Buchbesprechung von Uwe Lammers
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Die Schöne
(OT: Beauty)
von Sheri S. Tepper
Heyne 5344, Hardcover
674 Seiten, 1995
Aus dem Amerikanischen von Biggy Winter
Ja, wenn doch die Uhrenfee Carabosse nicht so Recht hätte! Die Dinge könnten sich viel besser, zielstrebiger, harmonischer entfalten. Aber andererseits hätte dann der Fürst der Finsternis auch schon gewonnen, bevor Beauty überhaupt verstanden hätte, was geschähe. Also ist es vielleicht doch ganz gut so, dass Beauty zwar unbestreitbar Schönheit von ihrer Feenmutter Elladine von Ylles geerbt hat, aber keine Intelligenz.
Aber vielleicht sollte ich von vorne anfangen. Die Sache ist etwas verwickelt.
Man schreibt das Jahr des Herrn 1347, als die einzige Tochter des Herzogs von Westfaire in England, Beauty, sich mit einer grundlegenden Veränderung ihrer häuslichen Umgebung konfrontiert sieht. Sie ist ein bildhübsches, ihrem Namen absolut entsprechendes Mädchen von bezaubernder Naivität und Unschuld, ihr mürrischer Vater beachtet sie kaum (er hat mehr mit Pilgerfahrten zu tun, bei denen er – zu Beautys Unverständnis – sich „die verrottenden Gebeine toter Menschen anschaut!“; das heißt, das tut er, wenn er nicht ständig mit wechselnden Frauen in seinem Gemach verschwindet), und so wächst sie unter der Fuchtel ihrer zahlreichen, meist schon ergrauten Tanten auf. Ihre Mutter hat Beauty nie kennengelernt, es heißt, sie sei früh verstorben. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit.
Die ganze Wahrheit (oder das, was sie dafür hält) kommt ans Tageslicht, als ihr Vater sich neu verheiraten möchte. Beautys Schwiegermutter Sibylla vertreibt das Mädchen aus seinen Räumen in jenen Turm, den man den Taubenturm nennt, und hier – und im Gespräch mit Dienstpersonal – kristallisiert sich allmählich heraus, dass Beautys Mutter Elladine eine Fee war, die eines Tages vom Herzog von Westfaire in den Turm eingesperrt wurde, aber spurlos daraus verschwand. Sie ist also, frohlockt das Mädchen, noch am Leben.
Doch gibt es einen Fluch, oh weh, ausgesprochen von Beautys Tante Carabosse, heißt es, der besagt, dass Beauty sich am 16. Geburtstag an einer Spindel stechen und daran sterben soll.1 Und dieser Geburtstag steht unmittelbar bevor! Allerdings ist bei der Übermittlung dieses Fluches irgendetwas schiefgegangen, wie es scheint – als nämlich der Tag ihres Geburtstags kommt, tauscht Beauty mit einem befreundeten Mädchen aus dem Dorf (das ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist, womit klar feststeht, wer der Vater des Mädchens ist), den Platz und muß, unter einem magischen Tarnmantel dabeistehend, entsetzt mitbekommen, wie ihre Freundin Herzchen (das Double) und alles Hofpersonal menschlicher und tierischer Provenienz, in tiefen magischen Schlaf fällt. Um Westfaire wächst in beängstigendem Tempo eine magische Rosenhecke.
Beauty ist völlig verstört und flüchtet mit ihren Siebenmeilenstiefeln, die sie sich geschneidert hat – Himmel, Beauty ist eine Halbfee, schon vergessen? Natürlich hat sie magische Kräfte, auch wenn sie die Natur der meisten davon beim besten Willen nicht weiß. Bedenkt, Intelligenz ist nicht ihre Gabe! – Westfaire und ist todunglücklich. Sie hat genug Grund dazu, hat doch Pater Raymond schon zuvor den Hofangestellten Giles vom Hof verwiesen und auf eine Pilgerreise geschickt, weil Beauty ihn heimlich anhimmelte (das geht natürlich nicht. Unter Stand!).
Die Uhrenfee Carabosse, die aus dem Feenreich Feery über Beautys Wohl wacht – paßt irgendwie mit dem Fluch nicht zusammen, gell? Stimmt. Da ist ja auch einiges falsch übermittelt worden – und sie veranlaßt hat, den Tarnmantel und die Siebenmeilenstiefel zu schneidern, ist nun der Überzeugung, dass sich Beauty mittels der Stiefel unverzüglich auf den Weg zu ihrer Mutter machen wird.
