Science Fiction-Story von Uwe Lammers
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Vorbemerkung
Krieg ist nicht der Vater aller Dinge, wie manch alter Grieche es dachte. Krieg ist ein brutaler gesellschaftlicher Ausnahmezustand. Einer der Kardinalfehler in jeder Form von kriegerischem Konflikt, der zur Entgrenzung und Entmenschlichung der Auseinandersetzung maßgeblich beiträgt, ist die fatale Fehleinschätzung des jeweiligen Gegners. Wer den Gegner nicht versteht oder aus ideologischen Fehlurteilen oder Überheblichkeit denkt, dieses Hineindenken in das Wesen des Feindes sei nicht erforderlich, der begeht immer einen fundamentalen, verheerenden Fehler.
Doch was geschieht in einem Konflikt, bei dem man den Gegner nicht verstehen KANN, seine Motivation nicht zu begreifen imstande ist und scheinbar nur noch der Kampf bis zum erbitterten, blutigen Ende bleibt? Ist dies eine unausweichliche Lösung? Oder ist auch dies ein Fehlurteil, das ungeahnte, grauenhafte Konsequenzen nach sich zieht?
Prolog
Am Anfang war der Hass.
Hass und Nichtverstehen.
Man schrieb den 15. Dezember 2366, als über der Kolonialwelt Thang-Ho, 124 Lichtjahre von der Erde entfernt, eine Gruppe eigenartiger Raumschiffe aus dem Hyperraum brach und sofort das Feuer auf die Orbitalstationen des Planeten eröffnete. Ohne provoziert worden zu sein oder auf irgendwelche Kommunikationsversuche zu reagieren, regierte schlagartig gnadenlose, erbitterte Vernichtungswut. Als alle Stationen zerstört waren, griffen die Extraterrestrier die Kolonialwelt selbst an und belegten sie, namentlich alle Siedlungen mit nuklearem Bombardement.
Dass überhaupt jemand diesen erbarmungslosen Angriff überlebte, musste man eher dem Zufall zuschreiben als klugen Vorsichtsmaßnahmen. Denn niemand war in dem seit langem Jahrzehnten völlig friedlichen terranischen Sternenreich auf einen derartigen Vorfall gefasst gewesen. Nichts, was die Explorationskorps der Raummarine bislang im näheren stellaren Umfeld der Sonne Sol erforscht hatten, ließ auch nur entfernt auf die schiere Existenz feindseliger Extraterrestrier schließen. Somit kam der brutale, rücksichtslose Überfall buchstäblich aus dem Nichts.
Die Bilder geretteter Aufzeichnungsbänder zeigten den Rettungstrupps dann deutlich die unbegreifliche Natur der fremden Angreifer – ihre Raumschiffe wirkten geradezu obskur und archaisch, ganz anders als in gängigen Science Fiction-Serien vergangener Jahrhunderte: Sie sahen vielmehr aus, als seien sie gewissermaßen von groben Steinmetzen aus Fels gehauen und dann mit Hyperlichttriebwerken und hochgerüsteter Artillerie ausgestattet worden.
Aber an der unglaublichen Vernichtungskraft und technologischen Hochrüstung dieser unbekannten, feindseligen Wesen konnte schon in diesem Augenblick des ersten Zusammenpralls keinerlei Zweifel bestehen. Auch wenn niemand begriff, warum diese Attacke stattgefunden hatte, stand doch schon nach dem ersten Vorfall fest, dass es zwingend notwendig war, weiteren derartigen Überfällen unverzüglich vorzubeugen. Ein Verständnis des Gegners, so hieß es in politischen Verlautbarungen, müsse man später entwickeln, zunächst ginge der Schutz der Siedler vor und habe absolute Priorität.
Die Feinde sahen das spürbar anders.
Sie setzten die unkalkulierbaren Attacken von nun an mit gespenstischer Geschwindigkeit fort, und manches Mal schienen sie überall zugleich zu sein und Angst und Schrecken, Tod und Vernichtung zu verbreiten. Selbst kleinste Siedlungen, einzelne Raumfrachter und Stützpunkte in ansonsten leeren Systemen wurden Angriffsziele.
Mit diesem ersten Zwischenfall im System Thang-Ho hatte jener Konflikt begonnen, der als „Devil-Krieg“ in die Annalen der menschlichen Geschichte eingehen sollte und der sich von Woche zu Woche immer gnadenloser zwischen den Sternen ausdehnte. Es handelte sich dabei um die eigentlich unvorstellbare Art von Krieg, den die optimistischen Befürworter der Existenz von intelligentem Alienleben nie für möglich gehalten hatten. Auf der anderen Seite standen die Skeptiker, die sich bald in „Falken“ im Weltparlament verwandelten und die als Apostel der rigorosen Niederkämpfung der Alien-Aggressoren auftraten und rasch an Zuspruch in der Bevölkerung gewannen.
Auf menschlicher Seite sollte dieser jahrelange, blutige Konflikt am Ende mehr als elf Millionen Todesopfer kosten, mehrheitlich Zivilisten. Und auf der anderen Seite löschte er schlussendlich ein ganzes Volk aus, dessen wahren Namen man niemals in Erfahrung bringen konnte.
Die Fremden, die rasch in den Medien den Namen Devils bekamen, weil man mit ihnen definitiv nicht kommunizieren konnte und sie offensichtlich nichts anderes kannten als erbarmungslosen Hass und gnadenlosen Vernichtungswillen, diese blutrünstigen Fremden attackierten in den folgenden sieben Jahren unentwegt Kolonialwelten, Raumstützpunkte, einzelne Handelsraumschiffe und Prospektorposten. Eine Atmosphäre des schieren Terrors breitete sich im irdischen Sternenreich aus. Von der Führung des Sternenreichs wurde diese Bedrohung aus dem All mit einer beispiellosen Kampagne der Militarisierung der Gesellschaft und der Aufrüstung von Kolonialsystemen zur Selbstverteidigung wie auch der massiven Aufstockung der Raumstreitkräfte gekontert.
Dabei handelte es sich anfangs um rein defensive Maßnahmen, weil die Schläge der kleinen, feindlichen Angreifer erratisch und nach keinem verständlichen Muster stattfanden. Es konnte dabei durchaus vorkommen, dass von direkt benachbarten Welten die eine in Grund und Boden gebombt wurde, während die Bevölkerung des nächsten Systems monatelang in hysterische Angststarre verfiel, ohne dass irgendetwas geschah.
Auf Dauer konnte das natürlich kein Zustand sein, den eine zivile Gesellschaft, und mochte sie noch so sehr auf einen Verteidigungskrieg eingeschworen sein, ertragen konnte. Immer lauter wünschten sich Repräsentanten des Volkes alsbald ein klares Ziel für konsequente Gegenoffensiven. Sie wollten den Ort finden, von dem die Gegner kamen, auf dass man aus der passiven Opferrolle endlich in die Offensive gehen und das Feuer ins Reich des Feindes tragen konnte.
Dass man schließlich jene Welt fand, von der das alles ausging, war eigentlich eher einem Zufall zuzuschreiben, einer überraschenden Entdeckung, die von einem kleinen Trupp von kosmischen Prospektoren gemacht wurde und dem die politisch Verantwortlichen anfangs gar keinen Glauben schenkten, weil die Entdeckung so irreal und verrückt klang.
Es handelte sich bei dem gefundenen Planeten – den man zu Beginn noch für eine Art vorgeschobene Stützpunktwelt hielt, womit man ihre wahre Bedeutung krass unterschätzte – um die zweite Welt einer kleinen roten Glutsonne, der man alsbald neben der rein astronomischen Zahlen- und Buchstabenkombination, die gängig war, die plakative Bezeichnung Dante gab. Und sie erwies sich, so unglaublich das klang, in der Tat als die Heimatwelt der Devils: Eine schwarze, vulkanische Höllenwelt mit dichter Stickstoffatmosphäre, ohne freien Sauerstoff, für Menschen absolut lebensfeindlich. Niemand hätte hier jemals die Heimat eines intelligenten Raumfahrervolkes vermutet.
Als erste Daten und Bilder von diesem Planeten veröffentlicht wurden, benannte der Volksmund diese Welt sehr rasch mit dem Namen Inferno. Sie hätten keinen passenderen wählen können!
Leider machte diese Welt ihrem Namen fürwahr jede Ehre, und sie wurde zu einem Schlachtfeld, wie es keiner der Politiker oder Militärs jemals für denkbar gehalten hätte. Verwirrenderweise kristallisierte sich schnell heraus, dass diese unheimlichen Wesen offensichtlich allein von diesem Planeten kamen. Es schien kein „Imperium“ der Devils zu geben, keine Kolonialwelten, nichts dergleichen. Vielleicht hing das einfach mit den infernalischen Lebensbedingungen auf diesem Ursprungsplaneten zusammen. Unter Tausenden von bisher entdeckten Exoplaneten gab es keinen, der vergleichbare Lebensbedingungen aufwies.
Dennoch … fühlte sich das unheimlich an, irgendwie falsch. Als wäre das hassende, fremdartige, mörderische Feindvolk der Devils irgendwie aus der Hölle entkommen, aus den schwarzen Anthrazitfelsen seines Planeten gewachsen oder so, und mit ihnen all ihre rätselhafte Technologie.
Dieser singuläre Ursprung der Devils … das war eines der zahlreichen unheimlichen Rätsel, das diese bizarre Lebensform menschlichen Wissenschaftlern aufgab, je länger der Konflikt mit dieser Spezies andauerte.
Nachdem man die Devils soweit niedergekämpft hatte, dass ihre Raumschiffe und Werftkomplexe sämtlich zerstört waren und die Politiker wie die Militärs so die vorrangige Gefahr für die Kolonialwelten ausgeschaltet glaubte, kam in dem Krieg schließlich der heikle Punkt, an dem eine weit reichende Entscheidung zu treffen war.
Natürlich konnte man versuchen, dieses System für alle Zeiten zu isolieren … aber es gab unter den gegebenen Umständen keinerlei Gewähr dafür, dass die Devils nicht wieder ihre alte technologische Höhe erreichen würden. Sie hatten es mit den schieren Kräften ihrer Höllenwelt einmal geschafft – wer sagte, dass es ihnen nicht wieder gelang? Und wenn sie dieses Mal den Weltraum wieder erreichten, würden sie vermutlich noch gnadenloser und brutaler die irdische Siedlungssphäre angreifen, womöglich das inzwischen stark befestigte solare System selbst.
Niemand konnte guten Gewissens behaupten, diese Gefahr würde nicht bestehen. Die mörderischen Feinde waren immer noch so gut wie vollkommen unbegreiflich. Es gab keine Gefangenen, man konnte keine havarierten Schiffe des Gegners aufbringen, und so etwas wie eine Schrift oder Sprache schienen diese schwarzen Kreaturen aus der Hölle auch nicht zu kennen.
Wie sollte man diese Wesen einschätzen? Gedanken lesen konnten die Menschen nun einmal nicht … und so wurde Angst der Ratgeber. Selbst wenn Angst immer ein schlechter Ratgeber war, wie man bereits in der Antike wusste.
Die öffentliche Meinung favorisierte also allen Ernstes die Auffassung, die Devils sollten durch ein Niederkämpfen und einen Diktatfrieden auf ihrer eigenen Welt ein für allemal als Bedrohung ausgeschaltet werden, im Zweifelsfall, indem man dort eine menschliche Garnison stationierte, auch wenn die Kosten niemand kalkulieren konnte, von den damit verbundenen Gefahren einmal ganz zu schweigen.
So kam es schließlich dazu, dass die Raummarine-Führung der Anweisung zu folgen hatte, Marinesoldaten auf Inferno abzusetzen. Mit mehreren zehntausend hochgerüsteten Soldaten und einem Vielfachen an Kampfrobotern wurden Brückenköpfe auf der Höllenwelt installiert, und von dort aus versuchten die Soldaten, die Devils in die Enge zu treiben und zur Kapitulation zu zwingen.
Es war eine Entscheidung, die den Krieg in die schrecklichste Phase seines Verlaufs versetzte. Quasi sofort wurde klar, dass das ein kapitaler Fehler gewesen war. Ein Fehler, den man nicht mehr zurücknehmen konnte.
Denn es kam jetzt zu einem grässlichen Erwachen der betreffenden Führungsstäbe: Es stellte sich, sehr zum Entsetzen der Admiralität, der Medien und der menschlichen Bevölkerung rasch heraus, dass die Devils auch jetzt nicht mit sich reden ließen. Sie hatten schon vorher mit den Terranern nicht kommuniziert, und wenn möglich, wurden sie jetzt nur noch radikaler und brutaler, wo es um ihr eigenes Heimatterrain ging.
Sie kannten noch immer nur Hass, und sie töteten bedenkenlos.
Meistens.
Denn neben den ständigen Hinterhalten und gnadenlosen Attacken, von denen Kriegsberichterstattern reichlich furchtbares Bildmaterial als traumatisierende Botschaft in die Heimat zurücksandten (auch wenn das alles sehr stark zensiert und entschärft wurde), kam es auch zu weit beunruhigenderen Geschehnissen während der Kämpfe auf der finsteren Höllenwelt unter der blutroten Sonne.
Manchmal verschwanden nämlich während der Kampfhandlungen auch terranische Raumsoldaten in dem unübersichtlichen Terrain und den schier endlosen Höhlenlabyrinthen spurlos. Anfangs waren es einige hundert, verstreut auf viele Konfliktschauplätze überall auf der Planetenoberfläche. Dann erhöhte sich die Zahl schließlich auf Tausende. Am Ende waren es sogar Zehntausende, deren Schicksal unklar blieb.
Je länger die Bodenkämpfe andauerten, desto stärker veränderte sich in der menschlichen Zivilgesellschaft die Einstellung zu dieser Art von Kriegführung. Einer Kriegführung, die sich immer mehr zu brutalisieren schien und in dem gleich dem Verschleiß in der legendären „Blutmühle“ von Verdun (ein ebenso legendäres wie traumatisches Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) immer mehr Menschen zum Opfer fielen, Soldaten zerfetzt, psychisch traumatisiert und in mentale Wracks verwandelt oder schlicht in blutigen Überresten in Leichensäcken in die Heimat zurückgeführt wurden.
Der Blutzoll wurde allmählich schlicht zu hoch.
Der Druck der Öffentlichkeit, die anfangs so vehement den Bodenkampf gefordert hatte in der leider irrigen Erwartung, so eine endgültige Entscheidung erzwingen zu können, er wurde nun immer stärker und veränderte sich. Der sehnliche und sehr begreifliche Wunsch manifestierte sich zunehmend, diesem grauenhaften, blutigen Krieg ohne Sinn und Verstand endlich ein Ende zu machen … ein Ende um jeden Preis.
Und das führte dann zur finalen Phase der Auseinandersetzung, auch wenn das anfangs noch niemand in voller Konsequenz realisieren konnte.
Das Massaker, so der zunehmende Tenor in den Medien und Verbänden, das Massaker auf Inferno durfte einfach nicht mehr so weitergehen. Wenn diese Wesen nicht fähig waren, zu lernen, sich zu unterwerfen, ihre Fehler einzusehen, dann durften sie nicht weiter existieren.
Dann musste man sie eben auslöschen, sie forderten es schließlich heraus.
Nur auf diese Weise, sagten die Hardliner der bizarrerweise als „Antikriegsfraktion“ bezeichneten gesellschaftlichen Strömung, nur so könne man sicher sein, dass diese Gefahr nie wieder die Existenz und das friedliche Wachstum der menschlichen Zivilisation bedrohte.
Als die nächsten Wahlen zur Erdregierung anstanden, gewann die Partei zum Unbehagen vieler früherer Gegner des Konflikts mit den Devils die meisten Stimmen, die sich tatsächlich ein genozidales Kriegsziel setzte und versprach, sie würde den Krieg beenden, im Extremfall durch die Ausrottung aller Devils.
Der Krieg hatte in wenigen Jahren sowohl die menschliche Zivilgesellschaft wie die politischen Verantwortungsträger gründlich verändert und ihre moralischen Einstellungen verhärtet bis an den Rand der Unmenschlichkeit. Die Schuld trugen natürlich die unerbittlichen Feinde, die Devils. Gäbe es sie nicht, so wurde in den Feuilletons und den Talkshows und Regionalparlamenten immer wieder argumentiert, dann würde man niemals soweit gehen. Mit Menschen, und mochten es auch Völkerschlächter sein, konnte man immer noch reden.
Aber mit den Devils gab es einfach keine Verständigung.
Es gab keine gefangenen Feinde. Sie mussten buchstäblich alle bis zum Tod niedergekämpft werden, weil sie selbst mit schwersten Verwundungen gnadenlos weiterkämpften, mehr wie tollwütige Tiere denn wie intelligente Wesen.
Es existierte nicht der geringste Funke Hoffnung, dass diese Kreaturen jemals zu menschlichen Regungen fähig sein würden. Alles, was in ihnen existierte, schienen Hass und Blutdurst zu sein. Wenn sie einen Terraner entdeckten, und mochte es ein argloser Säugling sein, würde ein Devil ihn mit Freuden töten und in Stücke reißen.
Für die Devils war offenkundig nur ein toter Terraner ein guter Terraner.
Wer konnte es den Kriegstreibern in der irdischen Regierung also übel nehmen, wenn sie an alte biblische Grundsätze appellierten und Gleiches mit Gleichem zu vergelten trachteten?
Wenn nur ein toter Devil ein guter Devil war … nun, dann würden sie eben alle sterben müssen. So einfach war das. Dann war sowohl das Problem aus der Welt als auch der Krieg beendet.
Wenn man nicht tief genug darüber nachsann, was eine solche Entscheidung letztlich mit der Gesellschaft anstellte, die sie traf, dann klang das tatsächlich nach einer intelligenten, durchaus logischen Lösung. Man durfte nur nicht darüber moralisieren, denn dann kam der unvermeidliche Katzenjammer, der Selbstekel über das, was man sich anschickte zu tun.
Genau genommen stellte das nämlich keine Lösung dar, sondern eine Bankrotterklärung der Zivilisation. Die Kapitulation und Aufgabe jeder Form von diplomatischer Lösungsstrategie.
Völkermord als Auswegstrategie.
Die Devils hatten es geschafft, dass die Menschheit das Völkerrecht selbst abschaffte.
Doch dann kam es tatsächlich zu einer Wende im Konflikt, allerdings zu einer ausgesprochen grässlichen Wende.
Während schwerste Waffensysteme für die „Endlösung“ des Devil-Problems ins Dante-System verlegt wurden, entdeckten Stoßtrupps der Armee unterirdische Labore der Devils. Und menschliche Überlebende. Vermisste Soldaten, die seit Monaten verschollen und wider Erwarten nicht von den monströsen Feinden in Stücke gerissen worden waren.
Leider war das, was die Devils mit ihnen in bizarren Experimenttanks angestellt hatten, vermutlich grässlicher als der sofortige Tod. Das kam auf schreckliche Weise heraus, je weiter sich die Marines in die zentralen Laborkomplexe der Devils vorkämpften.
Sie stellten fest, dass die Entführten über all die Zeit furchtbaren Foltern unterworfen worden waren. Inzwischen waren sie nur noch klägliche, menschliche Wracks, von den Devils immer weiter für widerwärtige, grauenhafte Experimente missbraucht wurden. Die meisten von ihnen waren inzwischen mehr tot als lebendig.
Aber es waren ihre Jungs und tapferen Soldatinnen! Und sie mussten natürlich gerettet werden, koste es, was es wolle! Und da noch Zehntausende verschollen waren, loderte nun natürlich die Hoffnung in den Angehörigen auf, womöglich noch mehr Überlebende zu finden, in welchem Zustand auch immer sie sich befinden mochten
Diese Entdeckung der unmenschlichen Folterexperimente, die viele der Betroffenen Gliedmaßen oder den klaren Verstand geraubt hatte, manchmal auch beides, und die Rückführung der ersten auf diese Weise Kriegsverehrten fachte den Hass der Menschheit auf die monströsen Aliens immer weiter an.
Endlich, als aus dem so genannten „Kessel von Chuuluk“ die letzten Folteropfer geborgen worden waren, wurde der Admiralität freie Hand gegeben, um mit den Devils nun nach eigenem Gutdünken zu verfahren und ihnen die Medizin zu schlucken zu geben, die sie verdient hatten.
Als der Kampf schließlich Wochen später endete, gab es keine Devils mehr. Inferno war in ein Schlachtfeld ohnegleichen verwandelt worden, vielfach auf Zehntausende von Jahre hinaus radioaktiv verstrahlt. Und es blieb die Aufgabe, die Hunderttausende von grässlich entstellten Veteranen in den Medotransporter heimzuführen zur Erde. Sie nach besten Kräften wieder in die menschliche Gesellschaft einzugliedern. In den meisten Fällen waren sie allerdings so schwer versehrt, dass man sie nur unter vollen Bezügen in Pension schicken konnte.
Einerlei: Die Veteranen stellten Helden der Menschheit dar. Sie waren hoch geehrt und selbst im Ruhestand noch ein klares, unmissverständliches Zeichen. Sie waren der sichtbare Beweis dafür, dass die Menschlichkeit den Sieg stets davontrug, wie fremdartig und unverständlich der Gegner auch sein mochte. Man mochte harte, gnadenlose Entscheidungen getroffen haben, aber nun endlich war der Alptraum vorbei, nun konnte sich die Menschheit wieder entspannen und zur Tagesordnung übergehen.
Alle dachten, der Krieg sei vorüber.
Auch die Veteranen.
Doch sie irrten sich.
***
Neu Lhasa, 3. Februar 2397
Es passierte zum ersten Mal, als ich die Wohnung verließ.
Seit ich pensioniert wurde, bewohnte ich in Neu Lhasa eine kleine, aber feine Villa mit Blick auf den Internationalen Spaceport hier im tibetischen Hochland, der mich angenehm an meine Berufslaufbahn erinnerte. Ein hübsches Häuschen mit genmodifizierten Hochlandakazien und eingeführten Kakteenwäldern, die die einzelnen Grundstücke grün und fliederfarben umrankten.
