Perry-Rhodan-Fortsetzungsgeschichte von Senex. Fortsetzung von: Rhodans Tochter – Geschichte einer Halbarkonidin | Teil 1

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Ein Wiedersehen

Februar 2083, Reggys System, An Bord der STARDUST

Wider erwarten war in der Alphaschicht der STARDUST die Hölle losgebrochen, als die passive Energieortung so stark ausgeschlagen hatte, dass die Ortung von einigen Schiffen der STARDUST-Klasse ausgegangen war. Diese Anspannung war jedoch rasch in Jubel umgeschlagen, als sich Atlan über Videoanruf meldete. Die sichtbar gewordenen Triebwerksenergien eines mit vollen Kräften verzögernden Körpers zielten auf einen Punkt neben der STARDUST.

„Mann! Was für ein riesiger Brocken kommt denn da?“, rief der Mann am Ortungsgerät, Fritz von Hochstuhl. Rhodan kam nach vorne und übernahm das Gespräch, die gesamte Besatzung der Brücke konnte mitsehen und -hören.

„Willkommen im Reggy-System“, sprach der Vorstandsvorsitzende Perry Rhodan in das unsichtbare Energiefeld-Mikrofon. „Mit welchem Schiff bist du gekommen, Atlan? Mein Orter meint, es wäre ein riesiges Ding.“

Atlan lächelte vom Bildschirm. „Es ist ein Riese, Perry. Genau genommen, ein griechischer Gott. Wird HEPHAISTOS genannt. Ich glaube, du kennst die Besitzerin.“ Rhodan und Bully stöhnten unisono auf, Thora verzog grimmig das Gesicht.

„Miss Starlight! Es freut mich, Sie wieder zu sehen!“ Perry fasste sich schnell wieder. Starlight war nach vorne getreten, nahm einen zentralen Platz auf dem Bildschirm ein. Das kollektive Ächzen der Männer und einiger Frauen auf der Brücke zerriss die sekundenlange Stille. Tana trug wieder die Frisur Kleopatras, welche ihr ausgezeichnet stand, eine weiße Seidenbluse, halb durchscheinend mit dreifachem Jabot, der die Sicht auf ihren Busen gerade so viel verdeckte, dass die Phantasie angeregt wurde, hautenge schwarze Hosen und hochhakige rote Sandalen.

„Mister Rhodan, ich wusste gar nicht, dass Sie ein charmanter Mann sein können! Jedenfalls freut es mich, Sie und ihre Gattin gesund wieder zu sehen. Ich bitte Sie und Thora, mit einem Ihrer kleinen Schiffe an Bord der HEPHAISTOS zu kommen, für eine Landung der STARDUST sind wir leider nicht eingerichtet. Schacht zwei wird für sie geöffnet, sie können den Landeplatz gar nicht verfehlen.“ Hüftschwingend drehte sie sich um und stöckelte davon, sah noch einmal lächelnd über ihre Schulter. „Sie und die Donna, Mister Rhodan. Sonst betritt bitte noch niemand anderer meine Kabine. Hera wird sie erwarten und zu mir bringen.“ Sie schwang sich in das Antigravfeld des Liftes und verschwand.

„Ihre Kabine, du und Thora mit ihr allein? Das kann sich die Lady doch gleich abschminken! Ihr zwei geht nicht ohne mich!“ Bully hatte die Fäuste geballt. „Was sagst denn du zu dieser Zumutung, Atlan?“

Der grinste schon wieder, als er antwortete, „Ach Bully! Es ist ihre Station und ihre Kabine. Willst du ohne Aufforderung die Räume einer Dame betreten?“

„Welcher Dame?“ Reginald Bull fuhr beinahe aus der Haut. „Willst du Perry tatsächlich dieser – dieser – dieser Frau zum Fraß vorwerfen?“

„Sie hat mich auch nicht gefressen, Bully“, lachte Atlan jetzt unverblümt. „Sie war sofort bereit, mit der HEPHAISTOS loszufliegen, um Euch zu retten! Ohne etwas dafür zu verlangen, möchte ich hinzu fügen. Und Perry! Ich verspreche dir und Thora eine durchaus interessante und auch sehr positive Überraschung.“

Thora und Perry Rhodan waren mit Major Umpangas PEBBLES gestartet und flogen nun mit beinahe angepasster Geschwindigkeit über die HEPHAISTOS hinweg, sie mussten die technische Umsetzung eines kunstvollen Bauplanes einfach bewundern. Natürlich war die Form für eine Landung auf einem Planeten nicht besonders gut geeignet, und auch für ein Kriegsschiff war die Konstruktion nicht eben ideal, aber perfekt für eine luxuriöse, bewegliche Station. Der Park, der durch die Klarstahlscheiben von ‚oben’ zu sehen war, die bunten Schirme der Lokale, der Strand mit dem Schwimmbad davor, das vom Ufer wie ein Ozean wirken musste. Purer Luxus! Die PEBBLES überquerte den Rand, steuerte die andere Seite an. Überall an den Seitenwänden waren kleine, durchsichtige Kuppeln in regelmäßigen Abständen, hinter denen Menschen flanierten und die Aussicht genossen. ‚Unter’ der HEPHAISTOS angekommen, musste Umpanga sein Schiff drehen, um in den offenen und gut ausgeleuchteten Landeschacht einzutauchen. Innerhalb der Station wurden sie durch Hologramme in leuchtenden Farben zu ihrem Landeplatz gewiesen, die PEBBLES setzte am angegebenen Ort sanft mit nachwippenden Teleskopbeinen auf. Rhodan erhob sich und rückte seine Uniform zurecht.

„Bitte warten Sie hier auf weitere Anweisungen, Major!“ Dann wandte er sich an seine Frau. „Wollen wir gehen, Thora?“

Mit gemischten Gefühlen verließen Rhodan und Thora die Schleuse der PEBBLES, völlig im Ungewissen, warum Tana Starlight sie sehen wollte, und zwar allein. Wie versprochen wartete an der Schleuse eine Frau in der rauchblauen Uniform der Starlight Enterprises mit dem Namenschild Hera auf sie und sprach sie an.

„Ma’am, Sir, ich soll Sie nach Nummer 10, Downing Street führen. Bitte folgen Sie mir.“

Rhodan lachte launig. „Zumindest hat Starlight Humor. Die Adresse des britischen Premierministers als Kabinennummer für die Chefin, das hat doch etwas!“ Hera schritt mit schwingenden Hüften voran, durchaus ein lohnender Anblick, wie sogar Thora fand.

„Ma’am, Sir, ich darf Sie in diesen Lift bitten, er bringt Sie zum Deck ‚D‘. Bitte beachten Sie die rote Zone, ab hier schweben Sie aufwärts. Bitte hier entlang. Hier ist die Nummer 10, treten Sie nur ein, Sie werden erwartet.“ Die Gestalt der reifen Frau verblasste.

„Nanu?“ entfuhr es Rhodan.

„Ein sehr gut gemachtes Hologramm!“ kommentierte Thora trocken.

Auf alles waren Thora dalZoltral und Perry Rhodan gefasst gewesen, nicht aber auf die junge Frau, die sich lächelnd vom Sofa erhob. Verschwunden war das übertriebene Make-up, ohne jede Maske mit Ausnahme der Haarfarbe stand Victoria vor ihren Eltern. Thoras Augen verengten sich plötzlich zu engen Schlitzen, mit langen Schritten stand sie vor Starlight, packte das Gesicht und drehte es zur Seite, sah hinter das linke Ohr.

„Du hast dieses Mal nicht entfernen lassen?“

„Warum sollte ich denn, Mama?“ Thora riss ihre Tochter gleichzeitig jubelnd und schluchzend in die Arme. „Victoria. Ich wusste doch, das Gesicht ist mir bekannt vorgekommen!“ Lachend lagen sich Mutter und Tochter endlich wieder einmal in den Armen.

Victoria streckte die Hand nach Rhodan aus. „Papa?“

*

„Das ist eigentlich schon alles, wir haben uns die Leute gesucht, für welche die arkonidische Technik keinen sakrosankten Abschluss der Entwicklung darstellt, sondern eine Plattform, weiter zu gehen. Und wir haben Querdenker mit seltsamen Ideen an uns gezogen, als wir Starlight Enterprises gründeten. Wir haben Erfolg gehabt.“ Victoria trank einen Schluck Champagner und lehnte sich zurück. „Irgendwie habe ich einen Riecher für die brauchbaren Leute“, lächelte sie, Perry Rhodan drehte das zarte Glas in seinen großen Händen.

„Ich verstehe nicht, wie das geschehen konnte. Ich habe doch fähige und bereits erfahrene Leute ausgesucht und ihnen die Hypnoschulung gegeben!“

Victoria lachte laut. „Nehmen wir nur so als Beispiel einmal meinen Professor, an den du mich mit meinen Entdeckungen verwiesen hast. Er war in erster Linie an seinem Posten interessiert, jede Neuerung war eine Gefahr für ihn und seine Stellung. Für seinen Ruf ganz zu schweigen. Außerdem waren viele der Meinung, wenn die Arkoniden einige Jahrtausende keine Verbesserungen er- und gefunden haben, wie sollen dann wir in wenigen Jahren die Sache schaffen?“

Thora goss sich lächelnd noch einen Schluck Champagner in ihr Glas. „Ich sehe, dass du Erfolg hast, mein Kind, möchte aber viel lieber wissen, ob du glücklich bist. Gab es nach Gunnar eigentlich noch einen Mann in deinem Leben?“

Victoria strahlte. „Einige, Mutter, und meistens hat es mir viel Vergnügen gemacht. Und seit 17 Jahren gibt es einen sehr jungen Mann fix in meinem Leben.“

Rhodan runzelte die Stirn. „Da warst du doch noch mit diesem Gunnar zusammen.“

„Oh, Gunnar kannte und vergötterte ihn. Außerdem sagte ich in meinem Leben, nicht in meinem Bett. Möchtest du Reginald Atlan Starlight vielleicht einmal kennenlernen?“

„Reg – Regin – Reginald…?“, stotterte Rhodan, Thora brach in Gelächter aus.

„Perry, du bist Großvater! Das macht mich zur Oma! Wo ist der junge Mann?“

„Ich bitte die Picotronik, ihn hierher zu rufen. Seit einem Jahr besteht er auf einem Zimmer im Studentenwohnheim.“ Victoria Rosheen grinste ihre Mutter an. „Von wem er nur diese Tendenz zur Abnabelung, Unabhängigkeit und Rebellion her hat?“ Beide brachen in lautes Gelächter aus, das vom Summen der internen Kommunikationsanlage unterbrochen wurde. „Oh, Atlan ruft. Bitte, noch etwas. Bewahrt doch noch mein Inkognito!“

Rhodan runzelte die Stirn, Thora stieß ihm den Zeigefinger in die Rippen. „Selbstverständlich wahren wir dein Geheimnis, Kind. Atlan weiß es schon, oder? Sonst noch – oh! Allan, der alte Fuchs! Irene Adler! Und ich habe es übersehen! Deine Vorliebe für Sherlock Holmes und das viktorianische England! Sonst noch jemand? Nein? Gut!“

„Vielleicht könnten wir Onkel Bully…“

Thora lachte. „Dann weiß es jeder Telepath im Umkreis von drei Lichtjahren. Bully denkt sehr laut!“

Atlan machte ein vergnügtes Gesicht. „Ich habe hier einen tobenden Vizepräsidenten in der Videoleitung, der denkt, dass Tana Starlight irgend etwas mit Thora und Perry angestellt hat.“ Victoria atmete tief ein, ließ die Luft langsam aus der Lunge entweichen, zwinkerte Thora zu und bat Atlan: „Bitte sag dem Vidcom, er soll den Anruf durchstellen.“ Das Bild des Arkoniden auf dem Bildschirm machte dem eines Reginald Bulls mit hochrotem Gesicht Platz

„…verlange ich sofort eine…“

„Mister Bull“, Victorias samtweiche Stimme unterbrach den Wütenden ‚sotto voce’. „Warum stören Sie uns bei unserem privaten Treffen?“

„Seit anderthalb Stunden ist Perry schon bei Ihnen, und seit einer halben versuche ich ihn zu erreichen!“, tobte Bull. „Was ist los da drüben? Ich verlange eine Antwort!“

„Aber Mister Bull, gönnen Sie Ihren Chef denn gar kein Privatleben?“ Ein sinnliches Lächeln spielte um Victorias Lippen. „Kein bisschen Vergnügen?“

„Genug!“ Rhodan schob sich neben seine Tochter, die bereitwillig Platz vor der Kamera machte. „Es ist alles in Ordnung Bully.“ Er atmete tief durch. „Wir hatten nur einiges zu besprechen.“ Perry Rhodan hob die Hand, erstickte einen Einwand Bullys im Keim. „Die PEBBLES soll bitte noch die Stabsoffiziere und Mutanten zur HEPHAISTOS bringen. Wir brauchen eine Lagebesprechung. Wohin…?“

„Hera! Hera wird die Damen und Herren im Hangardeck abholen und zum ‚Rats and Pi-rats‘ bringen. Ich habe den großen Saal schon reserviert!“ Victoria schaltete ab und leckte sich die Lippen. „Manchmal bekomme ich richtig Heißhunger auf Fish and Chips, dazu ein Pint irisches Smithwicks red Ale.“

„In einem Lokal?“ Rhodan war nicht begeistert. „Kein Konferenzraum?“

„Ach Papa“, Victoria zog ihre Nase kraus und winkte ab. „Den habe ich vor Jahren in ein Billardzimmer umbauen lassen. Irgendwann habe ich festgestellt, dass die besten Ideen entstanden sind, wenn wir NACH einer Besprechung noch das eine oder andere Glas getrunken und eine Kleinigkeit gegessen haben. Logische Konsequenz? Gleich ins Pub!“

An der Tür summte es, dann glitt sie auf, ein weißhaariger Teenager mit dem typischen Gesichtsausdruck eines Pubertierenden trat ein.

„Mama! Was ist denn so wichtig, dass ich gleich kommen muss! Oh, und du hast Besuch!“ Man sah Reginald Starlight an, dass er am liebsten gleich wieder gegangen wäre.

„Reginald, dass ist Donna Thora dalZoltral, und das ist Mister Rhodan. Nun gib ihnen schon die Hand.“ Reginald quälte dich ein „Ma’am, Sir!“ ab und wollte sofort wieder gehen, Victoria schob in wieder zurück. „Du darfst ruhig lächeln“, flüsterte sie grinsend. „Und Du musst nicht Ma’am und Sir sagen, Opa und Oma reicht völlig!“

Entsetzen zeigte sich in Reginalds Mine, er schlug die Hände vors Gesicht. „Oh nein!“ jammerte er, „das Leben ist als Starlight schon schwer genug, und dann auch noch als Rhodan! Können wir das nicht geheim halten? Bitte!“ Perry Rhodans Gesicht war eine klassische Studie in Ratlosigkeit, während Thora schallend zu lachen begann!

„Auch wenn es Dir nicht gefällt, Reginald, aber DER Satz könnte von Deiner Mutter sein! Schon gut, es bleibt unser Geheimnis. Wenn Du mich umarmst! Küssen musst Du mich nicht, wenn Du nicht willst.“ Reginald drückte seine Großmutter fest und innig, mit ihrem Verständnis hatte Thora einen neuen Fan gefunden.

*

Captain Smokebeard Murphy, oder wie er mit bürgerlichem Namen hieß, James Berry, war seit einigen Jahren der Besitzer des ‚Rats and Pi-rats’. In seiner Jugend hatte er studiert und zuerst einen Doktor in Medizin, kurz darauf einen in Mikrobiologie gemacht. Mit 28 Jahren hatte er eine vieldiskutierte Publikation über geriatrische Prävention verfasst, in der er sich mit Zellen und deren Gesundheit und Regeneration befasste. Die Menschen könnten, seiner Theorie nach, länger und vor allem gesünder leben. Dann stockte der Fortschritt in dieser Forschung. Mit 31 Jahren kündigte er seinen Vertrag mit der Firma, für die er bisher gearbeitet hatte und verließ noch am selben Abend unter Zurücklassung aller Papiere und halbfertiger Forschungsergebnisse sein Labor. Für immer. Seitdem hatte er auf der HEPHAISTOS für Starlights gearbeitet und einige gute Mittel gegen vorzeitige Alterung und Zellerhaltung entwickelt, die vom Markt durchaus positiv aufgenommen wurden. Mit 60 hatte er vor fünf Jahren seinen Beruf an den Nagel gehängt und das irisch-schottisch-englische Pub eröffnet. Damit erfüllte er sich einen lange gehegten Traum, denn schon seit seiner Jugend wollte er ein solches Lokal besitzen. Seine letzte Arbeit hatte der Analyse des irischen Bieres Smithwicks aus Kilkenny gegolten, er liebte dieses ‚Red Ale’ und wollte auf der HEPHAISTOS ein Bier mit diesem Geschmack brauen. Es funktionierte, und James Berry schloss einen Vertrag mit der Brauerei, um den Namen benützen zu dürfen. Seither konsultierten die mikrobiologische Abteilung der Starlight Enterprises James nur noch ab und zu, wenn die Mitarbeiter nicht mehr weiter wussten und einen neuen Impuls benötigen.

Das ‚Rats and Pi-rats’ war eingerichtet wie ein richtiges Pub. Kleine Tische mit wenigen Stühlen, dafür eine endlose Bar. Viele verschiedene Bier- und Whiskeysorten wurden ausgeschenkt, die Speisekarte war dafür eher bescheiden. Außer Fish and Chips gab es noch Steak vom Grill, ebenfalls mit Chips und natürlich einige Sandwiches. Trotzdem war das Pub immer gut besucht, denn das Angebotene hatte gute Qualität. Dafür nahmen seine Gäste die stetige Berieselung mit irischer und schottischer Musik gerne in Kauf, auch die ‚Warpipes’, also die Dudelsäcke. Der Wirt selber, wegen seines grauen Bartes ‚Smokebeard’ genannt, trug gerne ein Piratenkostüm, eine Augenklappe über dem linken Auge und hatte sich zudem einen entsprechenden Wortschatz zugelegt. Hinter dem Schankraum war noch ein großer Saal für Festivitäten oder, wenn nötig, für die Konferenzen der Chefin, wobei ausschließlich der Wirt selbst bediente. Immerhin war er lange genug selbst Mitglied dieses Kreises gewesen, und Tana Starlight vertraute Smokebeard immer noch.

„Beim Klabautermann!“ Murphy brüllte, als stände er auf einem Achterdeck und kommandierte eine raue Mannschaft von Seebären. „Da kommt die große Chefin persönlich und bringt eine zweite genau so schöne Frau mit!“ Er lehnte sich über die Bar und hielt Thora die gigantische Pranke entgegen. Es war kaum zu glauben, dass er mit diesen Händen winzigste Einstellungen an den Instrumenten getroffen hatte. Thora lächelte und ergriff die Hand, auf das Schlimmste gefasst. Doch es wurde ein fester, aber nicht schmerzhafter Griff. Dann hielt der Riese auch Perry die Hand hin. „Sir!“

„Mister Rhodan, Donna Thora, wenn ich Ihnen vorstellen darf. Smokebeard Murphy.“

„DER Perry Rhodan? Eine große Ehre, Sir. Eine verdammt große Ehre. Und die Donna! Eine fast noch größere Ehre, und ein verdammt großes Vergnügen. Darf ich Sie zur Messe bringen? Bitte hier entlang.“

Der Saal war gut erleuchtet, eine lange Tafel mit vielen bequemen Stühlen. „Darf es in der Zwischenzeit ein Pint irisches sein?“ Victoria nickte begeistert, ihre Eltern schlossen sich nach einigem Zögern an, ebenso bei dem Fisch. Auch Atlan traf bald ein und begrüßte seinen Freund und dessen Frau, er blickte fragend zu Victoria, die ihm zunickte.

