9.
Der zweite Tag der Mission begann, klimatisch betrachtet, genau so, wie der vorangegan-
gene geendet hatte: über der umtriebigen Millionenstadt Noolidan stieg eine matt glimmende
Sonne auf, die mühsam durch den Smog zu blinzeln begann. In den Gassen der Stadt musste
dennoch wohl den größten Teil des Tages ein blasses Zwielicht herrschen, nahm ich an.
Nicht, dass wir diese Straßen irgendwann in Augenschein hätten nehmen können. Dann wären
wir ja mit … „nicht systemkonformen Verhältnissen“ konfrontiert worden, die in uns Zweifel
an der „total demokratischen Staatsform des shassluurischen Gesellschaftswesens“ hätten we-
cken können. Die Geheimpolizei würde solch eine Gefahr nie zulassen.
An das dauernde, ferne Gedröhn der leistungsstarken Ventilatoren, die halbwegs für
Frischluft im Palastareal sorgten, hatte ich mich schon beinahe gewöhnt. Sie liefen rund um
die Uhr und sandten konstante Ströme von Vibrationen durch den Palast, so dass alle Fenster
leise klirrten, was mich gestern noch ziemlich irritiert hatte. Inzwischen war ich im Bilde.
Dennoch: Ich war ganz froh, dass wir uns während des ganzen Weges zum Audienzsaal im
Innern des labyrinthischen Hauptgebäudes aufhielten. Zur Not gab es ja auch noch Atemfilter

Direkt nach dem Frühstück hatte es die übliche Besprechung mit Klivies Kleines gegeben,
dessen Aroma mich jetzt nicht mehr ganz so stark niederknüppelte, dem Licht mochte Dank
sein! Entweder gewöhnte ich mich auch langsam daran, oder das Medikament dimmte die
Wirkung, oder Kleines hatte seinen Energieschild höher geschaltet. Was auch immer der
Grund sein mochte, es versetzte mich in die Lage, die Umgebung etwas genauer zu betrach-
ten. Das lenkte mich zum Glück von den heißen, feuchten Träumen der Nacht ab, in der ich –
wenigstens im Schlummer – mit Thashii wenigstens zwanzig verschiedene, zum Teil recht
exotische Liebespositionen durchprobiert hatte! So eine Phantasie traute ich mir sonst gar
nicht zu, von der AUSDAUER mal ganz zu schweigen …
Wie gesagt, schon deshalb war ich für jede Ablenkung dankbar. Ich hatte zudem meiner
Anzug-KI erhöhte Wachsamkeit verordnet. Das galt für alle zwanzig Diplomaten unserer
Gruppe.
Dieser Alarmstatus ging auf Vushtaars Kommando zurück, natürlich. Er hatte ja auch völ-
lig Recht, wenn man die Lage genau betrachtete. Während er – das hatte ich heute morgen in
der Besprechung erfahren – auf siebenunddreißig erfolgreiche Kontaktmissionen mit Kleines
zurückblicken konnte, machte er aus seiner harschen Einstellung keinen Hehl, dass er unser
Verhalten für skandalös leichtsinnig hielt. Zwar sah er mich dabei nicht an, aber ich hatte das
böse Gefühl, dass Askovans und mein Verhalten gestern in der Galerie bis zu ihm durchge-
drungen war, und ich hatte eine mächtige Sorge, das gäbe einen Eintrag in meine Akte …
„Wir befinden uns hier in einer wichtigen diplomatischen Mission“, schärfte er uns vor
dem Abmarsch ein, und seine Augen funkelten ungnädig. „Ich erinnere daran, dass wir nur
leichte Verteidigungswaffen besitzen und der Schutztrupp einige Taared entfernt ist … ja, das
1 Dieser Roman trägt den Vermerk OSM 1487.
1
ist nur auf dem Raumhafen, und das ist doch ganz nah … aber ich bin ein misstrauischer Alli,
sonst wäre ich nicht in die Position gelangt, in der ich mich befinde!
Bedenkt, dass die natürlichen Reaktionsmechanismen unserer Anzüge wegen der Randpa-
rameter unserer Mission retardiert sind. Die Anzüge verriegeln sich zwar automatisch, aber
die Schirmfelder müssen individuell aktiviert werden – und es versteht sich von selbst, dass
das zu unterbleiben hat, wenn Shassluur in der Nähe sind! Ihr müsst also jeden Augenblick
der Mission hellwach sein, verstanden? Jeder wird von jetzt an absolute Wachsamkeit zur
höchsten Priorität erklären, und zwar solange, bis wir wieder zurück in unseren Quartieren
sind, haben wir uns verstanden?“
Er hatte uns alle sehr scharf dabei angeblickt.
Ja, wir hatten dieses barsche Kommando verstanden. Nicht nur ich sah sehr kleinlaut drein.
Ich meine, während wir wenig später durch dieses gigantische Schloss marschierten, fragte
ich mich dennoch ernstlich, was um alles in der Welt uns hier für eine Gefahr drohen sollte.
Die Schirmfelder unserer Anzüge waren allen Waffensystemen, die wir hier anmessen konn-
ten, vollauf gewachsen (und wenn wir sie persönlich aktivieren mussten, konnte das ja wohl
auch kein Problem sein. Die Troohns hatten sich sicherlich nicht im Audienzsaal eingenistet
und überfielen uns aus dem Hinterhalt!).
Von der Körperkraft her konnte es kein einziger Shassluur mit uns aufnehmen, im Gegen-
teil. Und auch wenn sie – was wohl keiner wagen würde – leichte Artillerie im Palast selbst
einsetzen, würde uns das nicht in Bedrängnis bringen. Bei Kleines sah das noch besser aus –
sein Energieschirm, der dafür ausgelegt war, selbst Primärenergie abzuschirmen, also die
stärkste und aggressivste Energieform, die wir kannten (der Bote selbst steckte ja bis zum
Scheitel voll mit Primärenergie, etwa so, wie ein Schwamm mit Wasser getränkt war), konnte
eigentlich von nichts durchdrungen werden, was wir SELBST dabei hatten. Das bezog das
Landungsboot und die Raumschiff-Eskorte ausdrücklich mit ein.
So gesehen kam mir Vushtaars Zurechtweisung und Sicherheitshinweis etwas arg überzo-
gen vor.
Dennoch stand ich natürlich unablässig in Verbindung mit der KI meines Anzuges, und ich
ließ mir einen Lageplan unserer Position erstellen (wie gesagt, an das Überspielen von Grund-
rissplänen dieses Gebäudes aus den aktuellen Datennetzen der Shassluur war nicht zu denken
– die glaubten wohl, wir würden das Zeug dann an die hiesigen Revoluzzer weiterreichen! Pa-
ranoide Trottel!), denn in diesem Gewirr von hohen Gängen, prächtigen, geschmückten Trep-
penhäusern und Raumfluchten verlor ich leicht den Überblick. Dazu kam, dass nicht nur ich
der Ansicht war, wir würden irgendwie in einer Art von Schraubenkurs durchs Gebäude ge-
führt. Meine KI konnte das nach einer Weile nur bestätigen.
„Echt, die Shassluur sollten Spielelevel entwerfen“, murmelte mein Vordermann, der knor-
rige (und, wie ich inzwischen wusste, spielsüchtige) Kybernetiker Lescrandar. Was er bei
dieser Mission suchte, war mir völlig unerklärlich. Die technische Kultur der Shassluur konn-
te man nun wirklich nur noch primitiv nennen. Sie besaßen nicht mal Kontrolle über Formen-
ergie, und von so etwas wie den SENSOREN der Baumeister waren sie noch Jahrhunderte
entfernt.
„So?“
„Ja, schau dir das doch an, Cosh … lauter verwinkelte Gänge, immerzu Türen, Seitengän-
ge, Säle, Hallen, Balustraden, nicht der Hauch eines geraden Kurses … das lädt förmlich dazu
ein, das in ein Abenteuerspiel einzubauen …“ Er drehte sich zur Seite, um eine farbenprächti-
ge Sitzgruppe auf einem breiten Treppenabsatz anzuschauen, über der sich schwere, bronze-
farbene und purpurne Baldachine mit goldenen Troddeln wölbten. Mir drängte sich der Ein-
druck auf, es sei eine Art von Riesenkrake auf dem Trockenen, der sich anschickte, über den
arglosen Wesen zusammenzubrechen, die auf dieser Sitzgruppe Platz nahmen.
Lescrandar schien mit den Aufnahmebändern seines Anzuges ernsthaft Aufnahmen zu ma-
chen. Vielleicht wollte er wirklich in seiner Freizeit ein „Shassluur-Palast-Spiel“ zusammen-
bauen. Wenn das nicht an den Zensurbestimmungen der Flotte scheiterte, würde er vielleicht
2
sogar gute Chancen dafür haben, das durchzuboxen und zusätzlich zu seinem Sold auf die
Weise etwas Geld für sein Ruhegehalt dazu zu verdienen.
Echt unglaublich.
Ich wandte mich wieder unserem Weg zu und hätte am liebsten den Kopf geschüttelt über
unsere Gruppe: Die Shassluur unserer Eskorte umfasste vierzig Leute! Gütiges Licht, VIER-
ZIG! Eine wuselnde Masse uniformierter Schranzen und Wachleute, die neben uns die Trep-
pen hinauftrippelten und immerzu jeden Nebenkorridor im Auge behielten, wobei sie uns Al-
li-Diplomaten ständig vor den Füßen herumliefen (als wenn die niedrigen Stufen nicht schon
Hindernis genug gewesen wären!). Ich hatte gut damit zu tun, zu verhindern, dass ich irgend-
wem auf Schleppen trat oder mit den Knien über die steinernen Brüstungen der Treppenhäu-
ser katapultierte.
Natürlich wurde diese wimmelnde Silaari-Masse wieder angeführt von einer Art Zeremo-
nienmeister in mächtig prunkvoller, messinggeschmückter Uniform, und diese ganze Gruppe
wollte nach den üblichen Etiketten und sozialen Hierarchie-Regularien geführt und bewegt
werden. Das hielt unseren Zug auf dem direkten Weg zum Audienzsaal nicht wenig auf. Be-
sonders galt das für den Zeremonienmeister, der auf jedem Stockwerk, das wir betraten, von
einer kleinen, kaum weniger heftig herausgeputzten Shassluur-Delegation erwartet wurde. Es
gab hier unausweichlich den üblichen Austausch von Höflichkeiten, um den zeremoniellen
Etiketten Genüge zu tun, dann wurde unsere Gruppe, Kleines ganz zuvorderst, weitergereicht
wie ein Staffelstab.
Gütiges Licht, waren diese Leute anstrengend und umständlich!
Indes: Kleines ertrug diesen Unfug mit unendlicher Gelassenheit und zeigte kein bisschen
Unwillen, geschweige denn, dass er darauf drängte, sich zu beeilen. Ich begann seine un-
glaubliche Geduld zu bewundern. Es schien mir, als sei er von Natur aus so geduldig wie ein
Stück Fels, das langsam von Wassertropfen ausgehöhlt wird. Das brachte mich unwillkürlich
zu einer Frage, die ich meiner KI zuwisperte, damit die anderen in der Gruppe sie nicht hör-
ten. Zweifellos hätten sie sich wieder über mich lustig gemacht.
„KI, wie alt ist der Bote eigentlich? Kleines?“
„Das ist unbekannt, Diplomatenaspirant Coshtuur. Die mir vorliegenden Daten sagen aus,
dass es nie vor Kleines einen anderen Diplomaten Oki Stanwers gab. Das legt folgenden
Schluss nahe: Der Bote ist so alt wie Oki Stanwer selbst. Wir müssen sein Alter also nicht in
Hunderten, sondern in Tausenden von Jahren messen. Manche Gerüchte behaupten, er sei
physisch unsterblich.“
In dem Moment dachte ich schier, mir bliebe das Herz stehen.
Ein UNSTERBLICHER? Kleines und ein UNSTERBLICHER?
Automatisch stapfte ich weiter die Treppe hoch in den achten Stock des Palastes und hielt
Schritt mit den anderen, aber meine Gedanken überschlugen sich geradezu: Kleines und ein
Unsterblicher? Du liebes Licht, das würde natürlich einiges, ja, wohl alles erklären.
Vielleicht, so dachte ich, hatte Kleines seine gleißende Primärenergie-Aufladung ja von
den SIEBEN LICHTMÄCHTEN höchstpersönlich erhalten. Dann stand er schier unendlich
weit über uns sterblichen Allis, die im Höchstfall auf eine Lebenserwartung von 155 Jahren
hoffen konnten, mit Unterstützung der Baumeister vielleicht auf 200 Jahre. Das war für ihn
nichts als ein Lidschlag in der Ewigkeit. Die Shassluur, die selten älter als 50-60 Jahre wur-
den, mussten für ihn beinahe Eintagsfliegen darstellen, die er milde belächeln konnte.
Kleines stand über den Dingen.
Er stand über Machtgeplänkel, Intrigen, dem respektheischenden Aufplustern und dem
pompösen Repräsentationsgehabe der Mauswesen, ganz zu schweigen, dass er wohl über Sex
oder andere typisch allische Eigenarten ebenso erhaben war. Wenn man ihn so sah, dann war
er eher ein Heiliger in einer ideellen Mission … das wurde ihm wenigstens erheblich mehr ge-
recht als die Vorstellung, die ich früher von ihm gehabt hatte.
Gütiges Licht, und ich war so STOLZ darauf, zu dieser Gruppe zu gehören! So verdammt
noch mal stolz!
3
Ja, verdammt, es war eine Ehre! Es war einfach nur eine ungeheuerliche Ehre, dass Kleines
mich ausgewählt hatte, ihn zu begleiten …! Da hatte ich Thashii gegenüber genau das Richtige
gesagt.
42 Minuten nach dem Verlassen unserer Gemächer, wo wir in der Nacht mehr oder minder
gut geschlummert hatten, erreichten wir dann schließlich im neunten Stock des Palastes den
Audienzsaal.
Den Ort des Schicksals.
10.
Pomp und Aufwand hin oder her – als ich den Audienzsaal des Herzogs von Voy-Xenn
sah, blieb mir wirklich erst mal die Spucke weg. Man konnte von den Shassluur-Silaari (so
nannte ich sie inzwischen insgeheim) erzählen, was man wollte, aber prunkvolle und reprä-
sentative Säle einzurichten, das verstanden sie nun wirklich.
