Der Roman aus der Feder von Julius von Voß erschienen im Original im Jahre 1810, übertragen und Korrektur gelesen von Bernd “Göttrik” Labusch. Fortsetzung von: INI – Ein Roman aus dem 21. Jahrhundert, Drittes Büchlein, Kapitel 12
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Drittes Büchlein: Guido im Heere, Kapitel 13
Sie begaben sich eines Tages nach der großen Oper. Das Haus war ungemein mit Zuschauern gefüllt. Guidos Blicke suchten das Theater. Er sah vor sich ein gefülltes Parterre, Logen, Kronleuchter, so gut als neben und hinter sich.
Gelino lächelte. „Wisse“, sprach er: „Dass der Vorhang ein Spiegel ist, der durch die ganze Mitte des Saales reicht. In diesen siehst du den Platz der Zuschauer wiederholt. Hebt das Stück an, wird ihn eine Maschine empor winden.“
Dies erfolgte auch zu Guidos Befremdung, und nun zeigte sich die Bühne. Man sah jetzt kein Licht mehr bei den Zuschauern, zum Vorteil der Theatererhellung, die dem Tage vollkommen glich, waren sie sämtlich erloschen, wie aber am Ende eines Aktes der Spiegelvorhang nieder schwebte, wurden sie alle durch eine elektrische Vorrichtung entzündet.
Die alte Miete, Orpheus war der heutige Stoff. Im ersten Akt sah man eine Landschaft und einen Meilen weiten Hintergrund, der unmöglich gemalt sein konnte. Guido begriff das nicht. Sein Lehrer erklärte ihm, wie dies Opernhaus mit einem Schraubenwerke versehen sei, wodurch es der Theatermeister, bei den Akten, die eine weite Tiefe darbieten sollten, bis über die Häuser der Stadt höbe, dass, nach weggenommener Hinterwand, man das wirkliche Feld der Gegend erblickte.
„Also schweben wir jetzt in solcher Höhe?“ fragte Guido.
„Allerdings. Die Bewegung vollzog sich so sanft, dass Niemand sie merkte. Hat schon ein altrömischer Baumeister ein Schauspielhaus mit Achtzigtausend Zuschauer gedreht, wird die Mechanik unserer Zeiten es doch wohl erheben können.“
„Ist das aber nicht mit Gefahren verbunden?“
„Fürchte nichts. Die Polizei lässt vor den Darstellungen alles Maschinenwerk durch Sachverständige prüfen.“
* * *
Im zweiten Akt zeigte sich die Hölle. Ungeheure, weite, brennende Klüfte und Abgründe, in deren Flammen gepeinigte Verdammte klagten. Die Fernsten erschienen ganz klein, doch waren es lebende Wesen, wovon sich Guido durch ein Sehrohr überzeugte.
„Wie ist dies möglich?“ fragte er abermals.
Gelino antwortete: „Das Opernhaus hat mit großen Kosten ein tiefes Souterrain aushöhlen lassen, was um so eher anging, da es auf der Höhe des Montmartre liegt. Will man nun weite Gebäude, oder Klüfte und Abgründe darstellen, wird das Haus durch jenes Schraubenwerk in die Tiefe gesenkt, wo man sich nun der unterirdischen Entfernungen bedienen kann. Wir befinden uns jetzt unter der Erdoberfläche, die letzten Gestalten sind einige Tausend Schuh von uns entfernt.“
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Im dritten Akt sah man den Himmel. Fremdartige Farben, ungemein zarte Umrisse aller Gegenstände wirkten mit bezaubernder Schönheit. Ein anderer Mond, andere Sterne mit einer tief rührenden Idealität gezeichnet, blinkten daher, was aber Guido am meisten in Verwunderung setzte, war, dass ihre Strahlen durch Euridizens und der anderen Schatten Körper leuchteten. Und doch war Euridize die nämliche, welche er im ersten Akte gesehen, doch bewegte sie sich lebend, sang.