„Ich habe es ihnen gesagt, Atlan. Wir haben uns ausgesprochen, und wir haben beschlossen, dass ich weiterhin Tana Starlight bleiben darf.“ Sie lächelte schelmisch. „Auch, dass wir die Herkunft besagter Dame geheim halten werden. Wir und Allan, nicht mehr. Angeblich denkt Bully zu laut. Sollte er nicht eigentlich wie Mama, Papa und du einen Monoblock haben, damit er seine Gedanken schützen kann?“

Thora lachte. „Er ist oft zu emotional, besonders, wenn Gucky im Spiel ist. Und schon fällt der Schirm.“

„Ladys und Gentleman“, eröffnete Perry Rhodan wenig später die Sitzung, als jeder sein Getränk vor sich stehen hatte. „Wir haben nach wie vor die Situation, dass der ÜL-Antrieb der STARDUST mit Bordmitteln nicht zu reparieren ist. Miss Starlight, könnten Sie mit der HEPHAISTOS unser Schiff in das Solsystem bringen? Wir hoffen, dass Sie die Möglichkeiten dazu haben.“

Victoria breitete bedauernd die Hände aus. „Leider ist die STARDUST etwas zu groß, und wir haben auch keine Ersatzteile für ihren Antrieb.“

Rhodan seufzte. „Na schön. Könnten Sie einen Werkstattkreuzer verständigen?“

„Das könnte ich natürlich…“

Bully unterbrach sie. „Keine Sorge, wir bezahlen schon dafür.“

Das berühmte Lächeln erstrahlte auf ihren Lippen. „Mister Bull, was wäre, wenn ich keine finanzielle Entschädigung verlange?“ Ihre Stimme klang sanft und sinnlich. „Was ich sagen wollte, ehe ich von Ihnen so rüde unterbrochen wurde, wir könnten statt einer Reparatur einen neuen Antrieb einbauen. Mit Schock- und Schwingungsabsorber. Atlan wird Ihnen bestätigen, dass unsere Sprünge kaum zu spüren sind, und Sie werden bereits festgestellt haben, dass Sie unsere Singularitäts-Transfers nicht verfolgen können. Eine Kommunikationsanlage und Ortungsgeräte können wir auch schneller neu einbauen, als ein Wartungskreuzer die Arbeit erledigen könnte. Wenn Sie wollen, Mister Rhodan, modernisieren wir die STARDUST.“

„Und bauen Spionagegeräte mit ein?“ Bull war misstrauisch, Victoria winkte lässig ab.

„Welche Geheimnisse könnte ich schon erfahren wollen, Mister Bull. Ich mache ein Angebot, es liegt an Ihnen, es anzunehmen oder abzulehnen.“

„Wieviel soll es kosten?“, fragte Bully sofort, ein lautes Gelächter Victorias war die Antwort. Dann ging Sie zu Bully, beugte sich vor und flüsterte heiser in sein Ohr:

„Sie dürfen mich zum Abendessen begleiten, Mister Bull. Nur wir zwei, heute Abend. Machen Sie sich hübsch, es gibt auch ein Tanzparkett.“ Dann schwebte sie zu ihrem Platz zurück, im Vorbeigehen flüsterte sie Thora zu: „Ich riskiere es!“ Ihre Mutter nickte verstehend.

Bullys Gesicht war zuerst verblüfft, dann ratlos, schließlich grimmig geworden. Thora, die das Minenspiel verfolgte, beugte sich vor.

„Nun, Bully, bringst du uns das Opfer, mit einer schönen Frau tanzen zu gehen? Oder müssen wir weiter verhandeln?“

Collin Campbell grinste. „Wenn die junge Dame mich als Ersatz erwägen könnte..?“

Doch die schüttelte lächelnd den Kopf. „Mister Bull?“

„Na schön“, gab er resigniert auf. „Aber nur Essen!“

„Hervorragend. Hera wird Sie heute Abend zu Maurice bringen. Mister Rhodan, wenn Sie grünes Licht geben, werden wir sofort mit der Arbeit beginnen. Unsere Kommunikationsanlage steht Ihnen nach Belieben zur Verfügung, ebenso die HYDRA, sobald sie hier eintrifft. Falls Sie es eilig haben, Terra zu erreichen.“

Die Techniker der HEPHAISTOS schwärmten durch die Maschinenräume der STARDUST und vermaßen die Örtlichkeiten, während die Technikcrew des terranischen Schiffes die alten Sprungaggregate ausbaute und zur südlichen Polschleuse transportierte. Dort wollte die HEPHAISTOS den Schrott mit ihren Traktorstrahlen aufsammeln, um sie danach wieder einzuschmelzen. Der LI Gert Hauser raufte seine spärlichen Haare, als er erfuhr, wieviel Platz nach dem Umbau noch übrig bleiben sollte.

„Verdammt, da bringen doch beinahe noch einen Reaktor unter!“

„Sollen wir?“ fragte der Leiter der Umbaucrew. Carlos Kamsata aus Havanna betrachtete die Pläne der STARDUST. „Wenn wir die Wand dort herausnehmen, können wir die Energieleistung des Schiffes um etwa 23 Prozent steigern.“

Gert Hauser lächelte gequält. „Wer soll das bezahlen, da muss ich erst fragen!“

Carlos winkte großspurig ab. „Alles im Preis inbegriffen, die Chefin hat Carte Blanche ausgegeben. Das Beste ist für die STARDUST gerade gut genug.“

Hauser musste sich setzen. „Warum?“, fragte er fassungslos.

„Die einzige Frage bei diesem Umbau, auf die ich keine Antwort weiß.“ Carlos zuckte mit den Schultern. „Mir ist es egal, also, wollen wir?“

Hauser lächelte ihn an. „Gott segne dich und deine Crew. Wir wollen!“

„Chef!“, aufgeregt meldete sich der Waffenoffizier der STARDUST bei Perry Rhodan. „Ich habe da jemanden, der die Thermo- und Impulsstrahler austauschen soll. Er sagt, seine hätten bei gleicher Größe etwa 18 Prozent mehr Leistung durch bessere Bündelung und mehr Reichweite durch bessere Zielverfolgung! Das kann doch nicht sein, wir haben das Beste eingebaut, das wir zur Verfügung hatten!“

Rhodan lächelte gequält zu Thora. „Ich bin neugierig, welche Überraschung hier noch auf uns wartet.“

Sie umarmte den großen Terraner. „Sei doch stolz auf Victoria! Und sei glücklich über ihr großzügiges Geschenk.“

„Bin ich, aber wenn ich daran denke, was…!“

„Dusty an Rhodan!“

„Ja, Dusty!“ Wenn die Neuronik sich meldete, schrillten in Rhodan die Alarmglocken.

„Sir, die Techniker der HEPHAISTOS bieten mir an, meine Persönlichkeit in eine neue Hardware zu transportieren. Ein Quantensprung in der Leistung auf weniger Platz! Darf ich?“

Perry Rhodan verbarg sein Gesicht in den Händen, sah dann wieder auf. „Dusty, Natürlich darfst du! Verdammt, wenn ich damals nur zugehört hätte!“

*

Maurice war Franzose, und er war Koch, der sich mit großer Liebe der Zubereitung der Speisen widmete, die in seinem Lokal Chez Catherine serviert wurden. Doch noch niemand hatte das Geheimnis lüften können, wer sich hinter dem Namen verbarg. Maurice kam aus der Gascogne, weshalb man nicht immer alles glauben durfte, was er sagte, außer natürlich, es ging um Essen und den dazu passenden Wein. Man vertraute ihm in kulinarischen Belangen blind, und noch nie wurde ein Gast enttäuscht. Sein Lokal war so aufgebaut, dass sich viele kleine und einige wenige große Nischen um eine große Tanzfläche gruppierten. Die Gäste konnten so ungestört essen, trinken und danach auf die Tanzfläche gehen. Die Lautstärke der Musik war in jeder Nische individuell regelbar, daher konnte man ebenso gut miteinander plaudern wie die richtige Musik zu einem Tanz abwarten. Oder einfach nur genießen, Maurice spielte klassische Musik für Standard- und lateinamerikanische Tänze auf gehobenem Niveau.

Reginald Bull erschien zuerst, er trug zu schwarzen Hosen ein schwarzes Hemd, darüber einen weinroten Blazer mit zwei Knopfreihen. Bully schickte in seinen Gedanken ein Dankgebet an die Götter des Modehimmels, weil sie endlich, nach so vielen Jahren, die Krawatte abgeschafft hatten, und die ‚Fliege’ gleich mit. Eigentlich hatte er in der einfachen Borduniform gehen wollen, doch Thora hatte ihn zu etwas Eleganterem überreden können.

„Bully”, hatte sie gefragt, „Du gehst doch sonst auch gerne mit schönen Frauen aus. Was ist heute anders?“

Er hatte nur geknurrt. „Sie ist so verdammt offensiv! Da fühlt man sich glatt überfahren!“

Thora hatte laut gelacht. „Ja, sie kein graues Mäuschen. Tu einfach dein Bestes, Bully! Sei nett!“ Und da stand er nun an der Bar bei einem Cocktail, einem Whisky Manhattan, und wartete auf seine Verabredung.

Tana Starlight kam in einem ärmellosen ‚kleinen Schwarzen’, das nach Coco Chanel im Kleiderschrank keiner Frau fehlen durfte. Stehkragen, bis zum Hals zugeknöpft, etwa bis zum Knie reichend. Elegante, aber nicht zu hohe Schuhe, eine dezente Kette und leichtes Make-up. Bull war überrascht, das hatte er nach all den Erfahrungen, die er bisher mit dieser Frau machen musste, nicht erwartet. Lächelnd näherte sie sich Bully und reichte ihm die Hand, er nahm und küsste dieselbe.

„Danke für Ihr kommen, Mister Bull.“

„Ma’am! Darf ich Ihnen etwas zu trinken bestellen?“ Es war ein Ritual, das mit nur wenigen Änderungen seit Jahrhunderten üblich war.

Bald begleitete ein Oberkellner Tana und Reginald zu ihrem Tisch.

„Mister Bull, man serviert hier ein köstliches Chateaubriand, wenn Sie mir ausnahmsweise vertrauen wollen? Und Maurice soll uns einen passenden Wein aussuchen. Eine kleine Vorspeise?“ Bully zeigte sich einverstanden, und bald funkelte der dunkelrote Wein in den dünnen Gläsern. Sie genossen angeregt plaudernd das vorzügliche Essen, später standen noch zwei Calvados auf dem Tisch, Victoria spielte nachdenklich mit ihrem Glas.

„Sie können ja durchaus normal sein, Tana“, brach es aus Bull heraus, Tana hob die Augenbrauen.

„Natürlich kann ich das“, lachte sie und stellte ihr Glas ab. „Ich möchte Ihnen etwas zeigen, Reginald.“ Sie begann die Kragenknöpfe zu öffnen. „Bitte warten Sie ab, ich verspreche, es wird kein Versuch einer Verführung.“ Dann holte sie aus ihrem Ausschnitt ein dünnes Goldkettchen mit einer kleinen Plakette, die in Gold und rotem Emaille das Logo der ersten Marsmission, des berühmten Fluges der ersten STARDUST zeigte und reichte es Reginald Bull. Der betrachtete es genau.

„Wo haben Sie das her?“, platzte es aus ihm heraus. Nun trank Victoria doch ein winziges Schlückchen, ehe sie etwas gequält lächelnd antwortete.

„Der beste Freund meines Vaters hat es mir geschenkt. Er hat damals gesagt, es soll mir Glück bringen, und bisher hat es das, Onkel Reginald Bully Bull.“

„Dann – nein, dann bist du Vicky? Wirklich? Mann, bist du groß geworden. Weiß Perry davon? Selbstverständlich weiß er es, und Thora auch. Mädchen, was hast du dir denn nur gedacht?“ Victoria schloss wieder die Knöpfe ihres Kleides.

„Oh, ich habe es schon drei mal erzählt. Als erster ist Allan Mercant hinter mein kleines Geheimnis gekommen.“

Bully lachte laut auf. „Seine geheimnisvolle Verabredung? Oh, warte, dann stammen auch die Informationen über Liquvital von dir?“

„Korrekt. Aber, Onkel Reginald, bitte, lassen wir das für heute. Probleme können wir noch morgen wälzen, heute möchte ich mich vergnügen. Tanzt du mit mir?“

„Es ist mir eine Ehre, Miss Victoria dalRhodan!“ Bully stand auf und reichte ihr die Hand.

„Tana Starlight, Onkel Reginald, bitte, bewahre mein Inkognito. Mama und Paps sind auch einverstanden. Bitte!“

Es war recht spät geworden, bis Victoria ihn ihre Suite zurück kehrte. Ganz leicht, aber doch beschwipst vom guten Wein, den Maurice serviert hatte, und der dritte Calvados war vielleicht auch ein klein wenig zu – egal. Sie öffnete ihr Kleid, nahm den Schmuck ab und verstaute diesen in ihrer Schatulle. Der Türsummer erklang, lächelnd eilte sie zum Öffner, zog den davor stehenden Mann ins Innere und legte ihre Arme um seinen Hals.

„Wie war Dein Auftritt, Chris?“

Christian Hawlacek aus Wien war ein großer, hagerer Mann von etwa 35 Jahren, eine unbekannte Laune der Natur hatte ihm von Geburt an schneeweiße Haare und Bart beschert, er trug beides kurz. Der ein wenig zu große Mund schien ständig zu lächeln, die blauen Augen blickten immer ein wenig verträumt in die Welt. Hawlacek hatte einen Doktor in Quantenphysik, doch seine unersättliche Neugier hatte dazu geführt, dass er weiter und immer weiter gelernt hatte, sodass man ihn ohne weiteres als Universalgelehrten bezeichnen konnte. Nebenbei spielte er Klavier. Heißen Jazz, bittersüßen Blues und wilden Rock‘n’Roll. Er spielte manchmal mit einem Tempo, dass man sich fragte, wie er seine langen Finger von einer Taste zur nächsten bekam. Zudem hatte er bereits einige Zeit mit Tana Starlight ein Verhältnis, das allmählich mehr zu werden schien. Es bahnte sich scheinbar etwas Ernstes an, immerhin war er der erste Mann seit Gunnar Gunnarson, der über Nacht bleiben und in ihrem Bett auch schlafen durfte.

Sie küsste ihn zärtlich, während seine Hände ihren Weg unter das Kleid fanden und Tanas Körper liebkosten.

„Du wirkst anders als sonst“, flüsterte er gegen ihre Lippen. „Entspannter! Und Du riechst anders, besser!“

„Tatsächlich?“, flüsterte sie zurück. „Du fühlst Dich auch gut an! Komm mit!“ Sie zog ihn ins Schlafzimmer und schloss die Tür. Ihre Hände rissen sein Hemd auf, er zog ihr das Kleid über die Schultern, seine Lippen fanden ihren Hals, wanderten tiefer …

*

Tana hatte Chris nach einem seiner Auftritte im sogenannten ‚Jazzkeller’ kennen gelernt, einem relativ kleinen Raum, der vielleicht 200, wenn sie ein wenig zusammen rückten 220 Gästen Platz bot. Die Speisekarte war kurz, die Getränkekarte lang, die Musik immer live und meistens hervorragend, wenn auch alle Künstler Amateure waren. Die Bedienung eine auffallend kurvige und hübsche Ekhonidin mit eidetischem Gedächtnis und einem freundlichen Wort für jeden Gast, die Wände waren mit echten Backsteinen verkleidet und gut isoliert.

Die junge, schwarze Sängerin, zu deren Begleitung Chris damals aufgetreten war, hatte als letztes Lied grandios ‚Love for sale‘ gesungen, mit einer Stimme, die jener der jungen Ella Fitzgerald mehr als nur nahe kam. Tana hatte sich Leslie Myers gegenüber geäußert, dass dieses Lied, in dem eine junge Frau ihren Körper zur Prostitution anbieten muss, als Abschluss keine so gute Idee gewesen wäre, ein fröhliches Lied als Ende wäre angenehmer gewesen. Chris hatte sich von hinten in ihr Gespräch gemischt.

„Ich hab’s ihr gesagt, aber heute war sie nun einmal der Boss! Hi, Leslie!“ Diese hatte sie dann einander vorgestellt, später hatte Tana Chris zu sich eingeladen und er mit seinen Fingern auf ihrem Körper ebenso virtuos gespielt wie vorher auf seinem Flügel. Sie hatte noch nie zuvor einen derartigen Höhenflug, eine solche Ekstase erlebt. Dazu war Chris auch noch humorvoll, zärtlich und ein intelligenter Gesprächspartner. Fasziniert hatte Tana sich selbst dabei zugesehen, wie sie begonnen hatte, sich wieder zu verlieben. Und jeden Moment davon genossen.

*

Tana Starlight war in ihrer schlichten rauchblauen Uniform kaum zu erkennen, als sie die Brücke der STARDUST betrat. Nichtsdestotrotz folgten ihr alle Blicke, als mit zu Perry Rhodan ging und neben ihm stehen blieb.

„Sind sie zufrieden mit den Arbeiten, Sir?“ lächelte sie ihn an, und Perry nickte.

„Sehr!“

„Gut“, bestätigte Tana. „Kann ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?“ Rhodan begleitete seine Tochter zu einem Konferenzraum in Brückennähe. „Dad, zuerst, die HYDRA ist eingetroffen. Zum zweiten, hast du Pläne für Reggys System? Ich könnte mir vorstellen, dass Du Mystery und die Abkömmlinge der Arkoniden weiter erforschen willst, und dass PamKim als Siedlerwelt gut geeignet wäre.“

Rhodan nickte. „Ich würde gerne auf oder im Orbit um Mystery eine ständige Forschungseinrichtung etablieren. PamKim wäre perfekt als Urlaubsort für GCC-Personal oder für Rentner der GCC. Außerdem bliebe noch genug Platz, um einigen indigenen oder afrikanischen Völkern, denen ihre Lebensqualität immer mehr genommen wird, einen Zufluchtsort anzubieten. WENN sie das wollen, ich werde natürlich niemand zwangsumsiedeln. Wir haben Savannen und Urwälder an einem riesigen Fluss gefunden, Vicky, hier könnten Menschen im Einklang mit der Natur leben.“

Victoria nickte, sie hatte nicht viel anderes erwartet. „Wie steht es mit Reggy II. Unbewohnbar, aber meine Leute haben eine Menge Metallvorkommen entdeckt, die Nähe zur Sonne und die Rotationsebene machen die Energieversorgung durch Solarzellen für den Abbau profitabel. Wenn Du mir für einen Teil des Planeten Schürfrechte einräumen könntest?“ Victoria reichte Rhodan ein Pad mit den Informationen, die sie von ihren Erkundungsbooten erhalten hatte.

Rhodan runzelte die Stirn und las. „Da haben wir uns ausschließlich auf die Sauerstoffwelten konzentriert und den Rest glatt vergessen. Ich bin wohl kein guter Geschäftsmann!“ Er blättere durch die Dateien. „Das sieht alles sehr interessant aus. Du meinst, wir könnten dort gemeinsam schürfen?“

„Warum nicht?“, fragte Victoria. „Da unten liegen genügend Rohstoffe, um sowohl der GCC als auch Starlights satte Gewinne zu bringen.“ Sie klopfte das Pad. „Ich lasse dir die Unterlagen da, überlege es dir.“ Endlich einmal lächelnd zog Rhodan seine ID-Card aus der Tasche und unterschrieb den Entwurf für die Schürfrechte.

„Da gibt es nichts mehr zu überlegen. Es ist ein großzügiger Vorschlag.“ Er reichte ihr das Pad zurück, das sie dankend nahm. Als sie gehen wollte, hielt Rhodan seine Tochter zurück. „Victoria, ich muss dir noch etwas sagen. Ich bin stolz auf dich, mehr als ich es in Worte fassen kann. Und ich werde mein Mädchen immer lieben, vergiss das nicht.“

„Papa! Jetzt hast du es geschafft, dass ich weinen muss! Verdammt!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf. „Dabei hatte ich mir so vorgenommen, es nicht mehr zu tun! Ich liebe dich auch, Papa!“ Sie schloss ihn in ihre Arme, und endlich schaffte es auch Perry Rhodan, diese Umarmung vorbehaltlos zu akzeptieren und zu erwidern.

