Miss Maxwells kurioses Zeitarchiv
(OT: Just One Damn Thing After Another
(The Chronicles of St. Mary’s Book 1))
Von Jodi Taylor
Blanvalet 6208, 2019
512 Seiten, TB
Übersetzt von Marianne Schmidt
ISBN 978-3-7341-6208-4
Das Schicksal ist manchmal schon außerordentlich kurios. Das lernt Dr. Madeleine Maxwell (landläufig nur „Max“ genannt) kennen, als die junge Historikerin unvermittelt ein Jobangebot erhält, von derselben Mrs. Sibyl De Winter, die ihr auch während der Schulzeit eine zweite Chance gab. Vorsichtig gesagt: Max ist nicht wirklich ein Teamplayer, und in ihrer Nähe ereignen sich immer irgendwelche Katastrophen. Dennoch hat Mrs. De Winter etwas in ihr gesehen, was Max selbst in sich nicht gesehen hat.
So kommt sie nach St. Mary’s, einem Institut für Historische Forschung der Universität von Thirsk, von dem sie noch nie gehört hat. Das hat seine Gründe. St. Mary’s ist ein seltsamer Ort, etwas heruntergekommen, klar unterfinanziert und außerdem angefüllt mit eigentümlichen Menschen, die scheinbar alle Fachspezialisten sind. Aber irgendwie macht das die Sache für Max interessanter, und auch das Gespräch mit dem Direktor Edward Bairstow führt nicht dazu, dass sie sich hier unwohler fühlt, ganz im Gegenteil.
Bairstow macht ihr klar, dass St. Mary’s gewissermaßen historische Feldforschung betreibt. Doch erst nach Ausfüllen einer Vielzahl von Dokumenten und Verschwiegenheitserklärungen wird nach und nach deutlich, was hier tatsächlich vor sich geht: St. Mary’s besitzt Zeitmaschinen. Und sie sind im Auftrag der Universität in der Vergangenheit unterwegs, um historische Sachverhalte vor Ort zu klären. Überall in der Vergangenheit, ob nun im Zweiten Weltkrieg oder 67 Millionen Jahre vor der Gegenwart … und ja, natürlich ist das gefährlich.
Max hat als frisch angenommene neue Historiker-Rekrutin, nunmehr nur noch „Miss Maxwell“ genannt, weil es ja so viel an Neuem zu lernen gibt, viel aufzuholen. Und sie wird mächtig trainiert. Wissenschaftlich, physikalisch, fitnesstechnisch, es gibt Überlebenstraining, es gibt medizinische Checks und jede Menge aller erdenklichen Tests.
Dabei lernt sie das Personal des Campus recht gut kennen. Mit manchen kommt sie durchaus gut aus, etwa mit Chief Leon Farrell, der zu den Technikern gehört, oder mit Tim Peterson. Dann gibt es den Sicherheitsbeauftragten Major Guthrie. Die Ärztin Dr. Foster und die grimmige Izzie Barclay. Und schließlich sind da auch noch ihre Mitrekruten wie der nervige, besserwisserische Sussman, der nervöse Grant, Rutherford und Stevens, Jordan und Nagley.
Anfangs ist das für Max ein eher geringes Problem, mit diesen fremden Leuten umzugehen. Um sie zu zitieren: „Ich weiß – eine Aufmerksamkeitsspanne wie ein Teebeutel.“ Sie ist wirklich nicht gut im Umgang mit anderen Menschen, und ein Teamplayer schon gar nicht, wie gesagt. Außerdem hat sie Probleme damit, zu vertrauen, und Familie ist ihr Ding überhaupt nicht.
Als es endlich daran geht, mit den Zeitmaschinen – Pods genannt, die äußerlich gebaut sind wie zeitlose kleine Steinhütten, innen aber modernste Technik besitzen – , da merkt sie recht schnell wie gefährlich das ist. Bei der ersten Aufklärungsmission kommt ihr Mitrekrut Grant unvermittelt ums Leben – und wenig später einer der wenigen Historiker des Instituts. Und ihr eigener Ausflug in ein Lazarett im Ersten Weltkrieg kostet sie beinahe selbst das Leben.
Damit wird klar: Vorsicht allein und gute Vorbereitung reichen nicht, es kann sehr schnell sehr lebensgefährlich werden. Dennoch ist Max Feuer und Flamme … allein die Vorstellung, endlich einmal in die Vergangenheit eintauchen zu können, hat etwas Elektrisierendes an sich. Am liebsten würde sie sich als Fan der Alten Geschichte nach Babylon begeben (da ich selbst ein Faible für den alten Orient habe, konnte ich ihre Faszination sofort nachvollziehen, und sie war mir spontan höchst sympathisch, was sich mehr und mehr intensivierte). Aber natürlich steht Babylon nicht auf dem Reiseplan, bedauerlicherweise.