Zum Audienzsaal führte durch ein gewaltiges, dreiflügliges Treppenhaus eine Reihe breiter
Treppen aus strahlendem Marmor, in dem sich nicht eine einzige Versteinerung abzeichnete.
Der Himmel mochte wissen, wie viele Steinblöcke verworfen worden waren, um diese völlig
reinen Blöcke zu gewinnen! Kosten hatten hierbei offensichtlich keine Rolle gespielt. Die
selbst für uns Allis schwindelerregend hohen Säulenpfeiler wurden von großflächigen Reliefs
geschmückt, auf denen sich die Heroenpose, die ich gestern schon in der Galerie hatte „be-
wundern“ können, munter fortsetzte. Da die „Helden“ aber allesamt Shassluur waren, die
mich ja so sehr an die possierlichen Silaari meiner Kindheit erinnerten, bemühte ich mich,
eher auf die Architektur zu achten statt auf die eigentlich mehr erheiternden Recken der hei-
mischen Kultur.
Hohe Bogenfenster, durch die leuchtendes Licht hereinfiel, machten es leicht, eher auf
Lichtspiele und die funkelnden Reflexe von Goldbändern und Edelsteinverkrustungen zu ach-
ten, die nur dazu da waren, auswärtige Diplomaten und ausgewählte Besucher zu beeindru-
cken. Ich konnte mir lebhaft denken, dass das leicht verfing. Überall waren außerdem Schein-
werfer zu sehen, die wohl an trüben Tagen den Eindruck ein bisschen verstärken sollten. Da
hier alles fast ausschließlich in Weiß, Gold oder Edelsteinnuancen gehalten war, konnte ich
mir lebhaft denken, dass Besucher bei vollem Strahlerlicht völlig geblendet in den Audienz-
saal hineintaumelten.
Doch, inszenieren konnten die Shassluur, alle Achtung!
Als dann die weißbetressten Shassluur-Wachen nach dem obligatorischen Austausch von
Höflichkeiten (die Etikette halt!) die elektrischen Türflügelöffner des Saales betätigten – da
diese Türflügel im Ernst fast sechs Taay2 hoch waren, hätten sie sie normalerweise wohl
kaum bewegen können. Ich nahm an, dass jeder massivhölzerne, üppig mit blattgoldverzierten
Schnitzereien bedeckte Türflügel locker acht bis zehn Tonnen wog – , da traten wir ein in das
eigentliche Reich des Regenten dieses Herzogtums.
Und, wie gesagt, dieser Eintritt hatte es auch in sich.
Der Audienzsaal, durch einen breiten, kurzen Bogengang zu erreichen, wirkte mehr wie
eine Domhalle, vielleicht auch entfernt wie ein Theaterhalbrund. Meine Anzug-KI wisperte
mir unaufdringlich Daten ins Ohr, während ich mit offenem Mund dastand und dann sanft
von meinem Hintermann nach vorne geschoben wurde, bis ich im eigentlichen Saal zu stehen
kam.
Wir betraten den Saal zu ebener Erde. Dort durchmaß er gut 165 Taay, und ein kurzer, un-
vermeidlicher Blick nach oben zeigte, dass er beinahe sechzig Taay hoch war und hier in ei-
ner schimmernden, goldfunkelnden Glaskuppel auslief. Die gesamte gegenüberliegende Seite
war eine leicht nach außen gewölbte Balkonfront mit ganz erstaunlich hohen Fenstern, die nur
durch feine Filigranbögen aus Basalt oder einem basaltähnlichen Gestein, das jedenfalls lack-
schwarz schimmerte, zusammengehalten wurden. Gleißendes Sonnenlicht strömte herein und
2 Taay ist eine Maßeinheit der Allis, sie entspricht ziemlich genau 1,1 Meter irdischen Maßes.
4
warf funkelnde und glitzernde Reflexe auf das spiegelglatte Mosaikparkett aus Marmorintar-
sien. Wenn man genau hinschaute, erkannte man eine Weltkarte von Tuwihry, die übersät war
mit zahllosen eingravierten Punkten und Schriftzügen. Zweifellos Städte, untergegangene
Reiche, Vasallenstaaten, vielleicht auch die Daten erfolgreicher Feldzüge. Keine Ahnung.
Im Grunde genommen war mir das auch egal. Wichtig blieb allein, dass es verdammt be-
eindruckend war. Und ja, ich war beeindruckt! Dieser Prunk war etwas völlig anderes als die
eher technokratisch-nüchterne Art und Weise, in der die Baumeister oder wir Allis bauten.
Dort diktierte Zweckmäßigkeit und technische Präzision alles. Hier musste man Leute beein-
drucken, das war oberstes Gebot. Und es klappte hervorragend.
Über uns, im Dreiviertelrund, gab es sechs Emporen aus Holz und Stein, alles auf Hoch-
glanz poliert, das dunkelbraune Holz selbst sah aus wie frisch gelackt und war es vielleicht
auch. Purpurrote Vorhänge trennten die einzelnen Logen voneinander, goldene Baldachine
überlappten sie gegen die starke Lichtflut aus der Fensterfront, und ich erkannte mit einem
eher ungehörigen Rundblick, den ich auch gleich bereute, drei in gleichmäßigem Abstand
über die Rundung verteilte, übereinander liegende Emporen, wo sich wohl das „Fußvolk“ auf-
halten durfte, das keiner der Dynastien angehörte.
„Guck nicht so unverschämt“, zischte mein älterer Kollege Ashbaar mir zu und rückte mir
so gehörig den Kopf zurecht. „Wir sind hier nur Fußvolk!“
Als wenn ich das nicht selbst begriffen hätte! Ich blitzte ihn zornig an, schwieg aber. Er
sollte mich gefälligst nicht behandeln wie ein kleines Kind! Ich war immerhin zwanzig Jahre
alt und eigens für diese Mission auserwählt worden – was sicherlich nicht geschehen wäre,
wenn Kleines mich nicht für geeignet gehalten hätte …!
Am äußersten Rand des Saalbodens, direkt vor dem glimmenden Glas der Fensterfront,
baute sich gerade eine Art von Ehrengarde des Regenten auf. Sie hatte offenkundig den Auf-
trag, den Herzog von Voy-Xenn gegen irgendwelche Angriffe abzuschirmen.
Der einzelne, deutlich erhöhte Thron direkt davor war der Platz des Regenten, ausgelegt
mit flauschig-weißem Fell irgendeines ermordeten Tiers, das aber zumindest behaglich aus-
sah. Natürlich war er noch leer. Kleines´ Instruktionen hatten uns klar gemacht, dass die Hof-
Etikette erst den „Aufmarsch“ aller niederrangigen Würdenträger erforderlich machten, die
dem Monarchen zu huldigen hatten, bevor er selbst „die Bühne“ betrat.
Kleines hatte bei diesen Worten heute morgen gelächelt.
Ich konnte jetzt nicht lächeln, ich war einfach zu sehr beeindruckt. Mann, was diese Kerle
für einen unglaublichen Aufwand betrieben hatten, und das nur für eine einzige Person, wenn
man es genau nahm … kaum zu fassen.
Doch, das alles war wirklich schwer beeindruckend.
Fünf hochlehnige Sessel aus dunklem Holz, ein jeder mit einem neckischen, ebenfalls höl-
zernen Baldachin versehen, der von Künstlern faszinierend so gearbeitet worden war, als be-
stünde er nicht aus Holz, sondern aus im lauen Wind flatternden Stoff, bildeten vor dem ein-
zelnen Regententhron ein Halbrund, die offenen Seiten dem Thron zugekehrt. Die Symbole
auf der Rückseite der Sessel waren zweifellos Wappen.
„Dort werden die fünf Barone von Voy-Xenn Platz nehmen“, sagte die Anzug-KI leise zu
mir und setzte mich ins Bild. Das memorierte Tuwihry-Wissen griff und fügte die ratlos dalie-
genden Puzzleteile in meinem Verstand sinnvoll zusammen.
Ich begriff: bevor Noolidan zur planetaren Residenz und der Herzog von Voy-Xenn zu-
gleich globaler Regent wurde, war er einer der sechs Barone gewesen, die ihren Sitz hier in
Noolidan hatten, das hier war sozusagen der physische Überrest dieser uralten Regelung.
Solche eng beisammen stehenden Residenzen waren in der Zeit der allgemeinen Unruhen
auf Tuwihry übrigens gar nichts Ungewöhnliches gewesen – die meisten dieser Baronsfamili-
en waren durch verwandtschaftliche Bande und durch Waffenbündnisse verbrüdert und konn-
ten sich, zu einem kurzfristigen Block zusammengeschweißt, vereint besser gegen Angreifer
zur Wehr setzen. Nur deshalb hatte sich die Tradition weit verstreuter Adelssitze und Fürsten-
tümer nicht durchgesetzt: es wurden hier früher häufig vielfältige Allianzen geschmiedet, und
5
wer sich nicht imstande sah, mit räumlich sehr nahen Adeligen Gegen-Allianzen zu schaffen,
überlebte schlicht nicht.
Widersinnig genug – natürlich hatte es auch Zeiten gegeben, wo sich Baronate, die nur we-
nige Taared auseinanderlagen, quasi in Sichtweite, über Jahrzehnte hinweg Todfeinde waren.
Was nicht bedeutete, dass ihre Angehörigen und Bediensteten nicht immer noch auf densel-
ben Märkten einkauften, in denselben Schenken einkehrten oder gar mit denselben Huren ins
Bett gingen. Stattdessen gab es eine Art Burgfriedensabkommen, während sich die Clans fern
der Heimat in Vasallenstädten oder tributpflichtigen Lehen blutig die Köpfe einschlugen.
Ein seltsames Volk, diese Shassluur, wahrhaftig. Da hatte Kleines völlig Recht.
Ich kam nicht dazu, mir weiter Gedanken zu machen, denn die KI zischelte schon wieder,
diesmal etwas sehr Seltsames: „Platzanweisung, Träger Coshtuur. Wir sollen uns auf Ebene 2
c begeben. Äußerster linker Rand. Keine Zeitverzögerung.“
„Äh … ja … aber …“, murmelte ich irritiert und etwas aus dem Konzept gebracht.
Ashbaar packte meine Schulter und zog mich zur Seite, schob mich nach links. „Da geht’s
lang, Kleiner.“
Während das kleinwüchsige Shassluur-Gefolge mit deutlichem Berührungsabstand um
ums herum stromerte und weiter nach vorne drängte, sah ich meinen älteren Gefährten etwas
empört an.
Er grinste verständnisvoll. „Vushtaars Order. Er hat uns allen unseren Platz zugewiesen.
Mach, dass du dahin kommst, die KI sagt dir schon, wo das ist. Kanal 2 stets eingeschaltet
lassen!“
„Oh … also … na gut.“
Ich fühlte mich irgendwie total überflüssig, und das frustrierte mich absolut. Es sah danach
aus, als wären alle anderen der Landemission besser informiert als ich selbst. Aber ich war
wirklich zu stolz dazu, jetzt noch irgendwelche idiotischen Nachfragen zu stellen, die mich
später Ashbaars Gelächter ausliefern würden.
Mit dunklen, vor verhaltenem Zorn gesträubten Schuppen wandte ich mich brüsk in die
Richtung, in die er wies und suchte mir meinen Weg zwischen den kleinen Pelzwesen hin-
durch. Die possierlichen kleinen Kerlchen machten mir mehr als bereitwillig Platz, und zwi-
schen all den seltsamen, manchmal wirklich aufreizenden Parfüms konnte ich nur zu deutlich
den allgegenwärtigen Geruch der Angst ausmachen.
Doch in diesem Moment waren mir die Shassluur wirklich absolut egal. Ich war stocksau-
er. Völlig zu Unrecht, wie ich kurze Zeit später verlegen erkennen musste. Aber so war ich zu
dem Zeitpunkt eben. Verliebt, erotisch unausgelastet, und dann nicht mal für voll genommen
und hin- und hergeschubst. Das MUSSTE zweifelsohne zu einer ganz schiefen Sicht der Din-
ge führen. Und zu einer zutiefst ungerechten Beurteilung …
Der Weg, den die Anzug-KI mir mit leisen, knappen Bemerkungen wies, führte hinter ei-
ner Stuhlreihe, die direkt am Fuß der breiten Marmorsäulen verlief, zwischen den purpurnen
langen Vorhängen hindurch … und zeigte mir nun plötzlich ein neues Detail dieses mächtigen
Raumes: relativ enge, ornamental völlig überladene Steintreppen führten hier recht steil nach
oben. Die winzigen Stufen, von denen ich drei auf einmal nahm, waren beinahe zu schmal für
meine großen Stiefel. Na ja, diese Treppe war eben auch für Shassluur gedacht, und die wan-
delten nun mal, rein evolutionär bedingt, auf kleinem Fuß. Glücklicherweise erwiesen sich die
Emporen am oberen Ende der Treppen wenigstens als hoch genug, und sogar die Gänge wa-
ren erstaunlich ausladend.
„Erwarten die Shassluur noch so große Leute wie uns?“, murmelte ich etwas verdutzt.
Ich konnte mir die Größe der Emporen einfach nicht erklären. Sie waren mehr als dreimal
so hoch, wie sie selbst für größte Shassluur notwendig gewesen wären. Runde Leuchtkörper
verbreiteten warmes, bernsteinfarbenes Licht und enthüllten hier die samtbespannten, roten,
grünen und blauen Wandpaneele. Darunter wies die Passivortung diverse Installationen nach:
elektrische Leitungen, Wasserrohre, Heizspiralen, Bewegungsmelder, Lichtzellen und ande-
6
res. Sicherlich auch noch so einiges mehr, das der Geheimdienst beigesteuert haben mochte.
Manche Installationen sahen mir sehr nach Mikrofonen aus …
Vollkommen humorlos beantwortete die KI meine verblüffte Frage. „Nein, Träger Coshtu-
ur, es handelt sich um eine Form der repräsentativen Größe, durch die die Bedeutung der Er-
bauer ins Überdimensionale gesteigert wird.“
Also hatten diese Silaari doch einen Minderwertigkeitskomplex, und der Herzog von Voy-
Xenn und sein Clan zeichneten sich wohl durch einen besonders intensiven Minderwertig-
keitskomplex aus … na ja, das sollte mir schon recht sein. Es erleichterte das Herumwandern
hier oben ausgesprochen.