„Danke, mein kleiner Schatz. Entschuldige bitte, aber ich muss auf dein Angebot mit der HYDRA zurück kommen und mich auf der Erde sehen lassen. Bully wird mich begleiten, die Mutanten ebenso, aber deine Mutter wird bleiben. Ich habe aber auch eine Bitte. Besser gesagt, einen Auftrag für Starlight Enterprises. Ein überlichtschneller Fernaufklärer, nicht übermäßig bewaffnet, aber schnell, wendig, große Reichweite, etwas kleines für vielleicht vier, fünf Mann Besatzung. Vielleicht 30 Meter? Etwa wie der arkonidische Diskus, aber mehr Reichweite.“

„Ich setze meine Leute darauf an, Mister Rhodan!“ Perry stutzte kurz, dann nickte er verstehend.

„Danke, Miss Starlight!“

*

März 2083, Reggys System

„Komm herein, Leslie. Schau Dir bitte einmal die Konstruktion an, was sagst Du dazu?“ Leslie Myers, die Intuitionistin der HEPHAISTOS studierte die Pläne auf dem Bildschirm.

„Sieht gut aus“, nickte sie und blätterte weiter. „Arbeitest Du endlich wieder selbst kreativ, statt andere zu überzeugen, dass sie es können?“

„Es ist mein Entwurf“, gab Victoria zu. „Basierend auf dem Diskusschiff der Arkoniden!“

„Ich sehe es. Vier Mann, Kabinen für zwei Gäste, etwa 900 Lichtjahre Reichweite, Absorber, Dämpfer, ein verbessertes Masse-Schub-Verhältnis, etwas geradere Formen. Durchmesser 30 Meter, Höhe aber nur 9 plus Brückenkanzel, pro Deck 3 Meter? Da passt nicht allzu viel Ladung außer der Verpflegung hinein! Die 8 Zwillingsgeschütze im Wulst zwischen den Triebwerksöffnungen? Ja, klar, da können sie sowohl nach ‚oben’ wie nach ‚unten’ feuern. Gefällt mir sehr gut, Tana. Guter Entwurf, daraus kann man etwas machen, auch wenn es wirkt wie zwei klassische Frisbeescheiben mit einem Triebwerkswulst dazwischen und einer Beule obenauf. Nicht unbedingt schön, aber praktisch. Für Perry Rhodan?“

Victoria nickte. „Eine Auftragsarbeit, ich würde es als Patrouillenboot bezeichnen!“

„Meiner Meinung nach ist es gut, probieren wir es aus!“

Lesly Myers war 40 und sah ein wenig jünger aus. Sie war ein klein wenig mollig, ohne dick zu wirken, ihre blonde Mähne reichte bis über die Schultern. Obwohl sie keine Schönheit war, hatte sie das gewisse Etwas, das Männer anziehend fanden. Leslie war Intuitionistin, was bedeutete, dass sie sich einen Plan ansehen konnte und intuitiv den Finger auf die schwachen Punkte legen konnte. Techniker liebten und hassten sie. Liebten sie, weil sie ihnen viel Arbeit ersparen konnte, von Zeit und Material ganz zu schweigen, hassten sie, weil es unmöglich war, das warum von Leslie zu erfahren. Sie wusste es selber nicht, nur ‚da stimmt etwas nicht’. Ein Grund für Tana Starlight, ihr ein gutes Gehalt und satte Provisionen zukommen zu lassen. Außerdem war Leslie die beste Freundin, die sich Victoria vorstellen konnte.

„Ich habe noch einen Entwurf, Leslie!“ Victoria rief einen neuen Ordner auf, Myers vertiefte sich in die Pläne.

„Das ist extrem, Vicky!“, rief sie. „Das ist ein Hochleistungstriebwerk mit Sprungaggregat und Schutzschild. Drei Pilotensessel, zwei Schlafkojen. Die Leute sollen wohl unsere Anzüge tragen, keine sanitären Anlagen, kein eigenes Bett, einer hat sowieso immer Wache! Dafür Ortungsgeräte bis zum Abwinken. Lass mich raten, schnell rein, Ortung auf Maximum, alles speichern und ab die Post, möglichst bevor das Boot überhaupt bemerkt wird. 500 Lichtjahre Reichweite, in fünf Sprüngen zu absolvieren. Arme Besatzung, aber machbar! Wie willst Du das Ding nennen?“

„Wenn, ich meine, falls es funktioniert, 71 Starbird! Eine Anspielung auf…“

„… die SR 71 Blackbird. Ich sehe!“

Reggy II, in der Zwischenzeit auch einfach ‚der Pott’ genannt, war einer jener seltenen Planeten, deren einer Pol stets der Sonne zugewandt war, ähnlich wie der solare Merkur. Da somit eine Seite stets im Tageslicht lag und der Planet von seinem Zentralgestirn der Spektralklasse ‚F‘ sehr viel Energie erhielt, lohnte sich die Energieversorgung durch Solarzellen durchaus. Die HEPHAISTOS hatte eine Horde Roboter losgeschickt, ein Teil machte sich sofort an den Abbau der für die Sonnenpaneele nötigen Stoffe, während ein anderer aus dem vorhandenen Material neue Spezialroboter zur Erzgewinnung herstellte. Natürlich war die Sache erst einmal langsam angelaufen, aber nach und nach breitete sich das Solarkraftwerk aus und produzierte reichlich Energie.

„Allan hat mir gesagt, dass du eigentlich gar keine Kohlefrachter kommandieren willst.“ Perry Rhodan war wieder im System und beobachtete vom Arbeitszimmer seiner Tochter den Fortschritt der Arbeiten. „Du wolltest doch im Luxussegment bleiben?“

Victoria wandte sich zu ihren Vater. „Ich habe nicht vor, das Erz zu verkaufen und zu transportieren, Dad. Ich habe vor, gleich hier das Metall zu verarbeiten und die fertigen Schiffe und sonstigen Erzeugnisse an den Mann zu bringen. Könnte ich dich für eine Luxusyacht begeistern? Träume doch mal, wie stellst Du Dir Dein perfektes Schiff vor?“

Rhodan seufzte. „Klein, nur für deine Mutter und mich, vielleicht noch vier, fünf Gäste ab und zu. Damit Reginald Atlan und Du einmal zu Besuch kommen könntet. Unbegrenzte Reichweite, damit wir das Universum erkunden könnten, nur Thora und ich. Aber für dieses Schiff bräuchte es ein friedliches Universum, in dem wir überall landen und das Leben genießen könnten.“ Victoria stellte sich neben ihren Vater legte ihren Arm um Perrys Hüfte und den Kopf auf seine Schulter.

„Ein schöner Traum, Papa.“ Seite an Seite beobachteten sie die Arbeiten auf dem Pott.

Nach sieben Wochen war die Reparatur der STARDUST abgeschlossen und für einen Testflug bereit. Collin Campbell hatte schon seinen ersten Rundgang erledigt und zeigte sich von den Umbauten durchaus begeistert. Sein Hauptquartier hatte er die letzten Wochen zwar im ‚Rats and Pi’rats‘ aufgeschlagen gehabt, mit dessen Besitzer er sich auf Anhieb verstanden hatte, trotzdem war er natürlich über jeden Fortschritt unterrichtet worden. Er musterte seine neue Brücke, sie wirkte lockerer, nicht mehr so vollgestellt. An allen Stationen wurde bereits eifrig gearbeitet, die Brückenoffiziere testeten ihre neuen Pulte, Diagnoseprogramme wurden geladen, Kalibrierungen zum x-ten mal überprüft. Das geschäftige Summen der Beta-Schicht erfüllte die Brücke, und Collin Campbell machte sich mit den neuen Anzeigen zum wiederholten mal vertraut. Die Unterschiede an den wenigen Skalen waren nicht gravierend, aber kleine Abweichungen gab es doch, besonders, was die grünen Bereiche betraf, ehe der virtuelle Zeiger den gelben und danach den roten Sektor erreichte. Besonders die Energiereserven zogen immer wieder den Blick des Oberst auf sich, die Schutzschilde sollten bei einer Belastung noch nicht einmal in den gelben Zahlen sein, wenn die alten bereits überladen und am Zusammenbrechen gewesen wären.

Dusty pfiff und brüllte in bester maritimer Tradition die Ankunft Rhodans und Thoras aus den Lautsprechern. Die Anwesenheit von Victoria wurde von der Neuronik natürlich nicht gemeldet, immerhin gehörte sie nicht zum Kommandostab. Die Brückenbesatzung war jedoch nicht so standhaft, den Besuch völlig zu ignorieren. Mehr oder weniger verstohlene Blicke suchten die Frau, der sie nicht nur die Befreiung aus dem Exil, sondern ein stärkeres, besseres Schiff verdankten. Und sie wurden nicht enttäuscht, Tana wusste, was sie ihrem Publikum schuldig war. Sie trug zu hohen Stiefeln mit Bleistiftabsätzen hautenge schwarze Lederhosen mit breitem Gürtel und eine nietenbesetzte Lederjacke mit hochgeschlagenem Kragen über einem knallroten T-Shirt mit der Aufschrift ‚I want to break free’. Eine in die Stirn geschobene Designersonnenbrille machte das Ensemble ebenso komplett wie die kunstvoll toupierte blondierte Mähne und die große Gürtelschnalle in Form eines Wolfskopfes. Sekundenlang schien die Zentrale den Atem anzuhalten, dann setzte das leise Murmeln wieder ein, erfüllte die Brücke mit Leben.

„Sir! Ma’am!“, salutierte Oberst Campbell vor seinen Vorgesetzten, ehe er sich an Tana Starlight wandte. „Ma’am, sie haben mich alten Soldaten sprachlos gemacht. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen meinen Dank und meinen Respekt ausdrücken soll!“

Tana streckte ihm einfach die rechte Hand hin. „Es reicht ein Händedruck, Collin, und nennen Sie mich nicht Ma’am. Tana reicht mir.“ Collin Campbell schüttelte die angebotene Hand und schluckte einen kleinen Kloß in seiner Kehle. Dann drehte er sich um und polterte los.

„Also los, Lassies, keine Müdigkeit vorschützen! Es geht los, wo bleiben die Klarmeldungen? Pounder, lümmeln Sie nicht so herum, Sie sind nicht in der Alpha-Schicht!“ Francis L. Pounder verkniff sich ein Grinsen, jeder wusste, dass der Skipper eine Schwäche für Frauen hatte und bei ihnen leicht sentimental wurde. Diese Regung aber um keinen Preis zugegeben hätte und mit lautem Gepolter überspielte. Es regte niemand mehr auf, denn man wusste, dass Collin Campbell auf einen Ernstfall nie mit Toben, sondern eiskalt zu reagieren pflegte. Auf der Statustafel leuchtete ein Licht nach dem anderen grün auf, die Stationen meldeten offiziell ihre Startbereitschaft. Nach alter Tradition meldete der XO diesen Umstand dem Kommandanten und der wiederum Perry Rhodan

„Alle Systeme bereit!“

„Dann los, Skipper!“ Rhodan wies mit der Hand auf den Schirm. „Bringen Sie uns mit einem Kurzsprung ins System des Planeten ‚First’!“ Für den ersten Probesprung hatte man jenes System gewählt, das Atlan bei der Suche nach der STARDUST als Alpha bezeichnete. Auch für Rhodan war es die erste Station seines Ausfluges gewesen, und hier hatte er einen Planeten gefunden, der für Menschen hervorragend bewohnbar war, vielleicht eine Spur mehr an Ozean als die Erde. In der ersten Begeisterung hatten sie den Planeten ‚First’ genannt, er sollte die erste menschliche Kolonie werden.

Die Triebwerke der STARDUST leuchteten in grellem Feuer auf, die riesige Stahlkugel beschleunigte mit hohen Werten und raste dem Sprungpunkt entgegen. In dessen Nähe wartete bereits die PEBBLES, um Messungen des Sprunges vorzunehmen, knapp hinter der STARDUST raste die ORION auf dem gleichen Kurs, sie sollte der STARDUST mit Atlan und Bully nach ‚First’ folgen.

„Sprungpunkt wird erreicht in 80 Sekunden”, meldete die Neuronik der STARDUST einige Stunden später, und Campell nickte.

„Ausführung nach erreichen des Punktes!“ Begleitet von dem Gefühl eines Mückenstiches im Nacken wechselte jählings die Szenerie auf dem Panoramaschirm. Anstelle von Reggys Stern im Hecksektor leuchtete im Bugsektor eine gelbe Sonne.

„Empfange Funkbake ‚First’!“ rief der Kommunikationsoffizier.

„Zielpunkt erreicht, keine Abweichungen!“ meldete die Astrogation, und die Ortung meldete

„Schiff zeichnet, identifiziert als ORION!“

Tana wandte sich zu Perry Rhodan „Man könnte annehmen, der erste Sprung hätte funktioniert. Sind Sie zufrieden, Sir?“

*

April 2083, Dhuma System

„Du willst es Dir nicht noch einmal überlegen?“ Palkon raufte seinen roten Bart. „Ich könnte noch einmal 1000 Gramm 999 fein mehr bieten!“

„Ich bin immer noch nicht daran interessiert!“ Ghoma schaltete die Videokommunikation aus. „Kreditrisiko” fluchte sie ungeniert. „Pleitier!“ Ghoma war etwas über zwei Meter groß, breitschultrig und verfügte, auch wenn man es ihr nicht auf den ersten Blick ansah, über eine Körperkraft, die der eines männlichen Springers gleicher Größe nicht nachstand. Zum Leidwesen ihres Vaters verfügte sie dazu auch über einen rasiermesserscharfen Verstand, einen Willen, dessen Stärke noch die ihres Körpers übertraf und ein unfehlbares Gedächtnis. Wäre sie ein Mann gewesen, der Patriarch Hemghat hätte sie auf der Stelle adoptiert, zu seiner rechten Hand und designiertem Nachfolger ernannt, zum Wohl der Sippe. Als Frau war das natürlich undenkbar. Das Schicksal begnügte sich mit all diesen Vorzügen noch nicht, und schenkten Ghoma auch noch außergewöhnliche Schönheit, eine Lockenmähne, für die viele Mädchen gemordet hätten, und eine Figur, die Männer zu den größten Dummheiten verlocken konnte. Das Gesamtpaket machte sie zu einer sehr einsamen Frau.

„Ein Mann, den ich heirate, muss mir geistig zumindest halbwegs ebenbürtig sein“, hatte sie ihrem Vater anvertraut, und bisher war ihr dieses Glück erfolgreich ausgewichen.

Ghoma handelte im Auftrag ihrer Sippe als Spezialkurier. Ihr Schnellboot mit der typischen Walzenform hatte bei einer Länge von etwa 45 irdischen Metern einen Durchmesser von 12, war also nicht nach den üblichen Relationen gebaut. Die vier Männer und drei Frauen versahen ihren Dienst unter ihr nicht ungern, denn sie holte immer satte Provisionen an Land, die sie mit ihrer Mannschaft teilte. Die HEM XXVI war extrem schnell mit großer Reichweite und transportierte kleine, aber wertvolle Fracht, in erster Linie Personen, die schnell irgendwo hin mussten.

„Welche Hikma ist dir denn über den Magen getrampelt?“ Ihr erster Offizier sah nicht einmal von seinen Pulten auf. „Der Preis war doch ganz in Ordnung?“

„Ich kenne diese Schleimkreatur!“ Ghoma hatte sich noch nicht beruhigt. „Die nächsten fünf Tage hätte ich die schmierigen Greifer dieses alten Drecksackes andauernd in der Nähe meines Arsches gehabt, und irgendwann hätte ich ihm etwas brechen müssen! Entweder die Finger oder das Genick! Schlechte Werbung! Wir finden einen besseren Auftrag.“

Die HEM XXVI raste auf den Planeten Dhuma zu, wo die Springer eine sippenübergreifende Niederlassung unterhielten. Unter anderem war hier eine Filiale der Springerbank auf Archetz und der zweitgrößte Heiratsmarkt des Volkes. Hier konnten sich Männer und Frauen nach Ehepartnern umsehen, damit Inzucht innerhalb einer Sippe unterbunden wurde. ‚Sie wechselt das Schiff’ war ein Synonym für eine Hochzeit in einen neuen Familienverband. Ein Wechsel, der durchaus auch politisch motiviert sein konnte, und immer von einer entsprechenden Entschädigung begleitet wurde. Immerhin verlor die Sippe der Braut eine ausgebildete Arbeitskraft, doch oft bestand diese Entschädigung auch einfach aus einem Mädchen, das die Stelle der Braut einnahm. In ganz seltenen Fällen wechselte der Bräutigam Schiff und Sippe, obwohl auch das schon vorkommen konnte.

„HEM XXVI, hier Dhuma Kontrolle!“ Ghoma schaltete die Verbindung wieder ein.

„HEM XXVI hört“, meldete sie sich.

„Kursänderung. Landen Sie auf Feld 41, kleiner Hafen. Der ehemalige Schmugglerplatz. Es sind acht Patriarchen mit ihren Flaggschiffen im Anflug, wir brauchen daher den Platz auf dem Hauptfeld! Es ist Hochzeitsmarkt.“

„HEM XXVI bestätigt!“ Ein Klick, die Verbindung war unterbrochen. „Also, Leute”, Ghoma atmete tief durch, ehe sie weitersprach. „Das war es dann, sagt ‚auf Wiedersehen‘ zu den Fleischtöpfen von Port Dhuma. Was bleibt, sind die uralten Spelunken von Schmugglers Paradies. Schmutzige Bars, billige Puffs und schmierige Striplokale!“

„Versprochen?“ Henbo blickte nun doch auf. „Ich meine, dass es noch Bars gibt!“

„Zumindest schickt die Verwaltung ein Shuttle, damit wir nicht zu Fuß gehen müssen!“ Patteck war missmutig, es nieselte und war feucht. „Ich hätte gute Lust, im Schiff zu bleiben. Verdammte Planeten mit ihrem Wetter.“

Matthra lachte. „Also, ich möchte endlich mal wieder andere Gesichter als die Eurigen sehen! Versteht mich nicht falsch, aber ein wenig Abwechslung…“

„Die Chefin färbt schon auf dich ab!“ beschwerte sich Hucko, grinste dabei aber. „Was kommt als nächstes? Gleiche Rechte? Strippende Männer? Frauen, die uns Männern an den Hintern fassen?“

Fragho lachte ebenfalls. „Matthra darf jederzeit an meinen Arsch fassen, aber nur wenn ich dann auch mal darf!“

Matthra stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. „Warum sollte ich etwas dagegen haben, wenn du dein Heck anfasst. Es ist ja eh deins!“ Unter Gelächter bestiegen sie den Shuttlebus zu den sündigen Lokalen des alten Schmugglerhafens.

Diese hatten tatsächlich schon bessere Zeiten gesehen. Früher waren hier die berüchtigtsten Händler mit illegaler Ware aller Art gelandet, vom Rauschgift bis zu Sklaven war alles angeboten worden. Selbst Arkoniden. Sie hatten ungestört ihre Geschäfte machen können und kleine Vermögen verdient. Heute war das vorbei, die Patriarchen hatten diese Einnahmequelle der Parias endgültig lahm gelegt. Genau wusste niemand mehr, wie viele Schiffe wirklich in den Belag des Raumhafens eingeschmolzen wurden, als die Flotten der führenden Patriarchen das Wirkungsfeuer eröffneten. Aber immerhin, es gab noch, oder besser wieder Lokale, in denen durstige Raumfahrer einen heben konnten, das ehemalige Schmugglerparadies war heute der Reservehafen von Dhuma, welcher den häufig überlasteten Haupthafen entlasten sollte.

Die Mannschaft der HEM XXVI hatte sich zerstreut, und Ghoma steuerte eine der schummrig beleuchteten Bars am Rand des Flugfeldes an. Eine Gruppe junger Männer stand davor, sie unterhielten sich und lachten, manche rauchten auch irgendwelche Stimulantien. Als Ghoma vorbeiging, hörte sie, wie einen von ihnen sprechen. Über sie.