Doch, recht eigentlich musste man sagen, war es ganz angenehm, so als staatlich alimentierter und von der sensationshungrigen Öffentlichkeit sorgsam isolierter Veteran des Krieges an einem ruhigen Ort wie diesem zu leben. Die Weltregierung ließ es uns auf angenehmste Weise spüren, dass wir im Grunde genommen Helden darstellten, denen die Gesellschaft eine Menge verdankte. Unser Opfer, an das ich nur sehr selten und ungern dachte, hatte angeblich dazu beigetragen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Das hatte ich so oft gelesen und gehört, dass ich fast selbst daran glaubte.
Aber Glauben … ach ja, das war so eine Sache bei mir. Meine Kameraden in der Armee hätten darüber gelacht, weil sie mich eingefleischten Atheisten halt gut kannten. „Ach, auf seine alten Tage wird Senner Kadesch echt noch religiös!“
So hätten sie gespottet, klar.
Nachdem wir auf Inferno waren, wo wir begreifen mussten, dass die Hölle ein höchst realer Ort war, der weit jenseits der Grenzen des Vorstellbaren lag und dass uns hier Qualen erwarteten, die sich kein noch so perverses Menschenhirn auszudenken imstande war, da spotteten selbst die fröhlichsten Naturen nicht mehr.
Das Lachen starb auf Inferno, genauso wie jede Form von Galgenhumor.
Für uns, die Überlebenden des Kessels von Chuuluk, war es sogar noch schlimmer. Wir spürten den Schatten der Vergangenheit wirklich physisch … und zahlreiche meiner Kameradinnen und Kameraden hatte es auch körperlich einfach dermaßen zu Wracks gemacht, dass eine Rückkehr in ein normales Leben schlicht unmöglich wurde.
In gewisser Weise hatte ich es dabei noch gut erwischt.
Mich kostete es nur jede Menge Schmerz, zahlreiche Organe, die ersetzt werden mussten und 25 Monaten qualvolle Rehabilitation … aber ja, ich vermochte auf meinen eigenen Beinen zu gehen, ich konnte meine Hände wieder gebrauchen, reden und essen wie ein normaler Mensch … so gesehen hatte ich es wirklich vergleichsweise leicht, halbwegs ein geregeltes Seniorenleben zu führen. Komischer Gedanke, mit Ende Vierzig solche Gedanken zu hegen. Als ich als Jungspund in die Armee eintrat mit der großspurigen Vorstellung, ich würde rasch zum Eliteoffizier aufsteigen, mich auf Inferno beweisen und so schnell wieder dem Schlachtfeld den Rücken kehren können, da hatte ich absolut keine Vorstellung, was für einen ausgemachten Stuss ich da dachte, was für idiotische Pläne ich hegte.
Echt, so bescheuerte Gedanken trieben mich damals um, ehe ich Feindberührung hatte.
Danach war nichts mehr wie zuvor.
Ich schüttelte diese Gedanken ab, obwohl ich genau wusste, dass sie bis an mein Lebensende immer wiederkehren würden, und stattdessen kümmerte ich mich halt um meinen Kram.
Als mich der Effekt erwischte, befand ich mich gerade auf meiner täglichen Fitnessrunde durch die weißgekalkten Quaderhäuser von Neu Lhasa, wo die nicht ganz so privilegierten Veteranen lebten. Zwei Kilometer war das Maß, das ich mir stets setzte, und nach all den Jahren, die ich schon hier lebte, konnte ich diese Wegstrecke sogar zurücklegen, ohne Herzrasen und Atemnot zu bekommen. Die Ärzte hatten mir gesagt, ich würde solche klaren Pläne brauchen, ebenso wie die Medikamente, die verhinderten, dass mein Körper die Implantate abstieß (leider immer noch ein Problem, trotz aller medizinischen Fortschritte). War also auf meine frühen-alten Tage echt ein Medikamenten-Junkie geworden.
Hätte ich mir beim Eintritt in die Armee auch nicht vorstellen können.
Wie gesagt, meine Erlebnisse auf Inferno hatten vieles verändert.
Was genau an diesem Morgen passierte, dem 3. Februar 2397, das war mir dabei absolut nicht klar. Es kam einfach alles viel zu überraschend. Auf einmal legte sich eine Art Schleier um mich, die Welt versank, erbebte, zitterte und zerfloss sozusagen …,
… u m a n d e r s z u w e r d e n .
Verstört richtete ich den Blick gen Himmel und sah dort die höllische Purpursonne Dante, jenes Gestirn, das ich hassen gelernt hatte.
Unwillkürlich schrie ich leise auf, erstickte den Schrei aber sofort. Was, wenn SIE mich hörten, mit ihren unmenschlichen Sinnen die Vibrationen meines Anzugs erfühlen konnten? Spürten, dass ich jählings eine Schweineangst empfand? Denn das tat ich, verdammt noch mal!
Ich wusste, dass Fehler dieser Art unsere erste Garnison fast gänzlich umgebracht hatte, der Umstand eben, nicht still kämpfen zu können. Die Panik unterdrücken zu können.
Schweiß perlte von meiner Stirn und tränkte das so vertraute schwarze Stirnband der Nahkämpfer, das ich trotz meines Ganzkörper-Kampfanzugs überdeutlich beim Stirnrunzeln fühlte.
Scheiße, dieses Stirnband … ich hatte es noch, natürlich, als eine Art Requisite, in einer sorgsam abgeschlossenen Schublade in meiner Villa in Neu Lhasa. Ich hatte es seit Jahren nicht mehr angelegt! Genauso, wie ich schon seit Jahren nicht mehr zu den Gedächtnis-Events kam, wo das Tragen solcher Stirnbänder Pflicht war … soweit man es anlegen konnte. Manche Veteranen waren dazu aus physiologischen Gründen nicht mehr in der Lage.
Mich hatten diese Events einfach fertig gemacht. Wie so viele meiner Gefährtinnen und Gefährten halt auch. Flashbacks überrollten uns dann in solcher Intensität, dass es nicht selten zu Panikattacken kam.
Das war eine Scheißerfahrung, darauf legte niemand Wert!
Und ich war noch nie ein gottverdammter Masochist gewesen, ganz bestimmt nicht vor dem Kessel von Chuuluk, und danach sowieso nicht mehr, um keinen Preis der Welt!
Aber wo, zur Hölle, war all das geblieben?
Ich war doch eben noch in der Treppengasse von Neu Lhasa gewesen, hatte langsam, vorsichtig Schritt vor Schritt gesetzt, immer mit einer Hand an der glatten Gassenwand, weil ich mich vor Stürzen hüten sollte.
Und auf einmal war alles anders.
Alles!
Erschüttert blickte ich an mir herab und starrte auf die schwarze, enganliegende Montur, spürte das Gewicht des Partikelstrahlgenerators auf meinem Rücken, fühlte aber auch die unbändige Kraft in mir …
Meine Gedanken rasten.
Das konnte alles nicht sein! Das war unmöglich!
‚Ich BIN nicht mehr im Krieg! Ich bin pensioniert … aus der Armee entlassen! Das können sie nicht machen! Man kann mich doch nicht einfach von der Straße kidnappen und in den Krieg zurückschicken! Mein Gott! Das ist UNMENSCHLICH! Niemand hat mich auf so etwas vorbereitet … nichts und niemand …!’
Ich musste in einem Cyborganzug stecken, der meine heute eher bescheidenen Kräfte auf ein kampfakzeptables Level hob. Anders hätte meine Anwesenheit hier gar keinen Sinn ergeben. Ich war schließlich 48 Jahre alt, nicht mehr 22, als ich in den Krieg zog.
Das konnte hier alles gar nicht wahr sein!
Die Umgebung, unter dunstigen Nebelschwaden halb verschleiert, die Konturen der Landschaft wie in einem Zerrspiegel oszillierend und wabernd, wirkte unter dem Blutlicht ebenso beängstigend wie vor über zwanzig Jahren. Ich wusste zwar nicht genau, WO ich herausgekommen war, aber ich hatte noch genug Details im Kopf, um mit Hilfe einiger Anhaltspunkte meinen Standort zu ermitteln.
Also griff ich in dem tausendfach geübten Reflex nach dem Gradmesser an meiner linken Hüfte und …
… t a u m e l t e …
… gegen die Mauer.
Keuchend klammerte ich mich daran fest, die Augen weit aufgerissen vor Entsetzen, nach Luft schnappend. Schwindel durchpulste mich. Das Herz hämmerte wie verrückt in einer Brust, gleich einem wahnsinnig gewordenen Uhrwerk, das zerspringen wollte. Die Schläge taten richtig weh.
Scheiße, soviel zu meiner Kondition!
Sah nach einem richtig üblen Rückfall aus.
„Kann ich Ihnen helfen? Sie sehen nicht gut aus“, sprach mich jemand an.
Im ersten Moment hätte ich fast zugeschlagen, weil ich noch Orientierungsprobleme hatte, konnte es aber ohnehin nicht, weil ich mich mit beiden Händen an der Wand abzustützen hatte.
Aber es handelte sich zu meiner grenzenlosen Erleichterung nur eine schmale Veteranenlady aus den Amazonenverbänden, die mich angesprochen hatte. Ich entsann mich mit ein wenig Verzögerung, sie ein paar Male bei den Veteranentreffen gesehen zu haben … wusste aber nicht mehr genau zu sagen, ob ich mit ihr geredet hatte.
Alles, was mir spontan einfiel, war die Tatsache, dass sie damals im Sektor Centaurus eingesetzt wurde, weit weg vom Kessel, gottlob. Inzwischen war sie natürlich ebenso weißhaarig wie ich auch, 22 Jahre hinterließen eben ihre Spuren, nicht wahr? Wir sahen uns einmal in der Woche bei den obligatorischen Teekränzchen (so nannten wir bei uns die Veteranentreffen). Zu mehr waren wir Veteranen einfach nicht mehr zu gebrauchen, und da bezog ich mich durchaus mit ein.
„Danke, Dana“, stieß ich mit krächzender Stimme hervor, als mir mit Verspätung ihr Name wieder einfiel. Zitternd wehrte ich ihre hilfreichen Hände ab. „Danke … es geht schon.“
„Ah, Senner, du bist es … du weißt ja, meine Augen sind nicht mehr die besten“, erwiderte sie und entspannte sich merklich. Genau wie ich war sie irgendwie instinktiv – nach besten Kräften – in eine defensiv-verteidigende Körperpose verfallen.
Veteranensyndrom.
Eins von vielen.
„Was ist passiert?“
„Ein Schwächeanfall, nehme ich an“, murmelte ich leise. Was Besseres fiel mir nicht ein, da ich dergleichen noch nie verspürt hatte. „Keine Ahnung, was genau los war. Vielleicht sollte ich mal zum Doc gehen.“
Sie sah mir mit ihren matt gewordenen, bernsteingelben Augen ins Gesicht und musterte mich so eindringlich, wie es ihr halt möglich war. Es fiel mir sehr schwer, das nervöse Flackern meiner Augenlider zu unterdrücken, aber offensichtlich gelang es mir, sie über meinen momentanen Zustand hinwegzutäuschen. Dana … ah, Dana Shoemaker, das war ihr voller Name … sie zuckte mit den Schultern – eine immer noch aparte Bewegung, trotz ihres Alters – und meinte dann: „Wenn du Probleme hast, Senner, weißt du ja, dass du dich jederzeit an mich wenden kannst.“
Ich nickte ihr zu. „Ich weiß es. Und ich danke dir dafür. Aber im Moment sehe ich nichts, wobei du mir helfen könntest.“
Sie musterte mich kurz, meinen ausgezehrten, hageren Körper, dem man die Strapazen von Chuuluk noch immer deutlich ansah. Wenn ich zum halbjährlichen Gesundheitscheck beim Doc auftauchte, dann konnte man all die Narben sehen, die überall an meinem Körper zurückgeblieben waren. Narben von den Operationen, mit denen mich die Stabsärzte im Oberkommando wieder zusammengeflickten, nachdem die Devils mich im Kessel von Chuuluk beinahe umgebracht hatten.
Ich erinnerte mich sehr ungern daran.
Ganz und gar verdrängte ich, was die Devils mit mir angestellt hatten.
Davon bekam ich heute manchmal noch Alpträume und schreckte schweißgebadet und schreiend aus dem Schlaf … das war nichts, was ich mit irgendwem teilen wollte. Und zweifellos lag darin auch der Grund, warum ich mich nach der mühsamen Rekonvaleszenzzeit auf dem Mars nie wieder ernsthaft gebunden, sondern im Gegenteil auch den Kontakt zum Rest meiner Familie abgebrochen hatte.
Ich konnte ihnen einfach nichts erzählen.
Wir lebten buchstäblich in verschiedenen, inkompatiblen Welten.
Das, was sie als normales Leben empfanden, hatte für mich ein für allemal aufgehört zu sein, nicht allein deswegen, weil die geschwundenen Kräfte für viele der dazu nötigen Tätigkeiten gar nicht mehr ausreichten. Sex beispielsweise … früher eine tolle Sache, konnte ich jetzt völlig vergessen, wenn ich nicht sofort kollabieren und Patient auf der Intensivstation werden wollte. Teufel, das war ein echter Verlust. Urlaubsreisen. Ausdauersport. Einfach mal abhängen und sich volllaufen lassen.
Dinge, die es einfach nicht mehr gab.
Hin- und hergerissen sah ich also Dana Shoemaker hinterher, als sie ihre eigene Fitnessrunde fortsetzte. Ich würde besser daran tun, in meine eigenen vier Wände zurückzukehren. Zugleich wünschte ich mir insgeheim von Herzen, mit ihr über die Vergangenheit reden zu können, über meine persönlichen Erfahrungen und Traumata. Aber das war ganz ausgeschlossen.
Gewiss, sie war zwar auch dort gewesen, auf Inferno, während des Krieges … aber halt niemals im Kessel von Chuuluk. Und mir war die strikte Weisung erteilt worden, über Chuuluk und alles, was dort geschehen war, auch mit mir passiert war, für den Rest meines Lebens absolutes Stillschweigen zu bewahren. Ein Verstoß gegen diese Auflagen, von denen nur die Ärzte ausgenommen waren – mit denen MUSSTE ich über diese Dinge ja reden – , ein solcher Verstoß konnte mich meine Rente, mein Anwesen und alles andere kosten, das ich dank des Sondererlasses des Innenministeriums teuer verdient hatte.
Nun, das alles half durchaus, ein bescheidenes Frühsenioren-Leben hier in Neu Lhasa zu führen. Dank der lebenslangen Invalidenrente gab es keine Schwierigkeiten, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, die Wohnung wurde von den Armeefonds finanziert, und der Nachrichtendienst hielt mir – und den anderen Veteranen – diese Aasgeier von Reportern fern … nach 22 Jahren hatte das glücklicherweise sehr stark nachgelassen, weil andere Krisen den erloschenen Devil-Krieg in den Hintergrund drängten, wie das eben immer in der kurzlebigen Informationsbranche der Fall war.
Ich schob also alle Gedanken an Dana Shoemaker, den seltsamen Schwächeanfall und diese bizarre, damit einhergehende Halluzination beiseite und kehrte schleppenden, vorsichtigen Schritts heim.
***
Neu Lhasa, 4. Februar 2397
Am kommenden Morgen fühlte ich mich besser.
Ich hatte zwar versucht, meine ärztlichen Betreuungspersonen zu erreichen, aber wie üblich war ich dabei in der endlosen Warteschlaufe gelandet und hatte schließlich kapituliert.
Da der Rest des Abends ruhig verlief und die komischen Symptome nicht zurückkehrten, ging ich zeitig zu Bett und schlief gottlob tief und fest. Also ging ich davon aus, da auch am Morgen alles wie üblich verlief, dass das ein bizarrer, einmaliger Ausrutscher war.
Darüber konnte ich später immer noch die Ärzte kontaktieren. Das war jetzt vielleicht doch nicht so wichtig.
Also begab ich mich – vorsichtigerweise diesmal mit der Magnet-Schwebebahn – ins Ortszentrum, um ein paar Einkäufe zu erledigen. Dabei musste ich mich nicht so über Gebühr anstrengen und war immerzu unter Leuten. In der Gasse war Dana weit und breit die einzige Person gewesen, das hätte gestern also viel schlimmer ausgehen können.
Aber es passierte glücklicherweise rein gar nichts. So entspannte ich mich zunehmend mehr und mehr.
Mehr als vier Stunden später befand ich mich dann wieder auf dem Rückweg. Ich hatte mir eine Reihe von Kleidungsstücken gekauft sowie mongolischen Sekt als ein kleines bisschen Luxus. Außerdem hatte ich der Bank einen Besuch abgestattet, um auf altmodische Weise vor Ort meinen Kontostand zu checken und natürlich auch, um eines der wenigen Vergnügen zu haben, das ich in meiner eingeschränkten Situation noch fühlen konnte: Ich führte einen vergnüglichen Schwatz mit den hinreißend schönen weiblichen Angestellten.
Sie waren durch die Bank alle junge und voll motivierte Hochlandchinesinnen, die durch genetische Optimierung an das Dach der Welt angepasst worden waren. Obwohl ich das nie so indiskret fragte, nahm ich außerdem an, dass man bei der Gelegenheit offenkundig auch gleich ihre Erscheinung in der Weise genormt hatte, dass man als Mann schier den Kopf verlieren konnte. So bildschöne Wesen mit elfenbeinernem Teint, lackschwarzen, schulterlangen Haaren und hinreißend funkelnden, dunklen Mandelaugen … zum Verlieben schön, wirklich. Hätte ich noch irgendwie die Fähigkeit besessen … zur Hölle, natürlich hätte ich ein solch schönes Geschöpf wie die die hinreißende Lian etwa gern ins Bett gezogen, um mit ihr das zu tun, was leidenschaftliche Paare nun einmal miteinander tun.
Zu traurig, dass das alles nur Wunschphantasien waren ohne die leiseste Aussicht auf Erfüllung. Im Bett wäre ich die totale Enttäuschung gewesen, also verzichtete ich besser darauf und parlierte nur schäkernd und freundschaftlich-kokettierend mit Lian und ihren Kolleginnen. Sie kannten das ja so schon seit Jahren von mir und wussten, dass daraus keine weitergehenden Aktionen entstehen würden. Ich nahm an, dass sie in mir wohl eher eine Art von seltsam jungem Onkel oder so sahen und wies den Gedanken von mir, sie würden sich vielleicht nur aus Mitgefühl mit einem verkrüppelten Veteranen auf einen derartig fleischlosen Flirt einlassen.
Das hätte mir die Freude an diesem kleinen Vergnügen arg vergällt. Also ließ ich derlei finstere Gedanken gar nicht an mich heran.
Abschließend leistete ich mir dann noch einen kleinen Imbiss bei einem der preiswerten Indonesen im Bankenviertel, da es schon überraschend Mittagszeit geworden war.
Hier war ich dann auf Pherson gestoßen, einen anderen Veteranen, den es erheblich schlimmer erwischt hatte als mich. Ihn hatten die Devils als noch übler als mich als Versuchskaninchen genommen. Er hatte das Augenlicht vollständig verloren, außerdem Arme und Beine sowie zahlreiche innere Organe.
Dass ihn unsere Stabsärzte gerettet hatten, grenzte wahrlich an ein Wunder. Heute war er in einen rollenden Medotank eingeschlossen, der als einer von vielen durch die modernisierten Straßen der Siedlung von Neu Lhasa fuhr. So konnte man nur noch an dem Bullauge in der Vorderseite, durch die Phersons Gesicht mit den chromblitzenden Retina-Implantaten hinausblickte in die für ihn fremd gewordene Welt, eigentlich erkennen, dass er es war. Und ja, natürlich konnte man auch seinen Namen auf dem Bronzeschild über dem Bullauge sehen, wo er gewissermaßen vorzeitig schon verewigt war.
Doch zugleich handelte es sich bei ihm nicht um eine Person, die sich depressiv in sich zurückzog. Das war niemals Andrew Phersons Ding gewesen. Als ich ihn beim Landetraining für Inferno kennenlernte, war der breitschultrige Harvard-Absolvent ein sonniges Gemüt gewesen, extrem belesen, leutselig und humorvoll … kein Vergleich mehr mit dem Wrack, das er heute darstellte.
Dennoch ließ er sich auch jetzt nicht unterkriegen, sondern suchte, wann immer möglich, die Öffentlichkeit. Deshalb war er auch beim Indonesier aufgekreuzt, hier traf er immer Leute. Pherson konnte sich über die Kunstlinsensysteme in der Umwelt solide orientieren und schwatzte dabei meist unentwegt, meistens belangloses Zeug, Gedichtfetzen, monologisierende Wiederholungen von alten Trivideosendungen, die er sich dank seines genialen Verstandes noch gemerkt hatte. Auf Außenreize oder Ansprachen reagierte er dagegen kaum.
Ich vermutete immer, dieses gute Gedächtnis habe ihn vor dem völligen Wahnsinn bewahrt, während die Devils ihn im Kessel von Chuuluk bei vollem Bewusstsein sezierten und dabei doch nicht sterben ließen.
Er war ein armer Teufel, und wann immer ich ihn sah, wusste ich stets, wie gut es mich eigentlich getroffen hatte – Pherson war nur selten noch imstande zu vernünftiger Diskussion, seine „klaren Momente“ ließen sich täglich in Minuten zählen. In den letzten Jahren hatte ich zunehmend das Gefühl, dass dieses Zeitfenster bei ihm kleiner wurde.
In solchen Momenten, wenn ich derart mitgenommene Kameraden sah, dann fiel es mir doch schwer, mich zu beherrschen. Denn ungeachtet meiner relativ privilegierten Situation wusste ich natürlich nur zu gut, dass wir Veteranen des Krieges für die Normalbürger ringsum eine Art von Freaks darstellten. Diese naiven, kleingeistigen Trottel konnten sich nicht mal entfernt vorstellen, was wir durchgemacht hatten. Dass es unser Einsatz letzten Endes gewesen war, den Krieg so hinauszuzögern, bis die Devils besiegt werden konnten.