Er ward nun durch seinen Lehrer unterrichtet: „Alle Gestalten, die wir jetzt sehen, sind nur der wirklichen, in einem Nebenraum befindlichen, Widerscheine, durch ungemein sinnreiche, optische Laternen, hervorgebracht. Daher muss das Licht diese Euridize durchschimmern, denn, treu der Fabel, ist es wirklich nur ihr Schatten. Dass auch die Blumen, Gebüsche, Hügel, so zarte Umrisse, so seltsam fremdartige Farben zeigen, macht eine große Platte von grünem doch klaren Glas, welche davor hängt, wie jener Spiegel, im ganzen Umfang der Bühne, ohne dass wir sie wahrnehmen.“
Musik, Gesang, Tänze waren den übrigen Vorwürfen an Vollkommenheit ähnlich, und mit hohem Entzücken verließ Guido dies Schauspiel, lange noch von Orpheus und Ini Euridize träumend.
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Sie sahen auch das große Trauerspiel. Der Dichter hatte in dem heutigen Stücke eine Tatsache der Vorzeit behandelt, und viel gegen die Empfindung wagend.
Eine junge Monarchin, schön, liebenswürdig, geistvoll, ist mit einem Gemahl verbunden, dem alle ihre Vorzüge mangeln. Er kommt eben zur Regierung, belegt aber durch seine ersten Schritte, dem großen Amte durchaus nicht gewachsen zu sein. Die Gemahlin erkennt die Richtung, welche dem Volke zu seinem Wohl gegeben werden müsse, die Kraft ihres Genius regt sich kühn, von Liebe zu den Untertanen stammt ihre edel empfindende Brust. Doch vermag sie nichts über den Gemahl, der sie nicht versteht, ihren schönen Sinn anfeindet, und in Rohheit waltet. Tyrannei und Zerrüttung drohen dem Reich, die Monarchin fühlt, sie könne ihm eine Gedeihen volle Zeit blühen lassen.
Ein weiser Vertrauter ruft ihr zu: „Besteige den Thron, herrsche, beglücke!“
Sie schaudert. Sie kann nur über den Leichnam des Gemahls jenen Stufen nehmen. Es ist ein Unwürdiger, doch sie seine Gattin. Ihr Zartgefühl empört der Gedanke an jeden Mord, um wie viel mehr an den des Gemahls! Ihr Herz trägt solche Vorstellung nicht, ihre Einbildungskraft muss ihr entfliehen.
Der Vertraute spricht: „Besteige den Thron, durch ein Verbrechen ihn mit Deiner Tugend zu schmücken. Wie edel ist dann dies Verbrechen! Es wird die höchste Deiner Tugenden, allen übrigen, die Bahnen ebnend. Begehst Du es nicht, wie laut der Nation geheimes Flehen, wie laut der Beruf Deiner Geistesgröße es verlangen, dann erniedrigt dein Säumen Dich zur Frevlerin. Alles Wehleiden der Millionen auf Dein Haupt, Ihr Fluch beugt Dich schwerer, da Du ihn in Seegen hättest umwandeln können.“
Hier steht sie nun an dem furchtbaren Scheideweg. Eine kühne Missetat — und dann ein schönes Leben, dem Ruhm, gottähnlich über ein geliebtes Volk zu herrschen, geweiht. Eine feige Tugend — und nichts als der Anblick eines elenden geliebten Volkes. Hier steht sie — weint, ruft sich selbst um Kraft an, mahnt ihren Genius, Licht in dies schauderhafte Dunkel zu werfen — und — stört endlich nicht, was der Vertraute vollbringen will.
Nun empfängt sie das Zepter, und hält den Hoffnungen des Ruhmes Wort.