„Verdammt, habt ihr je eine so steile Figur gesehen? Diese Schönheit würde ich gerne einmal kennenlernen, aber wie denn nur?“ Sie verhielt ihren Schritt und betrachtete den Sprecher genau. Dieser war ziemlich klein und schlank gebaut, überhaupt nicht die Statur des typischen Springers. Den Bart hatte er geteilt und im Nacken zusammen gebunden, die Haare trug er mit einer Spange gebändigt, seine Augen blickten wach und schalkhaft funkelnd, sein Mund zeigte ein sympathisches Lächeln.

„Wenn Dein Kopf ein wenig höher als meine Brüste läge, könnte ich sogar darüber nachdenken!“ Ein sanftes Lächeln nahm ihren Worten die grausame Spitze, der Mann lachte laut auf, angelte mit seinem Fuß eine Kiste heran, stieg darauf und sah Ghoma nach einem kurzen, aber intensiven Blick in den Ausschnitt in die Augen.

„Reicht die das?“

Ghoma stimmte in das Lachen ein. „Deine Schlagfertigkeit ist zumindest einen Krug Bier wert, also komm schon mit hinein!“

Von den anerkennenden Lauten seiner Kameraden begleitet, betraten sie den Schankraum, der einigermaßen sauber zu sein schien, und suchten sich einen Tisch, um einander mit Blicken und Worten abzutasten. Naturgemäß war es für Angehörige verschiedener Clans und Sippen nicht einfach, einander kennen zu lernen, man musste ganz genau auf seine Worte achten. Eine Sippenfehde konnte bei unbedachten Äußerungen ganz schnell ausbrechen. Glücklicherweise gab es allgemein gültige Tabus und unverfängliche Themen, und bald entwickelte sich daraus ein persönliches Gespräch. Zu ihrer eigenen Überraschung genoss Ghoma durchaus diesen Flirt mit dem kleingewachsenen Mann, der voller Humor und Ironie steckte und einen hervorragenden Intellekt bewies.

Hannor war aus der Sippe der Korpok, eine unbedeutende Familie mit nur einem Schiff, der KOR I, der Rest war vor einiger Zeit einer Katastrophe zum Opfer gefallen. Erst in der Generation von Hannors Großvater hatte es die Sippe mit viel Arbeit wieder zu einem anerkannten Patriarchen geschafft, war aus den Reihen der Parias wieder zu angesehenen Händlern aufgestiegen. Seine geringe Körpergröße war allen ein Rätsel, alle seine Geschwister waren von normaler Statur. Doch trotz seines Handicaps hatte Hannor seinen Weg gemacht. Seine Rechenkünste waren in der Familie legendär, sowohl in der Galaktonautik als auch im kaufmännischen Bereich, seine Sippe hatte sich an den ‚Zwerg’ irgendwann gewöhnt.

Es geschah in dieser Bar genau das, was überall geschehen kann, wenn Frauen und Männer zusammen kommen und sich anziehend finden, und irgendwann verließen die Beiden eng umschlugen das Lokal auf der Suche nach einer Unterkunft für die Nacht. Springer sahen in einer solchen Angelegenheit kein Problem, schon gar nicht, wenn es sich um unverheiratete Personen handelte. Und Empfängnisverhütung war ebenfalls kein Geheimnis bei diesem Volk. Als sie gingen, schnappte Ghoma einige Satzfetzen auf.

„…Terra zerstört…“

„…Wasserwelt…”

„…Atzgol…” Fragmente eines Koordinatensatzes. Ihr Gehirn speicherte die Informationen, um sie ihrem Sippenältesten mitzuteilen. Später, denn im Moment hatte sie anderes im Sinn. Ganz anderes.

Gegen Mittag des nächsten Tages hatte Ghoma ein lohnendes Angebot für eine Eilfracht Medikamente erhalten, die Fracht übernommen und um Startfreigabe gebeten, die sie nach kurzer Wartezeit auf einen freien Korridor ohne Probleme erhielt. Die HEM XXVI raste mit flammenden Triebwerken ins All und nahm Kurs auf ihren Sprungpunkt. Ein wenig wehmütig dachte Ghoma an letzte Nacht, Hannor war ein zärtlicher und phantasievoller Liebhaber gewesen, seine geringe Körpergröße hatte sich glücklicherweise nicht überall gezeigt. Sie hoffte sehr, diesen außergewöhnlichen Mann irgendwann noch einmal zu treffen.

Während des Fluges zum Sprungpunkt verfasste Ghoma ihren Bericht für den Sippenältesten, berichtete von der neuen Fracht und erwähnte auch die gehörten Informationen aus der Bar. Verschlüsselt jagte der Hyperkommspruch aus der Antenne und erreichte ohne Zeitverzögerung die HEM I. Dort überflog der Diensthabende den entschlüsselten Text und wollte ihn schon für das Archiv speichern, doch die Worte ‚Terra‘ und ‚Atzgol‘ ließen den Mann zögern. Er stellte eine Verbindung zu Hemghat her und las dem Patriarchen die Meldung vor.

Wenige Stunden später erreichte sie die HEPHAISTOS und Victoria Rosheen dalRhodan, die sie unverzüglich an Allan D. Mercant weiterleitete. Beide hofften, eine erste Spur zu dem Liquvital – Lieferanten gefunden zu haben.

Spuren

Mai 2083

Galacto City, Terra,

Mairi Cameron saß auf einer klimatisierten Terrasse eines Cafés im Galacto Tower und trank genussvoll einen Cappuccino, während sie auf ihren Freund wartete. Sie hatte sich hier mit ihm verabredet, um die Mittagspause gemeinsam mit ihm zu verbringen und ein Häppchen zu essen. Sie war zwar kein schönes Mädchen, die Nase eine Spur zu lang, der Mund, dessen Lippen so sinnlich lächeln konnten, ein wenig zu breit, aber sie war hübsch. Eine Haarmähne umrahmte dieses Gesicht wie eine Wolke aus gesponnenem Kupfer. Viele Männer waren der Meinung, ihr Busen wäre schon ein paar Jahre im Fegefeuer wert, andere sagten das gleiche von ihrem Gesäß, beides stimmte – irgendwie. Ihr Bauch hätte die alten persischen Liebeslyriker zu mehr als nur einigen Versen inspiriert und ihre Beine waren lang und wohlgeformt.

Doch Mairi Cameron hatte in ihrer Brust ein Geheimnis, statt Rippen hatte die Natur sie mit knöchernen Platten ausgestattet. Mairi stammte von den Arkoniden ab und war eine Springerfrau aus der Sippe Atzgols, eine Agentin des Patriarchen, wovon ihr Freund allerdings keine Ahnung hatte.

*

Vor einigen Jahren hatte die Agentin über Umwege Ferrol erreicht, eine hervorragende Maske und falsche Ausweise erhalten und war mit einem GCC – Schiff nach Terra geflogen. Nachdem die Ferronin pflichtschuldigst die großen Wasserfälle in Afrika und Amerika bestaunt hatte, buchte sie einen Flug durch den Grand Canyon. Dutzende Zeugen sahen, wie eine blauhäutige Frau mit den typischen Augenhöckern und den violetten Haaren der Bewohner des Wegasystems die Kapsel 35 bestieg, die aus völlig ungeklärten Gründen plötzlich mitten im Canyon in einem riesigen Feuerball explodierte, sowohl die Kapsel als auch die Frau in ihr wurden buchstäblich atomisiert. Mit großem Bedauern mussten die Behörden den Tod einer ferronischen Touristin zur Kenntnis nehmen und weitermelden, selbst der Telepath aus Galacto City konnte keine Beeinflussung der Zeugen feststellen. Ihre Aussagen stimmten soweit mit den Tatsachen überein, also wurde der Fall als Unfall mit ungeklärter Ursache zu den Akten genommen.

Die Agentin, die ihren Tod erfolgreich vortäuschen konnte, tauchte ohne Augenhöcker und mit normaler Hautfarbe in Las Vegas, Nevada unter. Nachdem sie die blaue Farbe, die durch Injektionen mit Methylenblau erreicht wurde, mit einer anderen Lösungen aus ihrem Blut gewaschen hatte, rasierte sie sich den Kopf bis auf einen kurzen, violetten Kamm und besorgte sich gebrauchte Schnürstiefel, Jeans und eine Lederjacke. Die Leiche der Person, von der sie diese Kleidungsstücke hatte, wurde erst sehr viel später unbekleidet in der Wüste Nevadas gefunden, das Police Department ging verständlicher Weise von einem Sexualverbrechen aus, das nie geklärt wurde.

Niemand gönnte dem vorgeblichen Punk einen zweiten Blick. Wenn auch die große Zeit dieser Bewegung hundert Jahre zurücklag, ganz waren sie nie aus dem Stadtbild verschwunden. Die Punkerin konnte zuerst gar nicht glauben, wie einfach es war, in diesem Land falsche Papiere und Zeugnisse mit ihrem echten Foto, das vor ihrer Verwandlung zur Ferronin aufgenommen wurde, zu besorgen. Es war sicher auch nur so ein Zufall, dass in der Nacht, nachdem sie einen amerikanischen Pass und andere Urkunden in den Händen hielt, die Werkstatt des Fälschers mitsamt dem Besitzer verbrannte. Das Fire Department konnte nur noch wenig Material sicherstellen, ging jedoch von unvorsichtigem Umgang mit feuergefährlichen Chemikalien aus, von denen in diesem Keller eine große Menge gelagert worden war. Irgendwelche Fremdeinwirkungen wurden von den Brand- und Tatortermittlern ausgeschlossen. Die junge Punkerin verkaufte auch einige ungeschliffene Edelsteine, zwar weit unter ihrem Wert, jedoch ohne mit Fragen belästigt zu werden. Die Käufer, allesamt stadtbekannte Hehler, gingen ohnehin nicht von einem legalen Besitz der Steine aus. So bekam sie einen ganzen Packen herrlich anonymen Bargeldes, mit einem Teil kaufte sie eine Karte für den Greyhound nach Denver, Colorado.

Dort bewarb sich ein Mädchen in gefütterter Jeansjacke und dickem Pullover in einem Diner um eine Stelle, die sie auch erhielt. Sie mietete sich in einem billigen Motel ein, briet tagsüber Hamburger und French Fries, abends saß sie oft stundenlang vor dem Fernseher. Ab und zu ging sie auf ein Bier in ein nahes Lokal, wo sie Anfangs noch durch ihren Akzent auffiel, den einige Besucher aus dem Osten als Bostoner Dialekt betrachteten. Außerdem trug sie, wenn sie ihr Zimmer verließ, stets eine Mütze, die ihr Haar bedeckte. Nach einem Jahr kündigte sie ihre Stellung und das Zimmer mit der Bemerkung, es wäre an der Zeit, weiter zu ziehen. Nichts Ungewöhnliches, niemand dachte sich etwas dabei.

Einige Wochen später tauchte in Savannah, South Carolina, eine junge Dame in geblümtem Sommerkleid in einer Bank auf und bat um die Eröffnung eines Kontos. Sie habe zu Hause alle Zelte abgebrochen, ihre Ersparnisse genommen und sei an die südliche Küste gezogen, in Boston wäre ihr das Klima zu kühl, besonders im Winter. Der Clerk, ganz Gentleman der Südstaatenschule, hatte selbstverständlich um den Ausweis der Dame gebeten, die mit einer kupferfarbenen Kurzhaarfrisur vor ihm stand. Mit einem höflichen Lächeln hatte sie einen Pass aus der Tasche gezogen und dem Schalterbeamten gereicht. So wurde Mairi Cameron zur Besitzerin eines legalen Kontos und, nachdem sie eine Zeitlang Geld als Mathematikerin bei einer Versicherung verdient hatte, einer Kreditkarte.

Bald packte Mairi jedoch wieder die Wanderlust, nach etwa zwei Jahren bewarb sie sich bei einer kleinen Sterbeversicherung in Galacto City, einer Firma, die keine Geheimnisse besaß und auch nie mit geheimen Informationen in Kontakt kommen würde. So war die Sicherheitsüberprüfung nicht allzu streng. Mit ihren hervorragend gefälschten Zeugnissen, die ihr die beste Ausbildung bescheinigten, und ihren Fähigkeiten erhielt sie zunächst eine Stelle auf Probe. Doch nachdem sie scheinbar vorhatte, nun endlich sesshaft zu werden, winkten ihr nach kurzer Zeit höhere Aufgaben. Dank ihres Aussehens waren viele Männer hinter ihr her gewesen, doch sie wählte einen schüchternen, farblosen Arbeitskollegen von der Unfallabteilung und wollte sich von ihm verführen lassen. Hier erlebte sie das erste Problem auf dieser Mission, der Mann war zu schüchtern und zurückhaltend. Mairi musste daher in die Offensive gehen, verführte den Mann und war positiv überrascht, welchen Vulkan sie geweckt hatte. Zu ihrem eigenen Erstaunen bereitete ihr dieser Teil ihrer Tarnung durchaus Vergnügen. Ihr Erwählter wurde von seinen Kollegen glühend beneidet, sie zogen bald zusammen und wurden ein festes Paar, Mairi wirkte sich positiv auf das Selbstbewusstsein des jungen Mannes aus. Ab da verhielt sich Mairi so unauffällig, wie es einer Frau mit ihrer Figur möglich war. Sie wurde Mitglied eines örtlichen kleinen Fitnessstudios und eines TaekWonDo-Clubs, wo sie sich rasch, aber nicht auffällig schnell, durch die unteren Ränge kämpfte. Auf ihrem Phone installierte sie eine Social-Media-App, programmierte eine unauffällige Erweiterung und trat einer geschlossenen Gruppe namens ‚Fans der Rockoper’ bei. Dort benutzte sie den Namen ‚Frank N Furter 83‘ und tauschte sich mit Leuten aus der ganzen Welt über neue Aufführungen alter Musicals oder neu komponierter Opern sowie entsprechender Verfilmungen aus. Die Schläferin betrachtete den ersten Teil ihres Auftrages als zufrieden stellend erfüllt und wartete auf weitere Befehle.

*

An Bord der Cypress

Der Fracht- und Passagierraumer CYPRESS war ein modernes Kugelschiff von 250 Meter Durchmesser, das unter der Flagge der Starlight Enterprises von der HEPHAISTOS nach Zalit flog. Verschiedene Vorkommnisse hatten die Gesellschaft dazu gebracht, ihre Schiffe für Flüge in den arkonidischen Sektor schwerer als zuvor zu bewaffnen, diese durften dann aber nicht mehr in das Sol-System einfliegen. Daher der unvermeidliche Zwischenhalt an der Basis der Gesellschaft zum Wechseln der Schiffe.

Natürlich konnte man nicht von einem Kriegszustand zwischen den Springern, Arkon, Terra und der Starlight Enterprises sprechen. Aber wenn gute Beute im Vorbeiflug zu machen war, konnte ein Springerkapitän schon einmal vergessen, den Transponder einzuschalten und eine lohnende Prise zu erobern. Auch Piraten trieben ab und zu ihr Unwesen. Weder die Arkonflotte noch die Springer konnten solche Renegaten auf Dauer verhindern, immer wieder versuchte einer sein Glück. Sogar kleinere Staaten, die gegen Arkon rebellierten, rüsteten ab und zu Freibeuter aus. Zweimal schon hatten nur die überstarken Schutzschirme der Starlight-Schiffe das Schlimmste verhindert und dem Raumer die Flucht ermöglicht. Die Geschäftsführung wollte das Risiko eines Verlustes minimieren und verpasste ihren Raumern einige Zähne mehr. So auch der CYPRESS, die eben aus dem Dock kam.

Siobhan O’Monay war Irin durch und durch. Das tizianrote Haar trug sie nackenlang, mit Spitzen entlang der feinen Kinnlinie. Die grünen Augen erforschten die Welt mit wachen Blicken, die kleine Stupsnase zeigte winzige Krausfältchen, wenn Siobhan lächelte, und das tat sie gerne und oft. Sommersprossen zeichneten ein interessantes Muster auf ihrer blassen Haut, bildeten eine hübsche Ergänzung zu den fein geschwungenen Lippen. Sie war nicht groß und eher zierlich gebaut, ihre Rundungen nicht sehr ausgeprägt, aber vorhanden. Ihre Mannschaft und sie bildeten ein eingeschworenes Team, nur Lester Peabody war eine unbekannte Größe. Peabody hatte den alten Jones an der Feuerleitzentrale abgelöst, als dieser vor diesem Flug seinen Ruhestand antrat.

Bisher war es ein ruhiger Routineflug gewesen, doch während eines Zwischenstopps im System Ghuknunor, in dem es keinen bewohnten Planeten gab und der nur der Orientierung dienen sollte, geschah doch etwas, das kein Skipper erleben möchte, aber mit dem er immer rechnen musste.

„Ortung! Energieemission backbord voraus, tief!“

„Schirme!“, rief Siobhan. „Alarm, DefCon 3!“ In rascher Folge kamen ihre Fragen und wurden ebenso schnell beantwortet. „Ruder?“

„Bereit für Kursänderung!“

„Kommunikation?“

„Nichts, Skipper!“

„Ortung?“

„Kein Transpondersignal! Emission nähert sich rasant. Muster annähernd vereinbar mit Springertechnik. Achtung, kein Springerschiff. Wiederhole, kein Springer. Das Ding sieht aus, als hätte man ein zweihundert Meter Springerschiff durch einen 100 Meter Arkonkreuzer gesteckt! Eindeutig kein Standardmodell. Energieausstoß rasch steigend!“

„DefCon 5! Ich möchte die gesamte Besatzung auf ihren Posten. ASAP! Passagiere bitte in ihre Kabinen, Brücke versiegeln.“ Ein Chor von ‚Aye, aye, Ma’am’s war die Antwort.

„Mister Peabody, wie sieht es aus?“ Zeit für den Neuen, sich seine Heuer zu verdienen.

„Ziel zeichnet. Eindeutig unbekannte Signatur, nur eine Ähnlichkeit mit der eines Springerschiffes. Bestätige 200 zu 110 Meter. Kombinierte Walzen-Kugelkonstruktion, keine Markierung, kein Transponder! Nada!“

„Kommunikation, geben sie auf allen Frequenzen durch. ‚Unbekanntes Schiff, hier TSS CYPRESS! Drehen Sie ab, oder wir eröffnen das Feuer‘!“ Eine Salve aus den Bugkanonen des Fremden schlug in die Schirme der CYPRESS, kurz verriet eine Leuchterscheinung den Treffer, die Belastung blieb weit im grünen Bereich. Dann passierte der Gegner und schoss eine volle Breitseite von acht Impulsgeschützen auf das Kugelschiff, dessen Schirme nun doch erheblich mehr, aber noch nicht gefährlich belastet wurden.

„Wenn das alles ist?“ Siobhan starrte das gegnerische Schiff an. „Mister Peabody, geben Sie uns die Ehre, das Feuer nach Belieben zu erwidern.“

Leutnant Lester Peabody spreizte seine Finger wie ein Klavierspieler, ehe er ein Konzert begann, dann flogen seine Finger über die Tastatur. Nachdem nur ein Objekt als Ziel in Frage kam, hatte die Zielpicotronik alle Geschütze der dem Gegner zugewandten Halbkugel auf dieses eingestellt. Lester löste einen Feuerschlag aller sechs Thermostrahler aus, der die gegnerischen Schilde beinahe zusammenbrechen ließ, dann jagte er eine Salve Desintegratorstrahlen hinterher – für den Bruchteil einer Sekunde zu spät, die Schirme des Gegenübers hatten sich wieder regeneriert, die Schäden blieben minimal.

„Na schön, dann auf ein Neues!“ Drüben begannen die Geschütze im Salventakt zu feuern.

„Belastung fast achtzig Prozent, nähern uns gelbem Bereich“, meldete der XO.

„Geht ja noch!“ knurrte Siobhan. „XO, Reserveenergie in Bereitschaft. Mister Peabody?“

„Sofort, Skipper!“ Auch die Geschütze der CYPRESS begannen den Salventakt, und nun merkte man, dass Tana Starlight ihren Schiffen sehr scharfe Zähne verpasst hatte. So sehr der Gegner auch versuchte, die Schirme mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verstärken, immer mehr Wirkungsfeuer drang durch und riss große Lecks in die Bordwand der Walze.