Ach, wenn wir nicht zum Stillschweigen über all das verdonnert worden wären … ich hätte diesen grünen Jungs Dinge von Chuuluk erzählen können, dass sie sich eingenässt hätten … aber dann wieder wusste ich nur zu gut, warum es klug war, das nicht zu tun.
Einmal, weil es uns untersagt worden war.
Dann aber auch, und das war sehr viel wichtiger, weil ein Wieder-Erinnern die Alpträume über Gebühr stärkte. Ich brauchte schließlich JAHRE, um über die ständigen Alpträume hinwegzukommen. Und mit der Bemerkung konnte ich mich dann auch von den meisten Jahrestagsveranstaltungen fernhalten, die von den Veteranenverbänden ausgerichtet wurden. Das Fünf-Jahres-Jubiläum war wohl das letzte gewesen, an dem ich teilnahm.
Danach ließen die Alpträume dann auch tatsächlich nach. Und das versöhnte mich mit dem auferlegten Schweigegebot. Ich schloss die Erinnerung an Inferno und speziell an Chuuluk tief in mir weg, und so konnte ich damit Frieden schließen … im Rahmen meiner Möglichkeiten, sicher. Wirklich, es war einfach das Beste, alles hinter sich zu lassen. Zu verdrängen. Sich durch die Alltagsroutine abzulenken und ganz darauf zu konzentrieren, zu Kräften zu kommen oder ein bescheidenes Fitnesslevel zu erreichen, das mich zu einem autonomen Leben außerhalb von Pflegeeinrichtungen befähigte.
Ja, meine Ansprüche waren schon ziemlich bescheiden geworden, eingestanden.
Als ich, für meine Verhältnisse schon recht gut bepackt, wieder daheim ankam, öffnete sich die Automatiktür auf meinen Zuruf hin und ließ mich ein. Sie besaß ein auf mein Stimmmuster geprägtes Automatikrelais und war zuverlässig wie ein gut dressierter Hund. Auch so eine Annehmlichkeit, die ich nicht missen mochte. Mit meinen zitternden Fingern wäre es schwierig gewesen, ein Schloss mit Schlüssel zu öffnen.
Hinter mir schloss sich die nietenbeschlagene Felstür geschmeidig. Viele von meinen Veteranenfreunden hatten eine interessante Affinität zu so „urwüchsigen„ Behausungen entwickelt und eine krasse Aversion gegen Krankenhausumgebungen. So kam es schließlich, als ich aus der Reha entlassen wurde, dass es schon Usus war, uns frisch gebackene Veteranen mit Katalogen zu begrüßen, in denen auch solche Wohneinheiten „im Steinzeit-Look“, wie die medizinischen Hilfsärzte spöttelten, angeboten wurden.
Das Gespött verstummte schnell, als sich gerade diese Einheiten großer Nachfrage erfreuten. Selbst ich hatte, interessanterweise, nicht einen Moment gezögert, mich für so ein Villenmodell zu entscheiden. Die Eingewöhnung lief dann weniger leicht. Vor allen Dingen hatten mich die sprechenden Einrichtungsgegenstände verwirrt, mitunter geradezu geängstigt.
Ich meine, wer ist denn schon daran gewöhnt, dass ein Herd Essensvorschläge macht? Oder das Bett darauf hinweist, dass es noch ein paar Minuten braucht, bis es abends bezugsfertig ist, weil der hygienische Automatikmodus noch läuft? Die Tür fand ich damals besonders anstrengend. Anfangs hatte sie mich doch allen Ernstes gefragt, ob sie das „echte Knarrgeräusch eines rollenden Felsens“ von sich geben solle, aber auf diesen Firlefanz hatte ich dann doch lieber verzichtet.
Es gab echt Grenzen des guten Geschmacks!
Natürlich handelte es sich bei dem Baustoff der Tür auch nicht um echten Fels, sondern nur auf alt getrimmter Spezialkunststoff, in den intelligente Schutzsensoren eingearbeitet waren – für den ziemlich unwahrscheinlichen Fall, dass irgendwer auf die Idee kommen sollte, bei mir einzubrechen. Er wäre längst paralysiert, bevor er auch nur die Eingangshalle erreichte. Aber in Neu Lhasa gab es erfreulicherweise keine Kriminalität mehr. Das hatte wesentlich damit zu tun, dass jeder, der sich hier ansiedelte, im Vorfeld schon streng durch das Militär kontrolliert und durchleuchtet wurde. Hierher konnten nur „makellose“ Bürger ziehen … und halt wir Veteranen.
Während meine kleine Kuppelvilla nach außen also den Eindruck eines schroffen, karstig-braunen Felsens machte, der hier beim Bau des Stadtviertels irgendwie übersehen worden war und über keinerlei Fenster zu verfügen schien, verhielt es sich in Wahrheit ganz anders. Viele Flächen, die nach außen aus massivem Fels zu bestehen schienen, stellten in Wirklichkeit raffiniert getarnte Einweg-Sichtscheiben dar, die Sonnenlicht einließen und von innen gut zu durchblicken waren. Der technische Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte hatte wie hier in Neu Lhasa Stadtmodelle hervorgebracht, die sich geradewegs harmonisch in die Landschaft einfügten.
Ein bisschen wie das archaische Hobbingen in Tolkiens „Herrn der Ringe“, dachte ich manchmal. Ein possierlicher Gedanke, der mich auf angenehme andere Gedanken brachte. Nur die sprechenden KI-Instrumente des Hauses – wie die Tür – fand ich dabei mitunter etwas penetrant, wie gesagt. Schätzungsweise meinten sie es nur freundlich. Aber wer konnte schon ehrlichen Gewissens Ende des 24. Jahrhunderte behaupten, er verstünde, was Künstliche Intelligenzen wirklich dachten? Ich wusste es ganz sicher nicht.
Viele Leute dachten über derlei Dinge augenscheinlich nicht allzu gründlich nach. Wir Veteranen des Devil-Krieges waren da wirklich ein ganz anderer Schlag. Manche nennen uns deshalb seltsame Menschen. Die meisten von uns zog es nach der Genesung aber ohnehin in die Abkapselung, wir schotteten uns gegen sonstige Gesellschaft ab und ließen uns allgemein nicht mehr in die Karten schauen. Teilweise war das zwingende Notwendigkeit, weil wir halt alle invalide und nicht mehr belastbar waren, aber das stellte nur einen Teilaspekt des Gesamtbildes dar.
Es schien mir eher so, als ob uns das, was wir auf Inferno mitgemacht hatten, doch grundlegender verändert hatte, als wir es uns eingestehen wollten. Vieles, was vorher für uns zur gewohnheitsgemäßen menschlichen Kultur zählte, hatte nun nicht mehr diesen Stellenwert, für viele galt das gar nicht mehr. Das trennte uns vom Durchschnitt der Weltbevölkerung in einer Weise, den sich ein Normalsterblicher vielleicht nicht einmal vorstellen konnte. Auch unsere Militärpsychologen hatten damit so ihre Probleme. Und diese Tendenz zur Selbstisolation verstärkte sich immer mehr, bis viele von uns sich kaum mehr als zur Menschheit gehörig verstanden.
Das war ein weiterer beunruhigender Gedanke, den ich natürlich ebenso gerne verdrängte wie die Erinnerung an den Kessel von Chuuluk, sehr verständlicherweise. Nur kam er leider mit einer verstörenden Beharrlichkeit wieder und wieder zum Vorschein.
Und nein, natürlich redete ich auch darüber mit niemandem.
Mit wem hätte ich das auch tun sollen? Mit meinem Militärpsychologen vielleicht, der attraktiven Dr. Alexa Fields? Miss Fields war eine hochintelligente, fesche Person, und ja, ich freute mich immer wieder über die holografischen Kontakte mit ihr. Ich nahm zudem an, dass sich unter ihrer grünen Militärbluse ohne Zweifel ein höchst ansehnlicher Busen verbarg, und ja, gelegentlich hatte ich feuchte Träume von ihr … aber sie zählte nun einmal gerade mal dreißig Lenze … sie war noch ein Kind gewesen, als ich aus der Hölle von Chuuluk befreit wurde. Sie kannte den ganzen Krieg nur aus verzerrenden Dokumentationen und neunmalklugen wissenschaftlichen Abhandlungen, die alle der wahren Situation von damals in keiner Weise gerecht wurden.
Nein, sie hätte mich einfach nicht verstanden, auch wenn sie sich natürlich jede erdenkliche Mühe gab.
Niemand verstand uns Veteranen, das erlebte ich immer wieder.
Manchmal fand ich das echt zum Kotzen.
„Komm, Senner Kadesch, denk an was Konstruktives!“, ermahnte ich mich.
Ich hatte gerade die eingekauften Sachen verstaut, als ich unvermittelt erneut von diesem eigenartigen Schwindel gepackt wurde.
„Oh nein … nicht schon wieder!“, stöhnte ich auf und taumelte zum Videofon, um meinen medizinischen Notfall-Doc Shentai anzurufen. Aber ich bekam gar nicht die Chance, es zu erreichen, geschweige denn, den Notruf zu betätigen.
Während ich noch den großen Wohnraum auf unsicheren Schritten durchquerte, begann alles zu wanken und zu schwanken, als … als stünde ich auf dem Deck eines landenden Raumtransporters, der in atmosphärische Turbulenzen geraten war.
‚Was um alles in der Welt IST das? Werde ich wahnsinnig? Erinnerungen an …
… d i e V e r g a n g e n h e i t a u f d e r H ö l l e n w e l t v o n I n f e r n o …’
Und dann war ich wieder da.
Erneut dieser Finsternis im Geist ausgesetzt. Wieder hatte ich den mattschwarzen Helm auf, spürte, wie er an den kurzen Stoppeln meiner noch schwarzen Haare rieb. Keuchender Atem in dem Raumanzug, ohne den man hier als Mensch definitiv nicht überleben konnte.
Dies war eine andere Stelle als vorhin.
Es handelte sich nun um einen schmalen, hohen Canyon, dessen Wände aus geschmirgeltem Obsidian zu bestehen schienen, in denen der satanisch rote Flimmer der Sonne flackerte, wenn das Licht mal durchdrang.
Überall flackerten auf dem Helmdisplay unkontrollierbare Infrarotreflexe.
Das waren die Devils, die auf diese Weise unsere Scanner irritierten. Wir konnten während des Krieges nie hundertprozentig ermitteln, wo sie saßen. Alles, was wir dadurch spürten, war, dass sie uns nah waren, uns belauerten. Das hatte etwas Nervenzermürbendes. Nichts war mehr sicher, der Feind konnte von überall her kommen.
Dies war sein Terrain.
Hier war er im Vorteil.
Es gab viele meiner Kameraden, die schnell der Ansicht waren, wir hätten niemals hier landen dürfen, das Ganze sei eine gottverdammte, planetengroße Falle, die nur darauf lauerte, junge Soldaten der Menschheit zu verschlingen … und das tat sie in der Tat.
Tag für Tag.
Jeden Tag Opfer, manchmal nur ein paar, dann wieder Dutzende, Hunderte …
Überhaupt war dieser ganze Krieg etwas Bizarres …
Angeblich hatte ihn niemand gewollt. Von unserer Seite aus jedenfalls, so wurde es immer wieder in den Medien, den Briefings, den Memoranden mantrahaft wiederholt. Von der Motivation der Devils konnte das allerdings niemand definitiv sagen, denn wir hatten sie niemals verstanden. Und das, obwohl wir fast elf Jahre gegen sie Krieg geführt hatten.
Inferno-Jahre, sollte man sagen.
Ein Jahr auf dem Planeten Inferno, dem zweiten Trabanten der blutroten Sonne Dante und gleichzeitig Brutstätte der Devils, dauerte 283,2 Tage Erdzeit. Die Rotation des Planeten lag mit 21 Stunden und 45 Minuten bei einem Durchmesser, der etwa dem der Erde entsprach, etwas unter Erdnorm.
Eine Höllenwelt, die niemand vergaß, der sich jemals in sie hineingewagt und das überlebt hatte.
Dies war die Furcht erregende, lebensfeindliche Heimat jener fremden Raumschiffe, die unsere Raumtransporter und kolonialen Außenposten bei jeder sich bietenden Gelegenheit attackierten. Sie beantworteten keine Funksprüche und sprengten sich selbst, wenn sie wrackgeschossen wurden. Es gab keine Gefangenen. Sie selbst versuchten auch, bei angegriffenen Erdschiffen niemanden am Leben zu lassen, sondern massakrierten unterschiedslos alles und jeden.
Sie hassten uns Terraner, einfach so. Grundlos.
Hass war ihre Grundkonstante.
Sie waren das Böse schlechthin.
Devils.
Das war aus gutem Grund der Name, der sich für sie zunächst in der Presse einbürgerte und der dann – wohl unvermeidlich – letzten Endes trotz seiner Unseriosität zur allgemeinen Bezeichnung wurde. Manche nannten sie anfangs auch „Schlächter“, „kosmische Nazis“ und so weiter, aber das setzte sich nicht durch.
Devils war eindeutig, plakativ, treffend.
Ziele dieser Angriffe aus dem Dunkel des interstellaren Raumes wurden rasch auch unsere terrageformten Kolonialwelten, wie ich mich erinnerte. Jahrelang herrschten deshalb Panik und Terror zwischen den Sternen. Das ging so lange, bis es dem Generalstab der Erdregierung endlich gelang, das Heimatgestirn der Devils ausfindig zu machen – eine kleine, kirschrote Sonne am Rande unseres Einflussbereiches, offenkundig die einzige Welt, auf der die Devils sich niedergelassen hatten.
In der letzten, erbarmungslosen Kampfphase, als die Devil-Raummarine zerstört worden war, wurden wir auf Druck der öffentlichen Meinung als Raumlandesoldaten eingesetzt. Das war eine konsequente, aber letzten Endes entsetzlich blutige und grausame Entscheidung des terranischen Oberkommandos, das eigens für den Kriegsfall gebildet worden war.
Dieser vielleicht politisch und gesellschaftlich begreifliche Entschluss hatte dann allerdings ein ungeheuerliches Gemetzel zur Folge. Ein Gemetzel, in dem fast drei Millionen junge Raumsoldaten ihr Leben auf Inferno verloren. Und es schuf letzten Endes auch uns … Abertausende verstümmelter Veteranen, die man noch lebend aus der Gefangenschaft der Folterlabors der Devils befreite. Aber ich weiß genau, dass viele von uns damals den schnellen Tod diesem qualvollen Rekonvaleszenz-Prozess vorgezogen wären.
Wir Veteranen waren einfach vollständig gebrochen, zum Weiterleben eigentlich außerstande nach den durchlittenen Schrecken und Qualen.
War das jetzt Vergangenheit? Oder handelte es sich dabei um die Zukunft?
Ich wusste es nicht mehr.
Konsequent blendete ich solche irritierenden Gedanken aus. Die würden nur dazu führen, meine Fokussierung auf das Hier und Jetzt abzulenken, und das konnte dann sehr gut die letzte Ablenkung meines Lebens sein!
Wir befanden uns in einer Gefechtssituation, verdammt noch mal!
Ich stiefelte durch den verstörend vertrauten schwarzen Keramikschutt am Fuß der Schlucht, und bemühte mich, nicht auf die Scherbenreste zu treten, um möglichst wenig Lärm zu erzeugen. Die Devils konnten verdammt gut hören. Leider.
Sie gehörten hierher, während wir die Eindringlinge waren.
In den Labyrinthen unter der Oberfläche der schwarzen Höllenwelt kam ich mir manchmal vor wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen … gerade wegen der Geräuschkulisse, die wir unabsichtlich hervorriefen.
Es gab in unserem Bataillon Leute, die die verrückte Theorie vertraten, die Devils würden diese Scherben absichtlich hier ausstreuen, als eine Form von Frühwarnsystem … das sei immer noch besser, als wenn sie Minen legten. Letzteres stimmte natürlich. Ersteres konnten wir nie beweisen. Es konnte auch einfach Erosionsschutt dieser Kristallwände sein … selbst die Geologen gaben zu, dass sie die Tektonik und Morphologie dieser Welt nicht hinreichend verstanden hatten.
Vielleicht in ein paar Jahren, hieß es, wenn man ausführliche geologische Untersuchungen durchgeführt hatte … musste man erwähnen, dass sich die Geologen nie in die vorderste Frontlinie wagten, es sei denn, man BEFAHL es ihnen?
Also echt, auf Ideen kamen die Leute in der Etappe … unfasslich!
Hinter mir wusste ich während meines behutsamen Vormarsches die anderen Kämpfer meiner Division. Zweifellos sahen ihre Mienen ebenso versteinert und verbissen aus wie die meine. Wir standen unter einer permanenten, unmenschlichen Anspannung, weil wir unablässig die Konfrontation mit dem gnadenlosen Gegner erwarten mussten.
Überall hatten wir diese höllischen Kreaturen zurückgeschlagen und sie niedergemetzelt, ihnen das gleiche angetan wie das, was sie UNS angetan hatten, grundlos angetan hatten. Sie waren Ungeheuer, blutrünstige Monster, den Alpträumen eines bösen Sternengottes entsprungen, allein zu dem Zweck geschaffen, uns zu bekämpfen, mit einem unbegreiflichen Hass, der ihre einzige Existenzberechtigung zu sein schien.
Woche für Woche, Monat für Monat hatten wir uns durch eine Gebirgslandschaft, ein Tal und einen Krater nach dem nächsten gekämpft, fast wie in den gottverdammten Stellungskämpfen des Ersten Weltkriegs! Und wie die Devils kannten wir auf unserem Feldzug keine Gnade. Wir fanden jede einzelne ihrer Felsenstädte und unterirdischen Fabriken, wir sprengten sie in die heiße, unter hohem Druck stehende Luft von Inferno, die freilich kaum Sauerstoff enthielt und daher keine Brände gestattete.
Wer immer also so etwas wie spektakuläre Explosionen und pyrotechnische Effekte erwartet hatte, wie man sie aus Kriegsfilmen kannte, wurde hier total enttäuscht. Es gab meist einfach nur eine kurze, blitzartige Eruption in Schwefelgelb, die sofort wieder erlosch, gefolgt von einem grollenden Trümmerregen. Und das war’s.
Wer wegen des „Krawumm“ bei uns mitmachte, war hier falsch.
Wer die Devils dagegen abgrundtief hasste, weil er selbst Angehörige durch sie verloren hatte … der befand sich genau an der richtigen Stelle, wahrhaftig!
Wir töteten die Bewohner der Städte, die Männer, Frauen und Kinder – wenn es so etwas bei ihnen überhaupt gab. Das ließ sich verdammt schwer entscheiden. Sie sahen im Grunde nämlich alle gleich aus und waren auch alle gleich groß. „Kleine“ Devils hatten wir nie entdecken können.
Deshalb suchten wir auch weiter, überall.
Es musste doch Brutstätten geben, Nester vielleicht, irgendwelche verborgenen Orte jedenfalls, wo diese Ungeheuer ihre blutrünstige Nachkommenschaft aufzogen, nicht wahr? Und wenn jeder einzelne von ihnen ein gnadenloser Menschenhasser war, dann musste diese Gefahr – wie es die öffentliche Meinung nun mal vehement forderte – auf geradezu biblische Weise an der Wurzel ausgetilgt werden.
Niemand von diesen Teufeln durfte am Leben bleiben, denn ihre Rache würde grauenhaft sein. Ich mochte mir nicht ausmalen, was die Devils mit uns anstellen würden, wenn sie auch nur die Chance zum Gegenschlag erhielten.
Deshalb waren wir nun hier in der achtzig Grad heißen, dichten Stickstoffatmosphäre unterwegs, direkt unterwegs zum Zentrum.
Nach Chuuluk, wo wir …
… d i e Z e n t r a l e d e s G e g n e r s f i n d e n u n d z e r s t ö r e n …
… sollten.
Japsend brach ich auf dem Teppich in meinem Wohnzimmer in die Knie, als mich die Woge des Effekts losließ. Ich brauchte lange Sekunden, um diese krasse Veränderung der Lage überhaupt zu verstehen.
Dies war nicht Inferno.
Dies war mein Wohnzimmer. Meine Villa in Neu Lhasa.
Mein ganzer ausgemergelter Körper war schweißbedeckt. Ich spürte eisige Kälte in den Fingern und Füßen. Die Kälte schien allmählich auf den gesamten Körper überzugreifen.
Panik überschwemmte meinen Verstand.
War das ein Herzanfall? Aber beim letzten Check war mir doch versichert worden, ich sei beneidenswert gut in Form … wie jeder andere Veteran auch. Das war die fast zynische Erbschaft der Devils – ihre malträtierten Opfer verfügten über eine ganz erstaunliche Langlebigkeit. Sie schien eine direkte Folge der Folterungen zu sein, so verrückt das auch klang.
Wir waren durch die Hölle gegangen, waren gefoltert und verstümmelt und fast verrückt geworden – und hatten zugleich eine extrem robuste Gesundheit geerbt. Offensichtlich allein deshalb, damit wir möglichst lange von den grauenerregenden Erinnerungen und peinigenden Alpträumen heimgesucht wurden.
Eine besonders perfide Art der Rache, die die Devils lange überlebte. So lautete jedenfalls die psychologische Einschätzung dieser verdammten Klugscheißer. Was Besseres hatten sie sich noch nicht ausdenken können.
Echt, auf solche Laienpsychologie konnte jeder von uns verzichten!
Verzweifelt riss ich mich zusammen und robbte über den automatischen, wärmenden Fußteppich von Proxima Centauri, weil ich nicht imstande war, mich zumindest auf die Knie hochzustemmen. Ich spürte, dass meine Arme mich nicht trugen, von den Beinen ganz zu schweigen.
Um ein Haar wäre ich sogar einfach hier liegengeblieben, so angenehm wärmte der exotische, wunderschöne goldgelbe Teppich. Fast hätte ich mich zusammengerollt wie im Ei … im Ei?
Im Innern der Gebärmutter, meinte ich natürlich.
Ich war wohl schon etwas verwirrt …
Mühsam und mit schwindender Kraft kämpfte ich mich zum Videofon vor und drückte den Notknopf für die medizinische Versorgung. Das war wirklich das Äußerste, wozu ich imstande war.