* * *
Zum ersten Male ward heute das Trauerspiel gegeben. Die feinsinnige Versammlung, sonst gewohnt, sich über alles Schöne oder Unedle ganz bestimmt zu äußern, die der Kunstwerke Vorzüge, nach dem richtigen Takt mit Beifall lohnte, und ihre Mängel eben so durch Tadel strafte, wusste — unerhört in den Annalen dieser Bühne — heute sich nicht zu entscheiden. Kein Lob, kein Missfallen, allgemeine Stille. So blieb es auch bei den folgenden, immer gedrängt besuchten Vorstellungen.
Gelino wollte aber auch auf dem kleinen Theater des Palastes etwas sehen. Er sprach mit dem Vorsteher der Gesellschaft, die am liebsten bunte, regellose Sachen aufführte. Dieser trug ihm eine kurzweilige Posse an, genannt: „Die Narrheiten vor Dreihundert Jahren.“
Gelino war zufrieden, und lud so viele Fremde, als der Raum nur fassen konnte.
Als der Vorhang weggenommen war, wollten die Zuschauer fast vor Lachen ersticken, über die närrischen Kleidertrachten, der dargestellten Zeit. „Wie war es möglich“, riefen viele, dass sich die Menschen jemals so unbequem, geschmackswidrig und lächerlich umhüllen konnten! Eine Hauptbedeckung, grade aufstehend, oben platt, einem umgekehrten Becher ähnlich, oder gar ein Dreieck mit abenteuerlichen Stülpen! Wie vielerlei Lappen hängen an den Männern, der natürlichen Form ganz zuwider, mit hässlichen Ecken, und dennoch übel gegen die Witterung schirmend. Wie muss dies vielfache Einschnüren die Körper verunstaltet, ihnen nach und nach Kraft und Gesundheit entzogen haben! Und so unanständig, pfui, so unanständig! Fürwahr diese Urväter mussten grobe Narren sein!
Es wurden nun mancherlei Sittenzeichnungen dargestellt, wo denn aber das Gelächter oft mit Abscheu und Mitleid wechselte. Man sah die Kirchlichkeit, wo unverschämte Priester ganz widersinnige, unnatürliche, die Gottheit herabwürdigende Mythen, einst einem tief rohen Zeitalter kaum anpassend, immer noch als Wahrheiten lehren wollten, und das törichte Volk gauklerisch betrogen. Man sah Fürstenhöfe, wo eine widrige Erziehung das Oberhaupt ärmer an Geist dastehen ließ, als die Untertanen am Fuß der Staatspyramide, wo es, statt mit der Weisheit, mit dem Vorurteil umgeben war, und blödsüchtige engherzige Höflinge ihm eitel Lügen sagten, wo das wahnsinnige Volk endlich durch heuchlerische Schmeicheleien alles verdarb. Man bildete das Faustrecht vor drei Jahrhunderten ab, wo ein europäisches Volk das andere um nichtiger Ursachen willen bekriegte, und dies musste jetzt grade so viel Widerwillen erregen, als eine Darstellung des kleineren Faustrechtes, zwiſchen den Gauen des vierzehnten Jahrhunderts, wenn sie das neunzehnte sah. Die Torheit allerhand Systeme der Philosophie zu wechseln, durch Bücher voll Unsinn Irrtümer auszubreiten, durch falsche Finanzoperationen ganze Länder verarmen zu lassen, durch Verschiedenheit der Einheiten und Sprachen, den Ideentausch zu erschweren, überströmte eine witzige Satire mit dem wohlverdienten Spott. Am Ende begegnete sich alles in dem Ausruf: „Oh Ihr groben, groben Narren der Vorzeit!“
Gelino erläuterte aber der Versammlung, dass doch auch nicht jeder damals die Schellenkappe getragen habe, nannte ehrwürdige Namen von Männern, die sich ein großes Verdienst in Bezeichnung der besseren Pfade erworben hätten, und schloss: „Es ist für die Menschheit notwendig gewesen, durch dieses dunkle Labyrinth zu gehen, um den Gegensatz erhellter Vernunft wohltätig zu begreifen.“
Fortsetzung folgt …