Buchbesprechung von Uwe Lammers

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Eckdaten

  • Ian Watson
  • Die Fliegen der Erinnerung (OT: The Flies of Memory)
  • Heyne 1991, 304 Seiten
  • Übersetzt von Walter Brumm
  • ISBN 3-453-05366-4

Irgendwann gegen Ende des 20. Jahrhunderts oder zu Beginn des 21. Jahrhunderts landet auf der Erde ein fremdartiges Raumfahrzeug, das einer riesenmhaften Pyramide zum Verwechseln ähnlich sieht. Es landet zuerst im Mittelmeer nahe Alexandria, und die Insassen schwärmen aus – riesenhafte, metergroße Fliegen, die offenkundig so etwas wie kosmische Touristen sind. Sie fliegen nach und nach jeden relevanten Ort der Erde an und „erinnern“ ihn, was heißt, dass sie ihn intensiv betrachten und dann zum „Nest“, ihrem Fahrzeug, zurückkehren, wo sie die Erinnerung offensichtlich abgeben.

Von Beginn an ist dieses außerirdische Raumschiff Brennpunkt der Interessen verschiedenster Machtgruppierungen. Die Amerikaner mit ihrer CIA sind durch Lew Fisher vertreten, die Russen mit dem KGB durch Valerij Osipijan, der Vatikan, für den sich die Fliegen verblüffenderweise sehr interessieren, gleich durch mehrere Personen: den Kardinal Borromini (der für Glaubensfragen zuständig ist), die holländische Nonne Kathinka und einige andere, und auch ein Ausschuss der Abrüstungskommission der UNO (UNKO) ist anwesend. Die UNKO schaltet auch Charles Spark ein, einen Mann, der Körpersprache lesen kann – natürlich nicht nur zu dem Zweck, um die Körpersprache der Fliegen zu lesen, sondern auch, um die Absichten der anderen zu untersuchen.

Alles geht solange relativ gut, bis die Amerikaner versuchen, das Nest zu besetzen und dies auch teilweise schaffen. Zu diesem Zeitpunkt hat die Pyramide schon ihren Standort verändert und liegt bei Castel Gandolfo, vor der Residenz der Päpste am Albaner See. Als die Amerikaner den Fliegen die Rückkehr verweigern, den Zutritt zum Nest versperren, stürzen einige in den See ab. Schon zuvor ist auf unheimliche Weise, nachdem eine Fliege auf mysteriöse Weise einem Attentat in Rom zum Opfer fiel, plötzlich die Kuppel des Petersdomes verschwunden, von einem Moment zum nächsten. Nun trifft es auch die Innenstädte von New Orleans, Prag und – München. Erst danach lassen die Amerikaner die Fliegen wieder ein, allerdings nicht, ohne zuvor aus den Tanks der Fliegen, in denen diese ihre Erinnerungen abzugeben pflegten, etwas von dem so genannten Drüsensekret mitzunehmen, mit dessen Hilfe sie das Geheimnis der Fliegen lösen wollen. Denn wer in die Erinnerungstanks der Fliegen eintaucht – wie Charles Spark und die Nonne Kathinka, denen dies von den Fliegen erlaubt wurde – , die stoßen auf eine perfekt nachgeformte Welt, die vollkommen plastisch, aber fast völlig leblos ist.

Als jedoch Martine Leveret, Charles´ Ex-Frau, die als sensitiv gilt, in einen nachgebauten Tank steigt, hat sie eine bizarre Begegnung mit einer Wesenheit, die sich nicht zu erkennen gibt und einige mysteriöse Bemerkungen macht. Nach diesem Besuch des nachgebauten Tanks behauptet Martine, der ein wenig von dem Serum injiziert worden ist, sie hätte nichts erkannt. In Wahrheit hat sie nun unheimliche Fähigkeiten, denn sie kann Erinnerungen SEHEN, wenn sie sich auf bestimmte Personen konzentriert. Das allerdings hält sie geheim. Auch die Tatsache, dass sie, als sie in München weilt, den „Geist“ einer Fliege sieht, den außer ihr niemand wahrnehmen kann.