Es gab einfach keine Energie mehr, um ein Gespräch zu führen.
Keine Kraft mehr.
Ich brach ächzend zusammen und fiel rücklings auf den warmen Teppich …
… d e n n d e r S c h l a g e i n e s D e v i l s h a t t e m i c h g e t r o f f e n.
Die Hölle hatte sich aufgetan.
Rings um unseren kleinen Stoßtrupp öffneten sich die scheinbar fugenlosen, glänzenden Obsidianwände und spuckten nun die kleinen, mit schwarzen Glasborsten bedeckten Wesen aus, die entfernt menschenähnlich aussahen.
Devils!
Wenn man einen Moment bekam, um sie genauer in Augenschein zu nehmen – was wirklich selten möglich war, weil sie so unglaublich flink und unfassbar tödlich waren – , dann verflog diese Illusion allerdings rasch: Unsere mörderischen Feinde glichen mehr einer exotisch-widerlichen Kreuzung zwischen Borstenschwein und Schimpanse. Doch die Kräfte, die sie entfesselten, erwiesen sich als nicht mal annähernd so scherzhaft wie ihr Aussehen.
Vor der ersten Gefechtsberührung spotteten wir noch über die Bilder der Gegner und fanden, sie seien eher bizarre Witzfiguren … wenn dann aber die traumatisierten, arg dezimierten Trupps zurückkehrten und die zerfleischten Reste ihrer Kameraden mitschleppten, hörte jedes Witzeln schlagartig auf.
Dann wussten wir alle, dass hier draußen der Tod lauerte. Und wir wussten, wie er aussah – daran war dann rein gar nichts Witziges mehr! Wer die Devils dann immer noch für Witzfiguren hielt, der kam eben als kaltes Ragout zurück in den Stützpunkt und wurde gleich heimgeflogen, zur Beerdigung in Heimaterde!
Nein, die Devils waren alles andere als komisch.
Sie waren eher wie blutrünstige Raubtiere.
Intelligente Raubtiere, die Fallen stellten, Hinterhalte legten und erbarmungslos attackierten, wenn sie sich im Vorteil wähnten.
Ihre messerscharfen Krallen waren sehr imstande, unsere Raumanzüge aufzureißen, als ob sie aus mürbem Papier bestünden. Die ersten Landetrupps hatten das nicht hinreichend realisiert und waren in hoher Zahl gestorben. Die neuen Polymerpanzer hielten zwar glücklicherweise einige Hiebe aus, aber die Attacken hatten gleichwohl nichts von ihrer Gefährlichkeit eingebüßt. Schließlich griffen die Devils immer in Gruppen an und meist in diesen tückisch engen Tunnellabyrinthen.
So auch jetzt!
Mehr als ein Dutzend dieser Ungeheuer mit den drei rotglühenden Augen und den scharfen Reißzähnen, die selbst hartes Vulkangestein mühelos zerkleinern konnten, weil sie annähernd diamanthart waren, hatten uns diesen Hinterhalt gelegt.
Während Smithers und Riley dumpf knatterndes Dauerfeuer nach vorne gaben, um die Devils davon abzuhalten, uns mit geballter Kraft zu überfallen, waren drei schon in die Gruppe gesprungen (und ich sage euch: sie konnten gewaltige Sprünge machen, diese verfluchten Alien-Springteufel! Dadurch verloren wir am Anfang eine Menge guter Leute, weil wir das einfach nicht rechtzeitig begriffen hatten!) und wüteten dort wie die Berserker.
Und dann, durch nichts angekündigt, stürzte der Canyon in sich zusammen!
Ich sah nur noch schwarze Trümmerbrocken auf mich zurasen, riss die Arme hoch …
Dann riss der Film, und alles wurde schwarz um mich.
***
Militärbasis Aden, 6. Februar 2397
„Genau dasselbe, Sir. Derselbe Effekt.“
Dr. Jacqueline Waarid stand vor der Kunstglasscheibe, hinter der Roboter die zwei Dutzend Krankenbetten versorgten. Der jüngste Neuzugang war ein weiterer Veteran aus Neu Lhasa. Auf dem digitalen Datenblatt stand sein Name in solidem Grün: Senner Kadesch, 47 Jahre alt. Einer der letzten eingesetzten Soldaten und wie der Rest einer der vielen Versehrten, die auf Inferno aus dem Kessel von Chuuluk vor gut 25 Jahren evakuiert worden waren.
General Anton Jablokov, ein vierschrötiger, rauhbeiniger Militär mit grauem Bürstenschnitt, der sich dreißig Jahre lang im administrativen Sektor hochgekämpft hatte und seine letzten Auszeichnungen, die, wenn man genau war, eigentlich auch die ersten waren, in den Schlusswehen des Devil-Krieges erhalten hatte, sah die schwarzhaarige, schlanke Ärztin aus Kalkutta an. Sie hätte vom Alter her seine Tochter sein können, aber er hatte keine Kinder.
Sein Leben war das Militär, für Liebeleien oder Ehe war da kein Platz mehr gewesen. Wenn Jablokov dieses adrette Wesen im engen weißen Kittel anschaute, bedauerte er das direkt – zweifellos hatte Dr. Waarid so etwas wie ein Privatleben und sicherlich auch jemanden, mit dem sie eindeutige sexuelle Erfahrungen machen konnte. Vermutlich hegte sie sogar Pläne bezüglich eigener Kinder.
Er riss sich zusammen. Das gehörte jetzt nicht hierher.
„Was soll das bedeuten?“, verlangte er stattdessen zu erfahren.
Sie seufzte leise und erklärte es noch einmal. „Alle Opfer der Rentenklasse III/Delta Grün unterliegen demselben Effekt. Er hat in allen Veteranensiedlungen auf der Erde begonnen. Es ist so, dass es mit Schwindelanfällen, psychosomatischen Störungen, Verdauungsproblemen und Orientierungslosigkeit anfängt und sich in Halluzinationen, Schreikrämpfen und Apathiephasen weiterentwickelt.“
„Das beantwortet meine Frage keineswegs“, grollte Jablokov wütend.
Er hasste Dinge, die er nicht verstehen konnte. Das war damals auch der Grund gewesen, weshalb er sich für eine Vernichtungslösung der Devils stark gemacht hatte. Sie hatten dem irdischen Sternenreich schier unermesslichen Schaden zugefügt und einige Welten förmlich unbewohnbar gemacht. Es war zwingend erforderlich gewesen, brutale, endgültige Lösungen umzusetzen, um diese Gefahr ein für allemal auszuschalten.
Und er hatte sich mit einigen Hardliner-Kollegen durchgesetzt. So war dieses unheimliche, blutgierige, ja, blutrünstige Volk, diese ganze Rasse schließlich ausgerottet worden.
Von dieser schwarzen Höllenwelt, die für alle Zeiten gesperrt war, würde nie wieder eine Gefahr ausgehen. Und alles das, was auf Inferno passiert war und was das Militär für notwendig befand, um die Gefahr final auszuschalten, das BLIEB auch auf Inferno!
Dafür hatte nicht zuletzt Jablokov selbst gesorgt.
Das hier hingegen, was jetzt mit den hochdekorierten Veteranen geschah … das schmeckte ihm überhaupt nicht. Er wollte begreifen, was hier vor sich ging. Also stellte er die Frage noch einmal dringlicher und in abgewandelter Form: „Ich will wissen, was mit ihnen los ist! Sind das Spätfolgen des Einsatzes auf Inferno oder was geschieht hier mit den Männern und Frauen? Das ist doch alles kein Zufall!“
„Nein, in der Tat nicht.“
„Also?“
Die Ärztin seufzte. Wie um alles in der Welt sollte man so einem sturen Soldaten etwas erklären, was die Ärzte selbst noch nicht recht begriffen? Es gab zwar bereits einiges an validen Indizien für das, was hier geschah, aber die Ursache des Prozesses an sich – was man wirklich eine Lösung nennen mochte – , die lag noch vollkommen im Dunkeln.
Sie deutete daher anstelle einer Erklärung auf die blinkenden Anzeigetafeln neben den großen Fensterfronten, die in den Behandlungsraum hinein den Blick freigaben. Manchmal waren manifeste Belege besser als missverständliche Worte.
Auf den schwarzsilbernen Tafeln schimmerten die klimatischen Bedingungen des Innenraumes. Der General wurde blass, als er die Werte erkannte. Es waren Angaben wie aus der Hölle!
„45 Grad Temperatur? 73 Prozent Stickstoff? Permanente, schleichende Senkung des Sauerstoffwertes unter Erhöhung der Temperaturen? Was ist das für eine Foltermethode? Sie bringen die Leute um!“
„Ganz im Gegenteil, Sir. Wenn ich die normalen Verhältnisse belassen hätte, wären sie alle schon längst tot.“ Jacqueline rief ein Hologramm auf, das die physiologischen Tomographenwerte zeigte. Sie erklärte dem General so einfach wie möglich, was passiert war. Aber als er das zusammenfasste, merkte sie schon nach kurzer Zeit, dass er nur die Rahmenbedingungen begriffen hatte. Irgendwie überraschte das Jacqueline Waarid nicht.
„Sie werden also physiologisch verändert“, knurrte der Russe übel gelaunt. Soviel wenigstens hatte er begriffen. „Und wer macht das? Wie kann man das rückgängig machen?“
„Das ist noch nicht herausgefunden worden, Sir. Glauben Sie mir … unsere Spezialisten arbeiten daran. Deswegen werden die Veteranen auch aus dem Hochland von Tibet hierher ausgeflogen. Wir waren die nächste Basis mit derartigen Druckkammern … weltweit werden ständig weitere eingerichtet, da die Rate der kollabierenden Patienten stetig ansteigt. Wir tun unser Bestes, aber auf diese Art von … Zusammenbruch, wenn das das passende Wort ist, war niemand eingestellt. Die Veteranen schienen alle mehr oder minder stabil zu sein …“
Jablokov starrte in die düstere Halle, in der auch das Licht immer mehr in den rötlichen Spektralbereich absank. Es wirkte jetzt schon, als wäre das die Hölle. Und ihm taten die tapferen Veteranen verdammt noch mal leid!
Stabil! Einen Scheißdreck waren die armen Hunde!
Sie waren jetzt gottverdammte Versuchskaninchen!
Er empfand eine brennende Wut und wünschte sich nichts sehnlicher als irgendjemanden, den er für all das zur Rechenschaft ziehen konnte. Bestrafen konnte. Das durfte man diesen armen Kerlen nicht antun, die ohnehin schon so viel gelitten hatten! Das waren Helden, verdammt noch mal!
Aber es gab niemanden, auf den er hätte einprügeln können.
Der „Effekt“ war etwas Unpersönliches, Ungreifbares, wie eine schleichende Krankheit, gegen die man nichts auszurichten verstand. Er fühlte sich mies in seiner Hilflosigkeit.
Als Jablokov sich wieder umwandte, fragte er finster: „Können sie mir wenigstens sagen, was am Ende herauskommt? Ich meine, wenn wir das nicht aufhalten können?“
Die Ärztin nickte behutsam und wählte ihre Worte mit Bedacht. Die Prognosen waren in der Hinsicht eindeutig, auch wenn jeder sie für monströs hielt. „Ja, das kann ich sehr genau, leider. Die Hochrechnungen und Prognosen sind da ziemlich unmissverständlich, Sir. Wir haben dann ein Wesen vor uns, das etwa anderthalbfache Erdschwerkraftnorm aushält, normalerweise bei siebzig bis neunzig Grad Celsius Wärme lebt und in einer Atmosphäre existieren wird, die zu mehr als fünfundachtzig Prozent aus Stickstoff besteht. Ohne Sauerstoffanteile.“
Der General öffnete seinen Mund, aber er musste erst einmal hart schlucken, bis er sich dazu überwinden konnte, zu sagen, was er hatte aussprechen wollen. Er kannte diese Parameter aus dem Krieg nur zu gut. Aber er konnte und wollte das jetzt einfach nicht glauben.
Das war doch wohl ein Alptraum!
„Sie … wollen sagen … unsere Kämpfer – sie verwandeln sich in Devils?“
„Nach allen mir zugänglichen Dateien und den darin enthaltenen Daten scheint das die einzige Möglichkeit zu sein, die die Prognosen hergeben, ja. Es tut mir leid, etwas Besseres kann ich nicht sagen“, gab die jüngere Ärztin zu. Sie wirkte verständlicherweise auch einigermaßen unglücklich und hätte ihm gern bessere Kunde gegeben.
Aber was nicht ging, das ging eben einfach nicht.
Da der General wie versteinert dastand und diesen Schlag erst mal verdauen musste, fühlte sie sich verpflichtet, noch eine ergänzende Abschlussbemerkung zu machen, um überzogenen Hoffnungen von vornherein die Grundlage zu nehmen: „Und falls Sie es immer noch nicht begriffen haben sollten, Sir: Nach dem aktuellen Stand der Dinge können wir diesen Effekt nicht rückgängig machen. Wir tun zwar unser Bestes, aber … unsere Spezialisten machen uns nicht viel Hoffnung. Ich fürchte, es sieht nicht gut aus!“
***
Gefangen. Gedanken in schwarzem Gelee, eingehüllt in ein Netz klebriger Finsternis, die mich gefangenhielt.
Déjà Vu-Effekt.
Chuuluk.
‚Allmächtiger! Alles, nur das nicht! Nicht noch einmal! Nicht diese Schmerzen … diese Foltern … diese … diese … EXPERIMENTE!‘
In der tintigen Schwärze tauchten drei rotglühende, pupillenlose Augen über mir auf und erschreckten mich fast zu Tode. Gnadenlose Blicke fixierten mich. Gottlob nur ganz kurz, dann waren sie wieder verschwunden.
Ein gedämpftes Zischen drang nur matt und wie aus großer Ferne an meine Ohren. Aber es fühlte sich irgendwie anders an.
Lag ich in einer Flüssigkeit?
Ich versuchte mich zu bewegen, aber es kam mir vor, als befände ich mich in einer bizarren Art von zähflüssigem Gelee. Meinen Gliedmaßen fehlte jede Kraft. So mussten sich Insekten in der Vorzeit gefühlt haben, ehe sie vom erstarrenden Baumharz für die Ewigkeit eingeschlossen wurden, um zu Fossilien im Bernstein zu werden.
Eine Scheißangst brannte sich in meine Eingeweide.
Wie war das damals gewesen in Chuuluk? Ich hatte das alles erfolgreich ins Unterbewusstsein verdrängt, weil es so entsetzlich gewesen war, mit klarem Bewusstsein unmöglich auszuhalten. Monatelang war ich deswegen in intensiver psychologischer Behandlung im Traumazentrum auf dem Mars gewesen … und erst der kombinierte Einsatz von Therapeutika mit hypnotischen Dämmungsmethoden brachte mir schließlich Seelenruhe zurück.
Nun aber brodelte diese traumatische Erinnerung in mir allmählich wieder hoch. Alles kam zurück. Alles.
ALLES!
Und zusammen mit der aufkeimenden Erinnerung kehrte auch die alte Panik zurück. Die bodenlose Furcht vor dem, was die Devils gefangenen Kombattanten antaten. Was sie im Kessel von Chuuluk mit uns veranstalteten.
Wo befand ich mich?
War ich jetzt wirklich in den brodelnden Gallert-Bassins der Devils auf Inferno, in denen man angeblich nicht überleben konnte … in denen wir Gefangenen der terranischen Streitmacht aber dennoch überlebten, tagelang, wochenlang, und immer wieder gefoltert und verstümmelt wurden … oder lag ich vielmehr irgendwo in einer geheimen Einrichtung des Militärs, angeschlossen an eines der Simulationsnetzwerke der Raummarine und musste diese Foltern erleben, um eine wichtige Wahrheit ans Tageslicht zu fördern, die man auf andere Weise nicht gewinnen konnte?
WAR DER KRIEG AM ENDE GAR NICHT VORBEI?
WAR MEINE SCHÖNE NEUE WELT IN NEU LHASA, AN DIE ICH MICH SO LEBHAFT ERINNERN KONNTE, IN WIRKLICHKEIT NUR EINE INFAME TARNUNG? EINE SCHÖNE ILLUSION, DAMIT WIR NICHT DEN VERSTAND VERLOREN, WENN WIR DIE WAHRHEIT BEGRIFFEN? ISOLIERTE MAN UNS DESHALB SO VON DER GESELLSCHAFT, WEIL IN WIRKLICHKEIT INFAME EXPERIMENTE AN UNS VORGENOMMEN WERDEN KONNTEN?
ODER, SCHLIMMER NOCH: WAR DIE ERDE VIELLEICHT GAR VON DEN DEVILS SCHON EINGENOMMEN WORDEN?
Nein.
Nein, das klang abstrus.
Die kleinen schwarzen Teufel von Inferno hatten keine Verwendung für terraforme Welten, das hatten sie immer wieder gezeigt. Sie konnten hier überhaupt nicht existieren. Also war das eine verrückte Idee, die nur der Panik entsprang.
Aber es gab andere, schrecklichere Vorstellungen, warum das mit mir geschah, was gerade passierte – was nämlich war, wenn man uns nicht aus Nächstenliebe und Loyalität, in Anerkennung unserer erlittenen Qualen den wohl verdienten Ruhestand ermöglichte?
Wir waren in den Veteranensiedlungen isoliert, nicht wahr?
Hielt man uns also vielleicht für Überläufer? Für unzuverlässige Angehörige der Streitkräfte? Für Manipulierte gar, die von den Devils umgedreht waren und denen nun nicht mehr vertraut werden konnte? Die man foltern konnte, ja musste, um die Wahrheit ans Licht zu bringen?
Ich schrie vor Entsetzen.
Besser: Ich versuchte es. Und merkte, dass ich gar nicht schreien konnte.
Ich gurgelte in eine Art Gelee hinein, das mich auch ausfüllte.
Ein so vertrautes, widerliches Gelee, in dem man nachgerade osmotisch atmen konnte – eine Höllenerfindung der Devils von Inferno, die unsere Wissenschaftler nie hatten nachempfinden können. Bei unserer Befreiung aus dem Kessel von Chuuluk waren alle Druckkammern irreparabel beschädigt worden … welches Wunder bei den erbitterten Gefechten, die die kleinen schwarzen Teufel den Befreiungstruppen dabei lieferten. Ich hatte davon nur gelesen, da ich ja zu dem Zeitpunkt selbst in einer dieser Druckkammern gefangen war, gequält und halbtot von den Foltern dieser Monster.
Chuuluk.
War ich DOCH in Chuuluk?
‚Nein! Nein! Um Gottes Willen … nein, alles, bloß das nicht …!’
Die zähe Flüssigkeit um mich herum war warm, ja, fast heiß, eben das Lebenselement der Devils, eine unheimliche Flüssigkeit, die genug gelösten Sauerstoff enthielt, um uns auch ohne Kiemen das Leben zu ermöglichen.
Wenn jetzt noch die Devils mit ihren höllischen Werkzeugen kamen …
Ich hätte diesen Gedanken nicht haben dürfen.
Ich konnte ihn nicht zu Ende denken.
Rotglühende, zangenförmige Metallstangen tauchten von oben dampfend in diese geleeartige Flüssigkeit. Luftperlen stiegen daran empor wie an einer Belüftungsstange für ein Aquarium.
Das Werkzeug näherte sich mir …
Alles Winden in dem Gelee war nutzlos, ich wusste, ich konnte nicht ausweichen.
Mit weit aufgerissenen Augen, erfüllt von alles auslöschender Panik starrte ich dem Folterinstrument entgegen und konnte das alles einfach nicht glauben. Das konnte nicht die Wirklichkeit sein! Das war ungeheuerlich!
Das konnten sie doch nicht zulassen! Das war … das war Sadismus …! Ich … hatte RECHTE! Man durfte mir das nicht antun … nicht schon wieder …!
In dem Moment, in dem mich das Foltergerät berührte, durchraste mich ein entsetzlicher Schmerz …!
***
Weltärzterat-Zentrale Canberra, 8. Februar 2397
Sie saßen zusammen am Besprechungstisch, der sowohl der Admiralität als auch den medizinischen Vertretern des Weltärzterates vorbehalten war.
Auf der Ärzteseite hatten Dr. Achmed Chandra, Dr. Singh Tagore und Dr. Jacqueline Waarid Platz genommen, auf der Seite der Admiralität befanden sich die Admiralin Miriam Bailey, der General Anton Jablokov und der Commodore Emanuele Zatowsky, ein notorisch düster dreinblickender Europäer, der einer italienisch-polnischen Familie entstammte. Letzterer führte in diesem Ausschuss den Vorsitz über die militärische Delegation.
„Die Sachlage ist also kritisch“, sagte Zatowsky kategorisch. „Wir haben einen Krankenstand von immer noch zweihunderttausend …“
„Exakt von 200.819 Kranken“, korrigierte Dr. Chandra mit indischer Höflichkeit und Korrektheit. Er schob sich den hellorangefarbenen Turban etwas weiter zurück. „Wir sollten korrekte Daten verwenden, um auch nichts und niemanden zu übersehen, Commodore.“
Zatowsky nickte knapp und fuhr fort. „Das Problem besteht darin, dass sich all diese Personen – allesamt hochdekorierte und kriegsversehrte Veteranen – offensichtlich in Devils verwandeln. Wie auch immer das nach 22 Jahren möglich sein soll. Warum das von unseren Ärzten nicht früher entdeckt worden ist, ist mir ein Rätsel.“
„Nachlässigkeit?“, erkundigte sich Jablokov polternd.
„Wenn ich das an dieser Stelle einmal richtig stellen dürfte …“ Dr. Singh Tagore mischte sich ein. Er war ein schlanker, weißhaariger Inder, dessen Bart mit dem braungebrannten Gesicht stark kontrastierte und ihn äußerst attraktiv aussehen ließ, der diese fast beleidigende Direktheit mit asiatischer Sanftmut abfing.
„Bitte“, erteilte der Commodore das Wort.