„Was gäbe ich jetzt für einen Zug Marines!“ knurrte die Irin. „Komm, auf allen Frequenzen: ‚Geben Sie auf und folgen Sie uns‘.“ Die Stoßwelle eines Nottransits zerriss das Raum-Zeitgefüge, das Walzen-Kugelschiff verschwand in der kurzfristig sichtbaren, irisierenden Kugellinse eines Wurmloches, ehe die Aufforderung zur Kapitulation aus die Antennen der CYPRESS komplett verlassen hatte.

„Schadensmeldungen?“

„Keine, Skipper! Die Schirme haben gehalten!“

„Na schön. Ladys, Gentlemen, es wird mir eine Ehre und ein Vergnügen sein, Sie alle während des Abendessens zu einem oder mehreren Gläsern Sekt einzuladen. Gute Arbeit! Ruder, Nav, wir haben eine Verabredung. Kurs wieder aufnehmen. Com, Meldung an HEPHAISTOS, schildern sie die Situation. Los geht’s!“

Die Herkunft des Angreifers konnte nie geklärt werden, kein Patriarch der Springer meldete eines seiner Schiffe als vermisst. Offiziell wurde die Vermutung ausgesprochen, es müsse sich um einen Paria gehandelt haben, auch wenn das Schiff gepflegt gewirkt hatte und offensichtlich eine Spezialkonstruktion gewesen war. Keine Werft hatte jedoch ein Schiff mit diesen Maßen und Merkmalen in ihren Aufzeichnungen, die Herkunft blieb ein Geheimnis. Die Überschweren beteuerten laut, nicht an dem Überfall beteiligt gewesen zu sein. Es klang mehr als glaubhaft, denn wenn auch die Konstruktion über bei weitem mehr Kampfkraft als die typischen Standardschiffe der Springer verfügt hatte, wäre sie den Schiffen der Kampfkaste weit unterlegen gewesen.

Nun, wer auch immer der Angreifer war, jedenfalls hatte Siobhan O’Monay Fracht und Passagiere heil und gesund nach Zalit gebracht und die Mannschaft einen Bonus ausbezahlt bekommen. Starlight Enterprises hatte dieses Mal bewiesen, dass ihre Schiffe nicht mehr wehrlos waren.

*

Juni 2083, An Bord der ATZ I

Atzgol lachte bellend, ein Geräusch, welches wohl niemand mit Freude in Verbindung bringen konnte. Der Patriarch war auch alles andere als amüsiert, wieder einmal hatte er einen terranischen Frachter aus den Ortungsgeräten verloren. Bei der Herrin der Unterwelt und all ihren Dämonen, die Koordinaten der Erde mussten doch zu finden sein! Natürlich war der Sektor um die Wega ziemlich groß, wenn man überhaupt keine Richtung wusste, aber auch nicht unendlich. Doch noch hatte seine Suche keinen Erfolg gehabt. Er hatte versucht, jene Frachter zu verfolgen, die mit Liquvital nach Terra flogen, die typischen Signaturen der Hyperaggregate topsidischer Machart, die in den Schiffen dieser terranischen Handelsgesellschaft zum Einsatz kamen, konnten doch unmöglich zu übersehen sein. Außer, der Kapitän flog zuerst in den Raumbereich der intelligenten Echsen, wo die Spur der Frachter in den ähnlichen Emissionen untergingen und unsichtbar wurden. Atzgol konzentrierte daher seine Suche auf den Bereich zwischen Topsid und Wega.

Die ATZ III flog jeden Stern an, den sie finden konnte, während der Patriarch selbst mit der ATZ I wieder nach Atzgols Stern zurückkehrte. Wenn er nur wüsste, wie sich das Liquvital auf die Erde auswirkte. Aber leider hatte er seinen Agenten kein Hyperkomm mitgeben können, selbst das kleinste wäre zu sehr aufgefallen. Genau so ärgerlich fand er es, nur ein Schiff für die Suche nach der Erde abstellen zu können, aber seine Obsession hatte der Sippe schon genug Geld gekostet, es wurde Zeit für neue Einnahmen.

Zu seinem Glück waren die Aras an der Seetangart ‚AH 23 Breitblatt‘, die auf dem Wasserplaneten von Atzgols Stern vorkam, mehr als interessiert gewesen. 2074 entwickelten Sie daraus eine Partydroge, mit der jede Feier zum absoluten Erfolg werden sollte, wenn man den Verkäufern glaubte, die ihre Ware natürlich nicht offen von den ‚Galaktischen Medizinern‘ geliefert bekamen. Diese Droge wirkte enthemmend, doch nur für kurze Zeit und nur in seltenen Ausnahmen wurde der Konsument aggressiv. Nach der Einnahme weniger Tabletten zeigte sich jedoch das hohe Suchtpotential, die betroffenen Personen konnten den Rausch gar nicht schnell genug wieder erleben. Selbstverständlich brachten die Aras kurze Zeit später ein Medikament auf den Markt, dass einen Entzug garantierte. Da aber zwar die körperlichen Symptome damit bekämpft wurden, die Erinnerung an den Höhenrausch jedoch blieb, wurden die meisten Betroffenen wieder rückfällig. Die Kassen Atzgols und der Aras füllten sich, aus den Kassen Atzgols allerdings flossen die Mittel genauso schnell wieder ab. Die Suche nach der Erde verschlang große Summen, ebenso die Rekrutierung von Rhodans Sohn und die Entwicklung des Liquvital, das ebenfalls aus ‚AH 23‘ gewonnen wurde, und vor allem die Methode, es nach Terra zu bringen, ohne dass jemand die Gefahr vorzeitig erkannte.

Als die Süchtigen auf den arkonidischen Kolonialplaneten immer mehr wurden, konnte man die gesundheitlichen Schäden erkennen, die diese Partydroge, bekannt einfach als ‚AH‘, ‚Feuer‘ oder ‚WOW‘, hervorrief. Die Suchtkranken litten aus zwei Gründen an Mangelerscheinungen, zum einen fehlte den Meisten das Geld, um gesund und ausreichend zu essen, zum zweiten war es den Süchtigen schlichtweg egal. Sie verspürten keinen Hunger mehr, nur quälenden Durst. Durch das Fallen jeglicher Schranken wurden körperliche Grenzen ignoriert, es übernahmen sich die Betroffenen viel zu oft und brachen auf Grund von Überanstrengung zusammen, nicht selten mit tödlichem Ausgang. Und natürlich stieg die Ansteckungsrate sogenannter ‚venerischer Erkrankungen’ stark an. Ein Problem, das leicht zu bewältigen gewesen wäre, hätten sich die Infizierten nur gemeldet. All diese Krankheiten wären schon seit längerer Zeit heilbar gewesen. Doch auch hier zeigte sich ein erschreckendes Desinteresse selbst am eigenen Wohlergehen, die Gedanken kreisten nur noch um die nächste Party im AH-Rausch. Die Behörden versuchten, als die neue Droge bekannt wurde, selbstverständlich sofort, den Vertrieb zu unterbinden. Leider schafften sie es zumeist nur, den Preis noch weiter in die Höhe zu treiben. Das pure ‚AH‘ war einfach zu schmuggeln, da es wenig Platz brauchte.

Auf Zalit gelang es nun im Juni 2083 terranischer Zeitrechnung einem jungen Forscher, den Grundstoff der Droge zu isolieren und eine genetische Sequenzierung der pflanzlichen DNS. Somit wurde immerhin bekannt, dass dieser Stoff aus einer Tangart gewonnen wurde, die in Salzwasser unter einem Stern der Spektralklasse ‚F‘, ähnlich der Sonne Arkons, gedieh. Mehr war aber auch hier nicht herauszufinden, die Forschung verlief im Sande. Die Nachricht erreichte jedoch Hoppro, einen Zaliter, der die Zweigstelle von Starlight Enterprises auf Zalit führte und jedes wissenschaftliche Journal abonniert hatte, das auf seinem Heimatplaneten aufzutreiben war. Besonders Chemie und Gesundheit hatten es ihm angetan, aber er interessierte sich auch für Psychologie und Soziologie.

Über diesen Umweg landete die Formel auf dem Schreibtisch von Allan D. Mercant in Galacto City, der sie sofort an die mikrobiologischen Labore weitergab. Auf der HEPHAISTOS wurde eine Dose Liquvital und die betreffende Formel an Smokebeard Murphy übergeben. Die Abteilung gestand ein, nicht weiterzukommen, der ‚Alte Pirat’ sollte doch bitte einmal nachsehen, ob er eine Lösung fände.

*

Juni 2083, An Bord der CYCLOPS

Arkol daVuuh war äußerlich ein typischer Sohn der Kristallwelt Arkons. Hochgewachsen und schlank, die Haut von der gleichen Farbe wie die der irdischen Polynesier, das weiße Haar trug er kurz geschnitten. Tarkol daVuuh hatte das parasitäre Leben eines arkonidischen Adeligen satt gehabt, er wollte nicht fremde Abenteuer in einer fiktiven Welt erleben, sondern eigene, echte in der Realität. Seine Familie hatte ihm eine Flugkarte nach Zalit gekauft und ihm eine Kreditkarte ausgehändigt, in der festen Überzeugung, dass der Herr Sohn schon bald wieder zu Hause vor der Tür stehen würde. Spätestens nach dem ersten Schweißausbruch, wenn er sich anstrengen musste. Doch zur Überraschung aller war der junge Mann mit jeder Anstrengung nur noch mehr davon überzeugt, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Statt seine Zeit in Spiele zu investieren, bildete er sich beharrlich weiter, obwohl seine Hypnoschulung eine der Besten war, die sein Vater kaufen konnte. Dann begann er, für Starlight Enterprises in einer Niederlassung zu arbeiten, die Kreditkarte hatte er vor einiger Zeit nach Hause geschickt. Er wollte selbst seinen Unterhalt verdienen und für sein Wohlergehen Verantwortung übernehmen. Sein Vorgesetzter, Hoppro, erkannte sein Potenzial und schickte ihn bald auf die HEPHAISTOS, wo sowohl praktische als auch psychologische und Charaktertests auf ihn warteten. Er verließ die Station wieder als vierter Offizier der CYGNUS und arbeitete sich zum Ersten hoch. Nun führte er das Kommando auf der CYCLOPS, einem funkelnagelneuen Kugelraumer von 500 Metern Durchmesser, ohne den typischen Ringwulst gerechnet. Tarkol daVuuh war Tana Starlight für diesen Vertrauensbeweis mehr als dankbar.

Die CYCLOPS befuhr eine neue Route durch das Arkonimperium, ihr Kurs sollte auch auf den Grenzplaneten Bhawa’dar’Arkon führen, ehe er zur HEPHAISTOS zurück führte. Wie jeder gute Kapitän legte auch Tarkol regelmäßige Orientierunspausen ein, die letzte vor der Landung auf BdA, wie die Welt kurz genannt wurde, sollte im System ASC 4657/56 stattfinden.

„Nav..“

„Ortung!“ unterbrach der zuständige Offizier die Meldung seines Kollegen. „Transit 34 Nord, 112 West! Richtung 445 auf 724! Signatur Springerwalze, wahrscheinlich eine Sechshunderter.“

„Alarmbereitschaft! Ortung aufzeichnen.“ Der junge Arkonide war vorsichtig, wenn Springer im Spiel waren. Normalerweise wäre ein etwa sechshundert Meter langes Handelschiff kein Gegner für die CYCLOPS, aber wenn ein Überfall überraschend genug ausgeführt wurde und die Energieschilde nicht aufgebaut waren, konnte Wirkungsfeuer den normalen Prallschirm leicht durchdringen. Und wo ein Springerschiff wegsprang, konnte durchaus noch ein anderes sein. DaVuuh hielt es nicht für feige, lieber mit allem zu rechnen. Immerhin hatte er die Verantwortung für eine Menge Fracht und mehr als 200 Passagiere.

„Nav, bitte jetzt ihre Meldung!“

„Bestätige System ASC 4657/56. Abweichungen minimal.“

„Danke. Kurs nach BdA berechnen.“ Dann sah er sinnend auf die Schirme. „Seltsam, da draußen ist doch überhaupt kein lohnendes Ziel mehr! Mister Hunt, könnten sie bitte nachsehen, ob in dieser Richtung noch irgendetwas eingetragen ist? Dann müsste unser Zielplanet aber seinen Namen ändern.“ Viktor Hunt legte die Suchergebnisse auf das ComPad des Skippers, die Liste enthielt keinen Eintrag. „Dachte ich es mir doch! Bhawa’dar’Arkon darf seinen Namen behalten.“

Hunt drehte sich um. „Wieso, was bedeutet denn der Name.“

Tarkol lachte auf: „Übersetzt in etwa ‚der Arsch der Welt‘, Mister Hunt, also des arkonidischen Imperiums. Damals hatten wir Arkoniden noch oft einen schwarzen Humor!“ Hunt schmunzelte. Einen derartigen Namen hätte er den alten Arkoniden nicht zugetraut. Tarkol daVuuh kratzte nachdenklich seinen Hinterkopf, dann entschloss er sich. „Hyperkomm an HEPHAISTOS! Senden Sie die aufgezeichneten Sprungdaten per Rafferimpuls!“ Auch dieser Spruch erreichte Allan D. Mercant mit nur geringer Verzögerung.

*

Galacto City

John Schwarzer Elch schob seine Brille in die Stirn und lehnte sich in seinem Sessel zurück, schloss die Augen atmete einige Male tief durch. Dann drückte er einen Knopf auf seinem Pad, um seinem Vorgesetzten Meldung zu erstatten. Der große Mann mit den indianischen Vorfahren war mathematischer Analytiker, und er war ziemlich gut in seinem Gebiet. Nicht umsonst hatte Allan D. Mercant ihn vom Hörsaal weg für seine Abwehr angeworben und ihn in Galacto City eingesetzt. John Schwarzer Elch hatte die Idee des Schriftstellers Issak Asimov der in den Romanen ‚Psychohistorik’ genannten Mathematik fasziniert, er war entschlossen, die Möglichkeiten zu erforschen und auszuloten. Das hatten vor ihm schon andere versucht, John war es gelungen. Nun hatte die Neuronik ein erstes Ergebnis geliefert, und der Dakota wollte es dem Abwehrchef sofort mitteilen.

Auf dem Bildschirm seines Kommunikators erschien Mercant mit fragendem Gesicht, und John sagte nur.

„Sir, es müssen Agenten der Springer, weniger wahrscheinlich auch der Arkoniden auf Terra sein. Wahrscheinlichkeit für Springer über 99 Prozent, für Arkoniden 52,6743. Mit über 90 Prozent gibt es mehrere Agenten hier in Galacto City, die Möglichkeiten einer Kommunikation der Agenten mit ihrem Auftraggeber ist gering einzuschätzen. Wir haben Schläfer im Nest, Chef!“

„Danke, Schwarzer Elch, gute Arbeit. Suchen Sie weiter, finden Sie die Agenten.“ Das Bild verpixelte, und John hob die Augen zum Himmel.

„Finden Sie die Agenten!“, brummte er. „Nächstes Leben werden ich Chef, dann ich mir das Leben leicht machen und meine Probleme delegieren!“ Während er halblaut räsonierte, flogen seine Finger bereits wieder über den Touchscreen, gaben Daten ein, verschoben und zeichneten Kurven. Dann überlegte er kurz, sein Blick und sein Geist gingen über die Silhouette von Galacto City zum Horizont und darüber hinaus bis zu den heiligen Hügeln seiner Ahnen. „Ich kriege Euch, wer auch immer Ihr seid!“ versprach er seinen unbekannten Gegnern. Dann wählte er sich in verschiedene Zeitungsarchive und gab Suchanfragen ein. „Ich brauche ein richtiges Touchboard!“ murmelte er, verließ den Balkon seines Büros und rief bei der Verwaltung an. „Zwei mal fünf Meter sollten für den Anfang reichen.“ Am nächsten Morgen erwartete die neue Einrichtung bereits den Analysten, als er sein Büro betrat.

*

Reggys System, An Bord der HEPHAISTOS

„Ma, hast Du Zeit für uns?“ Reginald Starlight lugte in das Büro seiner Mutter, welches sie wieder einmal in Ettores Ristorante aufgeschlagen hatte. Giovanna servierte ungefragt einen neuen Aperol Spritz für Tana, einen dunklen Rotwein für Leslie und eine Diät-Cola für Reginald.

„Äh, könnte ich heute ausnahmsweise ein Bier bekommen?“ fragte Tanas Sohn, und die konnte ein Grinsen kaum verbergen.

„Certo, perché no?“ Der fragende Blick Giovannas und das Zwinkern Tanas blieben dem jungen Mann verborgen, die Serviererin nahm das Coke wieder mit und brachte statt dessen ein großes Glas Bier, auf dem Glas stand ‚Heinecken‘. Reginald nahm einen tiefen Schluck, dann kam er auf den Grund seiner Anwesenheit zu sprechen.

„Hier, Ma!“ Er reichte einen Anhänger mit einer Goldkette über den Tisch.

„Reginald!“ rief Tana bewundernd. „Der ist wunderschön!“ Der Anhänger zeigte auf einer glatten Scheibe aus Smaragd im Halbrelief aus Gold, Diamant und Rubin eine Bogenschützin gerade beim Ausziehen der Sehne, ihr zu Füssen saß sprungbereit ein Hund, das ganze Schmuckstück hatte einen Durchmesser von etwa zweieinhalb Zentimetern.

„Der Reintegrator?“ fragte sie, Leslie lachte laut und hielt Reginald die offene Hand hin, der holte seufzend eine Kupfermünze aus der Tasche und legte sie hinein.

„Unser erster Versuch. Wir konnten nicht entscheiden, wer ihn bekommt, da haben wir gewettet. Hier Reginald!“ Sie wollte ihm die Münze zurück geben. „Unterschätze niemals Deine Mutter!“ Doch Reginald schob sie wieder von sich.

„Gewonnen ist gewonnen, Leslie!“

„Können wir ganz kurz auf dieses wunderbare Stück zurückkommen?“ Tana Starlight drehte den Schmuck an seiner Kette, die Facetten glitzerten und warfen bunte Reflexe zurück. „Dein Entwurf, Reginald?“

„Äh, ja! Es gab da ein Bild einer ‚Diana auf der Jagd‘, ich habe dann noch einen Hund dazu eingescannt und Dein Gesicht eingefügt. Von dem ist wohl nicht viel zu erkennen, dazu ist es viel zu klein.“ Victoria fing den Stein mit der zweiten Hand auf.

„Möchtest Du mir die Ehre erweisen, mir die Kette selbst anzulegen?“ Reginald verbarg seine Gefühle mit einem großen Schluck seines Bieres, ehe er sich erhob, die Kette um den Hals seiner Mutter legte und verschloss.

„Danke, Reginald.“ Leslie hatte die Szene lächelnd betrachtet, der Junge war auf dem besten Weg, ein netter Mann zu werden, ob ihm das gefiel oder nicht. Im Moment wahrscheinlich eher nicht – aber alles ist eine Frage der Zeit.

„Theoretisch ist es das teuerste Schmuckstück im bekannten Universum“, bemerkte Leslie Myers. „Obwohl es klein ist, und die Steine nicht echt. Aber es ist uns gelungen, die verschiedenen Kristalle aufeinander Molekül für Molekül abzulagern, das Ding ist sowohl aus einem Stück als auch aus verschiedenen Steinen. Wir haben dafür nur eine halbe Stunde die Energie des Kraftwerks auf Reggy II gebraucht. Die gesamte Energie.“

Tana lachte. „Dann verdoppeln wir eben die Seitenlängen und vervierfachen den Energieausstoß. Da unten ist viel Platz und ewiger Sonnenschein!“

„Oh nein”, schüttelte Leslie den Kopf und Reginald prustete los.