Während sie sich mit Izzie Barclay ernsthaft verfeindet, freundet sie sich zunehmend mit Chief Farrell an, der ihr gegenüber immer seltsam linkisch ist. Als er ihr das eines Tages erklärt, fällt Max fast vom Glauben ab, aber das muss man selbst nachlesen, das soll hier nicht verraten werden.
Schlimm wird es, als Max und der ungeliebte Kollege Sussman das ganz große Los ziehen – es geht für drei Monate lang zum Datensammeln in die Kreidezeit, 67 Millionen Jahre weit zurück. Anfangs ist das grandios und einfach nur überwältigend. Und tatsächlich geht über zwei Monate alles wirklich gut – und dann wird Max fast vergewaltigt, und Sussman kommt ums Leben.
Leider ist das aber erst der Anfang von verheerenden Neuigkeiten, die ihr Leben gründlich aus der Bahn werfen. Und das aller Mitglieder von St. Mary’s. Denn in der Vergangenheit der Kreidezeit sind auch andere Zeitreisende unterwegs, und die halten sich partout nicht an die Nichtinterventionsklauseln des Instituts, ganz im Gegenteil. Und sie gehen über Leichen …
Wenn man ein Buch mit diesem Volumen binnen von drei Tagen verschlingt und bei jedem einzelnen Kapitel lachen muss, wird schnell deutlich, wie unterhaltsam ein Roman über die zeitreisende Miss Maxwell ist. Ehrlich, ich kam manchmal aus dem Gackern kaum mehr heraus. Max hat in der Tat ein Talent, in so ziemlich jedes Fettnäpfchen zu treten, das es gibt, aber sie hat ebenfalls ein Talent dafür, weitgehend unbeschadet wieder daraus hervorzugehen. Sie ist wirklich ein zähes Mädel, das kann man kaum anders sagen. Ihre Kollegen im Lehrkörper und bei den Adepten sind im Übrigen kaum minder kreativ oder chaotisch … nennen wir es, wie wir wollen.
Ich bringe mal ein paar Stellen, um den Appetit noch zu befeuern:
„Bei ihm wirkte die Erdanziehung anders, und er war hoffnungslos in Kal verschossen wie ein Fisch auf einem Fahrrad auf dem Weg durch den Grand Canyon.“
Oder:
„Wenn du nicht einmal zu einer Verabredung in deinem eigenen Gebäude pünktlich kommen kannst, so sagt man hier, dann wirst du auch nicht viel Glück dabei haben, die Schlacht von Hastings zu finden.“
Oder:
„Also, dann lasst mich doch mal raten, was passiert ist, okay? Irgendein Idiot hat den tollen Witz gerissen: Wie erhöht man das Intelligenzniveau eines Pods? Man holt den Historiker raus. Und daraufhin hat ein Klugscheißer gefragt: Wie viele Techniker braucht man, um eine Glühbirne zu wechseln? Einen, aber man braucht viele Glühbirnen! Irgendjemand fand das gar nicht lustig, und dann hat ein anderer Witzbold seinen Ausweis dem Hund vorgezeigt, nicht den Leuten von der Sicherheit, weil ja jeder weiß, dass der Hund der mit dem Verstand ist, und als Nächstes prügelt ihr euch alle gegenseitig die Scheiße aus dem Leib.“
Oder:
„Wir wurden alle zum Krankentrakt gescheucht, selbst Barclay. Offenbar steht etwas in der Genfer Konvention oder in den Menschenrechten darüber, dass man keine blutenden Leute herumliegen lassen darf. Bei mir bedurfte es einiger Überredung.“
Oder:
„Und besonders herzlich heiße ich Miss Maxwell willkommen, deren Rückkehr aus dem bürgerlichen Leben dem Einschlag eines kleinen Asteroiden glich.“
Es gibt unzählige solche Stellen, ernsthaft. Und es ist ein monstermäßiges Vergnügen, Max und ihren Kolleginnen und Kollegen dabei zuzusehen, wie sie den Alltag in St. Mary’s meistern und zudem ihre Zeitsprünge überleben, was mitunter alles andere als einfach ist.
Und als Max dann auf die Idee mit der Bibliothek von Alexandria kommt (und zwar wegen eines Tannenzapfens!), da geht die Geschichte richtig durch die Decke … ja, ich höre schon auf zu spoilern. Aber ihr merkt deutlich, was für ein wahnsinniges Vergnügen es war, diesen Roman zu lesen. Und das Schönste daran ist: Es ist der erste Band einer ganzen Reihe, und im zweiten von insgesamt 8 Büchern stecke ich schon lesend drin. Der Klappentext ist wie immer etwas irreführend, aber das spielt keine Rolle. Ihr werdet das nicht merken, wenn ihr erst mal mit der Lektüre angefangen habt. Spätestens auf Seite 20 gibt es kein Zurück mehr, dann heißt es: Augen auf und mit Volldampf voraus!
Klare Leseempfehlung von mir.
© 2025 by Uwe Lammers
Braunschweig, den 2. April 2025