Ich schreckte einige Ordonnanzen auf, ganz in Weiß gekleidete Shassluur, die in ihren
adretten, engen Uniformen mit dem voller Furcht gesträubten Fell einfach nur zum Totlachen
aussahen. Gleichzeitig taten sie mir jedoch auch sehr leid. Ich konnte allerdings rein gar
nichts gegen ihren Schrecken tun, der doch so völlig unnötig war.
Die meisten der Würdenträger beeilten sich sehr, mir aus dem Weg zu gehen, in die Logen
zu kommen und hinter sich hastig die Vorhänge zuzuziehen. Die Bediensteten drückten sich
mit den kleinen Metallwägelchen, in denen Elektroöfen Getränke warm hielten, nervös an die
Seitenwände, während ich behutsam an ihnen vorbeistapfte und mich bemühte, möglichst un-
gefährlich auszusehen.
War natürlich völlig nutzlos. Die armen Kerle waren verrückt vor Angst. Ich konnte sogar
bei manchen von ihnen hören, wie sie mitleiderregend mit den kleinen Zähnchen klapperten.
‚Mann, Kleines muss richtig ZAUBERN, damit diese Shassluur auch nur eine einzige posi-
tive Äußerung von sich geben‘, dachte ich bedrückt. Die Kerle dachten offensichtlich, wir wä-
ren den Raubtiergehegen entsprungen und würden wohl nur auf die Gelegenheit warten, uns
ein wenig freilaufendes, uniformiertes Futter einzuverleiben. Nichts hätte falscher sein kön-
nen …
Dachte es und eilte noch etwas zügiger durch den langen, gebogenen Gang zu jenem nur
zugewiesenen Gangabschnitt, von dem aus ich wieder freien Blick in den Saal hatte.
Ebene 2c.
Ha! Und wer beschreibt meine Begeisterung, als ich plötzlich entdeckte, dass ich mich auf
einmal auf einer jener offenen Emporen befand, die ich vorhin bei meinem kurzen Rundum-
blick gesehen hatte?
Von hier oben aus konnte ich einen ausgezeichneten Blick auf das Geschehen werfen, das
sich ziemlich genau in schwindelerregenden acht Taay Tiefe abspielte. Deutlich zu erkennen
war nun das mächtige Mosaik des Planeten Tuwihry direkt unter mir. Und es gab noch einiges
mehr zu entdecken:
Ich befand mich etwa auf einer Höhe mit dem Thron des Herzogs von Voy-Xenn, der noch
immer leer war. In der mächtigen Weite des Saales verlor er sich fast vollkommen, und es
spielte überhaupt keine Rolle, dass er durch mehrere Stufen erhöht dastand. Ein genauer Blick
zeigte mir übrigens auch, dass der Regent „geografisch“ genau da auf dem Kartenmosaik des
Planeten saß, wo sich die Hauptstadt Noolidan befand. Irgendwie überraschte mich das we-
nig.
Direkt vor dem Thronsessel des Herzogs, kaum drei Taay weit weg, hatte Kleines´ Schwe-
besessel „Stellung bezogen“, wie Vushtaar das mit seinem militärischen Jargon sicherlich ge-
nannt hätte. Mir waren solche Floskeln wegen meiner Geschwister natürlich auch geläufig.
Etwas weiter links sah ich die Ehrengarde vor dem Glasfenster, fünfundzwanzig Shassluur,
die sich vor der gigantischen Fensterfront ebenfalls wie Miniaturen wirkten. Sie würden wohl
die ganze Zeit über stehen müssen, denn für sie gab es keine Sitzgelegenheiten. Die armen
Kerle taten mir leid. Zweifellos mussten sie sich im hellen Sonnenlicht halb totschwitzen.
Aber vermutlich empfanden sie ihren Job auch noch als Auszeichnung.
Stolz war schon was Komisches …
Doch, genau besehen hatte ich es hier oben besser als der Rest meiner Kameraden … na ja,
einiger meiner Kameraden. Ein Rundumblick zeigte mir sechs weitere Alli-Diplomaten, die
7
auf weiteren Emporen ringsum Position bezogen hatten. Die restlichen umgaben Kleines zu
ebener Erde – Vushtaar natürlich und Tholnoy, außerdem drei weitere, die meine KI nun auch
als „Sicherheitsberater“ auswies. Wortkarge, verschlossene Kerle, mit denen ich noch kein
Wort gewechselt hatte. Roshtum, Mharrid und Shrowaar. Die drei anderen standen an den
Ausgängen des Saales.
Ich fragte mich, was um alles in der Welt hier wohl erwartet wurde. Die Verteilung der
Missionsmitglieder im Raum kam mir vor, als basierte sie auf einem entsprechenden Siche-
rungsszenario: unten beim „Ziel“ – Kleines natürlich – direkte Sicherheitskräfte als innerster
Sicherheitsring. Dann an den Eingängen und auf Bodenniveau weitere Wachen, und schließ-
lich, auf unterschiedlichen Level im Raum, hier auf den Emporen, noch Beobachtungsposten,
die alles im Blick hatten.
Dennoch kam mir der Gedanke absurd vor: Ein Überfall? Von wem denn?
Ich schob mein Mikro im Helm zurecht und flüsterte der KI zu: „Verbindung zu Ashbaar.“
Er war noch immer derjenige im Begleitkommando, mit dem ich mich am besten verstand.
Es knackte, dann hörte ich die immer noch amüsierte Stimme meines Kontaktmannes un-
ten an der Haupteingangstür. Irgendwie hörte er sich an, als hätte er auf diesen Anruf gewar-
tet. Der Gedanke begann mir wieder die Schuppen vor Verlegenheit zu kräuseln. Hoffentlich
täuschte ich mich und blamierte mich nicht gleich wieder vollständig.
„Na, was möchtest du denn jetzt, Coshtuur?“
„Kannst du mir sagen, worauf um alles in der Welt ihr wartet? Was soll denn hier passie-
ren? Ich meine …“
„Ich meine“, unterbrach er mich gut gelaunt, „dass du dir viel zu viele Gedanken machst,
Junge. Lass dich meinetwegen von deiner Anzug-KI aufklären – wir machen hier nur unseren
Job. Die übliche Sicherheitsprozedur.“
Das war fast das, was ich befürchtet hatte. Meine Verlegenheit wurde immer stärker, aber
mein Mund war noch immer dabei, dumme Worte hervorzubringen. „Ja, gut … aber warum
das? Ich meine, es kann doch keiner irgendwas anrichten. Wir sind hier in einer verdammten
FESTUNG. Keinerlei Shassluur-Opposition …“
„Es geht nicht um die Shassluur-Opposition, von der ich noch keinen Fellzipfel zu sehen
bekommen habe. Das wird wohl auch so bleiben. Dafür sorgen schon die hiesigen Sicher-
heitskräfte. Wir haben hier noch andere Dinge zu beachten. Jetzt genieß einfach die Aussicht,
frag deine KI, wenn dir was unklar ist und lass mich erst mal in Ruhe, ja? Ich habe zu tun.“
Es knackte wieder, und die Verbindung war tot.
Ich kam mir total dämlich vor. Ein scheußliches Gefühl!
Hinter mir raschelte es, und ich drehte überrascht den Kopf.
Eine grazile, äußerst schmale Shassluur-Frau, mit Abstand die am spärlichsten bekleidete,
die ich bis heute gesehen hatte (aber durchaus nicht unattraktiv, jedenfalls für einen männli-
chen Shassluur, schätze ich mal so), sprang erschrocken zurück und recht hoch. Ehrlich,
Shassluur können aus dem Stand ziemlich hoch springen, fast so hoch, wie sie groß sind! Da
bleibt unsereins richtig die Spucke weg. Mir jetzt auch.
Kaum kam das Mädel wieder am Boden an, da warf sie sich im Nu herum und jagte wie
von Dämonen gehetzt in den Gang. Allein eine Schweißwolke, die pure Panik ausstrahlte,
blieb zurück und verflog langsam, durchmischt mit offensichtlichem Parfüm.
Ich hatte schon ein paar Schritte in dieselbe Richtung gemacht und den Mund geöffnet, um
mich für etwas zu entschuldigen, was ich gar nicht getan hatte, als mir aufging, wie nutzlos
das sein würde. Das Mädchen – zweifellos ein Mädchen – hatte sich fast zu Tode erschrocken,
als sie mich gesehen hatte. Und das einfach nur, weil ich war, was ich war: ein Alli.
Dabei tat ich doch nicht mal einem Silaari was zuleide, ganz zu schweigen von diesen
niedlichen Kerlen hier. Na ja … in den Augen der Shassluur stellte ich eben etwas ganz ande-
res dar.
‚Eine Raubechse‘, ging es mir bedauernd durch den Kopf. ‚Ach Mann … Mutter, wenn du
das sehen könntest, du würdest nicht glauben, dass irgendwer vor MIR Angst haben könnte …
8
aber diese Shassluur muss man nur mal kurz anschauen, dann laufen sie schon weg. Gräss-
lich.‘
Ich wünschte wirklich, ich hätte mit den Leuten hier ein bisschen entspannt reden können,
um ihnen zu demonstrieren, wie gut gebildet ich war und wie intelligent ich doch – gelegent-
lich – zu plaudern verstand. Aber dazu würde keiner von unserem Korps eine Möglichkeit be-
kommen. Nicht bei der biologischen Barriere.
Ich kam mir richtig elend vor, wie ein leibhaftiges Ungeheuer. Dabei wollte ich doch wirk-
lich nur das Beste für diese Leute!
Mann! Das war wirklich nicht zum Aushalten!
„Gegen solche Reaktionen könnt Ihr nichts tun, Träger Coshtuur. Die Shassluur sind evo-
lutionär einfach auf eine derartige Fluchtreaktion vor großen Echsenwesen programmiert.
Sie sind schlicht inkompatibel mit uns.“
„Ja, danke für die Information“, seufzte ich an die Adresse der KI, die ihren nutzlosen
Kommentar gemacht hatte. Der erleichterte die Sache für mich nun beim besten Willen nicht
und war auch kaum geeignet, mein schlechtes Gewissen einzudämmen. Mein verstorbener
Bruder hätte mich zweifellos einen Moralisten geschimpft. Einerlei.
Ich war wirklich froh, als es endlich losging. Da wusste ich natürlich auch noch nicht, was
mir noch alles bevorstand. Uns allen.
Aber selbst wenn mir das bekannt gewesen wäre – ich hätte es schlicht nicht geglaubt.
So etwas musste man an eigenem Leibe erleben.
Und manchmal muss man dabei sterben.
Oder fast.
11.
Als endlich mit durchdringenden, energischen Fanfarenstößen – wo die Musikanten stan-
den, konnte ich erst nach einer Weile ausmachen, sie waren wirklich gut versteckt – die An-
kunft des Regenten, des Herzogs von Voy-Xenn angekündigt wurde, dachte ich ernsthaft, es
ginge gleich los und würde ernst werden. Schließlich hatten alle geladenen Adeligen ihre Plät-
ze in den Logen eingenommen, die Sitzplätze am Boden waren besetzt, überall standen rotbe-
kleidete Wachen mit archaischen Waffen der Vorzeit herum, und eine Aura gespannter Er-
wartung hatte sich ausgebreitet.
Kleines, so malte ich mir naiv aus, würde gleich „zaubern“, die elektrisierende Macht sei-
ner Aura spielen lassen, und wie verwunschen würden diese Silaari von Shassluur alles tun,
was er nur wollte, insbesondere natürlich das Stationierungsabkommen unterzeichnen.
Mann, ich verstand wirklich gar nichts.
Und natürlich war mir ein wesentlicher Faktor der Shassluur-Gesellschaft inzwischen wie-
der geflissentlich entfallen (nun gut, ich gebe zu, ich hatte ihn mir gar nicht erst gemerkt, weil
mir das alles so närrisch vorgekommen war): nämlich die Etikette. Ohne Etikette und das Ein-
halten der damit verbundenen bizarren Rituale schien in der Shassluur-Gesellschaft rein gar
nichts zu funktionieren.
Schlimmer noch: Die Etikette einer Regenten-Begegnung mit dezidiert diplomatischem Zu-
schnitt waren zudem ganz andere als die, die wir schon kennengelernt hatten. Sie bedurften
noch mehr der Sorgfalt und der Präzision, was unweigerlich darauf hinauslief, dass sie auto-
matisch erheblich mehr Zeit in Anspruch nahmen als alles, was wir schon kannten.
Ich nahm das anfangs etwas ungläubig, dann amüsiert und schließlich mehr und mehr ent-
nervt zur Kenntnis, konnte jedoch von meinem Beobachtungsposten aus rein gar nichts tun,
um daran irgendetwas zu ändern. Mir blieb nur übrig, fassungslos zuzuschauen und immer
wieder den Kopf schütteln.
Bevor es nämlich zu einem direkten Kontakt zwischen Kleines und dem Herzog kam,
schlug die große Stunde des Hofstaates und, natürlich, die Stunde von Kleines´ Adjutanten
9
Tholnoy, dessen Geduld ich im Laufe der nächsten zwei Stunden wirklich zu bewundern be-
gann.
Es gab geschraubte Reden zu hören, denen ich nach einer Weile beim besten Willen nicht
mehr bereit war, zu folgen. Solche gedrechselten, umständlichen Bandwurmsätze, wie sie hier
verwendet wurden, verdrehten mir ja selbst die Gehirnwindungen! Das grenzte an ausge-
machte Selbstverstümmelung, wenn man sich zum Zuhören zwang. Nein, also, das musste ich
mir nicht antun. Ich schaltete mental rasch auf Durchzug.
Und dann dieser unglaubliche Austausch von Höflichkeiten, bei denen wortreich die ge-
genseitigen Standespositionen dargelegt, in fiependem Shassluur-Dialekt die vollmundigen
Lebensläufe ausgeführt und verschnörkelt präsentiert wurden, um nur ja jedes Ego der Anwe-
senden zu befriedigen und um Oki Stanwers Willen bloß niemanden zu brüskieren …
Zweifellos war diese Gruppe von violett gekleideten Shassluur, die federführend in diesem
Teil der absurden Angelegenheit tätig war, eine Horde ausgebuffter Rechtsanwälte, bei denen
jedes Wort hieb- und stichfest sitzen musste.
