Tradition, zum zweiten treffe man dort Absolventen anderer Mythos-Akademien (ja, es gibt mehr davon, über die ganze Welt verstreut! Und hierher kämen nun welche aus dem Staat New York), drittens könne sie sich dann ein wenig vom Frust gegenüber Logans unentschlossener Haltung etwas erholen und vielleicht mit einem der New Yorker Jungs etwas amüsieren … und nicht zuletzt, macht Daphne geltend, würden dort tolle Partys gefeiert.
Das alles klingt für die partyscheue Gwen nicht eben reizvoll. Aber was ist die Alternative? Auf dem Campus mehr oder weniger allein zu sein, während sie Zielscheibe für die Schnitter des Chaos ist? Ähh … das klingt nicht besser.
Nachdem sie außerdem auf dem Rückweg von ihrer Großmutter in die Schule fast von einem schwarzen Wagen überfahren wird und in der Bibliothek der Akademie beinahe von einem Bogenschützen in ein Nadelkissen verwandelt worden ist, wird ihr klar, dass Letzteres definitiv nicht erstrebenswert ist. Also fährt sie mit zum so genannten Winterkarneval (wo sich allerdings niemand verkleidet, sodass die Bezeichnung dieses Events für mich doch etwas eigentümlich war).
Dummerweise gehen die Probleme hier weiter.
Logan verhält sich weiterhin wie der letzte Trottel und ist ständig mit Savannah zusammen, Gwen kocht vor Eifersucht, und Daphne hat einen Riesenspaß mit Dingen, die sie selbst so gar nicht interessieren: Partys feiern, Skifahren … äh … Skifahren? Und das soll sie jetzt also auch tun? Klingt nicht nach einer tollen Idee … jedenfalls solange nicht, bis Gwen an sich eine neue faszinierende Facette der Psychometrie entdeckt, die ihr diese Kenntnis im Handumdrehen vermittelt. Sowohl ihre Großmutter als auch ihre Mentorin, Professorin Metis, haben völlig recht mit ihrer Einschätzung, dass sich Gwens magische Fähigkeiten noch verstärken.
Aber hilft ihr das auch, als sie abseits der Skipiste auf einmal einem von den Schnittern dressierten Fenriswolf gegenübersteht, der sie mit einem Bissen verschlingen könnte? Und das ist nur einer der Anschläge, die auf sie lauern. Es scheint nur einen Lichtblick zu geben, einen süßen New Yorker Jungen namens Preston, der großen Gefallen an ihr gefunden hat.
Doch dann begeht Gwen den fatalen Fehler, sich eigenmächtig auf die Jagd nach jenem Schnitter zu machen, der ihr nach dem Leben trachtet, und ehe sie sich versieht, schwebt nicht nur sie in Lebensgefahr …
Der zweite Band von Jennifer Esteps Serie um das Gypsymädchen Gwen Frost, das man als Leser des ersten Bandes schon fest ins Herz geschlossen hat, ist nicht kürzer als das erste – aber die Lesezeit wurde auf zwei Tage halbiert! Ich meine, das ist immer ein Zeichen erster Güte, dass mich die Story mitreißt, und das tat sie wirklich. Es ist einfach nur süß, aus Gwens Perspektive zu sehen, wie sich die Handlung um sie herum entwickelt, wie die Protagonisten wachsen, neue Facetten zeigen und sich sowohl ihr Bekannten- wie Feindeskreis immer mehr ausweitet. Noch immer ist die Handlung im Wachstum begriffen, und manches erschließt sich für den Leser vergleichsweise schnell, wofür das Mädel dann aber ziemlich lange braucht.
Genau das macht die Geschichte dann nicht eben wenig spannend. Denn man ahnt als Leser schnell, dass Gwen erkennbar Signale völlig übersieht, Personen grundverkehrt einschätzt und sich in jede Menge Schwierigkeiten hineinbugsiert. Ihr blutdurstiges Schwert Vic ist da zumeist keine allzu große Hilfe, das gilt aber nicht für den Spartaner Logan und speziell seinen Freund Oliver Hector, der in diesem Roman solide Konturen bekommt (dass sein spartanischer Freund allerdings Kenzie Tanaka (!) heißt, finde ich doch einigermaßen affig. Hier merkt man deutlich, wie der Versuch, ethnisch ausgerichtete Namen mit den Mythen und Legenden in Verbindung zu bringen, grundlegend schief geht. Dieser Japaner (!) kann wohl kaum ein Spartaner sein, eher wäre er schon bei den angeblich ebenfalls auf die Akademie gehenden Ninjas oder Samurai zu finden, die bislang durch Abwesenheit glänzen).
Am Ende des Romans wird klar, dass sich Gwen in einem fatalen Wettlauf mit der Zeit befinden, der schon seit langem andauert und seinem Höhepunkt zustrebt. Und in ihn war auch Gwens verstorbene Mutter verstrickt. Am Schluss des Buches hat Gwen Frost zwei neue wichtige Ziele und richtige Rachsucht im Leib … gut, dass ich den dritten Band schon hier zur Lektüre liegen habe, denn es muss nahezu nahtlos weitergehen. Es bleibt auf alle Fälle spannend.
Auch hier: Klare Leseempfehlung. Und stellt euch drauf ein – wenn man erst mal eingetaucht ist, kommt man so schnell nicht wieder zum Vorschein, es ist also nichts, was man kapitelweise kurz vor dem Einschlummern lesen sollte, denn das wird nicht klappen, wie ich aus eigener Erfahrung weiß! Ach ja, und noch eins … der im ersten Band titelmäßig angekündigte Kuss findet hier dann echt statt, insofern passt der englische Titel. Der deutsche ist dagegen mal wieder Käse … vermutlich ein Verlagsfehler, denn Gwen betrachtete im ersten Band ihre Gabe als Fluch, DAS wäre passend gewesen. Nun ja, Verlagspolitik …
© 2022 by Uwe Lammers
Braunschweig, den 8. Oktober 2022