Vaterland
(OT: Fatherland)
Von Robert Harris
Heyne 8902, 1992
Aus dem Englischen von Hanswilhelm Haefs
ISBN 3-453-07205-7
Dies ist der Roman einer unglaublichen Verschwörung, die im Jahre 1964 spielt, allerdings nicht auf unserer guten alten Erde, sondern in einer Alternativwelt, in der Hitler, der Führer des Großdeutschen Reiches, den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat. Hitlerdeutschland reicht vom Ural bis Elsaß-Lothringen, der Kaukasus ist deutsch, Skandinavien ist frei, aber Deutschland verpflichtet, der Balkan zur Hälfte germanisiert. Am Ural und im einstigen Polen (dem jetzigen „Generalgouvernement“) wird von den Deutschen ein erbitterter Partisanenkrieg gegen die von den Amerikanern unterstützten Sowjets geführt. Deutschland und Amerika befinden sich im nuklearen Patt, dem so genannten „Kalten Krieg“.
In einer Woche wird man den 75. Geburtstag des Führers Adolf Hitler feiern, der sich dann in Berlin zeigen wird. Und einige Monate später soll der amerikanische Präsident Joseph Kennedy, der antisemitisch eingestellt ist, erstmalig Deutschland einen Besuch abstatten.
In diesem Klima wird der SS-Kripo-Sturmbannführer Xaver März, der von seiner Frau geschieden lebt, nicht in der Partei ist und während des Krieges U-Boot-Kommandant war (jetzt der Kripofahndung in Berlin zugeteilt) mit einem Fall betraut, der zunächst wie ein normaler Unfall aussieht. Eine männliche Person wird aus der Havel gezogen, die offenkundig ertrunken ist. Eine Identifizierung ist vorerst nicht möglich. Aber März beginnt sich zu wundern, als er in dem Zeitablauf desjenigen, der die Leiche entdeckt hat (SS-Rekrut Jost), Lücken feststellt. Dann nimmt er die Fingerabdrücke des Toten und bemüht einen seiner Bekannten in der Polizeiverwaltung.
Es kommt heraus, dass der tote alte Mann kein Geringerer als Josef Bühler ist, altgedienter Kämpfer und Parteigenosse seit den 20er Jahren, später eingesetzt im Generalgouvernement, wohnhaft in der Luxussiedlung Schwanenwerder. Als März sich dorthin auf den Weg macht, warnt ihn sein Kollege Max Jäger, dass die Gestapo in seinem Büro war und offiziell den Fall übernommen hat.
Also doch mehr als ein normaler Unfall.
Aber März, als Spürnase und Sturkopf bekannt, ignoriert das Verbot, besucht Bühlers Villa auf Schwanenwerder und findet den verletzten Hund mit Maulkorb, die Prothese von Bühlers Bein an einem Anlegesteg der Insel und Spuren von Schiffslack. Allmählich wird für ihn klar, dass hier mehr läuft.
Er erfährt, dass Bühler von Odilo Globocznik (genannt Globus), dem Gestapo-General, der auch bei Bühlers Anwesen aufgetaucht ist und kurz nach März´ Ankunft eiskalt den Hund erschoss, Bühler getötet und ins Wasser geworfen hat. Bald darauf ist allerdings der Zeuge Jost, der März das erzählt hat, verschwunden: versetzt an die Ostfront, von der er nicht mehr zurückkommen wird!
Ein Päckchen, aufgegeben in Zürich, gibt März noch mehr zu denken, desselben der Anruf, den er in Bühlers Wohnung entgegennahm. Eine gehetzte, alt klingende Männerstimme fragte nach Bühler, gab aber keine Informationen.
Bald darauf bekommt März auch heraus, dass ein weiterer alter Parteigenosse namens Stuckart in die Sache verwickelt war. Angeblich hat er sich und seine Geliebte erschossen. Entdeckt wurden die beiden von einer amerikanischen Journalistin, Charlie Maguire. Aber als der SS-Sturmbannführer weiter ermittelt, obwohl er das eigentlich gar nicht darf – nur das Einschalten des Sicherheitsdienstchefs Artur Nebe, der März sympathisch, weil hartnäckig findet, rettet Xaver März vor Globocznik, der inzwischen sein erbitterter Feind ist – , da entdeckt er, dass auch Stuckarts Tod von der Gestapo getürkt war.