„Wenn wir ordentlich Arbeiten wollen, müssen wir etwa das zehnfache an Energie produzieren. Das war nur ein kleines Ding, für relativ kleine Gegenstände. Oder für Innenausbau, wenn die Schotten nicht viel mehr als drei Zentimeter dick sein müssen. Nichts tragendes. Für ein Raumschiff bräuchten wir schon ein größeres Teil, am besten mehrere. Sonst arbeiten wir ja ewig an einer neuen HEPHAISTOS!“

„Ich wusste ja gar nicht, dass ein Neubau geplant ist!“ Tanas Gesicht wurde ausdruckslos, Leslie holte ihr Pad hervor.

„Wir haben darüber gesprochen, und Reginalds Plan ist gar nicht übel. Schau ihn Dir einmal in Ruhe an.“

Tana blätterte durch die Dateien. „Na ja, ich habe auch schon überlegt, dass ein wenig mehr Platz ganz schön… Reginald!“ Sie wurde blass, als sie die Datei mit den Ausmaßen fand. „Ein Durchmesser von fünf Kilometern? Eine Höhe von 1400 Metern? Das heißt, die Götter versuchen!“

„Gibt es eigentlich nicht, Ma.“ Reginald lehnte sich zurück. „Also, Götter meine ich. Es ist alles berechnet, und wir haben auch noch Platz für ein paar Geschütztürme. Ewig werden wir uns nicht verstecken können, das weißt Du. Achtzehn von den Triebwerkstürmen, 1600 Meter und ein Durchmesser von 500 Metern am Rand wie bisher, auf dem halben Radius noch einmal im Sechseck die gleichen Einheiten, und wir können das nächste Mal die STARDUST ganz locker transportieren. Sogar unsere Sechshundert-Meter-Schiffe könnten dann im Inneren landen.“ Victoria trank ihren Aperol aus und drückte auf den Rufknopf für Giovanna.

„Was ist, Ma?“ fragte Reginald, als Tana nichts weiter sagte, die junge Bedienung steckte den Kopf ins Separee.

„Drei Grappa, Giovanna, bitte.“

„Mama, ich trinke das Zeug nicht!“

„Ich weiß!“

„Oh!“

Noch einmal blätterte Victoria durch die Dateien. „Na schön, ich habe scheinbar den gleichen Fehler gemacht wie alle anderen, und mich mehr oder weniger auf meinen Lorbeeren ausgeruht und das bereits Erreichte als Genug empfunden. Danke für die Erinnerung, wofür Starlight Enterprises steht.“ Sie kippte den ersten Grappa, schob Leslie den zweiten hin. „Nachdem Reginald keinen Grappa trinkt, wird er mit Bier anstoßen müssen. Ihr sagt, es geht?“

„Der Park und der Strand werden größer und schöner als zuvor, trotz der sechs Röhren zu den oberen Geschütz- und Triebwerkstürmen“, erklärte Reginald seinen Plan. „Da können auch ein paar hübsche Aussichtsterrassen angebaut werden.“

„Die Statik steht, Tana. In 25 Monaten können wir ziemlich fertig sein. Berechnung vier!“

„Also dann, auf Reginald, einen würdigen Nachfolger!“

„Mama! Du wirst doch nicht…“

„Noch nicht, Reginald.“ Tana zauste die Haare ihres Sohnes, was diesem ein gequältes Stöhnen entlockte. „Aber ich habe nicht vor zu arbeiten, bis ich hundertfünfzig bin!“

„Gott der Gerechte!“ Leslie verdrehte die Augen und hob die Handfläche zur Decke und winkte damit einem höheren Wesen. „Orbeit hot gesogt de Schickse! Wann ich hör nur des! Wos vastejn de Goj vom orbeiten?“

Nachdem sich das Lachen gelegt hatte, nahm Reginald noch einen tiefen Schluck von seinem Bier. „Dann, Ma, solltest Du Dich beizeiten nach einem anderen Nachfolger umsehen. Ich habe schon ein großes Forschungsschiff in Planung, mit dem ich den bekannten Teil des Universums verlassen kann, um mich anderswo umzusehen.“

„Hast Du wieder ‚Lucky Jack Aubry‘ oder ‚Baron von Arling’ gelesen?“ fragte Tana. „Na ja, ich kann Dich ja verstehen. Mir war die Erde auch zu klein!“

„Eher die Beagle und Darwin, Ma. Ich möchte nicht unbedingt kämpfen und Prisen nehmen schon gar nicht. Nur einfach etwas Neues entdecken!“

„Na schön, dann muss ich eben für ein Geschwisterchen sorgen!“ zwinkerte Tana ihm zu. „Ich meine, ich bin ja wohl noch nicht zu alt für Kinder!“

„MAMA!“ Reginald hielt sich die Ohren zu. „Ich will so etwas gar nicht hören!“

*

„HEM XXVI ruft CYRANO!“ Ghomas Stimme klang glasklar aus den Lautsprechern. „Erbitte Landeanweisung!“ Ghoma war von ihrem Patriarchen gebeten worden, eine Zeitlang auf der HEPHAISTOS zu leben und Tana Starlight ihre komplette Unterstützung zuteil werden zu lassen. Diese Bitte hätte Ghoma nicht unbedingt erfüllen müssen, aber es reizte sie, diese Station kennen zu lernen. Also hatte sie zugestimmt und die Koordinaten für ein Rendezvous mit dem Starlight-Schiff erhalten. Pablo Cobanjo begrüßte sie persönlich an der Schleuse, der junge Indio aus Mexico City hatte sein Schiff erst vor einem Monat übernommen und bemühte sich sehr, alles richtig zu machen. Man hatte ihm Ghoma als einen Ehrengast avisiert. Als die riesige Frau vor ihm stand, musste er seinen Kopf in den Nacken legen, um ihr ins Gesicht blicken zu können. Pablo war nur einen Meter und sechzig groß, bisher hatte es niemand aus der Besatzung gestört. Auch Ghoma fand nichts dabei.

Während die HEM XXVI davon raste, um bei der HEM I einen neuen Kommandanten zu erhalten, führte Kapitän Cobanjo seinen Gast in eine luxuriöse Kabine.

„Wenn Sie sich frisch machen möchten, Ma’am. Falls Sie einverstanden sind, würde ich Sie gerne an meinem Tisch willkommen heißen und Sie auf ein Getränk einladen.“ Ghoma machte ein erstauntes Gesicht, bis ihr die Gepflogenheiten an Bord eines terranischen Passagierschiffes wieder einfielen.

„Es ist mir eine Ehre, Kapitän. Ich habe allerdings außer meiner Uniform keine Kleidung, ich bitte daher um Nachsicht!“

„Ma’am, mit Verlaub, kommen Sie in Uniform!“ Pablo lächelte. „Sie würden mir eine große Freude machen.“

Einige Stunden später verstand Ghoma den Kapitän. Eine Frau in einer offensichtlich teuren Abendgarderobe mit viel zu viel Schmuck, der die faltige Haut ihres Halses nicht verdecken konnte, hatte sich blasiert mit ihrem Mann, ihrer Freundin, die ihr sehr ähnlich war, und deren Partner unterhalten und dabei den Kapitän nicht nur völlig ignoriert, sondern auch nonverbal zum Ausdruck gebracht, dass der Kontakt zu einem solchen Individuum völlig unter ihrer Würde war. Die Blicke der Männer jedoch konnten kaum ihre Blicke von dem exotischen Gast lösen, was die Frauen, für die der Kontakt zu Ghoma selbstverständlich ebenfalls unter ihrer Würde war, doch sehr erboste. Nun, morgen war der Kapitän diese Paare los, dann musste sich ein anderer Kapitän mit ihnen ärgern, bis sie ihre Rundreise beendeten. Immerhin hatte sie mit Pablo einen Gesprächspartner gehabt, mit dem sie einige Interessen teilte.

Als kleinen Dank für die angeregten Gespräche bei Tisch hatte Pablo Cobanjo Ghoma nach dem letzten Sprung auf die Brücke gebeten, damit sie die Station, auf der sie nun eine Zeitlang leben sollte, von außen sehen konnte. Natürlich hätte sie das auch vom Aussichtsdeck, der Messe oder sogar ihrer Kabine tun können, aber es war eine nett gemeinte Geste, und genau so wurde sie auch aufgenommen. Wie immer näherte sich die CYRANO der HEPHAISTOS von ‚oben’, der Anflug war als spezielle Attraktion angekündigt gewesen. Dann flog sie eine Schleife, tauchte in den Landungsschacht und setzte sanft wie eine Feder auf.

„Ma’am! Es war mir eine Freude!“ Pablo reichte Ghoma die Hand, die sie lächelnd nahm.

„Ganz meinerseits, Kapitän. Danke!“

*

„Miss Ghoma?“ Ihr Kopf fuhr herum, sie hatte sich derart auf den Betrieb des Raumhafens konzentriert, dass sie nicht gesehen hatte, woher die Frau gekommen war. „Ich bin Hera und möchte Sie zu ihrem Quartier bringen. Da Sie länger unser Gast sein werden, möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich Ihnen rund um die Uhr zur Verfügung stehe. Wenn Sie irgendwo hin gehen wollen, brauchen Sie es nur zu sagen, es wird entweder dieses oder ein nach ihren Wünschen geformtes Hologramm zu ihrer Verfügung stehen. Auch sonst wenden Sie sich bitte an mich. Sie müssen nur ‚Hera’ sagen, ich höre Sie überall!“

„Auch unter der Dusche und im Bett?“ fragte Ghoma misstrauisch.

„Ich bin die für die Versorgung der Bevölkerung dieser Station zuständige Teil der Picotronik! Ohne Ihren ausdrücklichen Wunsch wird niemand außer mir Sie in den von Ihnen genannten Räumlichkeiten hören oder sehen können!“

„Na schön” ergab sich Ghoma in ihr Schicksal. „Dann zeig mir den Weg zu meiner Kabine!“

Dort erwartete Ghoma eine Überraschung. Ihre Kabine war eine Suite mit eigenem Schlafraum und einer Büroecke im großen Wohnraum, ein großzügiges Badezimmer mit Wanne und Dusche.

„Das ist eine Wohnstatt für den Kapitän eines großen Schiffes!“ entfuhr es Ghoma. „Oder einen Patriarchen! Das ist ja riesig!“

„Es handelt sich um ein Standardquartier des Decks ‚D‘. Hier wohnen unverheiratete Wissenschaftler und Führungskräfte. Verheiratete Paare erhalten selbstverständlich je nach Anzahl der Kinder mehr Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Dieser Bildschirm bietet eine Anzahl von Aussichten auf verschiedenen Planeten oder Sternsimulationen. Ebenso ist er an die Kommunikationsanlage angeschlossen.“ Hera rief einen Katalog mit winzigen Vorschaubildern auf. „Schmutzige Wäsche bitte hier einwerfen, Ma’am. Sie erhalten umgehend Ersatz! Falls es sich um besondere private Bekleidungsstücke handelt, benützen Sie bitte diesen markierten Beutel, sie erhalten sie am nächsten Tag sauber zurück.“

Ein flauschiger Bademantel hing an der Tür, weiche Handtücher lagen bereit. „Wir haben eine Auswahl gängiger Kosmetika vorbereitet, sollte eine Farbe nicht ihrem Geschmack entsprechen, bitte melden Sie sich.“

„Wozu?“ fragte Ghoma. „Ich bin Offizier, warum sollte ich mein Gesicht bemalen?“

„Es ist bei menschlichen Frauen nicht unüblich“, antwortete Hera „Auch bei solchen im Offiziersrang, und auch, wenn sie sich im Dienst befinden.“ In einem Kleiderschrank hatte sie einige der rauchblauen Uniformen gefunden, in der richtigen Größe und mit dem Symbol eines Captains, drei goldene Streifen mit einem Stern darüber, auf der Schulter. Dazu Unterwäsche in verschiedenen Schnitten.

„Das tragen Frauen auf dieser Station im Dienst?“ Ghoma wurde beinahe rot, als sie einen winzigen Tanga hervorholte.

„Das ist eine private Angelegenheit, über die ich nicht befugt bin zu sprechen. Es gibt jedoch keine Vorschrift, welche das Tragen von Unterwäsche im Dienst regelt!

*

„Ich soll mich hier mit Miss Tana Starlight treffen!“ Ghoma war von Hera zu Mikis Taverne geführt worden und sah sich jetzt ratlos um. Eleni Papadakis lächelte die große Frau breit an.

„Bitte”, sagte sie und ging voran zu einem schimmernden Energiefeld zwischen zwei Statuen, die einen nackten Mann mit dreizinkigem Speer und eine nackte Frau mit Helm, Schild und Speer zeigten. Sie berührte einen Punkt an der Hüfte der Frau und sprach in ein verstecktes Mikrophon. „Tana, Dein Besuch ist gekommen!“

„Danke, Eleni!“ Tana kam durch das Energiefeld und streckte Ghoma die Hand entgegen. „Willkommen an Bord! Bitte kommen Sie herein, es ist eine rein akustisch-optische Abschirmung.“ Von Innen war die Abschirmung nicht mehr zu sehen, durch einen Torbogen sah man direkt auf einen Strand und Wasser, dahinter war ein Teil von Reggy II zu sehen, vor einem grandiosen Sternenhimmel.

Ghoma musterte die zarte Frau, die jetzt ihre Chefin sein sollte, und wurde von Tana ebenso taxiert.

„Hier bekommt man einen sehr guten geharzten Wein, der dem, den mir Ihr Patriarch letzthin kredenzte, ziemlich ähnlich sein dürfte. Bitte nehmen Sie doch Platz.“ Tana Starlight wies auf einen der Stühle.

„Ich bin nicht wählerisch! Mit welchem Titel darf ich Sie ansprechen?“ Ghoma setzte sich auf den angewiesenen Platz.

„Sprechen Sie mich mit Tana an, wir sind hier nicht sehr förmlich. Sind Sie hungrig? Nein? Na gut.“ Tana Starlight nahm einen Schluck Wein und sah hinaus in die Unendlichkeit. „Irgendwie macht es mich immer noch ein wenig demütig, wenn ich diese Vielzahl von Sternen sehe“, sagte sie, Ghoma wunderte sich etwas, dass etwas Alltägliches wie der Anblick der Sterne ein solches Gefühl hervorrufen konnte.

„Ich habe das noch nie so empfunden”, meinte sie. „Immerhin bin ich mitten unter ihnen aufgewachsen, für mich ist Wasser, das ohne Duschkopf von oben fällt, etwas Ungewöhnliches und bedeutet etwas Unangenehmes, zumeist ein Leck in einer Leitung. Und Wind ist für mich etwas Fürchterliches im Wortsinn, denn wenn man im All einen Windzug spürt, deutet das auf ein Leck im Rumpf hin – und dann empfindet man schon Furcht.“

„Ihr Patriarch hält sehr viel von Ihnen, Ghoma“, kam Tana jetzt zur Sache, auf dem ComPad Tanas erschien eine Dienstakte. „Sie haben schon in relativ jungen Jahren ein eigenes, wenn auch kleines Schiff erhalten. Ein Kurierboot, um genau zu sein. Hat es Ihnen gefallen?“

„Durchaus, Tana. Das Boot war ein wirklich fettes Konto!“

Tana runzelte die Stirn. „Ich nehme jetzt einmal an, das war eine Redensart, die etwas positives Ausdrücken soll? Na schön.“ Tana faltete ihre Hände auf dem Tisch. „Sie werden sich fragen, was Sie hier machen. Die Wahrheit ist, dass ich Ihren Patriarchen Hemghat gebeten habe, mir jemand zu schicken. Ich brauche eine Person, die wie ein Springer denkt. Er wiederum hat mir gesagt, er hätte eine Frau, die in der Sippe auf dem Gipfel ihrer Karriere angelangt ist, weil sie sich keinen Bart wachsen lassen kann. Seine Worte. Er meinte, sie wäre zu mehr fähig, als ein Kurierboot zu befehligen, aber es fehle ihr ein Penis und Hoden. Nicht seine Worte, die waren um einiges deftiger.“

Ein kurzes Lächeln huschte über Ghomas ansonsten ziemlich beherrschtes Gesicht. Oh ja, selbst wenn Hemghat ein neutrales Wort kennen sollte, er würde immer das Provozierende wählen. Auch – nein besonders, wenn es um Sexualität und die damit verbundenen Körperteile ging.

„Ghoma, sehen Sie sich einmal hier um, sprechen Sie mit den Leuten, überlegen Sie sich, ob Sie für mich arbeiten wollen. Wenn nicht, hält Hemghat die XXVI für Sie weiter bereit. Wenn ja, sehen wir weiter!“

„Was wären denn meine Aufgabenbereiche?“ So ganz war Ghoma nicht begeistert, ihre doch recht große Freiheit aufzugeben.

„Fürs Erste eher eine beratende Funktion, in ein paar Wochen brauche ich dann einen Verhandler für einen sehr speziellen Kunden, der sich eine Yacht kaufen möchte. Machen Sie sich mit seinen Wünschen vertraut, sprechen Sie mit den Technikern und kommen Sie mit Ihren Vorstellungen zu mir.“

Ghoma entfaltete ihre lange Gestalt. „Technik ist nicht so ganz mein Gebiet, Tana.“

Sie bekam ein Lachen zur Antwort. „Techniker habe ich genug! Ich möchte eine Kalkulation, wieviel wir verlangen können. Danke! Und Ghoma!“ rief Tana dem Rotschopf nach, als dieser gehen wollte. „Morgen um 09.00 haben Sie einen Termin bei meinem Chefstrategen, der Ihnen auch den Termin für Ihren Test im Simulator gibt. Mit einem kleinen Schiff haben Sie ja Erfahrung, ich möchte aber wissen, wie Sie sich in einem Großen machen!“ Sie wischte jeden Einwand schon vorher beiseite. „Und in einem Raumjäger!“ Jetzt lachte auch Ghoma, das entsprach schon eher ihren Vorstellungen. Natürlich musste sie zuerst getestet werden, niemand verließ sich nur auf die Zeugnisse.

„Ich werde pünktlich sein!“ Tana nickte.

„Und überlegen Sie sich auch, wie Ihre Zukunft aussehen sollte, Ihre Wünsche und Träume! Denken Sie nach und lassen Sie es mich wissen.“ Auch Tana stand jetzt auf und hielt Ghoma die Hand hin. „Noch einmal Willkommen an Bord und machen Sie sich einen schönen Tag. Besorgen Sie sich etwas Hübsches zum Anziehen oder trinken Sie eine Kleinigkeit am Strip. Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich an Hera, und wenn Sie mit mir sprechen wollen, kann sie Ihnen sagen, wo ich mich aufhalte. Viel Spaß!“

Ghoma stand überlegend vor Mikis Taverne. „Hera?“

Das Hologramm erschien sofort. „Bitte, Miss Ghoma?“

„Gibt es hier eine Möglichkeit zu trainieren?“, fragte die junge Springerfrau.

„Natürlich, bitte nennen Sie mir ihre bevorzugte Sportart!“

„Kampfsport“, legte sich Ghoma fest.

„Auf der HEPHAISTOS existieren derzeit vierundzwanzig Vereine für terranische oder arkonidische Kampfsportarten.“

„Ach“, Ghoma zuckte die Schultern. „Irgendetwas, wo ich mit den Fäusten auf etwas einschlagen kann.“

„Ich bringe Sie zum Boxclub, Miss Ghoma!“

Hinter einem Tresen saß ein junger Mann und las in einem Magazin, als Ghoma den Boxclub betrat.