Er wusste genau, dass Jablokov diesen Prozess als eine Form von persönlicher Brüskierung empfand. Sie hatten den Krieg GEWONNEN! Er hatte daran nicht unmaßgeblichen Anteil gehabt. Nun zu sehen, wie alle Veteranen sich auf monströse Weise in ihre besiegten Feinde … ja … verwandelten, warum auch immer, das kam ihm wie eine ganz persönliche, verspätete Niederlage vor. Seine Laune war dementsprechend mörderisch. Und die Hilflosigkeit angesichts des Prozesses setzte ihm zusätzlich mental sehr zu.
„Die Probleme, die auf die Veteranen zukamen, waren uns schon seit Jahren bekannt. Es gab in früher schon eine Reihe von Fällen, die zeigten, dass solche Symptome früher oder später zum Ausbruch kommen würden …“
„Warum …?“, fiel Jablokov ihm ins Wort.
„Lassen Sie ihn doch ausreden!“, fauchte die Ärztin ärgerlich. Jablokovs ungehobeltes Verhalten nervte sie zunehmend. Sie wusste, wie angegriffen seine Nerven waren, aber er sollte doch nun wirklich seinen Zorn nicht an den Anwesenden auslassen, das half niemandem!
„Danke, Dr. Waarid“, nickte Tagore ihr freundlich zu.
Er fuhr langsam und überlegt fort: „Wir wussten, dass diese überlebenden Veteranen, damals waren es immerhin noch 205.183, etwas Besonderes darstellten. Immerhin hatten die Fremden – ich möchte mich hier nicht der gängigen Propagandabezeichnung anschließen, dafür bitte ich um Verständnis – zuvor jeden Terraner und Kolonialterraner brutal umgebracht. Nur diese paar tausend Leute nicht. Der Grund dafür blieb ein Geheimnis. Es schien so, den militärischen Aufzeichnungen zufolge, als wenn die Fremden in dem Moment, in dem sie erkannten, dass der Krieg ihre Heimatwelt erreicht hatte, eine Art von … psychologischem und taktischem Strategiewechsel durchführten.
Doch, General, Sie brauchen da nicht despektierlich zu schnauben – die Tatsache, dass es nun vermehrt zu Gefangennahmen unserer Soldaten kam und sie in Chuuluk inhaftiert wurden, deutet nach allen Forschungsergebnissen darauf hin, dass sie ihren ursprünglichen Plan ändern wollten.“
„Woran wir sie erfolgreich hinderten!“, warf der Russe knurrend ein.
Niemand musste genauer werden.
Selbst wenn die Devils eine Strategieänderung verfolgten, kam sie in jedem Fall zu spät. Zu spät, um ihr eigenes Volk noch zu retten. Denn Jablokov und die Hardliner hatten sich inzwischen durchgesetzt und verfolgten genozidale Pläne, um die Gefahr durch die Devils ein für allemal auszumerzen. Ein Plan, der schlussendlich funktionierte.
Jahrzehntelang nahm man an, der Alptraum sei zu Ende.
Und dann kam der unheimliche Effekt, der alle Veteranen niederwarf und nun mutieren ließ.
Zu Devils!
Darüber konnte man gar nicht gescheit nachdenken!
Das war einfach krank!
Dr. Singh Tagore seufzte und fuhr fort, als Jablokovs zorniger Ausbruch gestoppt worden war. „Sehen Sie, als die Überlebenden unserer Streitkräfte aus dem Kessel von Chuuluk gerettet wurden, hatten sie alle schwere bis schwerste Verletzungen erlitten, fast alle waren durch starke Traumata einsatzunfähig geworden, einige hatten den Verstand verloren. Doch insgesamt betrachtet waren sie allesamt noch am Leben und konnten erfolgreich von der Heimatwelt der Fremden evakuiert und schnellstens medizinisch umfassend betreut werden.
Auch wenn das vielleicht ein wenig zynisch klingen mag, General, verehrte Anwesende … die Fremden waren bemerkenswert schonend mit unseren Soldaten umgegangen. Keiner konnte das erklären, und so kamen die geretteten Teilnehmer des Krieges alle erst einmal für zwei Jahre auf dem Mars in Quarantäne, bis sie sich als ‚sauber‘ erwiesen. Dennoch standen sie von da an auch weiterhin unter medizinischer Beobachtung und wurden halbjährlich zu Untersuchungen geschickt, obwohl man sie frühpensioniert hatte. Das ließ sich mühelos mit dem physischen und psychischen Zustand der Veteranen begründen, und so verschwammen die Grenzen zwischen therapeutischer Beobachtung und kontrollierter Spätfolgenüberwachung …“
„Ja, ja, das ist allgemein bekannt“, sagte nun auch der energische und etwas jüngere Commodore. „Können Sie bitte zum Kernpunkt kommen?“
„Ich bin dabei.“ Tagore legte die auf den Tisch gestützten Hände mit den Fingerspitzen zusammen und fuhr fort. „Es gab einige Personen dieses Kreises, die schon vor Jahren rätselhafte Zusammenbrüche erlitten. Es handelte sich hierbei um die Gruppe der Starkgeschädigten, denen Gliedmaßen oder Sinne abhanden gekommen waren. Sie wurden in Überlebenstanks gesteckt und später in rollende Behältnisse, die sie permanent medizinisch durchcheckten. Das hielten viele von ihnen nicht lange durch. Ein eigentümlicher Effekt zum Ende der Krankheitsphase zeigte, dass sie mutierten – wir haben dafür die Bezeichnung ‚zurückmutieren‘ geprägt, auch wenn das seltsam klingt – , und zwar degenerierten ihre Körper in das Existenzstadium ihres einstigen Feindes.
Die physiologischen Daten waren kaum auszuwerten, weil Stoffwechselprozesse spontan oszillierten und wir keinen Grund dafür ausmachen konnten. Nach zehn Jahren und mehr als fünfhundert Opfern sahen wir uns noch immer außerstande, einen vernünftigen Bericht vorzulegen. Und Sie wissen ja – niemand fertigt gerne einen substanzlosen Bericht an, wenn ihm an der Zukunft seiner Karriere gelegen ist. Lieber schiebt er die Zeit der Befunderkenntnis noch etwas hinaus.“
Alle nickten beifällig. Ja, diese Haltung war ihnen zur Genüge bekannt. Jemand, der auf seinem Posten saß und ein Gutachten erstellte, das danach von allen Seiten kritisiert werden konnte, würde diesen Posten nicht lange behalten. Also legte man sich nicht fest, spielte auf Zeit. Es spielte in einer solchen Situation keine Rolle, dass auch der Nachfolger dieselben Probleme haben würde – schließlich ging es nicht um den Kopf des Nachfolgers, sondern um den eigenen. Und da half die von Tagore skizzierte Strategie oftmals weiter, so sehr man sie auch kritisieren mochte.
Diese Erläuterung erhellte nun auch, weshalb die Ärzteschaft von dem Veteranen-Problem eben nicht vollkommen kalt erwischt worden war, als es massiert auftrat, sondern gleich souverän und fachlich äußerst präzise reagiert hatte.
Dass das den Betroffenen half, konnte man allerdings bezweifeln.
Die Ärzteschaft schien so ratlos zu sein bezüglich des Effekts wie eh und je.
„Was geschah mit den … hm … verunglückten Veteranen, Dr. Tagore?“, wollte die üblicherweise energische, platinblonde Admiralin Bailey unbehaglich wissen. Sie fühlte sich dieser Sachlage nicht recht gewachsen, was ihre sonstige Professionalität unangenehm untergrub.
Der ihr vorliegende vorläufige Bericht, der auf dieses Treffen eingestimmt hatte, war in dieser Hinsicht sehr vage gewesen. Ganz so, als lägen auch darüber keine aussagekräftigen Daten vor. Sie hatte daraus geschlossen, dass darauf auch dieser Punkt wenigstens nicht hinreichend erforscht …
Sie konnte den Gedanken nicht vollenden.
Tagore beantwortete die Frage geradliniger als bisher: „Das ist eine unerklärliche Sache, verehrte Frau Admiralin. Sie verbrannten von innen heraus. Spontane Selbstverbrennung, die wir nicht aufhalten konnten.“
Beklommenes Schweigen senkte sich über den Saal. Dieses Faktum war außerhalb des Ärztekreises noch nicht bekannt gewesen, deshalb diese konforme Reaktion der Anwesenden auf der Seite des militärischen Oberkommandos.
Die Admiralin fand zuerst die Worte wieder.
Heiser erkundigte sie sich: „Dr. Tagore … gibt es dafür irgendwelche Gründe, die wir begreifen können? Ich meine … wir sind alle Rationalisten und müssen wissen, was vorgegangen ist, uns anhand von Fakten Eindrücke verschaffen, Lagesituationen erkennen, um vorausschauend auf die zu erwartenden Probleme reagieren zu können. Mit so etwas dagegen … also, damit kann zumindest ich wenig anfangen.“
Tagore nickte langsam. „Das war uns bekannt. Wir haben diese Fakten ja, wie ich schon sagte, nicht mutwillig verschwiegen. Auch wir haben gerne, wie es halt typisch menschlich ist, Erklärungen, die plausibel und allgemein verständlich sind. Spekulative Vorabauskünfte sind nichts, wozu Mediziner neigen, wenn sie am Erhalt ihrer Karriere interessiert sind.“
„Haben Sie sie inzwischen?“
„Leider nein. Nach wie vor nicht. Mangels einer solchen Erklärung steht ein finaler Bericht über diese Ereignisse immer noch aus. Wir haben uns all die Jahre vor einer Situation wie der jetzigen gefürchtet, so ehrlich sollten wir heute sein. Solange dieser Effekt nur einige wenige Veteranen traf“, griff Jacqueline Waarid helfend ein, „solange hielten wir sie verständlicherweise für Ausnahmefälle, gewissermaßen statistische Ausreißer. Aber heute müssen wir erkennen, dass sie nur insofern Ausnahmen waren, als das Endstadium früher auftrat als geplant.“
„Geplant?“ Jablokovs Stimme war ein Flüstern, aber laut genug, um von allen gehört zu werden. Das Wort hing Augenblicke lang unheilschwanger in der kühlen, ventilierten Luft, die hier im Hauptgebäude des Weltärzterates in Canberra steril war wie im gesamten Apparat des Weltärzterates.
Dann meinte Tagore leise: „Wir müssen leider davon ausgehen, dass allen Patienten mittel- bis kurzfristig genau dasselbe Schicksal unserer schon verstorbenen Veteranen droht.“
„Sie werden verbrennen? ALLE?“
„Alle ohne Ausnahme.“
„Mein Gott!“, murmelte Zatowsky. Sein normalerweise rötliches Gesicht war aschfahl geworden, die Augen unnormal geweitet. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er hatte stets an den Akademien gelehrt, wie heroenhaft die Veteranen im Kampf gefochten hatten, dass man sie ehren solle, wo immer man sie treffe. Und er hatte selbstverständlich auch immer Veteranen zu Vorträgen an die Raumakademien des Imperiums eingeladen.
Sie waren ungeachtet ihrer stark angegriffenen Gesundheit immer noch gern gesehene Gastredner, imperiale Trophäen gewissermaßen, Glanzlichter im Himmel der Admiralität. Ähnlich wie Holocaust-Überlebende im 20. und frühen 21. Jahrhundert waren sie Ikonen der Gesellschaft und der terranischen Selbstbehauptung im Kampf gegen die Devils gewesen.
Helden eben.
Und nun sollten sie eines grässlichen, unverständlichen Todes sterben.
Alle.
Unausweichlich.
„Mein Gott!“, wiederholte er fassungslos und tief getroffen. Ihm fehlten die passenden Worte.
„Wie lange bleibt ihnen noch Zeit?“, wollte Jablokov wissen. Er sah finster drein, aber auch sehr entschlossen.
„Maximal fünfundvierzig Tage.“
„Sie haben doch sicherlich schon eine … nun, eine Lösung überlegt, zumindest eine vorübergehende“, hoffte die Admiralin, die einige Schwierigkeiten hatte, ihr Entsetzen zu verbergen. Sie war noch nicht solange im Amt wie Jablokov und nur zwei Jahre mehr als Commodore Zatowsky, der mit 34 Jahren bemerkenswert rasch die Karriereleiter erklommen hatte. Deshalb nahmen sie solche Dinge mehr mit als den schwerfälligen, fast siebzigjährigen Jablokov, der den Krieg nicht nur vom Hörensagen kannte, sondern aktiv daran mitgemischt hatte (wenn er sich auch nicht bis nach Inferno vorgewagt hatte, also in die vorderste Front. Er hatte zu denen gehört, die man in früheren Zeiten als „Schreibtischtäter“ zu titulieren pflegte – was nichts daran änderte, dass er wesentlichen Anteil an der Schlussphase des Konfliktes gehabt hatte, wie gesagt).
Sie fuhr nervös fort und verdeutlichte ihren Standpunkt etwas wortreicher: „Ich meine … wir können den Leuten da draußen ja kaum verkaufen, dass sich all unsere Helden in unsere Todfeinde verwandeln. Aber dass sie alle binnen kurzer Zeit sterben werden, bei lebendigem Leibe verbrennen, ohne dass es dafür irgendeine nachvollziehbare Erklärung gibt – das können wir noch viel weniger.“
Die Ärzte wussten das.
Die Veteranenvereinigung war inzwischen ein machtvoller Verein geworden, und ihre Fühler reichten bis in die höchsten Etagen der Admiralität. Sie hatten unzählige Freunde und Gönner, und dank ihrer finanziellen Absicherung auch monetär enorme Wirkungskraft. Sie alle hatten für den Fall eines plötzlichen Ablebens vorgesorgt. Und das konnte die gesamte Admiralitätsspitze den Kopf kosten, wenn die Rechtsanwälte der Veteranen die Verantwortlichen wegen unterlassener Hilfeleistung oder Schlimmerem belangten.
Was unbestreitbar passieren würde, wenn diese Fakten durch die Presse ans Tageslicht befördert wurden.
Dr. Chandra blickte auf die opaleszierende, ovale Tischplatte zwischen ihnen und druckste etwas herum. Als er dann konkret aufgefordert wurde, etwas zu sagen, erklärte er kleinlaut: „Wir haben keine Lösungen, die nicht auf eine Geste der Hilflosigkeit hinauslaufen würden.“
„Was heißt das konkret?“ Zatowsky hatte sich wieder einigermaßen gefangen und konnte sich erneut am Gespräch beteiligen.
„Es gibt im Grunde nur drei Optionen, die uns bleiben“, erläuterte Dr. Chandra, an seinem dunklen Salz-und-Pfeffer-Bart nestelnd, ein Zeichen der Tatsache, dass ihm diese Offenbarung der eigenen Unfähigkeit und Hilflosigkeit außerordentlich peinlich war.
„Und die wären?“
„Sie werden Ihnen alle nicht gefallen …“
„Solange wir noch keine gehört haben, sicherlich nicht“, versuchte Miriam Bailey zu scherzen, um die Lage zu entkrampfen.
Der versuchte Scherz verpuffte wirkungslos. Die Lage war zu ernst dafür.
Chandra seufzte schwer und ging in die Details. „Option 1 ist von Ihnen schon intuitiv abgelehnt worden: Dass wir sie in stationärer Behandlung lassen, bis sie verbrennen, zudem alle Beteiligten zur Geheimhaltung verpflichten …“
„Das ist einfach ganz indiskutabel! Bei zweihunderttausend Patienten macht das eine vielfache Zahl von Mitwissern. Das ist völlig ausgeschlossen, so was kann man nicht geheim halten!“, fuhr Jablokov auf. Das war eine wirklich absurde Vorstellung. Jeder gesunde Menschenverstand begriff auf der Stelle, dass das Blödsinn war! „Das muss Ihnen doch auch klar sein! Und die Kosten erst …“
„Die zweite Möglichkeit ist gezielte Euthanasie.“
Das schlug ein wie eine Bombe.
Zatowsky riss den Mund auf, bekam aber keinen Ton heraus. Jablokov grummelte nach einem Moment des Schocks schwach etwas von „geschmacklosem Scherz“, und die Admiralin fragte ungläubig nach, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte: „Gezielte Tötung? Aller Veteranen?“
„Vom finanziellen Standpunkt aus wäre das ganz sicherlich das Günstigste“, versuchte Tagore eine Lösungsstrategie zu rechtfertigen, die ganz eindeutig humanitär nicht zu rechtfertigen war. Dass solch eine Option auch nur angedacht wurde … einfach ungeheuerlich!
„Aber ethisch absolut verwerflich. Diese Position ist unter den eingeweihten Ärztekreisen seit Jahren heiß umstritten“, relativierte Dr. Waarid, die zu den entgeisterten Reaktionen verständnisvoll nickte. Wie ihre Kollegen hatte sie geahnt, dass die militärischen Vertreter diese Option umgehend ablehnen würden. In diesem Fall wären sie alle nicht viel besser gewesen als die Organisatoren und Ausführenden des Holocausts in Deutschland im 20. Jahrhundert. Und natürlich sah sich niemand gern in die Rolle eines Dr. Mengele, eines Adolf Eichmann oder eines Adolf Hitler gedrängt.
Sie atmete tief durch und fuhr fort: „Ich selbst halte diese Lösung auch für unmenschlich. Die Veteranen haben einfach zuviel für die Menschheit getan, wir verdanken ihnen zuviel, als dass wir sie nun alle kaltblütig umbringen könnten, nur aus finanziellen Erwägungen heraus.“
„Sie erwähnten eine … dritte Möglichkeit …“
„Ja“, gab Chandra zu und zögerte wieder. Diesmal schien er sich wirklich zu einer Erläuterung durchringen zu müssen. Gleich darauf verstanden das alle Versammelten. „Aber diese Lösung … nun, sie grenzt wahrscheinlich Ihrer Ansicht nach schon fast an Blasphemie. Es handelt sich um Folgendes…“
Und dann wurde es tatsächlich ungeheuerlich.
***
Eingelegt in schwarzen Gelee.
Konserviert von diesen Teufeln, um perfiden Experimenten zu dienen, deren Sinn und Zweck niemand verstehen konnte.
Wir waren nichts Besseres als Laborratten von Aliens.
Gequält von Wesen, die nichts als Hass und Vernichtungswillen kannten.
Mein Blut brodelte. Die Gedanken waren wie Eiweiße in siedend heißer Flüssigkeit geronnen, rollten nur träge den Hang des Geistes herab, um am Fuß des Abhanges matt und erschöpft liegenzubleiben.
Ich sah in wirren Illusionsblenden die grünen Wiesen von Mandalay wieder, wo ich aufgewachsen war, sah die golden überzuckerten Pagoden, die Gongs der Götter klangen mir wie himmlische Signalklänge im Ohr. Fast meinte ich, selbst den Geruch der Weihekräuter zu riechen.
Aber das war ein Irrtum.
Es roch eher … antiseptisch.
Wie in einer Klinik des Weltärzterates.
Waren wir also doch zurück auf der Erde? Aus dem Einsatz zurückgekommen, zu Krüppeln gemacht durch die widerlichen, nutzlosen Experimente der Devils? Unsicherheit erfüllte mich. Verständnislosigkeit.
Ich begriff einfach nichts von dem, was hier geschah.
Dumpfer Schmerz plagte mich.
Er pulsierte direkt unter meinem rechten Schlüsselbein. Dort, wo mich die glühenden Sonden der Devils getroffen hatten. Vor zweiundzwanzig Jahren.
Es brannte, als wäre es eben passiert.
Ich öffnete die Augen.
Grauschwarzes Zwielicht. Blubbernde, gedämpfte Geräusche.
Nein. Oh nein. Das war nicht möglich.
Nicht schon wieder.
Nicht immer noch.
Hatte denn dieser Alptraum nie ein Ende?
‚Ich will nach Neu Lhasa zurück! In meinen Bungalow! Ich will meine Ruhe! Lasst mich doch alle zufrieden! Lasst mich … in … Ruhe … lasst mich … nein … NEIN!’
Rote Glut über mir.
Drei boshafte, grausame Augen flackerten.
Augen, die ich nur zu gut kannte.
Meine Gedanken überschlugen sich vor Panik und Verzweiflung.
‚Dich gibt es nicht mehr! Du bist tot! Ihr seid alle tot! Vernichtet in der Schlussoffensive! Es gibt keine Devils mehr! Eure gesamte Brut ist von uns vernichtet worden! Ich bin jetzt längst pensioniert und habe euch alle überlebt … alle, jedes einzelne von euch Monstern … ich … aaaaaaahhhhhhrrrgghhhhh …!‘
Weißglühende Nadeln im Hirn. Explosionen überall im Körper. Verbrennendes Gewebe. Zerplatzende Gefäße. Verschmorende Knochen …
Halb betäubt von dem grauenhaft präsenten Schmerz, der mir wieder und immer wieder gnadenlos zugefügt wurde, jetzt zugefügt wurde, erinnerte ich mich an den Endbericht der Ärzte. Sie hatten mir zweiundneunzig Brüche in allen Gliedmaßen, zweifache (äußerst fachmännische!) Zertrümmerung der Wirbelsäule nachgewiesen, Partiellausfall der Nieren, Lungen, Vollausfall von Leber und weiten Teilen des Darms.
Mein Magen arbeitete nur noch fehlerhaft wegen der Risse und anderen Verletzungen, die diese Ungeheuer mir zugefügt hatten, ohne dass es dafür irgendeinen plausiblen medizinischen Grund gab. Rätselhafterweise kam es zu keinerlei Entzündungen oder Einblutungen nach der Notfallrettung, sonst wäre ich, als mich die terranischen Sanitätseinheiten endlich in Chuuluk entdeckten und evakuieren konnten, längst tot gewesen. Ich befand mich in demselben desolaten, physisch verwüsteten Zustand, in dem sich Kameradinnen und Kameraden wie Ed Baker, Nancy McTerwyn, Alice Goldstein, Bernd Rander und Sako Tanaketo auch befanden. Wir alle hatten überlebt … ja, aber …
Grauenhafte Schmerzen wühlten wieder in meinen Eingeweiden. Ich hatte das Gefühl, vom Bauch bis in den Brustraum allmählich und bei vollem Bewusstsein geradewegs gekocht zu werden …
Und diesen Höllenkreaturen, diesen monströsen, widerlichen Dämonen schien das auch noch FREUDE zu bereiten!
