Buchbesprechung von Uwe Lammers

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Sherlock Holmes und die Zeitmaschine

(OT: Sherlock Holmes and the Coils of Time)
von Ralph E. Vaughan

Blitz-Verlag 3001
Windeck 2012
208 Seiten, TB
ISBN 978-3-89840-323-8
aus dem Amerikanischen von Hans Gerwien und Andreas Schiffmann

Sherlock Holmes wird von den Epigonenautoren gern in unmögliche Situationen gebracht, in die sein Erschaffer, der nachmalige Sir Arthur Conan Doyle, ihn zweifelsohne nie guten Gewissens geführt hätte. Das soll jetzt nicht bedeuten, dass solche Settings von vornherein zu verwerfen und die Intentionen nachgeborener Autoren, die im Sherlock Holmes-Kosmos tätig werden wollen, zu verurteilen wären. Ich wäre der Allerletzte, der dies täte, liegt doch in meinen Fragmentordnern auch eine begonnene Holmes-Geschichte, in der ich ihn in direkten Kontakt mit meiner eigenen kreativen Welt, dem Oki Stanwer Mythos (OSM) bringe.

Dennoch … es ist stets eine Gratwanderung, ein Sich-aus-dem-Fenster-Lehnen, und es kann schrecklich schiefgehen, wenn man als Verfasser die auktoriale Perspektive aus dem Blick verliert, wenn man vom „Standardpersonal“ abweicht bzw. ahistorische Protagonisten einführt oder eben leichtsinnig seiner eigenen Phantasie die Zügel schießen lässt. Das ist ein waghalsiges Unterfangen, und nicht jeder ist sich darüber vollends im Klaren (was auch für die Verleger derartiger Geschichten gilt, weswegen es ja leider eine Vielzahl außerordentlich missratener oder sehr mittelmäßiger Holmes-Epigonen-Werke gibt). Eine solche Gratwanderung hat also der amerikanische Autor Ralph E. Vaughan vollführt, indem er die vorliegende Geschichte erzählte. Er bringt hier – durchaus nicht ohne Raffinesse – den Holmes-Kosmos in Kontakt mit den phantastischen Erzählungen eines Herbert George Wells. Und hierum geht es im Detail:

Man schreibt Anfang April 1894, als ein Totgeglaubter wieder in Erscheinung tritt: Dr. John Watson fällt buchstäblich in Ohnmacht, als sich ein Mann in seinem Beinsein unvermittelt in den Detektiv Sherlock Holmes verwandelt, der drei Jahre zuvor in die Schweizer Reichenbachfälle gestürzt ist, augenscheinlich zusammen mit seinem Rivalen und Erzfeind Professor James Moriarty, dem „Napoleon des Verbrechens“.

Holmes ist zurück, aber er verhält sich höchst eigenartig, und dafür hat er auch allen Grund, denn es trachtet ihm jemand nach dem Leben – in einer raffinierten Finte bringt er jedoch den Attentäter zur Strecke: Oberst Sebastian Moran, den Vertrauten Moriartys, dem er erfolgreich die Urheberschaft an dem Mord an dem ehrenwerten Ronald Adair nachweisen kann.

Doch kaum verabschiedet sich Holmes am Ende jenes Abenteuers wieder von seinem glücklichen Adlatus Watson – und damit sind wir am Beginn des vorliegenden Romans – , da fängt das eigentliche Abenteuer erst an. Denn in London verschwinden Menschen, und zwar ziemlich viele Menschen. Diskret, nächtens, meist in den Armenvierteln der Stadt, aber schließlich löst sich auch William Dunning in Nichts auf, ein Verwandter von Sir Reginald Dunning, der Holmes inständig darum bittet, tätig zu werden. Der Detektiv beginnt folgerichtig zu ermitteln und stößt dabei nicht nur auf einen rätselhaften, gejagt wirkenden Fremden, der vor seinen Nachstellungen flüchtet, sondern auch auf Inspektor Charles Kent von Scotland Yard, der seinerseits – inoffiziell – mit dem Dunning-Fall befasst ist.

Zusammen, und damit nimmt Kent die Watson-Rolle ein, ermitteln sie fortan in einem zunehmend unglaubwürdiger werdenden Setting. Soll man tatsächlich annehmen, dass „blasse Geister“ die Menschen von den Straßen wegfangen? Und was ist mit den abstrusen Theorien über Reisen durch die Zeit? Ist irgendetwas daran, dass die Gefahr aus der Zukunft stammen soll, die es ja bekanntlich noch gar nicht gibt? Erst, als Holmes dann ein leibhaftiger Zeitreisender schwer verletzt vor die Füße fällt, beginnt der Detektiv selbst an die ungeheuerliche Geschichte zu glauben: Ja, es gibt Zeitreisen. Und ja: in der fernen Zukunft existiert eine finstere Bedrohung der Menschheit, die sich anschickt, gerade im viktorianischen London sesshaft zu werden. Niemand Geringeres als zeitreisende Morlocks sind dabei, die Erde der Vergangenheit zu kolonisieren und die Zukunft des Menschengeschlechts auszulöschen …