„Herzlich Willkommen!“ Er schaltete das Pad um. „Sind sie Mitglied, wollen Sie eines werden oder nur einmal schnuppern, Captain?“

„Ich denke, ich möchte mich einmal umsehen. Und vielleicht ein wenig auf etwas einschlagen. Ins Schwitzen kommen und das alles.“

Der Mann nickte. „In Ordnung, Sandsacktraining. Viele kommen nur, um sich an einem solchen Teil abzureagieren und auszupowern. Sie haben keine Tasche, also schätze ich, sie werden ein Leihdress brauchen. Einfach Shorts und T-Shirt fürchte ich. Damentops in Ihrer Größe muss ich leider passen, wir haben nicht so viele große Damen.“ Der junge Mann füllte rasch ein Formular auf seinem Pad. „Ihr Name ist Ghoma? Sandsack, Leihdress, Handschuhe. Bitte ihre Hand hierher, für die Handschuhgröße. Hierhin bitte Ihren Daumenabdruck. Danke! Hier geradeaus, zweite Tür, steht ‚Damen‘ darauf. Kabine 49. Dann ist alles angeschrieben. Viel Vergnügen!“

Als Ghoma in weißem Shirt und schwarzer Short die entsprechende Trainingshalle betrat, erregte sie kaum Aufmerksamkeit. Überall standen Männer und Frauen vor Sandsäcken verschiedener Größe und schlugen konzentriert darauf ein, manche mit ausgeklügelten Schlagkombinationen, die meisten aber ziemlich ungestüm. Sie suchte nach einem freien Platz, ein Mann in dunklem Shirt und langer Trainingshose kam ihr entgegen.

„Das erste Mal hier? Brauchen Sie Hilfe?“

„Das erste Mal“, bestätigte Ghoma. „Wenn es keine besonderen Regeln gibt, benötige ich niemanden, danke!“

Der Mann lachte. „Kein treten, kratzen und spucken. Sonst, prügeln Sie den Sack, wie Sie wollen!“ Er deutete mit dem Daumen weiter in den Raum. „Nummer 13 dürfte perfekt für Ihre Größe sein, Miss.“ Ghoma bedankte sich, stellte sich in Positur und drosch auf den Sandsack ein, dumpfes Klatschen ertönte in schneller Folge, wenn die Handschuhe den festen Stoff trafen.

Während sie drauf los schlug, dachte Ghoma nach. Was wollte sie eigentlich wirklich? So einfach, wie die Frage war, so schwierig war die Antwort. Patriarchin, oder besser gesagt, Matriarchin konnte sie nicht werden, dazu war die Gesellschaft der Springer viel zu patriarchalisch eingestellt. Wollte sie ihr Leben ewig in dem winzigen Kurierboot verbringen? Immerhin war sie die Kommandantin und ziemlich frei! Je größer die Schiffe, desto weiter nach unten würde sie die Rangleiter geschoben. In den wirklich großen Raumern käme sie wahrscheinlich nicht einmal mehr in die Nähe einer Brücke. Hatte Tana Starlight angedeutet, dass ein größeres Schiff durchaus in Reichweite liegen könnte? Sie würde im Auftrag eines Vorgesetzten unterwegs sein, trotzdem ein ähnliches Maß an Freiheit haben, das sie bis jetzt hatte. Ein großes Schiff bedeutete mehr Verantwortung, eine durchaus reizvolle Aussicht. Aber wollte sie wirklich eine feste Route befliegen? Langsam brach Ghoma der Schweiß aus den Poren, ihr Atem wurde schwerer.

„Wow!“ klang es neben ihr respektvoll auf, Ghoma unterbrach ihren Schlagwirbel und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich habe noch niemanden gesehen, der so lange mit derart viel Kraft und Tempo zugeschlagen hat. Meine Hochachtung, Miss!“ Neben ihr stand ein Mann, beinahe so groß wie sie und sehr schlank. „Entschuldigen Sie, ich wollte nicht stören!“

Ghoma schüttelte den Kopf. „Schon gut! Mein Name ist Ghoma.“

„Josh Cohn. Freut mich, sie kennen zu lernen.“ Sie stießen ihre Handschuhe aneinander, dann begann Josh sein Training. „Vielleicht sieht man sich mal wieder!“

„Du musst mit der Linken antäuschen und dann mit der Rechten ordentlich zuschlagen!“ Während das warme Wasser auf ihren Körper prasselte und die Muskeln wieder entspannte, hörte Ghoma aus den anderen Duschen die Unterhaltungen anderer Frauen, die ebenfalls Mitglied in diesem Club waren.

„George hat mich gestern gefragt, ob wir nicht einmal ausgehen wollen!“

„Und dann haben wir’s gleich auf dem Schreibtisch…“ Sie lächelte. Frauen unter sich landeten irgendwann bei diesem Thema, ebenso, wie die Männer oft mir Eroberungen prahlten. Erfrischt trocknete sie sich ab und ging zum Umkleideraum.

„Hast Du den Hintern gesehen? Neidisch könnte man werden!“ hörte sie noch eine flüsternde Stimme hinter sich.

*

„Bitte, treten Sie ein, Miss. Sie sind angekündigt!“ Heras Hologramm, das Ghoma in seiner Grundeinstellung beibehalten hatte, verblasste. Die unter Springern aufgewachsene Frau hatte nicht viel Sinn darin gesehen, ein anderes Erscheinungsbild zu wählen, ihr war schon die Vorstellung, einer Rechnerfunktion menschliches Aussehen zu geben, unnötig erschienen. Die reine Stimme und, falls eine Leitfunktion nötig wäre, ein Lichtpunkt, hätten Ghoma völlig gereicht. Aber egal, es war nicht ihre Station, und wenn sich Menschen mit einem Bild wohler fühlten, dann war das nicht ihre, sondern deren Sache. Sie straffte ihre Schultern und trat ein.

Ihr erster Blick wurde von einem riesigen Schreibtisch gefangen genommen, auf dem sich über und über Akten stapelten. Hinter einem Stapel tauchte eine kleine Frau auf und winkte Ghoma weiter.

„Kommen Sie nur herein! Tee, Kaffee, Saft? Wir werden länger miteinander zu tun haben, also bitte, keine falsche Bescheidenheit.“

„Wenn Sie haben, heiße bittere Schokolade! Mit einer Prise Chili!“

„Oh!“ Zwei Augenbrauen rutschten nach oben. „Da war jemand gestern im ‚Quetzal‘! Setzen Sie sich bitte, ich bin Francesca López. Spielen Sie Schach?“ Sie deutete auf einen Tisch, dessen Oberfläche in Intarsien 32 Felder in hellem und 32 in dunklem Holz aufwies, dazu aufwändig geschnitzte Figuren.

„Ich muss gestehen, nie davon gehört zu haben!“

„Dann werden Sie es lernen, Ghoma.“ Rasch erklärte Francesca die Zugmöglichkeiten und erläuterte verschiedene Stellungen.

Im Laufe der nächsten Spiele plauderten die Frauen angeregt, doch plötzlich stockte die Hand Ghomas, als sie eben ziehen wollte.

„Das ist eine Falle, in die Sie mich führen wollen!“

Francesca lachte. „Natürlich! Das ist der Sinn der Sache. Sie lernen schnell, sie haben ein Gespür für Taktik, nur sind Sie etwas zu ungeduldig, wenn es um langfristige Strategien geht. Das ist ausbaufähig, Sie werden es schon lernen.“

Ghoma überlegte länger. „Wenn ich den Turm..? Nein, auch nicht. Hier..? Na gut, ich habe es zu spät bemerkt. Noch einmal!“ Sie griff nach den Figuren, Francesca lachte.

„Heute nicht mehr, Senorita! Kommen Sie, es wird Zeit für den Simulator. Kugelraumer, 200 Meter. Erster Versuch!“

WHAMMM! Eine Salve Thermostrahler donnerte in die Schirme von Ghomas Schiff, sie hatte das Ruder selbst übernommen und leitete ein Ausweichmanöver ein.

„Feuer auf Ziel drei, volle Salve, bereithalten für eins im Vorbeiflug. Drei, Feuer!“ Auf dem Bildschirm erschien ein Feuerball, sie drehte den Rumpf,

„Schirmbelastung 80%, steigend“, rief ihr XO.

„Eins Feuer!“ Ghoma zwang den Raumer in eine möglichst enge Kurve. „Nochmal auf Ziel eins – uuund FEUER! Vorbereiten auf Salventakt auf zwei!“ Ghoma konzentrierte sich auf den letzten Gegner, raste auf ihn zu, Feuer schlug ihr entgegen, die Automatik simulierte eine starke Erschütterung. „SALVENTAKT! JETZT!“ Eine grelle Leuchterscheinung erhellte die Brücke.

„Schadensmeldung!“

„Schwere Schäden auf den Decks Alpha, Delta, Echo und Foxtrott. Geringe auf Bravo und Charly!“

„Verluste 20 % Manschaft, 2 % Passagiere und 70 % Frachtraum!“

„Picotronik wieder einsatzbereit in drei Stunden!“

„Bedingt Sprungfähig!“

„Lebenserhaltung läuft wieder, grün!“

„Energie grün!“ In rascher Folge kamen die Meldungen, Ghoma trommelte mit ihren Fingern auf der Lehne ihres Sessels.

„Leckkommandos los!“

„Simulation aus!“ Von der Brücke eines Transportschiffes der Starlight Gesellschaft verschwanden die Offiziere, Francesca López erschien. „Also, Ghoma, was haben Sie falsch gemacht?“ Der Raumkampf wurde, von außen betrachtet, als Hologramm simuliert.

„Hier habe ich eine Fehleinschätzung getroffen, und danach ist die Kaskade losgebrochen.“

„Sie haben die Situation ganz gut gemeistert, Ghoma. Aber Sie haben vergessen, dass Sie kein Boot mehr unter sich haben. Sie sind hier Kommandant über ein ausgewachsenes Schiff! Überlassen sie das Ruder ihrem entsprechenden Offizier, dafür haben Sie ihn. Übernehmen Sie es nur in Ausnahmefällen. Halten Sie Ihren Kopf frei für die Entscheidungen und verzetteln Sie sich nicht. Handeln Sie als Kapitän. Los, gleich nochmal. Simulation an!“ Das Hologramm einer Brückencrew erschien wieder, der Panoramaschirm erwachte zum Leben. Ghoma setzte sich und übernahm das Kommando.

„Ruder, Kurs auf Sprungpunkt!“

Die Jagd beginnt

Juli 2083

Galacto City

Leutnant Rick Kenda von der Metropolitan Police von Galacto City rannte durch die Straßen ihrer Stadt. Einige elektromagnetisch beschleunigte Flechettes aus einer Magnetpistole prasselten neben ihr in die Wand, ein sechster Sinn musste sie gewarnt haben, sodass sie sich rechtzeitig zu Seite geworfen hatte. Richarda riss ihre Dienstwaffe hoch, ein greller Blitz zerriss die Dämmerung, traf einen ihrer Angreifer in die Brust. Muskeln verkrampften sich unter dem Anprall der Schockenergie, bewegungsunfähig brach der Mann zusammen. Kenda sprang wieder auf die Beine und rannte schwer atmend weiter. Drei-, vier-, fünfmal bellte eine Projektilwaffe auf, die Kugeln pfiffen haarschaff an der Polizistin vorbei, eine traf ihre unteren Rippen, warf sie beinahe von den Beinen. Instinktiv schoss sie zurück, verfehlte ihr Ziel, feuerte erneut.

„Runter, Rick!“ Sam Bold lief hinter Kenda, die sich sofort fallen ließ, seine Flinte, die mit einem elektromagnetischen Feld gummiummantelte Stahlkugeln verschoss, sang ein kreischendes Lied, in einer Sekunde erfüllten dutzende Geschosse die Luft, warfen den Flüchtigen von den Beinen, löschten vorrübergehend sein Bewusstsein aus. Beide Cops zogen Handschellen aus dem Hosenbund und legten sie den Bewusstlosen an.

„Gute Arbeit, Danke!“ Kenda reichte ihrem Partner die Hand, ihr Gesicht war immer noch schmerzverzerrt, sie zerrte den Verschluss der kugelsicheren Weste auf. „Autsch! Na, diesmal hat mir die Tittenquetsche wohl das Leben gerettet. Ob wir irgendwann noch in unserer Dienstzeit die versprochenen Körperschirme ausfassen?“

Bold zog pfeifend die Luft ein. „Verdammt, ich werde zu alt für den Job! Lass die Sentimentalitäten, Mädchen, nächstes Mal rettest Du mir wieder den Arsch! Hier Bold, einen Wagen in die 1327te West, West Nr. 197!“

Mit einem Blick auf die Gefesselten meinte Kenda „Ihre Rechte werden sie wohl in der Krankenstation im Revier erfahren. Reicht auch noch.“

*

„Bold, Kenda! In mein Büro!“ Captain Giulia Zucci winkte beide Kriminalbeamte zu sich, schloss die Tür hinter ihnen. „Gute Arbeit. Leutnants!“ Die dunkelhaarige Italienerin ging um ihren Schreibtisch und setzte sich. „Sie sind jeder für sich und im Team hervorragend.“ Die Cops sahen sich an.

„Warum habe ich das Gefühl, dass gleich ein dickes Ende kommt?“, fragte Rick, und Sam antwortete.

„Weil Du ein verdammt guter Detective bist!“ Beide schlugen ihre rechten Fäuste aneinander und grinsten sich an.

„Also“, auch Giulia grinste. „Wenn Pat und Patricia nun zuhören könnten? Ich bitte Sie um Ihre Marken, Leutnants!“

„Sir?“ Beide glaubten, sich verhört zu haben. „Dieser Mann dort hat andere für Sie. Ich gratuliere, Captains, das TBI hat starkes Interesse an ihnen bekundet.“

Richarda und Sam waren ein ungleiches Paar. Sie war 29, groß, elegant, endlose Beine, ihre Haut hatte die Farbe dunkler Schokolade, ein Erbe ihres Vaters aus dem Volk der Zulu. Ihre Mutter war aus den Niederlanden, ihre Züge spiegelten sich im Gesicht des frischgebackenen Captains wieder, die krausen Haare trug Richarda ziemlich kurz. Er, 56, untersetzt, bullig und mittelgroß, sah beinahe so aus, wie der typische Cop aus den Anfängen der TV-Krimis, als Farbe noch Zukunftsmusik war. Das lange Blondhaar trug er offen, es sei denn natürlich, er befand sich an einem Tatort. Dort bändigte er seine Haarflut mit prächtigen Spangen aus geschnitztem Holz oder geprägtem Leder, sein einziges Zugeständnis an Schmuck oder ähnliches. Sam kaufte Anzüge von der Stange aus billigen Materialien und sah immer ein wenig wie ein ungemachtes Bett aus, wozu auch der ständige Dreitagesbart beitrug. Richarda ihrerseits besaß wenige, dafür erlesene Kleidungsstücke und war stets gepflegt und gestylt. Die GC-Times hatte sie während eines Einsatzes gefilmt, dem EnVogue-Redakteur fiel die Polizistin auf und er kürte sie kurzerhand zu einer der top ten der elegantesten Frauen von Galacto City. Seither hatte sich ihr Kleiderschrank gefüllt, mit Einverständnis des Reviers hatte es Shootings für das Modemagazin gegeben. Die Maskenbildner hatten hervorragende Arbeit geleistet, auf der Straße hätte man ihr Gesicht nicht wiedererkannt. Nicht, dass man bei einigen der Bildern sehr auf das Gesicht geachtet hätte. EL hatte Fotos und Story übernommen und international verbreitet, die Polizistin aus Galacto City zierte weltweit die Titelbilder. Die Werbung war auch für die Polizei nicht zu verachten, ihre Einstufung stieg von ‚notwendiges Übel‘ zu ‚ein Glück, dass wir sie haben‘, eine Einstellung, die ansonsten nur nach einigen aufgeklärten brutalen Serienmorden zu erreichen war. Selbst ein bekanntes Männermagazin mit dem Namen ‚Mens P‘ hatte bereits Interesse bekundet, Richarda schwankte noch. Auch wenn ihr Freunde versicherten, dass ‚Mens P‘ wegen der hervorragenden Artikel gekauft wurde, nicht der Fotos wegen.

Doch so verschieden die beiden Cops auch sein mochten, der Ausdruck in ihrem Gesicht war in diesem Fall derselbe.

„Das TBI, Sir?“ Es war nicht verwunderlich, dass die Cops erstaunt waren. Das ‚Terra Bureau of Investigaton‘ unterstand direkt dem Generalsekretär der UN. Allan D. Mercant, der mit viel Mühe eine wirklich internationale Polizeieinheit bei den Vereinten Nationen durchsetzen konnte, mischte sich nicht mehr in die operative Handlung ein. Viele der Nationalstaaten waren nicht unbedingt begeistert gewesen, dass Beamte ‚von Außerhalb‘ nicht nur gegen Jedermann ermitteln durften, sondern auch die Befugnis hatten, diese Personen, ungeachtet ihrer Herkunft, Religion, Hautfarbe, Geschlecht, sozialen Status und ganz besonders des politischen Amtes bei schweren Verstößen gegen das internationale Recht zu verhaften. Diese Gesetze wurden von der UN ratifiziert und ständig erweitert, der internationale Gerichtshof in Den Haag wurde mit mehr Macht und Mitteln ausgestattet, der erfahrene Geheimdienstchef Mercant bekam den Auftrag, diese Polizeieinheit aufzubauen und sich danach zurück zu ziehen. Erfreut über den Beschluss der VN gehorchte Mercant gerne und konzentrierte sich wieder auf den Geheimdienst der GCC. Jeder wusste, das dieser existierte, doch offiziell war noch nicht einmal der Name bekannt. Manche munkelten, der alte Fuchs hätte mehrere gegründet, die sich gegenseitig überwachten. Mittlerweile haftete dem TBI der Ruf an, absolut unbestechlich und unparteiisch zu sein, Verstöße gegen Kodex der Einheit wurden vom TBI nicht nur schwer bestraft, die wenigen Vorkommnisse wurden auch nicht unter den Teppich gekehrt, sondern der Öffentlichkeit bekannt gemacht.

*

August 2083, New York, UN – Gebäude

Der riesige glasverkleidete Quader in New York, der immer noch als Hauptsitz der Vereinten Nationen fungierte, löste bei Richarda und Sam durchaus Respekt aus. Im Laufe der Zeit hatten natürlich neue Materialien und technische Neuerungen die alte innere Baustruktur ersetzt, die äußere Fassade wurde jedoch beibehalten. Alle waren der Meinung, dass eben dieser schmucklose Stil das richtige Aushängeschild für die internationale Gemeinschaft wäre. Bereits im Vorfeld hatte man die Cops aus Galacto City informiert, wann sie welchen Eingang sie zu nehmen hatten und wie das weitere Procedere aussehen sollte.

Vor den Detektoren hatten sie ihre Jacken ausgezogen und in Boxen gelegt, Richardas Schuhe wurden genauestens inspiziert, besonders die hohen Bleistiftabsätze erregten Aufmerksamkeit, ehe sie durch den Metallscanner und den Durchleuchtungsapparat gingen.

„Ob wir wohl schneller durchkommen, wenn ich meine Bluse auch noch ausziehe?“ flachste Rick, und Sam hob obszön eine Augenbraue.

„Dann brauchen wir doch noch länger! Die Typen würden die Hosen ausziehen und ein Autogramm auf den – äh, na Du weißt schon – wollen!“ Hinter Sam gluckste eine Asiatin.

„Das Bild muss man sich einmal vorstellen! Ein Rudel Männer ohne Hosen steht stramm und erwartet ein Autogramm. Entschuldigung, ich finde es erheiternd.“

Auch Richarda lachte auf. „Ist das so? Hätten Sie gerne ein Autogramm auf…?“, wandte sie sich an einen Posten, der verzog unglücklich das Gesicht und schluckte.

„Ma’am, wir machen doch nur unsere Arbeit. Sicherheit wird bei den VN nun mal groß geschrieben, und wenn es Sie etwas beruhigt, hier sind wir in der Expressabfertigung. Seit vor einigen Jahren ein Sekretär mit einer Bombe den Chef umbringen wollte, wird jeder untersucht, der von außen kommt. Dafür gibt es jetzt das UN-Hotel, wo die Delegierten und ihre Begleiter nächtigen können, um nicht täglich hier durch zu müssen.“

Rick wandte sich an Sam. „Das ist irgendwie Müll. In New York zu sein, und die Stadt nicht betreten dürfen!“

„Oder die gleiche Prozedur wieder überstehen“, stimmte Sam zu.

Endlich bekamen sie ihre Besucherausweise mit dem Befehl, sie stets sichtbar um den Hals zu tragen und ihre weiteren Stationen.