Hätte sie vielleicht auch – aber da stolpert Beauty, was Carabosse nicht vorhergesehen hat!, über ein zeitreisendes Filmteam aus dem 22. Jahrhundert, die „das Ende des Zaubers“ festhalten wollen und das Mädel in die Zukunftswelt des 22. Jahrhunderts entführen. In eine Zeit, in der die Feen keine Macht mehr haben, weil dort kein Zauber mehr existiert. Und in jener Epoche dominiert der Herr der Finsternis, der auf das bald bevorstehende Ende der Menschheit wartet…
Wer denkt, damit hätte ich den größten Teil des Buches erzählt, kann sich beruhigt zurücklehnen – das sind gerade mal gut hundert Seiten (und vieles fehlt). Denn nach dieser Reise in die Zukunft geht das Drama eigentlich erst richtig los. Weitere Stationen des Mädchens sind das rätselhafte Land Chinanga, wo es so seltsame Attraktionen gibt wie die Kathedrale von Sankt Frosch, das märchenhafte Reich Baskarone und den Dampfer Stugos Queen. Beauty lernt die Heimat ihrer Mutter, das legendäre Feery und seinen Regenten Oberon kennen, das 20. Jahrhundert und die verstörenden Realitäten des 14. Jahrhunderts.2 Und sie erfährt natürlich von der Beziehung zum Allerhöchsten, was eine sehr verzwickte Angelegenheit ist.
Bald wird ihr fernerhin klar, dass die Menschheit, wenn die Feen ihrer Rolle nicht endlich gerecht werden, Beschützer der menschlichen Rasse gegen die Bosheit des Fürsten der Finsternis zu sein, im 22. Jahrhundert untergehen werden.3 Jene Welt, in der sie zu Besuch war, wird Realität gewinnen und die einzige Realität bleiben. Eine Welt ohne Feen und ohne Menschen, eine triste Wüstenei. Was Beauty aber lange Zeit nicht versteht, ist, warum der Fürst der Finsternis ausgerechnet hinter IHR her sein sollte. Und was für eine rätselhafte Saat nahe ihrem Herzen brennt, das ist ihr auch nicht klar.
Die Pläne der Fee Carabosse kollidieren jedenfalls ständig mit Beautys Unverständnis und ihrem Eigensinn, besonders dann, als sie, von einem Vergewaltiger schwanger, in der Vergangenheit ziellos herumirrt und schließlich das Schicksal ihres Kindes weiter verfolgen will. Ich erspare dem Leser Details, um die Neugierde wachzuhalten.
Mit einem bemerkenswerten Geschick und Augenzwinkern hat Sheri S. Tepper, die eigentlich im SF-Genre beheimatet ist, in diesem umfangreichen Roman die vergnügliche Tour de force durch die Märchenwelt Disneys angetreten. Wir begegnen einem Prinz Charming, sprechenden Fröschen, bösen Schwiegermüttern, Aschenputtel, Dornröschen und zahlreichen anderen Wesen, die uns mal ein Kichern, mal ein Kopfschütteln entlocken. Dabei verspinnt die Autorin die Fäden der Märchen geschickt mit der Zeitgeschichte, der Mythologie und Phantastik, ohne freilich jemals die Fäden aus der Hand gleiten zu lassen.
Vergleicht man diese stringente, logische Struktur der Handlung mit dem unkoordinierten Gestotter eines Christoph Marzi (Entschuldigung, so kam es bei mir an!), der weder die Zeitgeschichte noch seine eigene Geschichte im Griff hat (vgl. Rezensionen zu den Büchern „Lilith“ und „Lumen“4), so ist unabweislich klar, wem die Präferenz gebührt, wenn man schön erzählte Romane lesen will. Sheri S. Tepper ist sowohl humorvoller, menschlicher, wärmer und erfahrener, ihre Personen, so schrullig sie bisweilen auch sein mögen, sind stets in sich „rund“, sie handeln nachvollziehbar (auch wenn man viele ihrer Taten beim besten Willen nicht mögen muß), und die Handlung hat ein, wenn auch überraschendes, stimmiges Ende. Von solchen Büchern kann ein Christoph Marzi noch vieles lernen, nicht zuletzt Menschlichkeit jenseits aller Klischees.
Außerdem sollte man nicht glauben, wie viel an Zeitkritik dieser Roman enthält. Wenn Beauty in der Hölle beispielsweise die radikalen Abtreibungsgegner wiederfindet, dann bezieht Sheri S. Tepper hier – und in vielen anderen Dingen – demonstrativ politisch Position, was den ahnungslosen Leser manchmal doch sehr überrumpelt. Der Roman hat darum an vielen Stellen auch politischen bzw. Gleichnis-Charakter und beeindruckt zusätzlich.
Wer sich, um es auf den Punkt zu bringen, also ein paar Tage lang wunderschön unterhalten möchte und die Bekanntschaft der (schwatzhaften) Beauty, der Tochter des Herzogs von Westfaire machen möchte, sollte das unbedingt tun. Es ist eine köstliche Lektüre, die den Leser mit der Schmalspur-Fantasy von heute beim besten Willen wieder versöhnt. Im Format, in dem heutzutage die Heyne-Bücher (z. B. von Christoph Marzi) gesetzt werden, würde dieses Buch wohl 2000 Seiten Länge erreichen…
Uwe Lammers
Braunschweig, den 30. März 2008