Bald darauf wird der von den Menschen gehortete Geheimvorrat an Serum zerstört. Kurz zuvor wird, noch bevor die Fremden die Erde verlassen, die City von München auf dem Mars entdeckt. Und wichtiger noch: es hat Überlebende gegeben! Im Deutschen Museum haben sich in einem U-Boot ein Lehrer und zwei Mädchen verborgen, die dieser Lehrer – Richard König (!) nun sofort zu seinen Geliebten macht.

Die Russen und Amerikaner und die UNO rüsten sofort eine mehrschiffige Expedition aus, die zum Mars gelangen und aus der City von München eine Kolonie machen soll. An Bord der einzelnen Schiffe befinden sich auch Martine, Kathinka, die Nonne, aber auch Fisher und Osipijan, ein fanatischer russischer Hitler-Verehrer und einige andere, und der psychische Druck während der Reise ist enorm und wird durch eine Havarie noch verstärkt.

Doch die Reise ist dann noch nicht zu Ende, als sie auf dem Mars ankommen, im Gegenteil hier beginnt eigentlich erst die richtige Prüfung für sie, das Für und Wider, als sie sich entscheiden müssen, wem sie folgen wollen: ihrer Vernunft, ihrem Menschsein oder den Pfaden der Erinnerung, die unter anderem auch ins Jahr 1923 zurückreichen und einen Adolf Hitler wieder auferstehen lassen. Und die nachher einige von ihnen in einen Bereich führen, der eine sehr fragwürdige Art von Existenz bedingt.

Denn was hat es auf sich mit dem „Erinnern“ der Fliegen? Was ist das für eine Wesenheit, die nicht nur Martin Leveret erscheint, sondern allen, denen das Serum injiziert wird? Was ist das „Erinnerungsnetz“? Wie ist das wirklich mit der Materieübertragung von München zum Mars? All das sind Fragen, die auftauchen und zum erheblichen Teil auch gelöst werden. Aber die Fragen in dem Buch berühren noch sensiblere und bedeutsamere Punkte der Menschheitsgeschichte und werden für die Protagonisten im Roman schließlich existenziell wichtig …

Zu behaupten, das Buch lebe nur von seinen skurrilen Ideen, ist zu einseitig. Es lebt mindestens ebenso von der sehr deutlich akzentuierten Darstellungsweise der ausgefeilten Charaktere. Ob es sich dabei nun um die hellseherisch begabte Olivia Mendelssohn handelt, um den typisch russischen Valerij Osipijan, um den Körpersprache lesenden Charles Spark, um seine Ex-Ehefrau Martine Leveret, die als Mädchen von ihrem eigenen Bruder Larry geschwängert wurde und seither – bis zur Injektion des Drüsenserums – einen psychischen Knacks weghat und nur Gnome und Phantasiegestalten zeichnen konnte, ob es sich um Erika Kreutzer handelt, eine der beiden Geliebten „König Richards“ auf dem Mars, oder jene Wesenheit im „Erinnerungsnetz“ handelt. Und auch die klare Schilderung der Details fällt auf – die unglaublich fremdartigen Beschreibungen der Erfahrungen im Tank der Fliegen der Erinnerung.

All das fügt sich zusammen mit feinen Seitenhieben britischen Humors, der zum Teil natürlich schwarz und bissig ist, und mit politischen, religiösen, philosophischen und humanistischen Gedankengängen zu einer feinen Struktur einer eigenen Kosmologie zusammen, in der man viele unausgesprochene und nur angetippte Gedanken finden kann. Das Buch ist auf seine Weise schlechterdings perfekt und eigentlich für jeden interessant, der sich für Erstkontakte interessiert, für die Frage, was KGB, CIA oder Vatikan (oder alle drei) bei einem realen Fremdkontakt machen würden, für die genauere Eingrenzung des Begriffs „geisteskrank“ und vieles andere mehr.

Ich glaube, es wird kaum einen ernsthaft interessierten und aufgeschlossenen SF-Fan geben, der das Buch enttäuscht aus der Hand legen wird. Dafür ist es entschieden zu gut.

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