Wie schon gesagt, der amerikanische Verfasser begibt sich hier auf eine abenteuerliche Gratwanderung und Reise in den Abgrund der Spekulation, in dem sich Sherlock Holmes eigentlich notorisch unbehaglich fühlen müsste, wo er doch das solide Fundament des festen Wissens verlassen muss, um sich in die windigen Abgründe des Was-wäre-wenn? und der spekulativen Abgründe des Möglichen und Unmöglichen zu verirren. Dabei kann man als Leser attestieren, dass Vaughan seine Basisliteratur gut kennt, eben die Ausgangsgeschichte um das „leere Haus“ ebenso wie H. G. Wells’ Klassiker „Die Zeitmaschine“. Ebenfalls gut eingefangen ist die Atmosphäre des düsteren spätviktorianischen London und die etwas blasierte, voreingenommene und elitäre Weltsicht zahlreicher Protagonisten.

Die Sprache bereitete beim Lesen anfangs ein wenig Schwierigkeiten, was möglicherweise der Übersetzung geschuldet war – sie wird im Laufe des Buches deutlich besser und weniger zäh. Vielleicht ist das auf die Verteilung der Übersetzer zurückzuführen. Bedauerlich ist es, dass der nur 190 Seiten lange Roman erst auf Seite 29 tatsächlich zu Sherlock Holmes überleitet. Der Klappentext verrät notorisch zuviel und zerstört, zumal für Leser, die die genannten Werke schon kennen, jede Menge Spannung. Dass die Morlocks durchaus imstande sind, die Zeitmaschine des Zeitreisenden nachzubauen, nimmt dann allerdings nicht wunder – war doch schon bei Wells klar, dass die Morlocks die eigentlichen technischen Genies darstellten, Kannibalen hin oder her.

Schade war ab dem Moment, wo die Zeitmaschine dann tatsächlich auftaucht, dass die Geschichte selbst völlig abhob… und mit der Einführung der Morlock-Königin, der zeitreisenden, entschwand dann die Glaubwürdigkeit der Story, der Holmes-Story (!) ziemlich brüsk. Bedauerlich war auch, dass die Idee an sich nicht wirklich neu war. Unweigerlich kam hier nämlich die Erinnerung an einen Kinofilm auf, der Vaughan zweifelsohne ebenfalls bekannt war: „Star Trek 8: Der erste Kontakt“. Hier wie dort wird bei einer vorher quasi asexuellen Gesellschaft – hie Borg, dort Morlocks – unvermittelt eine „Königin“ in Stellung gebracht (jüngst übrigens dann auch bei „Independence Day 2“, und hie wie dort ist die Vernichtung der „Königin“ gleichbedeutend mit dem Ausschalten der Bedrohung.
Ehrlich, ich hätte mir deutlich mehr Skepsis seitens von Sherlock Holmes gewünscht. Und mir wäre es lieber gewesen, wenn er seinen treuen „Eckermann“ Watson mit seinem Revolver an seiner Seite gehabt hätte. Inspektor Kent war, mit Verlaub, doch kein annähernd adäquater Ersatz. Infolgedessen ließ sich das Buch zwar binnen von drei Tagen geschwind und durchaus unterhaltsam auslesen … Ich betrachte es gleichwohl nur als mittelmäßiges Epigonenwerk und kann die Lektüre nur für ausgesprochene Holmsianer wirklich empfehlen … oder natürlich für all jene, die das Was-wäre-wenn schätzen und gern wissen möchten, nachdem sie Wells´ Klassiker mit Genuss goutiert haben, was wohl geschehen würde, wenn die Morlocks sich auf den Weg in die Vergangenheit machten. Aber da wäre ihnen sicherlich mit Stephen Baxters Roman „Zeitschiffe“ mehr gedient. Auch hier wandelt der Autor in den Fußstapfen von H. G. Wells, doch weitaus visionärer, als es Vaughan jemals intendierte. Dafür hinwiederum entbehrt man bei Baxters Buch natürlich des legendären Detektivs und lebendiger Charaktere. Man kann eben nicht alles haben, sondern ist zur Kompromissbildung gezwungen.

Welches der Bücher ihr euch als Gutenacht-Lektüre auf den Nachttisch legen mögt, solltet ihr also nach gründlicher Abwägung der Fakten entscheiden. Vielleicht waren meine obigen Worte dabei ein wenig hilfreich. Und wer weiß, vielleicht erscheinen ja auch noch mehr Vaughan-Holmes-Romane bei Blitz. Denkbar zumindest ist es sicherlich. Lassen wir uns da mal überraschen.

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