Kaum war dann dem Herzog Genüge getan, ging derselbe Zirkus bei den Baronen noch
einmal los. Ich fragte mich fassungslos: Waren die denn alle TAUB, dass sie das eben nicht
schon mal gehört hatten? Waren sie einfach zu höflich? Oder gab es noch eigentümlichere
Gründe, warum man sich dieselbe … na ja, denselben Unfug SECHSMAL hintereinander an-
hören sollte?
„Oh Mann, das kann doch alles nicht wahr sein!“, stöhnte ich laut auf und war wirklich
froh, alleine auf der Empore zu sein. In meine Nähe wagte sich kein einziger Shassluur. Es
ging wirklich nicht mehr, ich konnte diese ganze lächerliche Farce nicht weiter in mich hin-
einfressen. Daran ging man ja kaputt!
Ich sank ostentativ auf einer schmalen, stoffbespannten Sitzbank der Shassluur nieder, um
diesen Aufmarsch der aufgeblasenen, kostümierten Silaari … Shassluur, meine ich …, nicht
weiter mit ansehen zu müssen. Nein, natürlich hatte ich bei dieser Handlung nicht nachge-
dacht, und das merkte ich einen Atemzug später.
Allein die Tatsache, dass der Anzug sofort brummend die Antigravfunktion meines Anzu-
ges aktivierte und mein Körpergewicht so drastisch reduzierte, verhinderte das augenblickli-
che Zusammenbrechen der zwar soliden, aber nicht für Allis ausgelegten Sitzbank. Das wäre
wirklich eine schöne Blamage gewesen!
„Ihr seid nicht kompatibel mit den Sitzmöbeln der Shass…“
„Danke“, schnaubte ich ärgerlich. Der prompt aufklingende, warnende Kommentar meiner
Anzug-KI raubte mir nun echt die letzten Nerven. Es fehlte nicht viel, und ich wäre explo-
diert! Und zu den Sternengöttern mit den verdammten Etiketten!! „Das weiß ich selbst! Aber
glaub bloß nicht, dass ich die ganze Zeit STEHE! Ich bin doch nicht VERRÜCKT!“
„Nein, du bist ein Aspirant des Alli-Diplomatenkorps“, meldete sich alte Lescrandar über-
raschend zu Wort und überrumpelte mich damit einigermaßen. Er klang amüsiert.
Nach einem Moment der völligen Verblüffung fragte ich argwöhnisch: „He, hast du dich in
meine Diskussionssphäre eingeloggt?“
„Gibt kaum was Leichteres“, gab der Kybernetiker vergnügt zu, ohne erkennbare Reue.
Vermutlich langweilte er sich ebenso wie ich und testete während der Wartezeit munter sein
technisches Geschick. Na ja, warum auch nicht? Aber er hätte doch nicht ausgerechnet MEI-
NE Kommunikationsleitung dafür aussuchen …
Er wechselte gleich das Thema, wohl auch, um weiteren Vorwürfen zu entgehen. „Was
den Verlauf dieser Zeremonie angeht, Cosh – mach dir nichts vor, mein Junge. Das dauert
ewig. Bis wir wirklich zu den wichtigen Dingen kommen, geht es hier aufs Mittagessen zu …“
„Das ist nicht dein ERNST!“, entfuhr es mir entgeistert.
„Absolut. Ich schlage dir vor, du machst ein Nickerchen oder spielst mit deiner KI ein paar
nette kleine Cyberspielchen. Kann dir auch ein bisschen was von meinen früheren Missionen
erzählen …“
10
Ich wollte einfach nicht glauben, was Lescrandar da sagte. Das war … also, das war doch
eine diplomatische Mission! Da musste man vollkommen wach und die ganze Zeit ganz auf-
merksam sein! Es konnte doch wohl nicht angehen, dass das hier so … so lax gesehen
wurde …!
Aber es wurde.
Lescrandar ging bereitwillig in die Details, als ich mein Einverständnis gab, und er offen-
barte amüsiert, er habe bereits mehr als ein Dutzend Missionen mitgemacht. Das brachte na-
türlich einiges an Erfahrungen mit sich, und es erklärte schlagend, warum er sich gegenwärtig
so unterfordert vorkam und langweilte.
Die kleinen Silaari-Monarchisten, also unsere Shassluur hier, hielt er, gemessen an der
Hartnäckigkeit, mit der sie sich an sinnlose archaische Rituale festklammerten, für „ganz har-
te Knochen“. Das hieß im Klartext: für Leute, die Kleines richtig viel Zeit kosten würden.
Dass draußen das Terrorimperium der Troohns drohte, kümmerte sie offensichtlich nicht im
Mindesten.
Der Kybernetiker gab auch offen zu, auf Tuwihry existierten Kreise, die gar nicht an die
Existenz des Terrorimperiums glaubten. Alles, was sie nicht erlebt hatten, gab es für diese
Ignoranten einfach nicht. Und die Erkenntnis, dass eine „Demonstration“ der Macht der
Troohns ihren sofortigen Tod zur Folge hätte, würden sie natürlich auch nicht glauben – bis
die Troohns vor der Tür standen. Dann aber würden sie bestimmt jammernd zu uns gekrochen
kommen, wenn es also viel zu spät war.
Irrwitzig!
Lescrandars Worte liefen so fernerhin auf folgendes hinaus: die Silaari … nein, die Shass-
luur, meine ich! … sie würden also auch UNS als Begleiteskorte eine Menge Zeit kosten, und
es gab nichts, was wir dagegen tun konnten. Rein gar nichts. Alles, was und blieb, war ein-
fach, Geduld zu zeigen. Eine schier unallische Geduld.
Und mein Kollege behielt leider völlig Recht.
Nun, zumindest geschah nichts Dramatisches, unsere Dienste wurden eigentlich nicht be-
nötigt, so hatten wir Gelegenheit, einen guten Teil dieser Zeit damit totzuschlagen, indem wir
plauderten. So verflog die nächste gute Stunde rasch. Aber das war eben nur der Anfang. Es
war und blieb zäh … und wie Lescrandar schon gesagt hatte: diese Geschichte nahm und
nahm einfach kein Ende.
Das Schlimmste war, dass ich ständig an Thashii denken musste. Komisch, nicht wahr, wie
man auf ganz seltsame Gedanken kommt, die eigentlich vollkommen nebensächlich sind.
Und dennoch … bis heute denke ich, das war eigentlich das Schlimmste.
12.
Die Stunden verstrichen unerbittlich quälend mit dem bizarren Einhalten von Etiketten,
Höflichkeitsfloskeln und Belanglosigkeiten. Kleines kam endlich zu Wort, und es folgten
schier endlose Diskussionen, die natürlich nicht von dem Boten direkt an den Herzog gerich-
tet wurden, sondern über ein Beratergremium liefen, das wiederum einen Bericht fertig mach-
te und dem Regenten vorlegte, der dann erstaunlich wortkarg Stellung bezog, Nachfragen
stellte, die wieder über das Beratergremium an Kleines liefen und umgekehrt.
Es war zum Schuppenauskratzen! Aber wirklich!
Mein Chronometer zeigte in der Tat bereits 14 Uhr Ortszeit an, als ich ein leises, verhalte-
nes Knarren hinter mir hörte. Und das kam NICHT von meinem inzwischen recht lautstark
knurrenden Magen.
Behutsam drehte ich mich um. Es sollte ja niemand sagen, dass ich als Alli-Diplomat
(Aspirant, ja, ja) nicht lernfähig war. Ich wollte nicht schon wieder jemanden in die Flucht
schlagen – und dass da hinten ein Shassluur angeschlichen kam, war ja wohl absolut evident.
Ich hatte Recht. Dennoch überraschte mich der Anblick.
11
Ein weißbetresster Shassluur stand mit seinem kleinen silbernen Wägelchen da und schlot-
terte zum Erbarmen am ganzen Leibe. Ihm stand so ziemlich jedes Haar zu Berge, das er be-
sitzen mochte, und auf absurde Weise wirkte er aufgeplustert wie ein kampfbereites Tier – nur
war der Bedienstete sicherlich weit entfernt von solchen Absichten.
Ich konnte ihm deutlich ansehen, dass er am liebsten weggerannt wäre. Die großen schwar-
zen Augen traten ihm schier aus den Höhlen, und er tat mir einfach nur unendlich leid. Wahr-
scheinlich hatte man ihn unter Strafandrohung hierher kommandiert, freiwillig wäre er gewiss
keinen Schritt in meine Richtung gegangen.
Mein Mikro knackte wieder, und Ashbaars Stimme, humorvoll und ironisch wie immer, er-
tönte leise in meinen Ohren: „Es gibt was zu essen, Kleiner. Hau ordentlich rein. Aber ver-
wechsle nicht den Boten mit der Botschaft, ja?“
„Ich bin doch kein Ungeheuer!“, gab ich pikiert zurück.
„Na, die Shassluur scheinen das aber zu fürchten … egal. Freu dich übrigens. Dein Essen
wird noch richtig warm sein. Die Küche arbeitet hier von oben nach unten. Wenn die bei uns
ankommen, kriegen wir nur noch lauwarmes Futter.“
Ich hätte fast gelacht, aber mir war klar, dass der arme Bedienstete der Shassluur dann un-
weigerlich weggelaufen wäre. Er hatte so unermessliche Angst, dass ich es nicht mal wagte,
das Wort an ihn zu richten. Unser Rachen war für sie wohl doch ein bisschen zu furchteinflö-
ßend.
So schluckte ich mühsam mein Amüsement herunter und deutete stattdessen vertrauensvoll
auf eine nahestehende Sitzbank. Dafür erntete ich dann tatsächlich einen beinahe dankbaren
Blick. Der niedliche, winzige Kerl baute, noch immer am ganzen Körper zitternd, aber lang-
sam ruhiger werdend, weil er sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren hatte, die er lange Jahre
einstudiert haben musste, ernsthaft eine Art von Büffet auf, das überwiegend aus überaus le-
cker zubereiteten Braten und beeindruckenden Fischleckereien bestand, die mir wirklich das
Wasser im Mund zusammenlaufen ließen.
Ungeachtet seiner Verstörung war der kleinwüchsige Einheimische recht geschickt, und
wie ich beobachtet hatte, verlor sich seine extreme Nervosität, sobald er merkte, dass ich ihn
nicht zuerst verspeisen wollte. Die Teller, die für die Präsentation des Essens nahm, waren
wohl normalerweise shassluurische Bratenplatten, der Form und Größe nach zu urteilen. Er
ging also davon aus, dass wir mit einheimischem Besteck und Gedecken nicht so richtig viel
anfangen konnten. Womit er absolut richtig lag. Dieses Zeug hatte für unsereins einfach Spiel-
zeugcharakter.
Nachdem er den größten Teil der ersten – von drei – Ebenen seines patenten Warmhalte-
wagens ausgeladen hatte, schaute er ein wenig nervös zu mir herüber und nahm es dann mit
großer Erleichterung auf, als ich ihn nickend entließ.
Gütiger Himmel, ich hatte einen unglaublichen Appetit! Ich hätte den Braten wohl auch
mit den bloßen Fingern gegessen, aber das hätte mir zweifellos später von Vushtaar einen
Rüffel eingebracht, und wahrscheinlich hätte ich dann die Anzughandschuhe auch selbst von
Hand wieder saubermachen können. Das wollte ich dann doch nicht. Also benutzte ich die et-
was unhandlichen Bratengabeln und ließ es mir schmecken.
Also, die Shassluur mochten zwar keine Demokraten sein, sagte ich mir eine halbe Stunde
später, und vielleicht waren sie auch nicht sonderlich kompatibel mit unserer Rasse, was das
reibungslose Zusammenleben anging, aber als Köche hatten sie wirklich schwer was drauf.
Doch, sie konnten wahrhaftig äußerst schmackhafte Speisen bereiten, sowohl optisch als auch
von den aromatischen Kompositionen. Shassluur-Köche wären eine Bereicherung jedes Flot-
tenschiffes gewesen, davon ging ich aus.
Insgesamt war die Essensmenge vielleicht ein bisschen wenig – nun, junge, hungrige und
vor allen Dingen durch eine heißblütige Liebesnacht vor kurzem verausgabte Allis legen halt
einen gesunden Appetit an den Tag, nicht wahr? – , aber alles in allem wirklich äußerst
schmackhaft. Dieser leckere, nur sehr leicht alkoholische Fruchtwein, der mit serviert worden
12
war, löschte meinen Durst zur Gänze, und wenig später trat ich dann wieder an die Balustra-
de, um den Geschehnissen unten in der Halle zu folgen.
Vierzehn Minuten später ging es los.
13.
Der erste, der etwas mitbekam von dem, was über uns hereinbrach, war natürlich der tech-
nikversessene Lescrandar.
Das hing wohl damit zusammen, reimte ich mir später zurecht, dass er auf der Suche nach
Möglichkeiten war, die Sperrkreise zu umgehen und zum Landeboot durchzukommen. Für
ihn war das mehr ein Spiel, ein Zeitvertreib und zugleich eine Übungsaufgabe. Mir rettete sei-
ne Neugierde das Leben, aber das konnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen.
Mit der Relaiskette, über die uns Nachrichten von Relevanz erreichten, war das eine kom-
plizierte Sache. Sie war hierarchisch gestaffelt, für Außenstehende blieben die Details selbst-
verständlich geheim. Im Grunde genommen sah die Relaiskette folgendermaßen aus:
Üblicherweise hielt der Bote Klivies Kleines im Konvoi alle neuralgischen Kommunikati-
onsfäden in der Hand, und nichts, rein gar nichts geschah, ohne dass er informiert worden
wäre. Befand sich Kleines jedoch wie jetzt im Einsatz, dann liefen nicht wie sonst üblich alle
Informationsfäden bei ihm zusammen. Schließlich war er dann ja anderweitig beschäftigt.
Außerdem hätte das unsere Reaktionsfähigkeit als Flottenverband massiv beeinträchtigt, die
reguläre Relaiskette einzuhalten.