Und noch ein dritter alter Kämpfer, der ein hohes Amt in der Parteihierarchie bekleidete, ein Mann mit dem sinnigen Namen Martin Luther (!), war scheinbar in die Angelegenheit verwickelt.
Nach und nach entdeckt der immer stärker erschütterte Kripofahnder, dass es sich hierbei keineswegs nur um einen Schmuggel von Kunstgegenständen aus dem damaligen Generalgouvernement handelte, wie es anfangs scheint, selbst wenn in Bühlers Keller ein Geheimraum mit Ikonen und Madonnen entdeckt wird und in seinem Garten weitere Skulpturen vergraben sind. Im Gegenteil: Luther, der dritte Mann, ist auf der Flucht vor Globus, und dieser setzt alle Männer auf ihn an, die er hat. Artur Nebe hat März befohlen, Luther vor Globocznik zu finden, denn die einzelnen Geheimdienststellen intrigieren gegeneinander.
Die Spur in die Schweiz, der er folgt, endet in einem (fast) leeren Nummernkonto mit einem Schließfach. Bald verdichten sich die Anzeichen dafür, dass Luther in die USA überlaufen will. Aber was er mitnimmt, was er für Beweise in der Hand hat, über zwanzig Jahre alte Beweise aus dem Generalgouvernement, das weiß noch niemand. Auch März stolpert nur allmählich auf sehr gefährlichen Umwegen über rätselhafte Informationen.
Was, zum Teufel, war die „Wannsee-Konferenz“? Und was haben die Juden, die nachweislich in den Osten umgesiedelt wurden, mit Bühler, Stuckart und Luther zu tun? Was ist Zyklon-B? Und dann diese Namen von Orten, von denen noch niemand je gehört hat: Auschwitz-Birkenau. Treblinka. Majdanek. Sobibor …
Als Xaver März und Charlie Maguire begreifen, was sie da eigentlich gefunden haben, da ist es schon zu spät – das Netz der Gestapo schließt sich unerbittlich um sie. Und der schärfste aller Jagdhunde ist Odilo Globocznik. Nun hilft offenbar auch der Kontakt zu Artur Nebe nicht mehr …
Robert Harris´ bald darauf auch verfilmter Roman ist ein Thriller, wie er man ihn sich besser kaum vorstellen kann – ein Werk mit ausgefeilten, höchst glaubwürdigen Charakteren, Tragik, Liebe, Verrat, Vertuschung, Verschwörungen, düsterer Atmosphäre, schwülstigen Albert-Speer-Bauten, großdeutschen Details (Bach-Kantaten in deutschen Flugzeugen etwa), heroischen Riesenstatuen, Vereinen, die zum Teil richtiggehend absurd sind, mit Erfindungen, die man den großdeutschen Planern durchaus zutrauen kann. Dazu gehören etwa 4-Meter-Spur-Eisenbahnen, Autobahnen bis Ufa usw. Die Stimmung im Volk der Richter und Henker ist alptraumhaft, die Suche in den monumentalen Reichsarchiven ein kafkaesker Alptraum. All das wird gewürzt mit historisch-authentischen Dokumenten, ergänzt um real existente Personen der Zeitgeschichte (Nebe, Stuckart, Bühler, Luther und all die anderen haben tatsächlich gelebt!).
Alles in allem handelt es sich um einen furiosen Roman, der nicht nur für Leser von Parallelweltenstories, sondern auch für die gut gemachter Detektivromane und Liebhaber von Geschichten, die im Dritten Reich spielen, denkbar geeignet ist. Es bleibt zu hoffen, dass uns Harris auch in Zukunft mit so guten Romanen überraschen kann und wird. Dann nämlich wird er wirklich zu einem Synonym für die Qualität werden können, für die jetzt schon sein Erstling „Vaterland“ steht.
© 1994 / 2022 by Uwe Lammers
Gifhorn, August 1994
Abschrift: Braunschweig, den 19. Oktober 2022