Nein, das war kein Leben mehr! Das war ein fortwährender, endloser Alptraum!
Ich wünschte mir, zu sterben.
Aber bevor das geschehen konnte, verlor ich vor Schmerzen das Bewusstsein.
Diese verdammten Monster wussten leider ganz genau, wie weit sie gehen konnten, immerhin hatten sie Tausende von hilflosen Versuchskaninchen, an denen sie unentwegt arbeiten und tagelang, wochenlang foltern konnten. Und sie gingen immer einen Schritt weniger weit, hielten uns so alle in einem Stadium der fortwährenden Marter-Qual … selbst die Phasen der Besinnungslosigkeit blieben kurze, peinigend kurze Oasen des schwarzen Vergessens.
Und dann begann die Folter von neuem.
Wieder und immer wieder!
***
Dante-System, 15. März 2397
Der terranische Großraumransporter kam aus dem Hyperraum und orientierte sich automatisch. Mehr als zweitausend Lichtjahre von der Erde entfernt, hatte er das Hoheitsgebiet der Menschheit hinter sich gelassen und glitt nun langsam abbremsend in das System der roten Sonne hinein, die während des Kosmischen Krieges gegen die Devils den Codenamen Dante getragen hatte.
Ein ebenso automatisiertes Signal alarmierte die Kommandantin der Mission, die nach wenigen Minuten in der geräumigen hexagonalen Zentrale ein traf. Hier warteten schon zwei Offiziere und zwei Ärzte. Das war das einzige menschliche Personal an Bord des gesamten Raumschiffs. Es enthielt insgesamt fünfzigtausend Kälteschlafwaben, in denen Wesen lagen, die einst Menschen gewesen waren. Die Waben bildeten die einzige Möglichkeit, den Prozess, der die darin befindlichen Veteranen langsam aber sicher dem Verbrennungstod näher rückte, etwas zu verzögern.
Die medizinischen Berichte waren widersprüchlich, aber alle gingen davon aus, dass der am 8. Februar verkündete Zeithorizont von 45 Tagen durch diese Maßnahme auf vermutlich drei Monate gestreckt werden konnte. Vielleicht eine Möglichkeit, hier vor Ort eine Lösung des Problems zu finden – so gering auch die Aussicht darauf schien.
„Wir sind jetzt am Ziel, Admiralin“, sagte der schlaksige, einundvierzigjährige Major der Raumstreitkräfte. Sein Name lautete Tim Stanton, er war der Sohn eines Veteranen und aktiv im Veteranenbund tätig. Als er von der Verwandlung der Veteranen erfahren und sie mit angesehen hatte, da hatte er buchstäblich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um eine Geheimmission nach Inferno zu initiieren.
Die Admiralin Miriam Bailey lächelte verkrampft. Sie wusste, dass noch vier Transporter unterwegs waren und hier in Bälde eintreffen würden. Egal, was für einen Erfolg sie erzielten.
„Danke, Major. Wie lange brauchen wir noch bis zum Orbitalrendezvous?“
„Acht Stunden, elf Minuten, Admiralin.“
Sie nahm nickend Platz und besah sich die astronomischen Daten des Systems.
Dante verfügte über zwei Planeten. Der äußere von beiden war die Welt der Feinde gewesen, der Planet, den man nach dem antiken Stück von Dante Alighieri Inferno getauft hatte, nach seiner natürlichen Beschaffenheit. Selbst ein Terraformingprozess hätte diese Welt nicht dauerhaft bewohnbar gemacht, jedenfalls nicht für irdische Kolonisten.
Doch ausgerechnet auf dieser heißen, sturmumtosten Stickstoffwelt hatten Außerirdische gelebt: Fremdartige Wesen, die man nie richtig verstanden hatte. Die keine Sprache zu besitzen schienen. Keine Schrift. Keine freundlichen Gefühle.
Nur Hass.
Hass und eine unerbittliche, unglaubliche Gebärfreudigkeit, dazu leider auch eine erschreckend hohe technische Perfektion. Und eine Technologie, die den Menschen beinahe absolut fremd war. Sie wirkte verzerrt, geradezu grotesk andersartig – krankhaft beinahe.
Ja, das war wohl das passende Wort. Eine krankhafte Technik.
„Wie geht es unseren Patienten?“, fragte sie, um sich von den düsteren, unzusammenhängenden Gedanken und den Vorahnungen kommenden Unheils abzulenken. Sie konnte sich irgendwie nicht vorstellen, dass diese Mission zum Erfolg werden würde.
„Den meisten gut“, erklärte Dr. Chandra, der den Flug des ersten Schiffes als hauptamtlicher Arzt mitmachte. „Bis auf zweiundvierzig Personen.“
„Exitus?“
„Leider ja.“
Sie ballte unwillkürlich die Fäuste. „Aber … wir sind doch bloß zwölf Tage geflogen, Doc. Ich dachte, die Kälteschlafwaben verlängern die Veränderung und schirmen die Veteranen gegen vorzeitigen Tod ab. Das kann doch nicht …“
Chandra unterbrach sie. „Wir nehmen an, dass es einen Zusammenhang zwischen der normalen Weltraum-Hintergrundstrahlung und den vorzeitigen Todesfällen gibt. Fast vierzig Prozent der vorzeitigen Todesfälle der vergangene Jahre ereigneten sich auf Raumflügen.“
„Das haben Sie bisher nicht gesagt!“
Chandra nickte langsam. „Es hätte leider auch nichts geändert, verehrte Admiralin. Weder an der Sachlage noch an der einzig möglichen, ethisch vertretbaren Lösung.“
Sie sah ihm ins Gesicht und dann wieder zu den Bildschirmen, auf denen nebeneinander die Bilder der purpurnen Sonne Dante und die endlosen blauweiß schimmernden Reihen von Schlafkapseln zu sehen waren, die im Heck des gewaltigen Raumschiffs aneinandergereiht worden waren und von Computern und Servorobotern gewartet und bewacht wurden.
Es hatte sich als notwendig erwiesen, diesen Prozess vollständig maschineller Kontrolle zu unterstellen, weil niemand das Risiko eingehen konnte, mit den Veteranen selbst in Kontakt zu kommen. Kein Mensch. Nicht in Anbetracht ihres … nun … Status. Es fiel ohnehin schon schwer genug, diese Personen noch als Menschen anzusehen. Sie sahen einfach inzwischen allesamt nicht mehr wie Menschen aus.
Von Metamorphose sprachen die Leute hier an Bord ungern, aber das schien wirklich der am besten passende Terminus für die Entwicklung zu sein, die die Veteranen des Devil-Krieges derzeit durchmachten.
Chandra schluckte, wenn sie an die wenigen Blicke dachte, die sie während der Fahrt in die Schlafkapseln – passenderweise sollte man sie wohl eher Brutkapseln nennen. Denn obgleich sie nach außen gekühlt waren, herrschten in ihnen höllische Bedingungen vor: Ein Druck von anderthalb Erdatmosphären sowie eine Innentemperatur von 82 Grad Celsius vor, und die Eingeschlossenen atmeten zu 85 % Stickstoff, Kohlenmonoxid und andere, für den Menschen eher schädliche Gase ein.
Das galt für Kapselinsassen schon seit Wochen nicht mehr.
Die Veteranen lagen in ihren Kapseln zusammengerollt in embryonaler Haltung und nahmen keine Nahrung zu sich. Stattdessen veränderten sie sich.
Sie häuteten sich gleichsam wie Raupen oder Schmetterlinge, streiften buchstäblich ihre menschliche Haut ab, und darunter kam eine anthrazitschwarze, von stoppeligen Borsten bedeckte neue Haut zum Vorschein. Und diese neuen, mutierten Leiber stießen dann zugleich die Implantate ab, die ihnen im Laufe der Jahrzehnte ihrer Krankengeschichte eingesetzt worden waren, um ihnen wieder ein menschliches Mitleben in der irdischen Gesellschaft zu ermöglichen.
All dies wurde wie Fremdkörper ausgeschieden. Implantate oder auch Kunstglieder, die dann wie eklige Überreste menschlicher „Opfer“ der arglos Schlummernden neben ihnen in den Schlafkapseln lagen. Roboter entfernten sie, sobald das dann möglich war …
Es war schaurig zu entdecken, wie verstümmelte Gliedmaßen in neuer Form nachwuchsen, ohne dass es dafür irgendeine nachvollziehbare medizinische Begründung gab. So wurden die Verwundungen gewissermaßen metamorphisch rückgängig gemacht, ohne allerdings zugleich die menschliche Grundgestalt wiederherzustellen.
Stattdessen reiften die verstümmelten Veteranen zu gesunden Devils.
Die Admiralin gruselte es wieder einmal. Es war wirklich gut, dass die Admiralität jede Beteiligung seitens der Presse kategorisch abgelehnt hatte. Es gab einfach keine Berichterstattung von den Schlafschiffen. Die Medien neigten eben leider auch heutzutage immer noch dazu, monströse Ängste zu schüren – und das waren bedauerlicherweise Ängste, von denen Miriam Bailey sich selbst auch nicht frei sprechen konnte. Sie verstand sehr gut, warum General Jablokov jede Teilnahme an diesem Unternehmen abgelehnt hatte.
Sie hatte die nistende Panik in seinen Augen deutlich registriert.
Miriam Bailey seufzte.
„Ich verstehe“, sagte sie langsam. „Wir sollten uns beeilen, ja?“
„Das würde ich empfehlen.“
Dante kam unmerklich näher.
Es wirkte wie das Auge eines einäugigen Höllendrachen. Oder wie der leibhaftige Eingang zum Abgrund der Welt. Dort in seinem Vorhof würde die Entscheidung fallen. Und vielleicht würden sie den Zipfel irgendeiner verrückten Lösung finden.
Vielleicht …
Sie hoffte es mit ganzem Herzen.
***
Hölle!
Das war Chuuluk immer schon gewesen. Immer, wenn wir daran zurückdachten, wie knapp wir damals der Hölle entronnen waren, dankten wir allen Göttern, die wir kannten, dass es uns nicht umgebracht hatte.
Auch ich.
Obwohl ich mir fünfundzwanzig Monate lang ganz eindeutig den Tod mehr herbeisehnte als das Leben. Fünfundzwanzig Monate, in denen meine Knochen zusammenheilten, meine zerrissenen Sehnen geflickt wurden und man mir Implantate einsetzte und innere Organe austauschte, die während der Folter im Kessel von Chuuluk irreparabel geschädigt worden waren.
Fünfundzwanzig qualvolle Monate, in denen mein Leben ständig auf der Kippe stand. Wegen organischer Fehler, wegen Abstoßungsreaktionen und Depressionen, wegen hysterischer Anfälle von Selbstmordsehnsucht und ähnlichem.
In diesen qualvollen fünfundzwanzig Monaten, die ich gezwungen wurde, zu durchleiden, lernte ich mühsam wieder Gehen. Ich lernte es, mich wieder zu bücken, mich zu drehen, zu turnen, zu laufen. Ich lernte Treppensteigen. Mit Messer und Gabel zu essen. Ich lernte ebenfalls von neuem, mit zwei Augen zu sehen – eins war mir in Chuuluk ausgebrannt worden.
Ich lernte wie ein Kind das Sprechen. Und wieder menschlich zu denken, mehr zu empfinden als nur Schmerzen und Wahnsinn. Fast alles Menschliche, was ich vorher für selbstverständlich hielt, war in dieser Hölle namens Chuuluk untergegangen, verdampft, verkocht, geradewegs aus mir herausgebrannt, herausgefoltert worden.
Es war fast, als ob die Devils aus mir einen der Ihren hatten machen wollen.
Eine absurde Vorstellung. Ich lehnte sie bis heute kategorisch ab.
Hatten diese höllischen Kreaturen, das leuchtete schon mehr ein, uns vielleicht mit voller Absicht als geistige und körperliche Wracks zurückgeben wollen, weil sie sahen, dass fortwährende Massaker ohne Überlebende nichts als den geballten Widerstand der Menschheit herausforderte?
Hatten sie die Widerstandskraft des Heeres auf diese perfide, widerwärtige Weise brechen wollen?
Ich wusste es nicht. Niemand hatte die Motive der Devils jemals ergründet, sie hatten ja auch nie mit uns gesprochen, sondern uns stets nur erbittert bekämpft, als sei das ihr Existenzzweck schlechthin.
Damals, während meiner Rekonvaleszenz, da wusste ich allerdings nicht mehr recht, wen ich denn nun mehr hassen sollte: Meine grausamen Peiniger, die mich auf Inferno in dieses widerwärtige schwarz-transparente Gelee eingelegt hatten, das meine Körperbewegungen bis auf ein hilfloses Zucken reduzierte, so dass sie mich hier bei lebendigem Leibe – und was noch schlimmer war: bei klarem Verstand! – zu zerfleischen vermochten … oder vielleicht eher noch meine Vorgesetzten, die uns alle rücksichtslos in diesen Abgrund ungeheuerlichen Grauens, das jeden, der davon wusste, in den schieren Wahnsinn treiben musste, gehetzt hatten. Ganz egal, ob sie nun wussten, was genau uns erwartete oder nicht.
Aber was sie mir NUN antaten, das war noch viel schlimmer!
Die Admiralität WUSSTE inzwischen sehr genau, was für ein grenzenloses Entsetzen und welchen Sumpf aus Schmerzen, Qualen, Wahnsinn und unglaublichen Eindrücken wir hinter uns hatten.
Unsere Vorgesetzten hatten uns doch schließlich als lebende Leichname aus Chuuluk und von der gesamten restlichen schwarzen Höllenwelt Inferno geborgen und dann wieder zusammengenäht, vielfach mehr tot als lebendig. Uns in Nährlösungen gleichsam teilweise neu erschaffen, unsere Geister durch gnädiges Vergessen partiell entlastet und durch jahrelange Therapien allmählich wieder an ein menschliches Dasein gewöhnt. Doch die tief eingebrannten Eindrücke an das physisch durchlebte Grauen, sie waren noch immer da, verschüttet im Unterbewusstsein, das nur dann und wann in Alpträumen durchbrach und mich schweißgebadet hochschrecken ließ.
Diese Erinnerungen wurden nun wieder lebendig.
Lebendig durch diese perverse, grauenhafte Wiederholung der durchlittenen Martern!
Es gab keinen Grund dafür!
Man DURFTE uns das nicht antun!
Wir hatten … wir hatten doch Menschenrechte … wir hatten die Veteranenverbände … man durfte uns nicht einfach als Versuchskaninchen missbrauchen, die nicht mal um Einverständnis gefragt wurden …! Das war … das war …
Die nervenzerfetzenden Schmerzen durchrasten mich wieder und wieder, und wenn ich nicht GEWUSST hätte, dass es sich hierbei jetzt bloß noch um eine Illusion handelte, einfach handeln MUSSTE, dann hätte ich zweifellos den Verstand verloren.
So aber verlor ich nicht den Verstand, sondern kultivierte stattdessen ein anderes Gefühl, das mir früher wesensfremd gewesen war, nun aber immer stärker zunahm. Das einzige wirksame Gefühl, das mich davor bewahrte, verrückt zu werden.
Hass.
Und im Gegensatz zu damals während meiner peinigenden Rekonvaleszenz auf dem Mars, wo ich so hin und her gerissen gewesen war, wusste ich nun sehr genau, wen ich zu hassen hatte: Die Admiralität!
Die Verantwortlichen im terranischen Sternenreich, die uns DIES antaten!
Jetzt!
Sie würden dafür bezahlen, das schwor ich mir. Wenn ich jemals wieder aufwachen konnte aus diesem schier endlosen Alptraum, dann würden sie diese Handlungsweise bitter bereuen!
Oh, und wie sie bezahlen würden …!
***
Inferno, Kessel von Chuuluk, 15. März 2397
Wenige Stunden später stand das Frachtschiff ORPHEUS auf der schuttübersäten Ebene, von der aus einst die letzten Truppentransporter der Erde wieder aufgebrochen waren, vor zweiundzwanzig Jahren, ein Schlachtfeld ohnegleichen zurücklassend.
Es handelte sich bei dem Landeplatz um einen urzeitlichen Meteoreinschlag auf dem Planeten, der einst eine mächtige Narbe in die Oberfläche der noch glutflüssigen Welt gerissen hatte. Der Krater, der schließlich zurückblieb, durchmaß fast einhundertzehn terranische Meilen, und seine Ränder ragten teilweise mehr als tausend Meter in die brodelnde, raucherfüllte Atmosphäre von Inferno hinauf. Aschewolken wehten durch den Krater, ausgestoßen von den Ketten aktiver Vulkane, die diese Wunde in der Planetenkruste umgaben. Der Boden bebte in Permanenz, wenn auch nur minimal.
Dies war der einzige Ort, der auf dem finsteren Höllenplaneten überhaupt einen Namen besaß – all die anderen hatten nur militärische Gefechtskürzel erhalten, Einsatzziel-Codeziffern. Es gab Tausende davon. Die gesamte Welt war gesprenkelt mit Wunden dieses furchtbaren Krieges.
Was diesen einzigen Namen anging … bis heute wusste niemand, woher der Name eigentlich gekommen sein mochte, ob er der Sprache (wie auch immer man sich die vorstellen sollte) der Devils entstammte oder den Wahngespinsten der delirierenden Überlebenden der terranischen Streitkräfte.
Chuuluk.
So hatten die Überlebenden diesen Ort schluchzend und wimmernd genannt, alle unabhängig voneinander.
Chuuluk!
Ein Name, der noch immer Gänsehaut und Schauder erregte. Ein Name, der niemandem aus dem Kopf ging, der jemals dort gewesen war oder Filme von der Front gesehen hatte. Ein Name, der einen Klang besaß wie früher Verdun, Stalingrad, Lidice, Auschwitz, My Lai, Sarajevo, Bagdad, Jerusalem.
Man konnte solche Namen nicht vergessen. Besonders dann nicht, wenn man dabeigewesen war. Wenn man Zeuge davon geworden war, wie die wackeren, kraftgestählten Soldaten, die in diesen Krieg gezogen waren, als verstümmelte, halb wahnsinnige physische und psychische Wracks aus dieser Hölle gerettet wurden, in der sie bisweilen monatelang von ihren unmenschlichen Gegnern einer unbegreiflichen Folterprozedur ohne Sinn und Verstand unterzogen worden waren.
Die gesamte terranische Gesellschaft hatte die Wunden, die dieser Krieg physisch, finanziell und mental hinterließ, bis heute nicht richtig verkraftet. Dutzende verwüsteter Welten, Millionen ausgelöschter menschlicher Kolonisten, der bis heute währende Einbruch des galaktischen Kolonisationsprogramms, die lange Wirtschaftskrise im Nachgang des Krieges … alles das verband sich mit dieser Welt, mit diesem Namen, dem Symbol absoluten Grauens.
Inferno.
Die monströse Heimat einer nicht minder monströsen, inzwischen aber ausgerotteten Spezies, die man nie hatte verstehen können.
Admiralin Bailey starrte in die grauschwarze, von flackernden Blitzen des dauerhaften planetaren Sturms erratisch erhellte Welt hinaus und erblickte die Trümmerhalden der zerstörten terranischen Panzer, der Lafetten, Gleiter und Raumboote. Sie waren in einer Zahl übereinandergeschichtet, die nach wie vor jedem Begreifen Hohn sprach. In der blutrot beleuchteten Finsternis und überkrustet von den seit Jahrzehnten andauernden Stürmen und vulkanischen Ascheniederschlägen wirkten viele Wracks wie die ausgeschlachteten, vertrockneten Hüllen unheimlicher Insekten, ausgesogen und in sich zusammengesunken, metallene Leichenreste der gescheiterten Kommunikation mit dem einzigen extrasolaren Volk, das die Menschheit bis heute gesehen hatte.
So hatte sich zu der höllischen Umwelt, die die Sonne Dante geboren hatte, noch das menschengemachte Inferno gesellt, das sehr zum Namen dieser Höllenwelt passte.
Die finale Lösung des Devil-Problems stellte bis heute eine schreckliche Erkenntnis für die Gesellschaft dar. Und sie war Teil der Begründung, warum die Admiralität Inferno bis heute für Besucher aller Art kategorisch gesperrt hatte. Niemand kam hierher, das System wurde von automatischen Abwehrverbänden nach außen hin blockiert. Keine Chance für instinktlose Devotionalienplünderer, die Schlachtfeldreliquien bergen und an obszöne Sammler verhökern wollten. Kein Schlachtfeldtourismus, wie er auf der Erde gang und gäbe war. Auf den Feldern des amerikanischen Bürgerkriegs etwa oder den von den Weltkriegen heimgesuchten Arealen in Europa gab es so etwas natürlich, also eine geradezu touristische Attraktion, die bisweilen pittoreske, fast idyllische Aspekte besaß.
Gedenkorte wurden auf der Erde gern in malerische Naturszenarien eingebettet, die Friedhöfen etwas Friedvolles, Weihevolles verlieh. Dort war es in gewisser Weise nachgerade natürlich, Gedenkzeremonien abzuhalten, die Erinnerung an vergangene Schrecken und Heldentaten gleichermaßen zu pflegen.
Inferno lag jenseits solcher Kategorien.
Es gab ja auch keine wohlfeilen Souvenirshops in My Lai oder Reenactment-Events in Auschwitz. Das hier wäre noch um einige Dimensionen monströser geworden.
Vielleicht würde man in ein paar Jahrhunderten bescheidene erste Forschungsexkursionen ermöglichen, aber aktuell waren die Wunden noch viel zu frisch, die Traumata zu nah an der Gegenwart gelegen, als dass irgendwer es riskiert hätte, hier eine wie auch immer mögliche Besuchsregelung zu realisieren. Nicht einmal Vor-Ort-Forschung war möglich. Alle diesbezüglichen Forschungsanträge wurden von Regierungsseite kategorisch abgelehnt.