Die Kommando-KI an Bord der SULVAASCH übernahm in einem solchen Fall seine Po-
sition 1 (sonst war sie automatisch Position 2) und hielt den Oberbefehl und die Systemkon-
trolle aufrecht. Die 24 Begleitkreuzer der SULVAASCH waren rings um Tuwihry ausge-
schwärmt und bildeten einen Sicherheitskordon in zwei Ringen, einmal direkt um den Plane-
ten, dann auf halber Höhe des Systems. Von dort würden sie schnell ins Innere des Systems
vorstoßen können, um eventuelle Angreifer abzufangen. Und wenn das noch nicht genügte,
gab es auch noch die Trossschiffe in den umliegenden Sonnensystemen, in denen bereits
Stützpunkte und Nachschubbasen angelegt worden waren. Im Grunde genommen sahen die
Shassluur in diesem System nur den kleinsten Teil des Trosses, aber das hatte ihnen natürlich
niemand erzählt, sonst hätten nationalistische Kreise vielleicht geargwöhnt, wir planten eine
Invasion!
Im Namen des Lichts! Eine Invasion auf dieser Provinzwelt! So ein Unsinn!
Egal … nun, die Relaiskette, um hierbei zu bleiben, empfing sowohl Daten von den Schif-
fen als auch von weiteren ausgeschleusten Spähsonden, die unter Tarnschilden lagen und für
die Shassluur-Raumfahrer nicht anzumessen waren. Sie sprenkelten das gesamte System und
erweiterten den Ortungsradius der Bordinstrumente des Konvois sehr wesentlich. Das setzte
unsere Reaktionsträgheit herab und minimierte das Überraschungsmoment. Insgesamt befan-
den sich so mehr als 22000 Raumfahrer allein hier im Tuwihry-System während Kleines´ Bo-
denmission in permanenter Alarmbereitschaft unter Alarmstufe II.
Die Kommando-KI des Flaggschiffs hielt nun ihrerseits den direkten Kontakt zum Lan-
dungsboot, und von dort aus gingen die Impulse über gedeckte und codierte Kanäle direkt an
Vushtaar, der in diesem Moment tatsächlich der wichtigste Alli des Kommandos war. Er
stand so dicht bei Kleines, dass er sofort im Notfall den Abbruch des Zeremoniells einleiten
konnte.
Sollte Vushtaar wider Erwarten aus irgendwelchen Gründen ausfallen, wurden die Impulse
an Tholnoy übertragen oder, in dem noch unwahrscheinlicheren Fall eines weiteren Ausfalls,
an Lescrandar, der mit Abstand der technisch versierteste Alli des Trupps war. Ich selbst, um
das noch zu erwähnen, stand ganz am Ende der Relaiskette, was ja auch logisch war – als
jüngster Teilnehmer und derjenige mit den geringsten Befugnissen wäre alles andere einfach
unsinnig gewesen. Niemand konnte sich eine Situation vorstellen, in der gleichsam „blitzar-
13
tig“ das gesamte Kontingent an Wach- und Diplomaten-Allis um Kleines herum ausgeschaltet
wurde und ich als einziger aktionsfähig blieb. Für solche Fälle gab es einfach keinen Plan.
Das zeitigte aber den entscheidenden Nachteil, dass ich im Normalfall erst viel zu spät mit-
bekommen hätte, was eigentlich geschah.
Wie gesagt, wenn Lescrandar es nicht vorher bemerkt hätte.
Er stand eine Etage über mir, auf der gegenüberliegenden Seite des Audienzsaales, dicht an
der Glaswand des Raumes, und es war einfach ein Zufall, dass ich ausgerechnet in dem Mo-
ment zu ihm hochschaute, als alles anfing.
Ich sah, wie er jäh zusammenfuhr und beide Hände gegen den Helm presste.
Automatisch zischte ich meiner KI zu: „Kontakt zu Lescrandar!“
Es knackte, und ehe ich mich besann, sprach ich auch schon: „Les! Was ist los?“
„…vorbei … Scheiße, alles vorbei …“
„Was? WAS?“ Einen langen Moment war ich so verdattert, dass ich außerstande war, ir-
gendetwas Gescheites beizusteuern.
Ein hoher Fiepton auf Frequenz 2 unterbrach das Gespräch. Ich hörte plötzlich Vushtaars
Stimme, die auf eine Weise … angespannt … klang, wie ich das noch nie gehört hatte. Und
dann entgleiste die gesamte Wirklichkeit und rutschte in eine Art von bizarrer Gegenwelt ab.
Vushtaars Meldung war knapp, absolut humorlos: „An alle Missionsteilnehmer! Alarmstu-
fe 1. Alarmstufe 1! Wir evakuieren! Mission abbrechen! Dies ist der Ernstfall!“
Ich stand an der Balustrade und konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Ich … also, ich stand wirklich einfach nur da und versuchte zu verstehen, was ich da eben
gerade gehört hatte. Der Widerspruch zur Realität war so vollständig, dass ich fest überzeugt
war, das eben könne doch nur eine Art von Halluzination gewesen sein. Eine akustische Hal-
luzination oder etwas in dieser Art.
Die Sonne schien weiterhin strahlend durch die hohen Bogenfenster. Die prächtig kostü-
mierten Shassluur-Diplomaten in ihren farbenfrohen Ornaten redeten weiterhin mit Kleines
und, und der Moment, in dem der Herzog von Voy-Xenn mit ihm direkt sprechen würde,
stand zweifelsohne unmittelbar bevor … alles sah aus wie bisher auch.
In dem Augenblick, in dem ich das dachte, veränderte sich das.
Kleines verstummte protokollwidrig mitten in der Rede und sah auf einmal Vushtaar an.
Dann Tholnoy. Beide waren aufgestanden und zu ihm hingegangen, was erst recht einen ein-
deutigen Verstoß gegen das Protokoll darstellte. Soviel hatte ich schon begriffen.
Die Shassluur-Redner kamen sichtlich aus dem Konzept, ebenso wie ich. Und ich versuch-
te noch immer zu verstehen, was hier eigentlich vorging. Kleines konnte doch nicht einfach
die Verhandlungen sabotieren!
Das … also … na ja … das GING doch einfach nicht!
Es knackte in der Leitung und ließ mich richtig zusammenfahren, so überraschend kam
das. „Cosh! Hast du nicht gehört? Beweg endlich deinen dicken Hintern!“
Ashbaar.
Ich stand immer noch wie erstarrt da. Zweifellos hatte ich mich verhört und …
„COSHTUUR!“ Die Lautsprecher meines Helmes klirrten regelrecht unter der Stärke von
Ashbaars barschem Ruf. Sicherlich musste man das unten im Foyer des Saales auch hören.
Machte sich Ashbaar eigentlich keine Gedanken darum, was die Shassluur rings um ihn
davon halten …?
„Anzugträger, ich messe extrem nahe Hyperraumtransite an … wenn ich den Daten trauen
darf, kommen die Flugkörper in der obersten Atmosphärenschicht von Tuwihry heraus …“
Das erst war der Augenblick, in dem ich begriff, was geschah.
Und es sofort leugnete. Ich wollte das nicht glauben.
Nein.
Nein.
Nein, das konnte … das durfte nicht … das KONNTE NICHT SEIN!
14
Meine Anspannung und völlige Versteinerung löste sich in dem Moment, in dem Ashbaar
wieder meinen Namen rief, diesmal ziemlich ungeniert laut – ich wusste nicht, zum wieviel-
ten Male.
Natürlich war es da längst zu spät.
Wenn die Troohns angreifen, darf man keinerlei Schocksekunde empfinden, das habe ich
in den Lehrgängen so oft gehört. Aber es ist eine Sache, so etwas in Lehrgängen zu hören
oder an eigenem Leibe zu erleben, wie es ist, wenn man auf diese Warnung nicht hört
oder hören kann.
Ich empfehle diese Erfahrung niemandem.
Die meisten, die sie machen, sind im nächsten Moment tot.
Draußen über der dunstigen Kulisse von Noolidan blitzte es.
Ich blinzelte ganz verwirrt zu den Fenstern und wartete darauf, dass sich dieses komische
Phänomen wiederholte. War das ein Blitz gewesen? Ein violetter Blitz? Davon hatte ich noch
nie gehö…
Der Stoß, der mich von den Füßen riss und wuchtig nach hinten mehrere Taay weit gegen
eine der Säulen warf, kam so überraschend, dass ich halb betäubt liegenblieb. Ein Dröhnen
und Krachen, untermalt von einem geradezu infernalischen Getöse zerberstenden Glases
brach rings um mich aus, dann stürzte ein mächtiger roter Vorhang direkt auf mich hinab und
begrub mich unter sich. Der Helm schloss sich automatisch, die autarke Luftversorgung
sprang an, mein Mediset injizierte erneut ein Antistressmittel und eine neue Dosis meines Sta-
bilisationsmedikaments. Die Wirkung beider Mittel machte mich für viele Sekunden benom-
men.
Und dann war ich erst einmal weggetreten.
14.
„Ich lasse ihn nicht alleine! Nein, ich lasse ihn nicht alleine!“
Meine Mutter klammerte sich an mir fest in einer besitzergreifenden Weise, die ich einfach
närrisch fand. Aus dem Alter, wo sie mich auf den Armen tragen musste, war ich doch nun
wirklich längst heraus. Jeder kennt das – junge Allis reifen schnell und entwachsen der Mut-
terbrust, insbesondere jene, die an die Mittelbrust gesetzt werden wie ich. Solche Allis wollen
dann, erfüllt von unbändigem Bewegungsdrang, nur den ganzen Tag lang herumtoben, spie-
len, balgen … und so weiter.
So ist es eben mit allen Kindern, Mädchen wie Jungen. Wir Allis sind ein lebhaftes, heiß-
blütiges Volk von Kämpfern und Draufgängern, immerzu in Bewegung, stolz und leiden-
schaftlich. Einfach lebhaft.
Nun, mit mir verhielt es sich nicht ganz so.
Das war der Grund, warum ich mit fünf Jahren immer noch nicht mit den anderen Kindern
draußen herumtoben durfte. Ich sackte zu oft zusammen. Litt an Schwächeanfällen.
Meine Mutter hatte lange Zeit versucht, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, das sei nur
eine vorübergehende Wachstumsschwäche. Zwischen zwei und vier Jahren, erfuhr ich später,
sei ich sehr schnell gewachsen, und manche Ärzte meinten, Allis, die solche jähen Wachs-
tumsschübe durchlebten, neigten später zu Kreislaufinstabilitäten. Möglich mochte das sein,
aber die Wahrheit über meinen Stoffwechsel sah ein wenig anders aus.
Weil meine Schwächeanfälle nicht aufhörten und meine Mutter immer mehr beunruhigten,
hatte sie schließlich zugestimmt, das Medozentrum des Habitats Sharweshtin zu besuchen, wo
ich aufwuchs.
Der Arzt, ein grauschuppiger Riese in meinen Augen, wirkte wie ein uraltes Reptil, das aus
der Vorzeit der Welt übriggeblieben war. Seine Augen, schwefelgelb, durchsetzt mit grünli-
chen und goldenen Einsprengseln, waren imstande, mich auf meinen kleinen Sitz zu bannen,
und ich konnte nicht mal mit dem Schuppenschwanz zucken, so viel Angst hatte ich.
15
Und dann nahm meine Mutter mich hoch und drückte mich an sich, als wäre ich ein klei –
nes Baby! Das war wirklich nicht in Ordnung, und natürlich sträubte ich mich.
„Sie können nicht die ganzen Stoffwechseltestreihen bei Coshtuur bleiben“, beharrte der
Arzt, und sein faltiger, dunkelfleckiger Hals spannte sich an, als ginge meine Mutter ihm ge-
rade mächtig auf die Nerven. Vermutlich tat sie das auch. „Diese Testreihen dauern TAGE,
verstehen Sie? Er wird gut im Medozentrum versorgt werden, und Sie brauchen keine Sorge
zu empfinden. Ihm geschieht nichts.“
Erst nach dieser eindringlichen Versicherung begann sich meine bewunderungswürdige
Mutter wieder etwas normaler zu verhalten und mich auf meinen Kinderstuhl zurück zu set-
zen.
„Sie versprechen mir das nach dem Oki-Stanwer-Gesetz?“, erkundigte sie sich, noch im-
mer etwas argwöhnisch. Mir kam das damals lächerlich vor. Er war schließlich ein ARZT,
nicht wahr? Und alle Ärzte, zumal solche in Armeediensten – alle Ärzte auf Habitaten wie
Sharweshtin standen in Armeediensten! – hielten sich an das Oki-Stanwer-Gesetz.
„Selbstverständlich, Bürgerin. Sie können mir vollkommen vertrauen.“
Heute weiß ich, warum meine Mutter sich solche Sorgen machte. Heute weiß ich, dass vie-
le Allikinder, die unheilbare Gendefekte und Stoffwechselstörungen haben, diese Kliniken nie
wieder verlassen. Jedenfalls nicht lebend. Und die Eltern werden daraufhin einem geneti-
schen Screening unterzogen, um zu gewährleisten, dass solche Defekte sich nicht in weiteren
Nachkommen perpetuieren können. Im Extremfall kommt es zu stillschweigender Sterilisation
und einem Eintrag in die Personalakten.
Heute weiß ich das. Und ich begreife auch, dass meine Mutter damals einfach Angst um
mein Leben hatte. Weil sie meine Mutter war und mich liebte. Sie ist und bleibt eine wunder-
bare Mutter, die beste der Welt!
Wäre ich damals anders eingestuft und euthanasiert worden, wäre ich niemals nach Tu-
wihry gelangt und hätte auch nicht jene entscheidende Rolle im Kampf gegen die Troohns ge-
spielt, die mir vorherbestimmt war.
Aber das alles begriff ich erst sehr viel später.
In jenem Moment, überwältigt durch den Schock des Angriffs der Troohns auf den Plane-
ten Tuwihry, flüchtete ich eine ungewisse Zeitspanne lang in die selige Vergangenheit, in die
mütterliche Geborgenheit.
Aber als ich wieder zu mir kam, holte mich der Schrecken rasch ein.
15.
Wie durch einen dichten Nebel hörte ich, als meine konfusen Gedanken sich ein wenig be-
ruhigten, von ferne fortwährendes Getöse, überall ringsum. Schreie in der Finsternis. Irgend-
etwas stürzte ein. Schritte klangen auf. Und Bebenstöße kamen und gingen wie planetare We-
hen. Immer weitere Bebenstöße.
Ich merkte, dass sich die Unterlage, auf der ich lag, etwas verschob und neigte, und meine
Arme ruderten umher, um Halt zu finden. Allerdings hatte ich mich inzwischen völlig in den
Falten dieses mächtigen Vorhanges verheddert, und der Versuch misslang. Ich rutschte ein
Stück weit über die Empore und blieb an etwas Stabilem hängen. Das Rutschen hörte auf.
Ich fluchte halblaut vor mich hin und versuchte, mich mühsam durch die Stoffbahnen zu
kämpfen, aber die Falten waren wirklich unmöglich verschlungen, so dass ich mich nur noch
mehr verfing. Dazu kam, dass meine Panik angesichts der drastischen Veränderung der Um-
gebung notwendig immer mehr zunahm.
„Was ist los? Was ist denn passiert?“, schrie ich über meine Funkverbindung, aber da
herrschte ein solches Tohuwabohu von Schreien und Geräuschen, dass meiner nicht weiter
auffiel und erst recht keine Antwort kam.
16
Verzweifelt wandte ich mich an die einzige Institution, die mir verblieb, während ich mit
beiden Armen darum kämpfte, mich ans Licht zu bewegen. Dieser verdammte Vorhang muss-
te doch irgendwo ein Ende haben …! „KI! WAS IST PASSIERT?“
Die KI funktionierte wenigstens noch, auch wenn sie seltsam schwach klang, wie aus gro-
ßer Ferne. War etwas mit meinem Gehör passiert …? „Mangelnde Daten, Träger Coshtuur.
Die Hochrechnungen gehen von einem Angriff aus …“
Meine nächste Frage war kaum weniger hysterisch, und sie kam schon, bevor die KI aus-
geredet hatte. „Von wem? Wer ist angegriffen worden? Kleines? Der Palast? Ich verstehe
nicht …!“
„Es sieht so aus, als sei der Planet Tuwihry Ziel einer extraplanetaren Attacke …“
„Nun halt mal deinen Rand, KI“, schaltete sich endlich eine andere Stimme in die Kommu-
nikation ein – ein deutlich gestresster Ashbaar. Da er befehlsmäßig übergeordnet war, ge-
horchte die KI natürlich unverzüglich. Ashbaar sprach mich direkt an: „Cosh – behalt die Ner-
ven, du wirst sie brauchen. Das Wichtigste zuerst: Wo steckst du? Ich kann dich visuell nicht
erkennen.“
„Ich bin … also … hier oben … auf der Empore … glaube ich …“, stammelte ich wenig glor-
reich. Ich konnte mich nicht vernünftig konzentrieren, weil ich noch immer versuchte, mich
aus diesen verfluchten roten Stoffbahnen zu wickeln. Schließlich gab ich es auf, spannte ein-
fach meine Muskeln an und riss die verdammten Dinger auseinander. Dennoch dauerte es fast
zwei Minuten, bis ich mich herausgewühlt hatte.
Währenddessen machte mir Ashbaar klar, dass dramatische Ereignisse stattgefunden hatten
und noch immer stattfanden.
„Bleib erst mal auf deinem Posten. Wir müssen hier erst mal für Ordnung sorgen“, sagte er
befehlsgewohnt. „Mit WIR meine ich die erfahrenen Delegationsteilnehmer. Du hältst dich da
völlig raus, verstanden? Und dann ziehen wir uns so schnell wie möglich zurück auf den
Raumhafen.“
„Aber die Etikette …“ Ich war noch nicht ganz draußen aus den Bahnen und hatte nach wie
vor nicht richtig realisiert, was eigentlich passierte.
„Scheiß auf die Etikette, Kleiner“, fuhr mir Ashbaar unflätig in die Rede, was mir völlig
die Sprache verschlug. So hatte ich ihn noch nie reden hören, und er schüchterte mich gehörig
damit ein. „Hör mir genau zu: wenn du überleben willst, dann tust du genau das, was ich
sage, verstanden?“
„Ja, aber …“
„KEIN ABER! HAST DU MICH VERSTANDEN?“ Er brüllte mich regelrecht an, und ver-
dammt, das war jetzt wirklich sehr wirksam. Ich wurde ganz kleinlaut. Stimmte allem zu. Ich
kam mir vor wie damals, als ich fünf war und im Krankenhaus mit den Ärzten allein bleiben
musste. Klein, unwichtig. Verstört. Und genau das war ich jetzt auch.
„Du bleibst oben“, konkretisierte Ashbaar ultimativ. „Und wenn sich, was ich nicht hoffen
möchte, die Feinde zeigen, bevor wir ein bisschen Ruhe in die Sache gebracht haben, dann
haben wir ein verdammtes Problem. Aber wir lösen das gemeinsam, verstanden?“
„Ja … ja … natürlich …“
In dem Augenblick kam ich endlich frei und sah das helle Licht des Tages wieder. Oder
das, was normalerweise so genannt worden wäre. Leider gab es das helle Licht des Tages so
nicht mehr.
Ich blinzelte völlig fassungslos in einen Alptraum.
Und das war von nun an meine Welt.
16.
Ungläubig schaute ich mich um.
Die Empore, auf der ich eben noch so genervt und frustriert gesessen hatte, gelangweilt
von dem zeremoniellen Getue der Shassluur, diese Empore war binnen Sekunden gründlich
17
verwandelt worden. Zunächst einmal war sie schief und besaß eine Neigung von etwa fünf
oder sechs Grad nach unten. Deshalb war ich, zunächst zurückgeworfen, erst mit dem breiten
Rücken gegen die Säulen gekracht (der Schmerz kam mir erst jetzt langsam zu Bewusstsein,
aber ich biss die Kiefer aufeinander und ignorierte ihn), um dann, eingewickelt in den herab-
gestürzten Vorhang, nach vorne zu rutschen.
Die Bank, auf der ich gesessen hatte, war jener Halt gewesen, der mein Weiterschlittern
verhinderte. Die zweite Bank, also die mit dem Mittagessensbuffet, lag zertrümmert am Bo-
den, zwischen den zerfetzten Stoffbahnen, die von meinem Befreiungskampf zeugten. Aber
für all das hatte ich kaum einen Blick übrig, das erfasste ich sozusagen im Vorbeiflug.
Viel schlimmer als das angerichtete Chaos und das um mich herum verstreute und verbeul-
te Geschirr waren die Glastrümmer, die überall lagen. Lagen oder steckten. Gleich gläsernen
Speeren hatten einige die Balustrade zerschlagen, und Steinfragmente waren von hier aus in
die Tiefe gestürzt. Andere ragten überall aus Polstern und hölzernen Wandverkleidungen.
Mein Körper begann zu zittern, als ich zu begreifen begann, dass mein jäher Sturz mich davor
bewahrt hatte, geradewegs aufgespießt zu werden.
Ich kroch auf allen Vieren atemlos und ganz ungläubig vorsichtig etwas näher an die zer-
borstene Balustrade heran (ich gebe zu, ich traute der Stabilität der Empore nicht mehr so
ganz – sie war nicht ohne Grund abgesackt, und es gab noch immer diese Beben, wenn auch
jetzt in längeren Abständen) und stierte in den Saal hinab.
Aber ich konnte einfach nicht glauben, was ich sah.
Die hohen Fenster, die mich so beeindruckt hatten, existierten nicht mehr. Ein gigantisches
Loch gähnte dort in der Palastfassade, offensichtlich vom Luftdruck einer mächtigen Explosi-
on gerissen. Die Pfeiler zwischen den Fensterpaneelen waren teilweise eingestürzt oder bra-
chen gerade zusammen, die meisten davon leider nach innen. Vom Glas war fast nichts mehr
am Platz – wie auch? Alles war ja geschossartig in den Saal hineingefeuert worden!
Der ganze weite Raum war, soweit ich das überblicken konnte, ein einziges Meer aus im
Licht glühenden Glassplittern, teilweise gar shassluurlangen Glaslanzen, Schutt von den Em-
poren und Logen, Holzresten, Stoffbahnen und Steinresten … ein schier unübersehbares Cha-
os, das durch weitere Einstürze von Logen, Emporen, Säulen und tragenden Saalteilen weiter
verkompliziert wurde. Staubwolken zogen durch den Raum.
Und überall lagen Gestalten.
Shassluur.
Überall.
Gütiges Licht, ich fühlte mich in einen Dokumentarfilm über desaströse Umweltkatastro-
phen auf Planeten versetzt. So sah es hier aus. Aber alles war echt, nichts vorgetäuscht. Diese
Wesen, die zierlichen Shassluur, sie litten wirklich. Ich ertappte mich beim irrsinnigen Gedan-
ken, dass wir sofort das Medoschiff des Konvois herbestellen mussten, um diesen armen Ker-
len zu helfen. Das würde doch sicherlich Pluspunkte bringen und Kleines´ Verhandlungen er-
leichtern …?! Oder?
Die meisten der hochrangigen Shassluur waren durch die regelrechte Explosion der Glas-
front schwer verletzt worden, manche so sehr verstümmelt, dass sich mir schier der Magen
umdrehte. Ich war froh, den Helm weiterhin geschlossen zu halten, um den Gestank nach
Blut, Schweiß und Exkrementen nicht riechen zu müssen. Über die Außenlautsprecher hörte
ich einen Chor von jammernden Schmerzenslauten, wie ich ihn noch nie vernommen hatte. Ir-
gendwo jaulten seltsam hoch klingende Sirenen. Es hörte sich ein bisschen an wie Kinderge-
jaule und sträubte mir die Rückenschuppen. Ein grässliches Gefühl.
Der Herzog von Voy-Xenn, beobachtete ich von meiner Position aus weiter, wie gelähmt
von dem furchtbaren Anblick, war in seinem Thronsessel offenbar recht gut geschützt gewe-
sen, aber das galt für die Barone nicht. Die fünf ranghohen Shassluur waren, soviel konnte ich
von hier oben mit grauenerfüllten Blicken erkennen, mitsamt ihren Thronen umgerissen und
von den Glastrümmern geradezu zersiebt worden. Sie waren allesamt tot.
Dann fiel mir auf, dass der Herzog sich nicht bewegte.
18
Und dass sein schöner Amtsornat ganz rot war.
‚Oh nein‘, dachte ich wie betäubt.
Ganz offensichtlich, kam mir zu Bewusstsein, war der Herzog von Voy-Xenn in seinem
schönen Sitz von Glastrümmern festgenagelt worden. Die Rückseite des Sitzes musste wie ein
Nadelkissen aussehen. Vermutlich hatte der Regent von Tuwihry gar nicht begriffen, woran er
eigentlich starb.
Um mich von diesen grauenhaften Gedanken etwas abzulenken, hielt ich unwillkürlich
Ausschau nach Kleines. Schließlich war er zum Zeitpunkt dieser Explosion oder was immer
das gewesen sein mochte, auch da unten gewesen und … oh, gütiges Licht – da! Da war er!
Er hatte natürlich den Energieschirm aktiviert. Und war unverletzt. ..
Und wo waren die anderen?
Die anderen! Wo waren sie?
Vushtaar …? Tholnoy? Roshtum, Mharrid und Shrowaar? Wo waren sie …? Rein reflexiv
musste ich wohl nach ihnen gerufen haben. Statt ihrer meldete sich Ashbaar von neuem.
„Vergiss es, Kleiner“, meinte er mit rostig klingender Stimme. Sie klang auf einmal sehr
erschöpft. „Die Befehlskette ist zusammengebrochen.“
„Aber … aber … aber …“
Ich bekam irgendwie kein vernünftiges anderes Wort heraus. Als wären meine Gedanken
in einer Endlosschleife gefangen. Ich konnte diese grauenhaft verwandelte Welt nicht als
Wirklichkeit akzeptieren. Das hätte bedeutet, diesen Wahnsinn anzunehmen und selbst ver-
rückt zu werden. Das war unmöglich. Die Welt KONNTE sich nicht so schnell verändern, das
war einfach nicht in Ordnung!
„Glaub ihm, Coshtuur“, sagte eine samtweiche, energiegeladene Stimme, die voller Trau-
er steckte. Kleines. „Er spricht die Wahrheit. Die Mission ist beendet.“
Ich starrte zu ihm hinunter … und dann sah ich durch die Glasscheiben hinaus … in die
grauenhafte, unbegreifliche Welt dahinter. Mein Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei
des Unglaubens. Jetzt erst merkte ich, dass sich die grässliche Wandlung nicht nur auf diesen
Saal beschränkte – sie ging draußen weiter!
Das konnte doch nicht Realität sein. Das war unmöglich.
Der gleißende Sonnenschein war verschwunden. Die Welt außerhalb des Palastes war statt-
dessen in einen grauen, höchstwahrscheinlich stinkenden Dunst gehüllt, und in diesem Dunst
zuckten violette Blitze auf, paarweise. Immer paarweise. Feuerbälle flammten draußen auf,
ohne dass zu erkennen wäre, was da explodierte. Aber DASS etwas explodierte, war völlig
unbestreitbar.
Ich hatte genug Handlungsszenarien von Kriegen durchgemacht auf der Akademie und in
den Seminaren in Taktik, um das zu erkennen.
Diesmal war es kein Spiel mehr.
Wieder ruckten Erschütterungen durch den Boden, zwangen mich, zur Bank zurückzuklet-
tern. Überall brachen weitere Teile des durch die erste starke Bebenwelle mürbe gewordenen
Deckenbereichs zusammen, prasselten herunter und erschlugen stöhnende, verletzte Shasslu-
ur. Der Alptraum verstärkte sich immer weiter.
Irgendwo heulten nach wie vor Sirenen, aber gegen das fortwährende Gedonner von drau-
ßen kamen sie beim besten Willen nicht an.
Die Türen unten zum Saal öffneten sich, ich konnte es bis hier oben hören. Und ich ver-
nahm auch das ekelhafte Knattern, mit dem sich allische Paralysatoren entluden.