Sicher, die Veteranenverbände protestierten regelmäßig am Jahrestag des Kriegsendes gegen diese rigide Haltung der Förderationsregierung. Aber das lag nicht an diesen Schutthalden – es hatte sehr viel mehr mit den Reihen der Gefallenenmahnmale zu tun, die hier auf der anderen Talseite errichtet worden waren. Sie ragten in langen, ja beängstigend langen Reihen in den finsteren Talhimmel, auch sie anthrazitschwarz, mit schier endlosen, silbernen Buchstabenkolonnen, die ihre Oberflächen zierten. Sie sahen wie neu aus, geradezu so, als wären sie gestern erst errichtet.
Zeit hatte hier auf Inferno ebenfalls eine andere Konnotation.
Der Grund dafür, der die Mahnmale für immer und ewig als Fremdkörper auf dieser Welt bestehen lassen würde, lag in der speziellen Oberflächenbeschichtung, die antistatisch war und jedes darauffallende Molekül abwies. Asche konnte diese Mahnmale nicht verkrusten, und lose Asche wurde vom Wind ständig wieder weggeblasen. So blieben die Namen von Hunderttausenden Gefallenen für alle Zeit sichtbar. Bis zu dem fernen Tag, wo die vulkanischen Ablagerungen den monströsen Schlachtfeld-Kessel von Chuuluk dereinst völlig gefüllt haben würden.
Aber das lag ohne Frage noch Jahrtausende in der Zukunft.
Die acht Meter hohen Sockel trugen standardisierte Soldatengestalten in der Kleidung eines Raummarines, das Gewehr vor dem Leib auf den Boden gestemmt, den Lauf von einer behandschuhten Hand umfasst, die andere lag auf dem Griff des Vibratormessers im Gürtel.
Dies waren die favorisierten Waffen der Soldaten gewesen, wie es hieß.
Die Admiralin, die auch zum ersten Mal an diesem geschichtsträchtigen Ort weilte, schluckte schwer. Die heroische Pose wirkte in dieser Umgebung so überhaupt nicht. Schon gar nicht, weil es so viele Mahnmale gab.
Sie wusste: Alleine im Kessel von Chuuluk waren es über tausend, ein jedes stand dabei für tausend gefallene Soldaten, deren Namen maschinell in die Oberflächen eingraviert worden waren, aufgeteilt nach Regimentern, darin nach Rängen und dann alphabetisch aufgeschlüsselt.
Und verteilt über die Oberfläche von Inferno existierten weitere anderthalbtausend. Etwa jedenfalls. Mehr als zweieinhalb Millionen Männer und Frauen des Raumelitekorps waren hier zugrunde gegangen. Und das trotz modernster Technik, trotz Mikronuklearwaffen. Trotz Infrarotscannern, hochentwickelten Robotdivisionen, Geleitschutz und unablässiger Flankensicherung.
Trotzdem.
Ohne einen Teil dieses Schutzes, so hatten Analysten allerdings auch errechnet, wären allerdings wenigstens dreimal so viele Tote zu beklagen gewesen. Ein ungeheuerlicher Blutzoll.
Und all das, ohne den Gegner auch nur zu VERSTEHEN!
Ohne den Hauch einer Verständigungsmöglichkeit.
Massives nukleares Bombardement hatte man hier in Chuuluk nicht einsetzen können, weil rasch nach der Landung die ersten Überlebenden der Bodenkommandos in den unterirdischen Laboren der Devils gefunden wurden. Grässlich entstellt, ja, aber aus unbegreiflichen Gründen noch immer am Leben.
Und zugleich waren immer mehr Soldaten bei den Bodenmanövern in den höllischen, endlosen Höhlenlabyrinthen bei den Angriffen verschwunden.
Verständlicherweise nährten die im Kessel von Chuuluk wieder gefundenen Überlebenden in den Verantwortlichen der Admiralität die Hoffnung, dass die Verschwundenen auch nicht tot waren. Sie hatten sich geraume Zeit schlichtweg geweigert, an den Tod ihrer Soldaten zu glauben.
Und, vielleicht noch schlimmer für die Armeeführung, die Öffentlichkeit war lange Zeit strikt gegen einen Vernichtungskrieg gewesen. Die Medien kamen mit dem monströsen Vorwurf, dann sei man ja „nicht besser als die Nazis im 20. Jahrhundert“. Ein Vorwurf, den man natürlich nicht auf sich sitzen lassen mochte.
„Vielleicht kann man sie ja in die Knie zwingen. Mit ihnen, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen, einen Konsens ausarbeiten. Sie können nicht NUR böse sein. Solche Rassen gibt es nicht“, hatten die „Tauben“ in den Parlamenten gesagt.
Viele medienpräsente Moderatoren hatten solche Argumente bereitwillig aufgegriffen und damit Hoffnungen geschürt, die einfach jeder Realität entbehrten. Vielleicht hatte das auch mit der Tatsache zu tun, dass Kriegsberichterstatter auf Inferno kategorisch ausgeschlossen blieben. So war unvermeidlich ein verzerrtes Bild des Ernstes der Lage entstanden.
Zuletzt aber waren derlei Friedenshoffnungen allesamt grausam enttäuscht worden. Am schlimmsten, fand die Admiralin, war wohl die Tatsache, dass wirklich niemand bis heute hatte herausbekommen können, warum das alles so fehlgeschlagen war.
Warum es einfach keine Form der Verständigung gegeben hatte.
Es gab nur Kampfberührungen. Ausschließlich.
Die Devils machten dem ihnen verpassten Namen alle Ehre. Leider.
Mit jedem Schiff voller Särge getöteter Soldaten wurde deutlicher, dass eine Kooperationslösung, ein Diktatfrieden oder etwas in dieser Art einfach illusorisch war. Dass immer mehr junge Soldaten sinnlos auf dem Schlachtfeld geopfert werden würden.
Und so schrie das Volk schließlich nach der Ausrottung.
Und das Militär erfüllte dem Volk und der Regierung diesen Wunsch.
Die Admiralin fröstelte wieder.
Nein, das war wahrhaftig kein Ruhmesblatt für die irdische Raummarineführung, und in gewisser Weise empfand sie Genugtuung, dass General Jablokov, der daran so großen Anteil gehabt hatte, nicht den Mumm besaß, sich selbst hier vor Ort zu begeben.
Er wurde von den Dämonen der Vergangenheit unzweifelhaft gequält.
Irgendwie geschah ihm das zu Recht.
Aussprechen konnte man so etwas natürlich nicht!
„Schleust die Roboter aus und errichtet die Überlebenszentren“, sagte sie mit rauher Stimme und riss sich aus schauderhaften Gedanken an die blutgetränkte Vergangenheit dieses Ortes. „Und schickt die Forschungsroboter und die Sonden los. Vielleicht haben sie ja damals nicht so gründlich zugeschlagen wie gedacht. Vielleicht haben doch noch Devils überlebt. Man muss versuchen, sie zu verstehen, sie zu kontaktieren. Ob sie nun noch leben oder nicht.“
Die Admiralin war damit bemerkenswert naiv.
Aber wie hätte sie es auch nicht sein sollen? Sie war nie hier gewesen.
Veteranen wie Senner Kadesch hätten es ihr erklären können, mit lapidaren Worten: „Sie waren damals nicht dabei. Sie können das nicht begreifen, das können nur wir.“
Aber die sich verwandelnden Veteranen redeten mit niemandem mehr.
Sie hatten sogar ihre Sprache verloren …
***
Ein Oszillieren durch enge Gänge des Geistes, spinnwebbehangen und immer wieder durch neuronale Gewitter und Erdbeben erschüttert, zertrümmert, halbverschüttet. Umwege mussten eingeschlagen werden Pfade durch graurauchiges Nirgendwo und Nirgendwann.
Trommelfeuer aus loderndem Schmerzfeuer.
Hasssinfonien, tosend und strudelnd durch die Abgründe des Verstandes.
Jede vernünftige Regung wurde ausgeschaltet, alle Anzeichen von Individualität davongefegt. Es gab keinen Senner Kadesch mehr, das war eine Buchstabenkombination ohne Bedeutung, Sinn und Verstand.
Hass, infernalischer Hass, das war alles, was in diesem Sumpf aus Pein und Folter letzten Endes übrig blieb.
Hass auf diejenigen, die für diese Situation verantwortlich waren.
Es waren nicht die Devils, denn sie taten schließlich nur, was sie immer schon getan hatten: Morden und verstümmeln. Sie waren das Schicksal. Sakrosankt für sie alle.
Und verwandt …!
Nein, schuld waren die anderen, die hochgewachsenen, brutalen Gestalten, die sie ohne Grund in den Alptraum ihres Daseins zurückgestoßen hatten. Die sie eingekesselt hatten in Chuuluk.
Schuld waren die Terraner.
Alle wussten das.
Alle mehr als zweihunderttausend Misshandelten.
Und sie wussten ebenfalls alle, dass sie Rache nehmen würden. Nur dieser eine kollektive Gedanke hielt sie am Leben, hielt sie aufrecht und bei Verstand.
Und in diesem Intellekt, dieser durch Qualen ausgebrannten Ruine von Intellekt, war nur noch Platz für den Hass.
Totalen Hass.
***
Inferno: Unterwelterkundung, 18. März 2397
Enge Gänge.
Die Scheinwerfer der robotischen Suchsonden flackerten langsam durch alptraumhafte Labyrinthe, die kilometertief in die Kruste von Inferno eingegraben worden waren. In allen wallte die transparente Stickstoffatmosphäre, einige Gänge waren auch durch Vulkanismus schon wieder geschlossen worden, in anderen schwappte die Lava blutig und flüssig, und giftige Schwefelschwaden dampften empor.
Den fliegenden, kugelförmigen Spähern der Terraner machten diese Umweltverhältnisse nichts aus. Die chromflirrenden, kopfgroßen Bälle glitten mit leisem Singen durch diese unterirdischen Höhlen, durch lange Kasematten, die völlig schmucklos waren, fast so, als seien sie als letzte Bastion des Volkes aus dem Fels gehauen oder GEFRESSEN worden.
Die Admiralin, die ebenso gebannt wie beklommen den übertragenen Bildern folgte, wusste nur zu gut, dass die Devils genau diese Strukturen hier früher geschaffen hatten. Soweit man nach dem Ende der Kämpfe herausfinden konnte, ernährten sich diese Kreaturen tatsächlich von dem mineralreichen Felsgestein. Ganz genau wusste es niemand, denn es war niemals gelungen, einen lebenden Devil gefangennehmen zu können.
Ebenso wie das Wissen um die Physiologie des Feindes war auch das Wissen um die Bauweise der Devils fragmentarisch geblieben. Auch weitergehende Erkenntnisse bezüglich ihrer bizarren Technik oder auch nur ihres Soziallebens im Allgemeinen konnte man lediglich rudimentär nennen.
Sie waren wie aus dem Nichts erschienen in ihren bizarren Raumschiffen, die wirkten, als seien sie aus Fels gehauen. Offensichtlich bestanden sie auch nicht aus reinem Metall. Sie attackierten das Imperium ebenso gnadenlos wie augenscheinlich grundlos, ohne dass man mit ihnen gerechnet oder sie jemals anderswo gesehen hatte. Und erst auf Inferno hatte der gnadenlose Feind leibhaftig eine Gestalt erhalten, als die Fußtruppen auf die Devils trafen, die zunächst verständlicherweise für Raubtiere gehalten wurden, bis ihre eindeutige Intelligenz und nachgerade selbstmörderische Aggressivität nicht mehr geleugnet werden konnten.
Die Technologie hatten die terranischen Soldaten nie genau erforschen können. Alle Installationen, denen der Frontverlauf nahe kam, wurden durch die Devils gründlich gesprengt. Und auch das, was nun noch in den Hallen und „Werften“ zurückblieb und nach Ende der Kämpfe genauer examiniert werden konnte, blieb unbeschreiblich fremdartig.
Am ehesten, hatte es in einem der seltenen Armee-Forschungsreports gestanden, die nicht klassifiziert waren, erinnerte sich die Admiralin, erinnerten diese Komplexe eigentlich mehr an die Steinzeit denn an High-Tech: Große, schwarzgraue Klötze mit einer Vielzahl von baumwurzelartigen Auswüchsen an der Basis, armstarken Löchern und zum Teil durchlöchert wie der sprichwörtliche „Schweizer Käse“. Rotfunkelnde, verdrehte Trümmerstücke von Mattengeflechten aus unbekannten Metallegierungen vermischten sich unentwirrbar mit dem Schutt zerbombter und zerschossener Anlagen unbekannten Zwecks, und all das lag weitläufig verteilt über kilometerlange Hallenkomplexe in zahllosen übereinander liegenden Fertigungsebenen unter der Erde, die in jahrelanger Arbeit aus dem Fels geschachtet worden sein mussten.
An vielen Stellen waren diese Komplexe allerdings in den vergangenen 22 Jahren zusammengebrochen. Überall zeigten die Bilder der entsandten automatischen Drohnen breite Risse in den Wänden, die durch ständige tektonische Erschütterungen und Verschiebungen entstanden waren. Dennoch, das musste Miriam Bailey neidvoll anerkennen, hielten sich diese Hallen und unterirdischen Komplexe weit besser als terranische Konstruktionen in ähnlichen tektonischen Ballungsgebieten auf irdischen Kolonialwelten. Diese Devils, das konnte man nicht anders sagen, mussten ein Volk genialer Techniker und Statiker gewesen sein.
Gewesen sein.
Buchstäblich.
Denn es gab sie nicht mehr.
Tagelang untersuchten überall auf dem Planeten Tausendschaften von Robotspähern die Katakomben, suchten nach Spuren der einstigen Feinde Terras, ebenso, wie die Bord-KIs sich bemühten, das relevante Datenmaterial über Inferno und die Bodenkampfschauplätze aus den Datenarchiven wieder zusammenzustellen und mögliche Kompendien für Erstkontaktszenarien auszuarbeiten.
Offenkundig, stellte sich allmählich heraus, war damals gegen Ende des Krieges ganze Arbeit geleistet worden.
An vielen Stellen wurden zudem intensive Verseuchungsspuren von chemischen Kampfstoffen gefunden, manchmal geradezu Verkrustungen, was auf exzessiven Gebrauch chemisch-biologischer Kampfstoffe hindeutete. An anderen maßen die Roboter extreme Neutronenstrahlung oder Gammastrahlungswerte an, die ein Durchqueren derartig beschädigter Gebiete auch heute noch für menschliches Personal unmöglich machte.
Damit wurde nun auch etwas klarer, warum diese Welt, die als Mahnmal und Gedenkort für die brutalste, blutigste Auseinandersetzung der jüngsten Vergangenheit ideal geeignet gewesen wäre (vielleicht auch gerade wegen ihrer abweisenden, menschenfeindlichen Umweltbedingungen), nicht zum Betreten geöffnet wurde. Selbst die Koordinaten der Sonne Dante und ihrer beiden Trabanten galten als Staatsgeheimnis. Alle Veteranen und Angehörigen wurden für die Abhaltung von Gedenkveranstaltungen zweckdienlich auf Mahnmale auf der Erde, Luna und den Kolonialwelten verwiesen.
Hier auf Inferno, begriff die betroffene Admiralin Miriam Bailey nun endgültig, hier war damals ein schmutziger Krieg geführt worden, als es dem Ende entgegenging. Hier hatten die damaligen Verantwortlichen der Admiralität alle Regeln der Menschlichkeit über Bord geworfen und jedes erdenkliche (und zugleich erkennbar auch alle verbotenen) Mittel angewendet, um eine feindliche Lebensform ein für allemal auszurotten, buchstäblich auszuradieren.
Und es war ihnen gelungen.
Bis auf die Veteranen jedenfalls, die nun zwischen dem immer mehr schrumpfenden Stadium des Menschseins und dem eines waschechten Devils oszillierten, wobei sie sich zunehmend stärker den einstigen Feinden der Menschheit anglichen, zu ihnen heranreiften – wie immer das auch möglich sein mochte …
***
Dante-System, 19.-25. März 2397
Die nächsten vier Schiffe der unzutreffend „Eisflotte“ genannten Evakuierungsflotte kamen binnen der nächsten paar Tage in das System und blieben im Orbit, während Tausende von Medorobotern die Module der Transporter leerten und im Innern des großen Talkessels von Chuuluk eine gewaltige Siedlung aufbauten.
Es handelte sich dabei um eine kreisförmige Struktur mit einem Durchmesser von acht Kilometern, die aus Fertigbauten bestand. Hunderte von Panzer- und Gleiterwracks wurden dafür weggeschleppt, Dutzende von Artilleriestellungen und viele Quadratkilometer zersiebten und umgepflügten Planetenbodens wurde rigoros zuplaniert, um Platz zu schaffen. Glücklicherweise konnte auf eine aufwändige und zeitraubende Entminungsaktion verzichtet werden – das war bereits vor 22 Jahren geschehen, als die Evakuierung der Überlebenden stattfand.
Die gesamte Anlage wurde durch Roboter in unablässigen Tag- und Nachtschichten zusammengebaut. Ihre Segmente waren mittels Gängen miteinander verbunden, wobei sowohl Gänge als auch Segmente normal geflutet waren. Nur die Module selbst waren und blieben unter Stickstoffatmosphäre und die Veteranen selbst in ihren Schlafkapseln.
Dennoch passierte fünf Tage nach der Landung des ersten Raumschiffssegments, als noch nicht einmal ein Zehntel der Station stand, bereits der erste Zwischenfall.
***
Inferno, Kessel von Chuuluk, 30. März 2397
Die Admiralin, gerade wieder aus den begehbaren Teilen der Labyrinthe des Planeten zurück, die sie sowohl auf den Videoschirmen als auch in den Träumen zunehmend heimzusuchen begannen, stand hinter der transparenten Druckscheibe und starrte in die Halle, in der sich vierzig der Tiefschlafbehälter befanden. Einer von ihnen war geöffnet.
Er war leer.
„Wohin ist er, Chandra?“
„Das ist die Frage. Er muss sich noch im Tiefschlafsaal befinden, denn die Automatik hat einen sehr seltsamen Alarm ausgelöst. Sie sagte, er sei verschwunden.“
Sie starrte mit dunkel umrandeten Augen in die Halle und versuchte sich das vorzustellen. Ihr Magen verkrampfte sich bei der bloßen Ahnung dessen, was hier womöglich gerade passierte – waren sie es selbst, die es dem Feind ermöglichten, aus der Asche seiner Vernichtung aufzuerstehen? Brachten sie, die Terraner, in ihrer Sentimentalität den Devils jetzt womöglich die lang ersehnte Wiedergeburt? Und schlichen demnächst mutierte Veteranen durch den Talkessel von Chuuluk, um von neuem Terraner zu ermorden?
Ein furchtbarer Gedanke, den sie aber einfach nicht abschütteln konnte, obwohl er vollkommen irrational klang. Er passte leider nur zu gut zu den kaum minder irrationalen Metamorphosen der armen Veteranen. Vielleicht war er gerade deshalb so bestürzend hartnäckig.
‚Ich habe einfach zu viele Dokumentationen gesehen, zu lange die Filme der Robotdrohnen verfolgt‘, wies die Admiralin diesen Gedanken zurück. Doch er nagte beharrlich weiter an ihrer Seele. Nährte geduldig die Angst, die aus diesen Vorstellungen emporwuchs.
„Verschwunden?“, echote sie wenig einfallsreich. „Aus der geschlossenen Kapsel? Von einem Moment zum nächsten?“
„Richtig, so sieht es aus. Da die Devils allerdings Meister in der Technikmanipulation waren, könnten wir dort einem Trick aufgesessen sein …“
„Dann hat Ihre Überlegung, er müsse noch im Saal sein, auch keinen realen Grund“, kritisierte sie sofort, die Schwachstelle seiner Argumentation erkennend. Dass der Mediziner den Veteranen stillschweigend mit einem Devil gleichsetzte, war schon schlimm genug … doch wenn Bailey sich selbst gegenüber ehrlich war, tat sie genau dasselbe. Optisch ließen sich diese beiden Wesen, mutierter Veteran oder Devil, inzwischen nicht mehr voneinander unterscheiden. „Er könnte die Außensperren des Segments auch überwunden haben.“
„Das ist nicht möglich!“
Sie glaubte Chandras halbherziger Ablehnung nicht. Und er konnte ihr auch nicht in die Augen blicken. Seit sie gelandet waren, war er äußerst kleinlaut geworden.
Er hatte Angst.
Sie hatten alle Angst.
Etwas Ungeheuerliches passierte hier, das auf der Erde seinen Anfang genommen hatte … und je mehr sie sich darum bemühten, alles zu verstehen, desto undurchdringlicher schien alles zu werden … wie ein Knoten, den man beim Versuch, ihn zu öffnen, nur immer mehr zuschnürte.
Eine qualvolle Analogie.
Und vielleicht eine lebensgefährliche.
Immerhin befanden sie sich hier im Herzen der einstigen Feindmacht.
Zusammen mit Tausenden von Veteranen, die sich augenscheinlich in Devils verwandelten.
Wie hätte man da denn keine Furcht empfinden können?
Sie insistierte. „Ist diesen Wesen eigentlich irgendetwas unmöglich? Sie vergessen, Chandra, dass es sich bei den Veteranen … oder Devils, wie auch immer wir sie jetzt bezeichnen möchten …, fast durchweg um gut ausgebildete Techniker, Biologen, Chemiker und Konstrukteure handelt. Oder um exzellente, gewiefte Kämpfer. Sie belügen sich selbst! Lassen Sie ihn sofort segmentweit suchen! Und alle Robotwachen sind ab sofort mit dem Befehl zum scharfen Schießen auszustatten! Wenn ihnen etwas über den Weg läuft, was unmenschlich ist, wird zunächst Paralysebeschuss angeordnet, und wenn das nicht wirkt, dann Thermobeschuss!“
„Admiralin …“
Chandras Gesicht war blass, seine Stirn mit feinem Schweiß bedeckt.
„Ja?“ Sie sah ihn verbissen an.