„Ashbaar?“, kreischte ich entsetzt, voller Panik, weil ich glaubte, jetzt ginge es uns an den
Kragen. Mehr als alles andere fürchtete ich, in diesem Inferno allein gelassen zu werden. Ich
war völlig orientierungslos! „Was passiert jetzt?“
„Kleiner Idiot! Was denkst du wohl, was diese Silaari denken?“, schrie er zurück. „Sie
denken an einen blödsinnigen … Staatsstreich! Diese Schwachköpfe!“
„Wir sollten froh sein, dass sie uns nicht verantwortlich für all das machen“, bemerkte
Kleines mit einer schon fast unheimlichen, melancholischen Ruhe. Seine Stimme ließ mir kal-
19
te Schauer über den Rücken laufen. „Das sind wir nämlich. Wir haben die Troohns hierher
geholt, und ich bin das Ziel.“
„Das lassen wir nicht zu. Sie werden dich nicht bekommen, Kleines“, sagte ich ganz auto-
matisch, ohne zu begreifen, was ich da erzählte. Eigentlich repetierte ich wohl nur den obers-
ten Grundsatz des Boten-Schutzprogramms: „Es ist die Pflicht jedes Angehörigen des Tros-
ses, den Boten Klivies Kleines notfalls mit seinem Leben gegen alle Gefahren zu verteidi-
gen und zu verhindern, dass er in Gefangenschaft des Feindes gerät.“
Hehre Worte.
In diesem Moment waren sie völlig nutzlos.
Ich kam mir wie ein Traumwandler vor und hoffte, dass dieser Alptraum bald vorbei war.
Das konnte einfach nicht die Wirklichkeit sein, das war völlig unmöglich. Sicherlich hatte ich
einfach zuviel gegessen … von zuviel Essen bekam man bekanntlich Magendrücken und,
wenn man einschlief, dann düstere Träume …
„Kontakt mit dem Landeboot abgerissen“, vermeldete die KI in dem Moment nüchtern
und versetzte mir den nächsten Schock.
„Nein! Das können sie nicht machen!“, schrie einer der Allis unseres Kommandos. Ich
konnte seine Stimme nicht erkennen, weil sie so verzerrt war. Er hatte ganz offensichtlich die
Nachricht ebenfalls bekommen. Vermutlich waren die KI auf offenen Kommunikationsver-
bund gegangen, wie es in Kampfsituationen vorgeschrieben war. Waren wir in einer Kampfsi-
tuation? War das denn nicht nur ein böser Traum …?
„Sie schneiden uns den Rückweg ab …!“, jaulte der Kamerad weiter.
„Das tun sie immer.“
Kleines.
Ihn schien das alles nicht zu überraschen.
Sein goldener Schutzschirm hüllte ihn nach wie vor ein, und von hier oben wirkte er wie
ein kostbares Kleinod mitten in dem Chaos aus Trümmern, Leichen und Schwerverletzten,
unter denen auch seine allische Begleiteskorte sein musste (den Gedanken verdrängte ich
gleich wieder, ich konnte mir das nicht vorstellen!). Und es sah fast so aus, als sei er jener
Schatz, den der gegnerische Spieler zu rauben suchte, der dieses Chaos angerichtet hatte.
‚Das ist kein Spiel‘, versuchte ich mir verzweifelt klarzumachen. ‚Dies ist die Realität!
Wenn du hier stirbst, Cosh, gibt es keinen zweiten Versuch auf dem nächsten, niedrigeren Le-
vel! Komm endlich zu dir!‘
Ich schaffte es nicht.
Die Welt war zu brüsk, zu brutal verwandelt worden, als dass ich diese neuen Bilder für
die Wirklichkeit hätte halten können. Der Wunsch, einfach die Augen zu schließen, abzuwar-
ten und sie dann wieder aufzumachen, wenn mich Thashii neckend an die Schulter fasste, war
übermächtig.
Nur würde sie das bei einer Leiche gewiss nicht tun!
Und die war ich, wenn ich nicht aufpasste!
Draußen im Dunst tauchten rotglühende Funken auf. Jedenfalls sahen sie so aus … aber als
ich genauer hinschaute, entdeckte ich mit Schrecken, dass es sich offensichtlich um so etwas
wie Landeboote oder Einmann-Schiffe handelte. Etwas in der Art. Seltsame, kantige Gefähr-
te, für eine einzige Person gemacht, aus schwarzem Metall gefertigt. Sie landeten direkt im
Areal des Palastes. Der Luftlinie nach nicht mal zwei Taared entfernt, eher noch näher.
Die KI nahm einen Abgleich vor und vermeldete sofort einen Treffer. Das konnte eigent-
lich nicht überraschen.
„Xesroy-Kampfboote. Wir haben es mit troohnschen Einsatzkräften zu tun. Kampf ist aus-
sichtslos bei der gegenwärtigen Bewaffnung. Ich empfehle taktischen Rückzug und Anforde-
rung von stärkeren Entsatztruppen.“
„Niemals!“, schrie Ashbaar wütend, dessen KI ihm wohl gerade genau dasselbe erzählt ha-
ben musste. Seine Stimme konnte ich sogar identifizieren, wenn sie wutverzerrt war. „Sie
wollen Kleines! Sie werden ihn nicht bekommen!“
20
Das war das, was ich eben auch schon gedacht und ausgesprochen hatte. Kleines hatte sich
da nicht mal die Mühe gemacht, sie zu kommentieren. Diesmal tat er es. Aber anders, als ich
hoffte.
„Ich denke, Ashbaar, das ist ein dummer Gedanke, den du da gerade hegst. Du kannst die
Dinge nicht mehr aufhalten“, korrigierte der Bote traurig, und seine ruhige, melancholische
Stimme schnitt mir ins Herz. Auch dies wollte ich nicht glauben. „Ich befehle dir, zu gehen
und dich in den Wäldern solange zu verstecken, bis Hilfe kommt.“
Kleines schickte uns weg? Er opferte sich für uns?
Gütiges Licht – er war der BOTE! Er war ein UNSTERBLICHER! Die wichtigste Person
in unserem Tross … das konnte doch nicht sein Ernst sein!
„Nein! Ich verweigere den Befehl! Das kommt überhaupt nicht in Frage!“, widersprach
Ashbaar zornig und verzweifelt zugleich, und ich dachte ganz genauso. „Kleines! Bitte … bit-
te, komm mit uns, wir müssen hier verschwinden, wir können diesen Raum nicht
verteidigen … nicht gegen die Shassluur-Truppen UND die Diener der Troohns … das ist un-
möglich!“
Der Bote war nicht zornig, eher vertiefte sich der melancholische, verständnisvolle Ton
seiner Stimme noch und machte die Worte vollends unerträglich. „Ich weiß. Und deshalb gilt
mein Befehl. Meine Gefangennahme kann nicht mehr verhindert werden. Aber ihr müsst die
Information weitergeben …“
Ashbaar unterbrach ihn kurz entschlossen mit einem Rundruf. Vorher hätte er sich das nie-
mals angemaßt. Als die Welt noch normal war. Aber so verhielt es sich ganz offenkundig
nicht mehr. „An alle überlebenden Mitglieder der diplomatischen Eskorte: der Befehl ergeht
von mir an alle – wir evakuieren den Boten Klivies Kleines und bringen ihn vor den Xesroy
in Sicherheit. Alle sammeln sich hier unten bei mir!“
Ich lag auf dem Bauch zwischen dem staubigen Schutt auf der Empore, stierte durch die
zerborstenen Balustradenpfeiler hinab und konnte das alles einfach nicht glauben. Das war
unmöglich. Das durfte hier nicht passieren … warum konnte ich nicht aufwachen? Warum
musste ich das erleben? Was sollte das alles …?
Niemand war da, der mir Ratschläge erteilte, Erklärungen abgab. Selbst Ashbaar musste
jetzt an andere Dinge denken als daran, mir Schnösel von Jung-Diplomaten zu helfen. Ich
blieb hilfloser Gefangener meiner ratlosen, halb hysterischen Gedanken.
Ich sah, wie Kleines´ Schwebesessel, umgeben von der fahlweiß bis golden schimmernden
Energieaura in all den Trümmern und zwischen den Leichen und jammernden Verwundeten
(sofern sie nicht inzwischen aufgrund ihrer Verletzungen und Schmerzen bewusstlos gewor-
den waren) unverdrossen verharrte … und langsam, ganz langsam begann ich zu verstehen,
dass dies alles irgendwie … kein … kein Alptraum war.
Sondern Realität.
Blutige Realität.
Und wenn ich nicht irgendetwas tat, irgendetwas, dann würde ich hier sterben.
Heute.
Gleich.
17.
Dennoch sah ich mich auch weiterhin außerstande, irgendeinen ersten Schritt zu tun, um
beispielsweise Ashbaars Kommando zu gehorchen. Ich konnte mich nicht mal auf die Beine
kämpfen. Vermutlich lag es allein an psychischen Umständen, dass ich mich überhaupt nicht
rühren konnte. Verletzt war ich schließlich nicht.
Hinzu kam das sichere Grauen, das mich in dem weiten Umgang erwarten musste, viel-
leicht auch auf der Treppe nach unten …, all die verstümmelten oder toten Shassluur, die dort
liegen mussten. Instinktiv fühlte ich mich diesem Anblick nicht gewachsen. Nicht im Mindes-
ten.
21
Gütiges Licht, ich war Diplomatenaspirant! Das war mein erster Einsatz hier draußen!
Ich … ich konnte das nicht tun, ich war meinen Kameraden absolut keine Hilfe. Und erst
recht kein … kein … hartgesottener Soldat. Ich besaß keinerlei Kampferfahrung und befand
mich jetzt mitten in einem Krieg!
Der Gedanke schockierte mich nach wie vor. Ich befand mich in einem Krieg, tatsächlich.
Etwa so musste ein Alli sich fühlen, der am Morgen nach einem Erdbeben aufwachte und
feststellte, dass eine ganze Wand seines Schlafzimmers fehlte. Was würde er tun? Zur Kennt-
nis nehmen: „Ja, also, eine Wand ist offenbar verschwunden? Schöne neue Aussicht.“? Und
dann drehte er sich womöglich wieder um und schlief weiter?
So etwas gab es doch wirklich nur in schlechten Komödien!
Wie, um alles in der Welt, sollte ich jetzt richtig reagieren? Wie reagierte man, wenn die
Wirklichkeit unvermittelt in einen Alptraum entgleiste? In einen blutigen Krieg mit echten
Leichen? In eine Realität, in der man möglicherweise selbst nichts anderes darstellte als erkal-
tendes Leichenfleisch?
Der bloße Gedanke versetzte mich in Hysterie und schier katatonische Starre.
So also klammerte mich am Bodenbelag der Empore fest, als würde mir das irgendwelchen
vernünftigen Halt geben.
Vermutlich handelte ich deshalb so, weil das in meiner Kindheit so festgelegt wurde.
Durch meine Schwächlichkeit und die Schwindelanfälle suchte ich intuitiv immer die Nähe
meiner Mutter, und auch sonst scheute ich nach Möglichkeit jedwedes größere Risiko. Zwar
hatte ich angenommen, derartige Verhaltensmuster längst abgelegt zu haben, spätestens zu
dem Zeitpunkt, da ich dem Tross des Boten Klivies Kleines zugeteilt wurde … doch in dieser
Extremsituation brach alles wieder hervor und verurteilte mich zur Passivität.
Später kam mir zu Bewusstsein, dass diese Situation ähnlich obskure Reaktionsweisen bei
allen meinen Kameraden bewirkte, allerdings auf individuell andere Weise. Beispielsweise
bei Ashbaar – normalerweise war er ein zweifellos sehr dienstbeflissener Mann, der ehern den
Regeln seines Standes treu blieb. Und was tat er in diesem Moment? Ignorierte den Befehl
seines Vorgesetzten und verlangte genau das Gegenteil von seinen Untergebenen! In der Flot-
te nannten wir so etwas Meuterei…
Andere Allis des Kommandos erlitten ebenfalls psychische Kurzschlüsse. Manche verfie-
len in Aktionismus, andere verloren gänzlich ihre Fassung. Es half uns allen nichts.
Ashbaar blieb auch keine Gelegenheit mehr, seine Meuterei umzusetzen.
Tief in den Gedärmen des Gebäudes setzten wieder Schießereien ein, aber Schießereien ei-
ner Art, wie ich sie noch nie vernommen hatte. Eine dumpf klingende Kette von knatternden
Lauten erscholl, auf die es nur im ersten Moment so etwas wie eine Antwort gab. Danach do-
minierte ausschließlich dieser seltsame Ton, gelegentlich unterbrochen und abgelöst von
schwerem Marschgeräusch.
„Xesroy“, sagte irgendwer, der deutlich mehr wusste als ich, plötzlich auf der Missionswel-
le. Seine Stimme zitterte, und ich konnte die Panik darin deutlich spüren. „Gütiger Oki St-
anwer!“
„Schützt den Boten!“ Das war Ashbaar. Er hörte sich schrill an.
Irgendwer murmelte verzweifelt: „Das ist Selbstmord, reiner Selbstmord …“
„Das ist Defätismus! Führt gefälligst mein Kommando aus!“ Ashbaars Stimme klirrte un-
erbittlich, aber auch in ihr war die pure Panik zu erkennen. Dennoch: er handelte wenigstens
wie ein echter Alli – stolz und tapfer bis zum Tode, auch im Angesicht feindlicher Über-
macht. Er fuhr zornig fort: „Ich habe das eben nicht gehört! Ich habe euch einen Befehl gege-
ben! Wenn ihr den Feind seht, eröffnet unverzüglich das Wirkungsfeuer!“
„Ashbaar, du solltest selbst wissen, dass es nutzlos …“
„Kleines, ich bitte dich, auch ruhig zu sein. Wir tun das alles zu deiner Verteidigung!“,
bellte er kurzerhand zurück und brachte den Unsterblichen so zum Schweigen.
Ich lag auf der Empore und hörte von irgendwoher ein eigenartiges Wimmern, wie von ei-
nem kleinen Allikind, das verängstigt ist, weil es seine Mutter aus den Augen verloren hat.
22
Ich verstand beim besten Willen nicht, woher das kam. Es gab hier doch gar keine
Allikinder … woher also nur …?
„Coshtuur, ich glaube, du bist der einzige, der hier noch vernünftig ist. Es tut mir leid,
dass du solche Angst hast“, murmelte Kleines´ Balsamstimme auf einmal allein in meinem
Helm. „Aber leider kann ich an den Tatsachen nichts mehr ändern. Ich kann dich nur bitten,
in Deckung zu bleiben. Jemand muss all das hier dokumentieren. Ich habe eine einzige Bitte
an dich und die KI deines Anzugs: wenn das hier vorbei ist – überlebt und bringt die Daten
in Sicherheit!“
Das Gewimmer ging immer weiter, es schien eher noch schlimmer zu werden.
Irgendwann, vielleicht dann, als das Gefecht begann, wurde mir jählings klar, dass diese
Laute aus meiner eigenen Kehle stammten. Aber ich konnte sie nicht abstellen. Es war einfach
völlig ausgeschlossen. Wahrscheinlich hätte ich mich selbst würgen müssen, um das zu ma-
chen. Es erwies sich als vollkommen unmöglich, irgendetwas zu tun. Ich war nach wie vor
völlig gelähmt, keinem klaren Gedanken mehr zugänglich. Ich bestand nur noch aus kreatürli-
cher Panik und krallte mich in den Teppichstoff der Empore fest, hoffte auf eine wirre Weise,
dies alles würde enden … enden … irgendwie … und hoffentlich schnell …
Und im Helmfunk hörte ich Stimmen. Ferne Stimmen, körperlos, wie in einem Alptraum.
„Ich sehe Schatten im Treppenhaus.“
Lescrandar? War das Lescrandars Stimme …?
„Gut so. Zielt genau!“ Ashbaar.
Dann erreichten die seltsam donnernden Marschgeräusche, die in der mächtigen Eingangs-
halle vor dem Audienzsaal widerhallten, immer wieder von dem furchterregenden, dunklen
Geknatter unterbrochen, das sich so wenig nach Strahlerfeuer anhörte, untermalt von schreck-
lichen Shasssluur-Schreien, die allesamt jäh abbrachen, dann also … erreichten sie den Trep-
penabsatz vor dem Audienzsaal.
„Sichtkontakt …!“
„Jetzt!“
Ein ohrenbetäubender Lärm brach los, das wohlbekannte, obgleich immer ekelhafte Knis-
tern und Zischen hochenergetischer Kampfstrahlen unserer Bewaffnung erklang, dazu dieses
schreckliche Geknatter der feindlichen Waffen. Unerträglich laute Explosionen, unerträglich
nah. Das ganze Gebäude erbebte, Balustraden stürzten in sich zusammen, hölzerne Logen, die
durch die Erschütterungen schon gelockert waren, rissen aus ihren Verankerungen und stürz-
ten tosend in die Tiefe, wo sie mit einem endgültig klingenden Krachen aufschlugen, Die Ver-
wundeten jammerten lauter, aus der Kuppel des Saales prasselten weitere losgelöste Trümmer
und schlugen unten im verwüsteten Audienzsaal auf.
Ich hörte diese Kakophonie, und mein gutes Gehör sortierte den Vielfachklang der Verhee-
rung, zerteilte ihn wie ein Parfümeur Düfte und Aromen zerteilt und benennt. Und ansonsten
heulte ich nur krampfhaft, ja, mädchenhaft geradezu vor mich hin, ohne etwas dagegen tun zu
können. Krallte mich noch fester in den Stoff der Bodenbespannung der Empore, zerriss ihn,
suchte verzweifelt nach neuem Halt, krallte mich ins nächste Stück Teppichbespannung, zer-
fetzte es ebenfalls …
Ich presste die Augenlider fest aufeinander und hoffte, es werde alles gleich vorbei sein.
In einer grässlichen Weise behielt ich Recht.
Der Kampf war sehr kurz.
Die KI sagte später, er habe gerade einmal zwei Sekunden gedauert. Mir kam es indes, so
verlassen in diesem riesigen Saal, wie ich war, sehr viel länger vor. Das subjektive Erleben in
Momenten, die von einer Vielzahl von Wahrnehmungen geprägt sind, sagen Psychologen,
werden grundlegend anders erlebt als Phasen von Ruhe. Man lebt in diesen Momenten inten-
siver, und die Zeit wird auf eigentümliche Weise gedehnt.
Aber ich kann mich an keinen einzigen Todesschrei erinnern. Das macht es so schwer, zu
glauben, dies alles sei KEINE Illusion.
23
Die Armee-Psychologen wissen natürlich, dass Wunschdenken stets auf diese Weise funk-
tioniert. Man blendet aus, was man nicht ertragen kann, und alle Indizien, die dafür sprechen,
dass das, was man sieht, nicht stattgefunden haben KANN, werden unbewusst verstärkt, wäh-
rend andere Indizien, die die Realität schonungslos abbilden, zugleich konsequent unterdrückt
werden.
Als die Ruhe jählings eintrat, war sie unheilvoll. Die Welt schien den Atem anzuhalten.
Der Moment der relativen Stille währte nur wenige Augenblicke. Dann rammte etwas mit
der Gewalt eines Panzers die mächtigen Türflügel des Audienzsaales und riss sie, den Geräu-
schen zufolge, die mich gleich darauf fast taub machten, offenbar vollständig ein. Die Türflü-
gel stürzten nach innen und erzeugten ein monströses Getöse. Durch die Bodenhalle fauchte
ein kurzzeitiger Sturm aus Staub und Gesteinstrümmern. Die Vibrationen der Erschütterung
gingen wie eine Welle durch den ganzen Raum und erreichten mich auch auf der Empore.
Dann wurde es wieder still.
Ich blieb, vollkommen im Schock gefangen, einfach liegen, als bestünde ich aus Blei.
Totstellen.
Das schien jetzt das Sinnvollste zu sein, was ich tun konnte. Vor lauter Schreck war ich so-
gar gänzlich verstummt und wagte kaum mehr zu atmen. Meine KI sagte nachher, ich hätte
gehechelt wie nach einem Ein-Taared-Lauf. Ich konnte mich daran nicht erinnern. An gar
nichts in diesen Sekunden konnte ich mich nachher entsinnen.
Diese Momente waren wie ausgelöscht.
Ich wagte so gar nichts. Sagte nichts an die Adresse der KI, nichts an meine Kameraden,
die so unheilvoll schwiegen. Mir war irgendwie bewusst, dass ich, wenn ich etwas sagen soll-
te, sofort in blanke Hysterie verfallen würde. Sofort. Wenn ich irgendetwas bestätigt fand,
was mein Unterbewusstsein ausbrütete, was meine wirre, überaktive Phantasie sich imaginier-
te.
‚Kleines … oh, gütiges Licht … Kleines … was sollen wir denn nur TUN? Was denn nur?‘,
irrten derweil meine verstörten Gedanken ziellos im Kopf hin und her.
Und dann endeten auch sie schreckerfüllt.
Es erklangen wieder Schrittgeräusche.
Keine Allischritte.
Keine Shassluur-Schritte!
Voller Grauen begriff ich: es war noch nicht vorbei.
Das vielleicht Schlimmste stand mir noch bevor.
18.
Ich lag nicht weit entfernt von der zerborstenen Brüstung der Empore, und während ich so
dalag, völlig von Panik gelähmt, starrte ich aus weit aufgerissenen Augen auf die Stümpfe der
Balustradensäulen und dachte, wie seltsam es doch sei, so klar zu sehen. Ich konnte sogar
ganz genau die interessante Maserung des zerbrochenen Gesteins erkennen und bemerken,
dass die Bruchlinien exakt entlang der Maserung verliefen.
Diese Entdeckung kam mir ganz widersinnig vor … warum machte ich mir jetzt gerade Ge-
danken darüber, dass die Maserung identisch war mit der Bruchkante …?
„Natürlich, das ist doch völlig klar, Coshtuur“, hörte ich die Stimme meines arroganten
Geologielehrers Rhanchid wieder, der über meinem I-Pult aufragte wie ein Gebirge aus
Schuppen und Verachtung. Seine rötlich unterlaufenen Schwefelaugen musterten mich miss-
billigend, und um seine Mundwinkel lag jener herablassende Zug, den ich nie vergessen hatte.
„Du solltest einfach mal deinen Verstand einschalten, bevor du dumme Fragen stellst. Hast
du dir noch nie überlegt, wie Gesteinsschichten wohl entstehen? Das sind Ergebnisse geolo-
gischer Schichtungsprozesse, und eine jede Schicht besitzt demzufolge eine spezifische Dichte.
Die Gesteinsschichten falten sich durch geologische Prozesse, weswegen wir sie, wenn wir sie
24
als Ziergesteine abbauen, in unterschiedlichen Lagen vorfinden. In Lagen, um genau zu sein,
die einen Geologen vor keinerlei Rätsel stellen. Nur Dummköpfe wie dich …“
„Aber …“
„Ich war noch nicht fertig“, schnappte Rhanchid weiter und brachte mich wirkungsvoll
zum Schweigen. Jeder in der Klasse hasste ihn – oder hatte Angst vor ihm. Oder beides. Wir
waren inzwischen seit drei Jahren das, was ich damals naiv „Todfeinde“ nannte. Erst heute
weiß ich, was dieser Begriff wirklich bedeutet. Damals war ich einfach nur dumm.
„Werden solche Gesteinsschichten Druck ausgesetzt“, sagte Rhanchid scharf und hochmü-
tig, „und haben überdies die umgebenden Schichten instabilen Verlauf – oder wenn sie gänz-
lich entfernt sind, weil diese Teile des versteinerten Sediments als Baustoffe irgendwo einge-
setzt sind – , dann sind selbstverständlich jene andersgearteten Sedimentverläufe, die wir als
Maserungen im Gestein erkennen, als Schwachstellen anzusehen. Die Kräfte setzen hier an
und versuchen, die Bewegungs- und Kräfteimpulse im Gestein weiterzugeben. Intrusionen
oder Störschichten fungieren als eine Art von Wellenbrecher. Die Kräfte massieren sich hier
und führen den Bruch herbei. Was also wunderst du dich?“
Ja, was wunderte ich mich eigentlich?
Am meisten war ich verdutzt, die Stimme meines längst im Ruhestand befindlichen Leh-
rers Rhanchid zu hören, an den ich seit Jahren nicht gedacht hatte. Er war Tausende von
Lichtjahren von hier entfernt und wegen eines Knochenfehlers nie zur Armee eingezogen
worden. Wir wurden fast ausschließlich von Versehrten oder leistungsmäßig Reduzierten un-
terrichtet.
Die Erinnerung ging wirklich eigenartige Wege …
„Hör mir gut zu, Coshtuur“, schnitt eine andere Stimme wie aus warmem Kristall, der ei-
nen klingenden Akkord beim Anschlagen von sich gibt, in meine wirren Gedanken. Sie ver-
trieb das Phantom Rhanchids sofort.
Der BOTE!
Ich war nicht allein! Oh, gütiges Licht, ich war nicht allein mit diesem Schrecken!
„Wir haben nicht mehr viel Zeit“, sagte die goldene Stimme eindringlich. „Komm zur
Brüstung und bleib dort liegen. Zeichne nur auf. Tu nichts weiter. Beweg dich nicht weiter,
wenn du deine Position erreicht hast. Ich beende den Kontakt jetzt. Überlebe!“
Kleines!
Das war … das war tatsächlich der Bote Kleines …
Mein Blickfeld, von der Erinnerung an die Kindheit getrübt, jene Flucht-Erinnerung, wur-
de wieder klar. Ich sah die zerfetzten Teppichbahnen rings um mich, die Trümmer, den ho-
hen, zerborstenen Kuppelraum um mich, und sofort schlug der Alptraum wieder voll zu.
Ich war nicht auf meinem Heimathabitat.
Ich befand mich auf Tuwihry, in Noolidan, der Hauptstadt der Shassluur …
Und Kleines … Kleines … wurde angegriffen!
Ashbaar! Lescrandar! All die anderen … wo waren sie? Warum herrschte ein solch grau-
enerregendes, grässlich endgültig scheinendes Schweigen? Ich hatte sie doch eben noch ge-
hört, wie sie Kleines verteidigten! Sie konnten doch nicht alle … alle …
Meine Gedanken versagten und sprangen schlagartig von dieser verstörenden Entdeckung
fort, die ich nicht zu glauben vermochte. Nicht glauben WOLLTE!
Und was war das eben gewesen? Hatte ich Kleines´ Stimme tatsächlich gehört, oder war
das nur … eine weitere … eine weitere …
Ein lautes Krachen ließ mich zusammenfahren. Es kam von einer der Treppenfluchten hin-
ter mir, und unwillkürlich drehte ich meinen behelmten Kopf herum. Mehr als eine graue
Staubwolke, die aus dem Treppenhaus heraufstieg, konnte ich aber nicht erkennen. Die
Schwaden wirkten auf mich wie Tentakel von Abgrundgöttern, die drauf und dran waren,
mich zu holen und zu sich hinabzuzerren. Das war natürlich absurd.
25
„Das war die Treppe“, erklärte meine Anzug-KI lakonisch. „Sie ist unter dem Gewicht
des Xesroy zusammengebrochen. Solange wir hier oben sind, scheinen wir also sicher zu sein.
Es sei denn, sie setzen Antigrav ein.“
Ich antwortete nicht.
Konnte nicht antworten. Der Alptraum hielt mich wieder fest in seinen Klauen, in seinen
blutigen, erbarmungslosen Klauen. Der Alptraum namens Wirklichkeit, hier, auf einem der
schrecklichsten Schlachtfelder, von dem ich je gehört hatte…
Unten in der Halle erklangen laute, dröhnende Schritte.
Selbst wenn Kleines es mir nicht befohlen hätte – ich hätte es getan. Auch wenn es an Ver-
rücktheit grenzte: ich musste einfach SEHEN, was da unten passierte. Das, was meine Phanta-
sie sich ausmalte, war viel schrecklicher als alles, was ich mit eigenen Augen sehen konnte.
Wenigstens bildete ich mir das zu diesem Zeitpunkt noch ein. Später wusste ich es besser.
Nun, ich brauchte einfach die Bestätigung, dass das, was da vor sich ging, nicht einfach
nur eine … na ja … Ausgeburt meiner Alpträume war, sondern tatsächlich geschah.
Also robbte ich mühsam nach vorne zur Brüstung und blieb so liegen, dass nur ein kleiner
Teil meines vorgewölbten Helms zu sehen war.
Ich schaute atemlos in die Tiefe.
Und dann erkannte ich den Feind.
ENDE DES ZWEITEN TEILS
26