„Sie verfallen gerade in das alte Feindschema, Admiralin … wäre es nicht sinnvoller, wenn wir den Kontakt suchen würden …?“
„Wenn es sich hierbei wirklich um Devils handelt“, stellte die Bailey unmissverständlich klar, denn dieser Gedanke durfte überhaupt nicht erst weitere Nahrung erhalten, er musste sofort abgewürgt werden, „dann werden sie sich wohl nicht anders verhalten als ihre ‚Vorfahren‘. Und ihre Vorfahren, das möchte ich klarstellen, waren kompromisslose Menschenhasser! Und Mörder! Ich habe die Verantwortung über Sie und über alle anderen Beteiligten der Mission. Ich will nicht warten, bis es hier Leichen gibt. Habe ich mich klar und verständlich ausgedrückt?“
Der Arzt nickte niedergeschlagen. Er setzte die Anweisungen der Admiralin um, soweit sie seinen Bereich betrafen. Die Sektionen wurden von nun an intensiver überwacht. Auch das Umland. Doch dort regte sich nichts.
Und dennoch verschwanden binnen weniger Stunden weitere achtzig „Veteranen“.
Spurlos.
Die Nervosität der anwesenden Terraner stieg analog dazu stetig an.
***
Inferno, Kessel von Chuuluk, 31. März – 10. April 2397
Als das vierte Schiff eintraf und der fertige Komplex endlich stand, betrug die Schwundziffer bereits zwölftausendundvierzehn Veteranen. Jeden Tag verschwanden weitere „Devils“, und niemand wusste, wohin. Kameraeinstellungen zeigten, dass die Betroffenen einfach zu oszillieren begannen, ihre Konturen verschwammen, offenkundig ohne äußeren Einfluss, und noch während die Betroffenen bewusstlos schienen, wurden sie durchscheinend … und im nächsten Moment gab die Automatik Verlustalarm, und die Kapsel war leer.
Der Prozess an sich blieb einfach unverständlich.
Weder wirkte irgendeine externe Kraft messbar auf die Kapsel ein noch ließ sich den biophysikalischen Parametern der überwachten Veteranen etwas entnehmen. Auf diese Weise konnte man auch nicht zeitig „nächste Kandidaten“ ausfindig machen. Der Prozess an sich schien völlig zufällig stattzufinden.
Parameterbrüche konnten nicht nachgewiesen werden, was der Situation etwas Geisterhaftes und Unwirkliches verlieh. Leider waren die leeren Schlafkapseln alles andere als das.
Suchaktionen blieben sowohl innerhalb des Komplexes wie außerhalb erfolglos. Allerdings musste sich Admiralin Bailey eingestehen, dass es illusorisch war, mit den zur Verfügung stehenden beschränkten Kapazitäten größere Teile des unterirdischen Tunnellabyrinths auch nur unter dem Talkessel von Chuuluk zu explorieren. Dafür brauchte man weitaus mehr Kräfte.
Kräfte, deren Heranziehen sie beim besten Willen nicht verantworten konnte. Dieser Planet hatte schon einmal unglaubliche eingesetzte Menschenmengen verschlungen … es war undenkbar, dasselbe womöglich noch einmal heraufzubeschwören.
Dr. Tagore von der ZARATHUSTRA hatte am zwölften Tag nach dem ersten Verschwinden, dem 11. April 2397, eine potenzielle Erklärung für das Phänomen gefunden, dem sie sich hier auf unerwartete Weise gegenübersahen. Zumindest sagte er das in der Besprechung, die inzwischen regelmäßig jeden Tag stattfand. Allen war es zwischenzeitlich auf dieser deprimierenden, grausigen Welt, die ein einziges Leichenhaus darstellte, unheimlich geworden.
„Es ist wohl nicht vermessen“, sagte Tagore langsam, wie es so seine Art war, „anzunehmen, dass die Art und Weise, in der die Fremden verschwinden, mit der Umgebung korrespondiert.“
„Wie soll ich das verstehen?“, hakte die Admiralin Bailey sogleich nach, ehe es irgendeine Möglichkeit gab, dass Tagores Gedanken zu einem Höhenflug ansetzen konnten, dem sie nicht mehr zu folgen imstande war.
Er verstand ihre hinter der Rückfrage stehende Skepsis bestens und erläuterte, was er sich bei seinen Überlegungen gedacht hatte: „Nun, auf der Erde sind die … Fremden … mir scheint es nicht statthaft, in der metamorphierten Form von ihnen als Veteranen zu denken … nachweislich alle verbrannt, als sie ein gewisses Stadium erreicht hatten. In meinen Augen scheint es sich hier um einen für uns zwar fremdartigen, aber in der Spezies endemisch angelegten biochemischen Prozess zu handeln. Hier sind sie ihrer Heimatwelt … wenn wir das so nennen möchten … physisch sehr viel näher und sterben nun auf die Weise, die den Fremden eigen war: Sie lösen sich in Nichts auf.“
„Aber das ist doch absolut unnormal“, warf ein Ordonnanzoffizier ein. Er war mit achtundzwanzig Jahren noch recht jung. Und auch er war ein Sohn eines Veteranen, geboren, bevor dieser auf Inferno verkrüppelt wurde. „Keine Lebensform löst sich in Nichts auf. Etwas bleibt immer zurück! Abgesehen davon finde ich es widerwärtig, wie Sie von ‚Fremden‘ reden. Immerhin gehörte mein Vater mit zu den verschwundenen Veteranen!“
„Andere Welten, andere biologische Entwicklungslinien“, konterte Tagore ein Gutteil zu lässig, wobei er die letzten Worte des jungen Soldaten konsequent ignorierte. „Wir haben keine Ahnung, wie und woraus die Fremden entstanden sind. Vielleicht waren sie, bevor sie diese Welt erreichten, reine Energie. Es gibt solche Thesen. Denn auch alle Fremden, die auf Inferno starben, lösten sich direkt nach Gefechtsberührung in Luft auf. Lesen Sie das in den damaligen Berichten nach, wenn Sie meinen Worten misstrauen.
Lange Zeit stellte das ja ein ernstes Problem dar, weil die Soldaten an Halluzinationen glaubten. Es ging gar nicht anders, dass sie ihre Schläge erfolglos wähnten, weil sie keine Leichen der Feinde fanden. Viele sind darüber wahnsinnig geworden. Das war ein sehr zentraler Teil der allgemeinen Fremdartigkeit der Devils. Wäre es anders gewesen, hätten wir sehr viel mehr über Physis und Stoffwechsel dieser Wesen herausbekommen, aber die Wissenschaftler erhielten nie eine Chance dazu. Mehr als fotografische Beweise haben wir – jenseits der Bauten und der von den Fremden angerichteten Schäden nie erhalten.
Manche Soldaten“, ergänzte er dann noch, „glaubten sich ernsthaft einem Simulationsspiel ausgesetzt und starben durch diesen Irrtum, weil sie die Lage grundlegend falsch einschätzten und die Risiken unzutreffend bewerteten. Oder aber sie gerieten in der Schlussphase der Auseinandersetzungen in die Hände unserer Feinde …“
Er seufzte. „Ich denke, es wäre verheerend, wenn wir unsere Muster des Schließens und Interpretierens auf diese Welt und die uns hier begegnenden Vorgänge übertrügen. Wenngleich das natürlich nahe liegt und einfacher ist“, räumte Tagore abschließend ein.
Der junge Soldat sah immer noch beleidigt aus und ging offenbar davon aus, der kluge indische Arzt habe seinen Vater mit einem der Devils gleichgesetzt. Das legten seine Worte in der Tat nahe, doch orientierte er sich schlicht an den physiologischen Veränderungen.
Wesen, die vormals Menschen gewesen waren, sich nun aber so metamorphisch veränderten, dass sie von den früheren Menschheitsfeinden nicht mehr zu unterscheiden waren, weiterhin als Menschen zu bezeichnen, machte in seinen Augen keinen Sinn. Das war sentimentale Gefühlsduselei. Selbst wenn sich Admiralin Miriam Bailey gelegentlich bei ähnlichen Gedanken ertappte, blieben sie höchst unverdaulich. Sie verstand den verstimmten Sohn eines Veteranen darum wirklich gut.
„Sie meinen also, diese Devils – oder Veteranen – seien nun tot und damit keine Gefahr mehr“, insistierte die Admiralin stattdessen. „Dieses … Verschwinden soll gewissermaßen die ‚traditionelle’ Form des Todes bei diesen Wesen sein, ja? Verstehe ich das richtig?“
Tagore nickte. „Das klingt mir jedenfalls sehr wahrscheinlich. Meine Prognose ist die: Sie werden über kurz oder lang wohl alle verschwinden. Und sie werden nicht mehr auftauchen.“
„Na“, murmelte jemand, wenn auch nicht sonderlich zufrieden klingend, „da bin ich ja mal gespannt, ob sich unser Problem so lösen wird.“
Es kam in der Tat so, wie Tagore es sagte.
FAST so, wie er es sagte.
Doch das Problem hatte damit gerade angefangen.
Oder eben aufgehört. Wie man es betrachten wollte …
***
Inferno, Kessel von Chuuluk, 18. April 2397
Am 18. April Erdzeit verschwand die letzte Gruppe von fast dreieinhalbtausend Veteranen spurlos, man konnte über die Kameras regelrecht zuschauen, wie sich die Schlafwaben leerten, indem ihre Insassen auf gespenstische Weise oszillierten und sich dann in Luft auflösten. Noch immer wurde keinerlei energetischer Prozess angezeigt, auch jedwede sonstige Erklärung ging nicht über das hinaus, was Dr. Tagore inzwischen im Missionstagebuch für jedermann nachlesbar gemacht hatte – mit ausdrücklicher Erlaubnis der Admiralin, die das ganze Unternehmen leitete.
Seiner Überzeugung nach waren die vormaligen Bewohner des Planeten Inferno als bizarre endemische Lebensform auch in ihrem Lebenszyklus so sonderbar und von dem verschieden, was irdische Biologen verstanden, dass sogar ihr Tod mysteriös und unerklärlich blieb. Dr. Tagore zufolge verwandelten sich tote Devils – und die metamorphierten Veteranen, die sich ihnen auf unheimliche und unbegreifliche Weise angeglichen hatten – nach ihrem Exitus in reine Energie und verdunsteten gewissermaßen.
So lösten sich auch die restlichen Veteranen am 18. April 2397 wie schon gut zweihunderttausend Personen vor ihnen buchstäblich in Luft auf.
Das stellte natürlich nicht das Ende vom Lied dar.
Das konnte nicht überraschen – sie befanden sich nun einmal auf Inferno, der Höllenwelt der Devils. Und ihre verstorbenen Veteranen hatten sich zum Schluss ebenso rätselhaft wie diese verhalten, waren gar nach ihrem Tod auf dieselbe geisterhafte Weise verschwunden, gleichsam verdunstet … wie hätte man also nicht auf den Gedanken kommen können, der nun so nahe lag?
Wenn jemand verschwunden war, konnte er sich durchaus – wie die mythischen und nie nachgewiesenen mutantischen Teleporter der Science Fiction-Literatur – doch noch irgendwo auf dem Planeten verbergen, nicht wahr? Menschen konnten hier nicht überleben, aber physiologisch waren die mutierten Veteranen zum Schluss hin erkennbar keine Menschen mehr gewesen.
Sie konnten auf Inferno fraglos überleben, nicht wahr?
Das konnte selbst Admiralin Bailey nicht in Abrede stellen. Auch wenn sie mit Dr. Tagore konform ging und eine solche Gefahr für nicht substanziell hielt … sie sah sich genötigt, verstärkte Spähmissionen auszusenden, um eine gewisse Sicherheit zu erlangen.
Sie wollte wirklich nicht in die Geschichte eingehen als die Soldatin mit Oberkommando, die die Todfeinde der Menschheit wieder nach Inferno zurückgebracht hatte, auf dass die Devils von neuem Mord und Totschlag über die Menschheit bringen konnten!
Nein, sie brauchten nach Möglichkeit Gewissheit.
Gewissheit darüber, dass sowohl die Veteranen wie die Devils für immer tot waren.
Doch obgleich die Missionsteilnehmer nun persönlich und mit Robotbegleitung wochenlange Exkursionen auf dem Planeten unternahmen und unzählige potenzielle Verstecke absuchten, war nichts zu finden, was diese unterschwellig hysterischen Befürchtungen bestätigt hätte. Auch die Hypothese, die veränderten Veteranen seien nun Mutanten, die so etwas wie Teleportation beherrschten, wurde schließlich fallengelassen. Wäre das nämlich der Fall gewesen, dann wären die Betroffenen angesichts der obwaltenden Naturkräfte längst alle tot. Jedenfalls gesetzt den Fall, man ging nicht davon aus, dass sich ihre Physis vollständig der der Devils angeglichen hatte.
Aber dann wäre aller Wahrscheinlichkeit nach auch deren Mentalität wiedergekehrt, und sie hätten ohne Frage längst die Besatzung der Frachter attackiert.
Nichts dergleichen geschah.
Die Totenwelt blieb so tot und wüst und leer wie eh und je in den letzten 22 Jahren.
Drei Monate nach der Landung beschloss die Admiralin deshalb, weil das Problem um diesen Komplex nicht abschließend zu klären war, zusammen mit den obersten Spitzen des terranischen Föderationsrates und der Admiralität des Reiches, Inferno zur nichttechnologisierten und für immer gesperrten Welt zu erklären.
Die Überlebenszentren wurden in der Folge rasch wieder demontiert und jedwedes Terra-Artefakt, das auf dem Planeten lag, durch Desintegratorwirkung aus dem Universum gefegt. Man wollte diesmal auf Nummer Sicher gehen. Niemals wieder durften diese Welt und ihre – wenngleich nur potenziell vermuteten und nicht entdeckten – Neu-Bewohner wieder zur Bedrohung werden.
Zwanzig Raumstationen mit hochempfindlichen Sensoren wurden im Orbit um Inferno und den ersten Planeten des Systems installiert. Sie maßen alle energetischen Prozesse auf dem Planeten an und scannten ihn und die systemische Umgebung dauerhaft nach ungewöhnlichen Wärmequellen nichtvulkanischen Ursprungs. Wenn irgendwo dort die Devils wieder auftauchen sollten und technisch aktiv wurden, würden automatisch Antimateriebomben von den Satelliten abgeschossen werden, die der gesamten Welt nun ein zügiges und endgültiges Ende bereiten konnten.
Als die Beteiligten zur Erde zurückkehrten, da waren sie sicher, alles Menschenmögliche getan zu haben, um eine eventuelle Gefahr ein für allemal auszuschalten.
Sie hatten dabei nur einen Fehler begangen, der allerdings jedem Menschen unterlaufen wäre – sie hatten menschlich gedacht.
Genau so, wie die Devils es von Anfang an planten.
Epilog
Das Jahr 2290 irdischer Zeitrechnung – Wiedergeburt/Geburt
Was tat doch die Hitze gut. Und diese Luft!
Die schwarze, kleine Kreatur, die aussah wie eine Mischung zwischen Stachelschwein und Schimpanse; Jenes Wesen, dessen drei rote Augen boshaft und hasserfüllt glommen, dankte dem Kosmos für seine Erschaffung.
Es reckte sich hoch und stieß einen hohen, winselnden Ton aus, den Lobgesang der glühenden Augensonne, die die Terraner dereinst Dante nennen würden.
Es blickte sich um und streifte über die sanft gewellte, sturmdurchtoste Ebene von Chuuluk, einer Ebene, die völlig unberührt war von den Segnungen der Technik, denn bis vor wenigen Stunden hatte es auf dieser Welt noch kein Leben gegeben. Keine Pflanzen, keine Tiere.
Und sie selbst auch nicht.
Nun war die Ebene bedeckt von ihnen.
In fahlen Energieblitzen tauchten immer mehr von ihnen auf. Hunderte. Tausende.
Durch die Gemeinsame Seele wusste das kleine schwarze Wesen genau, wie viele es waren, mehr als zweihunderttausend.
Ausgesetzt von den Terranern in diesem lebensfeindlichen Exil!
Dies war der Grundstock ihres Volkes, das bald Millionen umfassen würde.
Das Gebot der Existenz lautete: Sie mussten sich mehren, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Denn in ihnen allen brannte der kollektive Hass auf diejenigen, die sie in die Hölle von Chuuluk zurückgeschickt hatten, ohne dass es dafür auch nur irgendeinen Grund gab.
Hass auf die Admiralität eines Sternenvolkes, das sich Terraner nannte. Menschheit. Aufgebrochen von einem Planeten namens Erde, Tausende von Lichtjahren entfernt.
Automatisch begann das Wesen, das einmal Senner Kadesch geheißen hatte/heißen würde, mit den diamantharten Krallen den Boden zu bearbeiten und die herausgeschabten Felsmassen in seinen kleinen Schlund hinabzuwürgen. Wohliges Völlegefühl machte sich breit, nur überdeckt von dem infernalischen Hass, der es unentwegt antrieb, seinen Weg zu suchen.
Zunächst mussten Unterkünfte geschaffen werden. Höhlen, Schutz gegen die Umweltbedingungen. Und dann gegen die vorzeitige Entdeckung von Seiten der Terraner.
Danach galt es, Erfindungen zu machen. Viele Erfindungen und sehr schnell.
Nachwuchs musste heranwachsen.
Doch immer würden SIE, der Grundstock des Volkes, erfinden und lenken. Denn sie waren allesamt begnadete Techniker, Kämpfer, Chemiker, Biologen und Physiker, die sich viele Jahre lang mit der eigenartigen Welt Inferno auseinandergesetzt hatten, versucht hatten, sie zu verstehen. Das Volk der Devils zu begreifen, das sie nun selbst waren.
Sie würden es schaffen, in den Weltraum vorzudringen. Sehr viel schneller, als die Terraner es glaubten, die allerdings gegenwärtig von Inferno und den Devils noch keine Ahnung besaßen.
Nicht jetzt, im Jahre 2290 terranischer Zeitrechnung.
In einigen Jahrzehnten würden sie der Schrecken der Menschheit sein. Und ihren grauenhaften Hass endlich stillen können. Das würde natürlich ihr Ende bedeuten.
Aber die Wiedergeburt war schon programmiert. Die Devils wussten, dass es gelingen würde. Schließlich existierten sie.
Das war ein Zeichen dafür, dass die Terraner nie verstehen würden, wie die Schlaufe funktionierte.
Sie waren eben unermesslich dumm, diese Terraner.
Auch dafür mussten sie büßen. Dummheit war ein Grund, hassenswert zu sein.
Hass war das Lebenselixier der kleinen schwarzen Wesen, die menschlicher waren, als die Terraner wussten.
Am Ende würden sie das wissen. Vielleicht.
Aber dann war es natürlich zu spät, den ANFANG zu verhindern.
Das schwarze Wesen gesellte sich zu seinen Artgenossen und hasste still vor sich hin.
Wie alle anderen arbeitete es für die Zukunft.
Es war die Zukunft.
Und die Zukunft war die Vergangenheit.
Das war das Mysterium der Schlaufe.
Der gordische Knoten.
Undurchtrennbar.
Und am Ende war der Hass.
Prolog
Das Jahr 2366 irdischer Zeitrechnung – Kriegsbeginn
Am Anfang war der Hass.
Er kam aus dem Nichts, zusammen mit jenen geisterhaften, gnadenlosen Gegnern, die am 15. Dezember 2366 erschienen, um terranische Stützpunkte, Kolonialwelten und Handelsraumschiffe zu attackieren.
Schon bald hatte man einen Namen für die Feinde in den Felsraumschiffen geprägt, die auf keinen Funkspruch reagierten und so etwas wie Gnade selbst gegenüber Frauen und Kindern nicht kannten. Jeder, der ihren Weg kreuzte und von Terra oder einer Terra-Welt stammte, war des Todes. Und da noch keine anderen extraterrestrischen Rassen bekannt waren, wüteten diese Ungeheuer bei jedem Kontakt.
Devils.
Teufel des Weltraums. So wurden sie genannt. Und gehasst.
Es dauerte sieben lange Jahre, bis man durch einen bloßen Zufall die Hauptwelt der Fremden – die offenbar nur auf einer einzigen Welt überhaupt heimisch waren – entdeckte: die rote Glutsonne nannte man Dante, den zweiten Planeten, eine Sturm-, Hitze- und Stickstoffhölle Inferno.
Dies war bei weitem der am besten treffende Name für diese Welt, denn die Bodenunternehmen, die gestartet wurden, um den Gegner in die Enge zu treiben, nachdem seine Raumstreitmacht zerschlagen worden war, erwies sich als ungeheuer blutig, und dies trotz der überlegenen irdischen Technik.
Erst im elften Inferno-Jahr, was dem neunten terranischen Kriegsjahr entsprach, endete schließlich der erbarmungslose Krieg, die letzten Überlebenden wurden geborgen, die Mahnmale im Krater von Chuuluk errichtet und die wenigen, grässlich entstellten Überlebenden als Helden heimgeführt und nach der Quarantänezeit auf dem Mars in monatelangen, manchmal jahrelangen Rekonvaleszenzprozessen im Sonnensystem wieder gesund gepflegt.
Damals dachten alle, der Alptraum sei vorbei.
Doch niemand konnte ahnen, ja, sich nicht einmal vorstellen, dass all die Schrecken nach 22 Jahren noch einmal beginnen würden, ja, beginnen mussten. Dass die Terraner selbst dafür verantwortlich sein würden, dass die Devils und ihr infernalischer Hass überhaupt entstanden. Dass sie selbst ihren unbegreiflichen Feind hervorbringen und in die Verbannung schicken würden.
Genau wie die Devils dies einst geplant hatten.
Um hassen zu können.
Denn der Hass war ihr Lebenselement.
Für immer und ewig.
ENDE
Tiff
15. März 2024 — 21:52
Das erste Mal, dass ich in einer Deiner Geschichten nicht flüssig weiter komme. Für dieses WoC und einen richtigen Kommentar ist es zu spät. Aber als die Erzählung aus Sicht des Veteranen in Lhasa anfing, wurde es klobig und intern unlogisch für mich. Ich kann den Finger nicht auf die Wunde legen. Ich lese hier in Ruhe weiter und kommentiere, wenn ich fertig bin.
Vielleicht liegt es an der Länge? Nun, wenn ich durch bin, werde ich es vermutlich wissen. Sowohl was mich gestört hat, als auch was Du mit der Geschichte erzählen wolltest.