„Diesen Gang, Lift 3, Ebene blau 5, folgen sie der grünen Leitlinie.“ Die Asiatin schloss sich ihnen an.

„Hi! Wir haben den gleichen Weg. 3, blau 5, grün. Ich bin Akamoku Akiri, von der Polizei Tokyo.“ Sie verbeugte sich leicht, Richarda und Sam erwiderten die Höflichkeit.

„Das ist Sam Bold, ich bin…“

„Richarda Kenda! Auch in Tokyo lesen wir die EL! Ich bin mehr als erfreut!“

Kenda seufzte. „Der Fluch der Bekanntheit. Ja, ich freue mich auch, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen, Major Akamoku. Sam, das ist die offiziell beste Schützin mit der Faustfeuerwaffe weltweit, sowohl Schnelligkeit wie Zielgenauigkeit. Und Miss Oktober des japanischen Polzeikalenders!“

„Zuviel der Ehre, dass Sie mich kennen!“ Wieder verbeugte sich Akamoku. „Aber sie sollten ihr Augenmerk auch auf die anderen Missen und Mister des Kalenders lenken, lauter gut gewachsene Mädchen und Burschen!“

Kenda zögerte. „Ich weiß, dass äußere Formen und zeremonielles Verhalten in Japan sehr wichtig sind, Major Akamoku. Allerdings bin ich keine Japanerin, also sehen Sie mir Fehler bitte nach!“

Die Japanerin lächelte. „Vielleicht könnten wir das Ganze überhaupt vergessen. Nennen Sie mich Akiri.“

„Richarda und Sam, bitte! Wir sind ja immerhin Kollegen.“

„Ja“, kicherte Akiri plötzlich wie ein junges Mädchen. „Wenn es nach dem Mens P ginge, sogar vor der Kamera. Hat man Sie noch nicht angeschrieben? Sie hätten gerne einen gemeinsamen Auftritt! Ich fürchte allerdings, unsere Uniform wäre auf Hut und Waffengurt beschränkt.“

„Ach, gegen Stiefel oder Stilettos hätten die sicher auch keine Einwände! Sie schwarzes Leder, ich weißes?“ Rick schmunzelte, und Sam schluckte trocken.

„Ob ich diese Bilder jetzt je wieder aus meinem Kopf bekomme? Denkt daran, Ladys, ich bin auch nur ein Mann! Und dafür noch nicht zu alt!“

„Wir machen eine Sonderpose, nur für Dich!“, neckte Richarda ihren Partner. „Einen Hochglanzabzug im XXL – Format, für Deinen Spind!“

Der Konferenzraum war riesig, der Bildschirm an der Wand einer der größten, den die meisten Anwesenden je zu Gesicht bekommen hatten. In Grüppchen standen Männer und Frauen herum und machten sich bekannt, plauderten und versuchten herauszufinden, ob das Gegenüber mehr über den Grund des Treffens wüsste. Sie alle hatten eines gemeinsam, sie waren Polizisten, Cops, Bullen, Flics, wie auch immer man sie nennen wollte. Im Hintergrund gurgelten zwei Espressomaschinen im Dauereinsatz, Thermoskannen mit heißem Wasser für Tee und Filterkaffee standen herum, Mineralwasserflaschen – wahlweise mit oder ohne Kohlensäure – und Gläser, eine international übliche Grundausstattung für diese Art von Meetings. Sogar an Donuts hatte jemand gedacht, und auch kleine Sandwiches gab es.

„Meine Damen und Herren!“ Ein etwa vierzigjähriger Mann stand in der Tür. „Nachdem nun alle geladenen Gäste eingetroffen sind, bitte ich Sie, Platz zu nehmen.“ Stühle wurden gerückt, Sakkos und Jacken über die Lehnen drapiert, Tassen und Gläser abgestellt. „Danke. Ich möchte mich kurz vorstellen, ich bin hier sozusagen ihr Gastgeber. Mein Name ist Cesar Alexander, ich bin in Hanover, Illinois, geboren und habe seit zwei Jahren das Privileg, das TBI zu leiten. Sie, meine Damen und Herren, habe ich eingeladen, weil sie wirklich hervorragende Leistungen im Dienst vollbracht haben und hohe Aufklärungsraten vorzuweisen haben. Ich sage es ehrlich, unsere Behörde ist zu klein für alle Aufgaben geworden, wir bitten Sie daher zumindest in diesem Fall um Ihre Mithilfe. Es geht die ganze Erde an. Professor John Schwarzer Elch wird Sie näher ins Bild setzen. Bitte Professor.“

„Guten Tag, meine Damen und Herren! Ich bin Mathematiker und habe vor kurzem einen brisanten Auftrag erhalten. Um es kurz zu machen, es gibt auf der Erde feindliche Agenten, die im Moment wahrscheinlich keinen oder nur sehr eingeschränkten Kontakt zu ihrem Auftraggeber haben dürften. Naturgemäß gibt es zwei Ansatzmöglichkeiten, einen solchen Agenten zu finden. Wir können die gesamte Erdbevölkerung in den Ballungszentren röntgen, um anatomische Anomalien zu finden. Da wir nicht davon ausgehen dürfen, dass unser Gegner dumm ist, dürfte es sich um einen wenig zielführenden Weg handeln. Wir wollen doch niemand vorwarnen. Also müssen wir sehen, dass wir am anderen Ende anfangen. Wir nehmen alle Cold Cases, die in der Nähe eines verschwundenen oder verstorbenen Außerirdischen geschehen sind, unter die Lupe und sehen, was dabei herauskommt. Wir müssen jede Spur verfolgen, und sei sie noch so unwahrscheinlich. Alle werden wir wahrscheinlich nicht finden, aber jeder Gefundene ist ein Gefahrenpotential weniger. Danke!“

*

August 2083, Reggys System, An Bord der HEPHAISTOS

„Ortung! 6 Unbekannte Objekte im Anflug! Energieniveau 10+, rasch steigend. Kein Transponder.“

„Schirme hoch, Defcon 5. Passagiere bitte in die Kabinen, Brücke isolieren.“ Ghomas Kommandos kamen routiniert. „Ruder?“

„Klar bei Ausweichkurs!“

„Kommunikation?“

„Nichts, Skipper!“

„Senden Sie. ‚Unbekannte Schiffe, bitte Kurs ändern‘. Ruder, Ausweichkurs Backbord 5, hoch!“

„Ortung! Wir bekommen Feuer!“

„An Ortung, Ziele nummerieren. Ari! Ziele erfassen, ausrichten auf Nummer 1. Feuer nach eigenem Ermessen. Machen Sie uns den Weg frei! Ruder, holen Sie aus unserem Schiff heraus, was immer möglich ist. Nav, Notsprung vorbereiten! Sobald Sie bereit sind!“

Beifälliges Klatschen erfüllte die Luft. „Sie neigen nicht mehr zum Selbstmord, Ghoma. Das gefällt mir!“ Die Brückenoffiziere lösten sich auf, Francesca López kam zum Vorschein. „Sie haben viel gelernt.“

Ghoma lachte zornig auf. „Sechs Objekte Niveau 10+ sind mit einem 200-Meterschiff einfach nicht zu schaffen. Ich habe es probiert, immer und immer wieder! Es geht nicht!“

Francesca lächelte leise. „Natürlich nicht. Diese Einsicht war der Sinn der Übung. Sie müssen lernen, die Grenzen von Mensch und Maschine zu erkennen, und Sie machen gute Fortschritte, Ghoma. Sie haben verdammt großes Potenzial, kommen Sie morgen wieder, dann probieren Sie mal die 400 Meter.“

Ghoma spazierte über den ‚Strip‘, wie die zwei breiten Wege, die immer wieder mit Brücken verbunden waren und sich um den Park zogen, genannt wurde. Hier fand man die meisten Lokale, die Einkaufsmöglichkeiten waren ein Stockwerk darunter liegend. Auch dieser untere Weg gehörte zum Strip, oft gab es die Möglichkeit, von oben die Schaufenster des unteren Geschosses zu sehen und natürlich die Ebene zu wechseln. An einer Stelle führte der Weg am Strand entlang, der beinahe immer gut besucht war, vom ‚Quetzal‘ hatte man einen guten Blick darauf. Das Quetzal wurde von Juan Menzin und seinem Lebenspartner Boris Schmidt geführt. Juan rühmte sich der Abstammung von einem alten Adelsgeschlecht der Maya, es könnte sogar stimmen. Boris war aus Berlin und hatte Juan auf einer Schokoladenmesse kennen- und lieben gelernt. Gemeinsam hatten sie eine Bewerbung für ein solches Lokal an die Starlight Enterprises geschickt, nur wenig später waren sie mit der CYRANO unterwegs.

Das Quetzal verkaufte Schokolade, in jeder nur erdenklichen Form. Von süßer Milchschokolade bis zum puren Kakaopulver, heiße Trinkschokolade mit Zimt, Chili, Vanille und hunderten anderen Gewürzen. Ghoma liebte ihre Schokolade bitter mit Wasser aufgekocht und einer kräftigen Prise Chili. Nach dem Boxtraining an ihrem ersten Tag war sie, während sie ziellos herumging und sich die Station ansah, hier gelandet. Der Duft wirkte anregend, also hatte sie eine Schale versucht. Seitdem war sie diesem Getränk verfallen, mit Haut und Haar.

Immer noch erstaunte es sie, dass Menschen das freie Wasser derart liebten und sogar Wassertiefen, in denen sie nicht mehr stehen konnten, aufsuchten, um sich mit unnatürlichen Bewegungen über der Oberfläche zu halten. Das Ganze nannten sie dann auch noch Spaß. Dazu produzierten sich die Frauen in ihren engen Badesachen. Ghoma fragte sich, warum sie nicht gleich darauf verzichteten, bis sie erfuhr, dass es tatsächlich einen solchen Bereich gab. Neugierig geworden, hatte sie diesen Abschnitt sogar aufgesucht und schnell festgestellt, dass hier die Männer an den blankliegenden Körperteilen der Frauen weniger Interesse zeigten als an den kaum, aber doch verhüllten. Eigentlich hatte sie sich am Nacktbadestrand richtig wohl gefühlt, es ging alles sehr natürlich zu. Dann hatte sie wieder das Wasser gesehen, nun, vielleicht konnte man sich auch daran gewöhnen.

Auch den Boxclub hatte Ghoma weiter besucht, es war ein angenehmes Gefühl, nach intensiver geistiger Arbeit einfach auf einen toten Gegenstand einzuschlagen. Man kam ins Schwitzen, ohne viel nachdenken zu müssen. Ein paar Mal hatte sie sich mit Josh verabredet, einmal waren sie gemeinsam an einem Ort mit Namen ‚Sauna‘ gewesen. Ghoma liebte mittlerweile dieses Erlebnis der heißen Kammer und der kalten Dusche danach. Das Leben auf der HEPHAISTOS hatte durchaus seine Vorteile, soviel hatte sie schon festgestellt. Dekadent, aber durchaus angenehm.

Mit den Technikern hatte sie sich zusammengesetzt und eine Kalkulation erstellt, die kleine, aber schmucke Yacht für einen reichen Händler könnte ein Vermögen einbringen. Ghoma war damit zu Tana Starlight gegangen, die sie kurz durchgeschaut hatte.

„Gute Arbeit. Schicken Sie es dem Kunden und bringen Sie das Geschäft in trockene Tücher.“ Auch das war gewöhnungsbedürftig. Die Chefin saß eigentlich nie in ihrem Büro, von dem behauptet wurde, dass es irgendwo existierte. Niemand konnte sich mehr erinnern, wo es lag, aber ‚da war doch etwas…‘. Diesmal war es bei Natalja Romanenko gewesen, die ein russisches Lokal führte, und Tana hatte Ghoma zu Kaviar und Krimsekt überredet. Die Springerin war schockiert gewesen, als erfuhr, was sich hinter dem Namen ‚Kaviar‘ eigentlich verbarg. Geschmeckt hatte es aber dann doch – mit Toast, Butter und Zitronensaft. Die an relativ geschmacklosen synthetischen Brei für die Ernährung gewöhnte Frau wunderte sich immer wieder, wieviel Wert die Menschen auf gutes Essen legten. Aber – sie genoss es durchaus. Allmählich befürchtete sie, wegen dieser Annehmlichkeiten nie wieder weg zu wollen.

„Ein verdammter goldener Käfig ist das!“ fluchte Ghoma. „Und ich sitze freiwillig darin!“

*

Solares System

Die elegante Raumfähre für den Verkehr Erde – Mond mit dem Trinity Knot an der Flanke näherte sich ihrem Ziel am ‚Nordpol‘ des Mondes. Natürlich hatte man bei diesem Nahverkehrsmittel auf einen ÜL-Antrieb ebenso verzichtet wie auf starke Triebwerke.

„Entspann Dich, Perry“, empfahl der untersetzte Mann mit dem roten Bürstenhaar. „Der junge Mann fliegt das Ding nicht zum ersten Mal, er wird uns schon gesund in den Hangar bringen!“ Er wandte sich an den Piloten. „Nehmen Sie es bitte nicht persönlich, der Chef wird immer nervös, wenn er nicht selber fliegen darf.“

Perry Rhodan knurrte. „Wozu bin ich Chef, wenn ich nicht ans Ruder kann?“

„Der Preis des hohen Ranges, alter Freund!“ Bully gab sich philosophisch. „Wir sind gleich da. Ich sehe schon die Irisblende.“ Tatsächlich schien sich unter der Fähre der Boden zu öffnen, ein Lichtstrahl erfasste sie, der Pilot nahm Hände von der Steuerung und legte sie so ab, dass er sofort wieder zugreifen konnte.

„Bodenstation hat übernommen, Sir“, meldete er, ohne die Augen von den Instrumenten zu nehmen. Perry Rhodan knurrte nur wortlos. Die EM 31 sank durch die Öffnung, verharrte kurz, während sich die Blende über ihr schloss. Rhodan und Bull wussten, dass über ihnen nun nichts mehr auf die Öffnung hinweisen würde. Nach dem Druckausgleich öffnete sich die untere Blende in eine riesige Halle.

Ein Traktorstrahl setzte die Fähre so sanft auf Platz 2 ab, dass die Federbeine kaum nachwippten. Das Schott öffnete sich nach unten und bildete eine Rampe, über welche die Passagiere die Raumfähre verlassen konnten. Major Korn vergatterte die Truppe mit einem lauten „Haaaabt acht!“, General Lieutenant Vaclav Prochaska trat einen Schritt vor die Ehrengarde und salutierte.

„Sir! Willkommen auf der Katherine Johnson-Basis!“, trompetete er lautstark. Rhodan grüßte zurück und reichte dem Kommandanten der ‚General Pounder Spaceforce Base‘ auf dem irdischen Mond die Hand.

„Danke, General. Lassen Sie abtreten, und begleiten Sie mich bitte.“ Steif wandte sich Prochaska um.

„Major, in die Unterkunft abtreten lassen, normaler Dienstbetrieb. Wenn Sie mir folgen wollen, Sir?“

Prochaska führte seine Gäste durch einen langen Gang, der kerzengerade unter der Mondoberfläche verlief und mit einem Gleitband ausgestattet war.

„Wir haben hier die modernsten Sensoren verbaut, Sir. Selbst wenn jemand mit Ihrer Maske käme, könnten wir den Schwindel feststellen. Auch Abtaster für Individualschwingungen werden in diesem Gang nicht als unfehlbar betrachtet. Da wir nicht wissen, welche Fähigkeiten ein Gegner zur Verfügung hat, haben wir vorgesorgt. Hier stehen bleiben, Sir. Bitte geben Sie in die Tastatur ihren vollen Namen und die Dienstnummer ein. Danke, Sir, bitte fünf Schritte nach vor. Mister Bull, bitte! Danke, fünf Schritte weiter, bitte.“ Auch der Generalleutnant gab eine Namen-Ziffernkombination ein, ehe sie weitergingen. „Eine falsche Eingabe, und hier bricht die Hölle los.“ Vor den drei Personen öffnete sich eine weitere Tür. „Wir sind angekommen, Sir!“ Auf einem großen Schild konnte man ‚Dreamland, Area 51!‘ lesen.

Stirnrunzelnd blickte Rhodan auf das Schild.

„Ein Scherz unseres Chefwissenschaftlers, Sir!“ Die Innentür öffnete sich, eine junge Frau, vielleicht 29 Jahre alt, mit dicker Hornbrille erwartete sie bereits.

„Kono Killikioauewa, Chef“, begrüßte sie Rhodan. „Ich schmeiße hier den Laden! Seien Sie willkommen. Sie natürlich auch, Mister Bull.“ Sie reichte beiden die Hand.

„Professor Killikioauewa?“, vergewisserte sich Rhodan? Er hatte nur die Leistungen der Hawaiianerin gekannt, sie aber nie getroffen, und hatte eine ernsthafte, seriös wirkende Frau erwartet. Aber selbst die Brille zerstörte dieses Bild gründlich, obwohl es sich nur um eine einfache Fassung handelte. Diese aber betonte den aparten exotischen Gesichtsschnitt nur um so mehr. Top und Shorts in zartem Grün zeigten nicht nur gefällige Formen, sondern auch viel Haut, die mit jeder Menge Tattoos verziert war, und nicht alle zeigten klassische Stammessymbole.

„Zerbrechen Sie sich nicht die Zunge, Chef. Nennen Sie mich Yoyo, bitte. Machen alle hier! Kommen Sie, in der Mensa erwartet Sie ein kleiner Imbiss.“

Die Katherine Johnson – Basis war die Mondstation der GCC. 2039 waren die ersten gigantischen Klarstahlkuppeln, im Bedarfsfall von Energieschirmen weiter geschützt, fertig gegossen gewesen, dann hatte man aus dem Asteroidengürtel Eismeteore gefangen und unter der zentralen Kuppel einen großen See angelegt. Die Elemente für die Atmosphäre hatte man ebenfalls aus Meteoren extrahiert und begonnen, ein möglichst autarkes, in sich geschlossenes System zu bilden. Es war so weit ganz gut gelungen, da man auf konventionelle Agrokulturen in Erde verzichtet hatte, allerdings mussten die Pflanzen mit der Hand bestäubt werden. Die Biologen hatten es noch nicht gewagt, ein komplexes System zu etablieren. Führt man eine Spezies ein, muss man auch für entsprechende Fressfeinde sorgen – und dann müssen die wieder in ihren Schranken gehalten werden. Man tüftelte noch, da erfand ein junger Techniker den ‚Bee-Bot‘, einen Miniaturroboter, der die Aufgaben der Bienen übernehmen konnte, gesteuert wurden die Kleinstdrohnen vom Stationsgehirn. Die erste außerirdische Siedlung entwickelte sich immer besser, unter einer dieser Kuppeln wurde das ‚Clara Barton Heim für unheilbare kardiologische Erkrankungen’ untergebracht, eine Wohnstätte für Menschen mit Herzerkrankungen, welche unter der verminderten Gravitation des Mondes immer noch ein aktives und erfülltes Leben verbringen konnten. Ebenso wurde in dieser Kuppel, die nicht mit künstlicher Gravitation versorgt wurde, eine Seniorenresidenz gegründet, Sonderkonditionen wurden langjährigen GCC – Mitarbeitern als Zusatzleistung zum Gehalt angeboten.

Eine zweite große Einrichtung war Port Gagarin. Dieser zu Ehren des ersten Menschen im Weltall benannte Teil der KJB, wie sie auch abgekürzt genannt wurde, war der interstellare Raumhafen Terras. Und natürlich auch der größte ‚Duty free Shop’ des Sonnensystems. Nachdem festgestellt wurde, dass Starts und Landungen der großen Raumschiffe durch die immense Hitze- und Druckentwicklung unberechenbare Auswirkungen auf die Umwelt hatten, waren sie schleunigst rigoros eingeschränkt worden. Statt dessen hatte die GCC einen wahrhaft großzügigen Raumhafen gebaut, der allen Gesellschaften offen stand. Für den Verkehr zwischen Terra und Luna wurden Fähren benutzt, die sich in erster Linie auf ihre Antigravfelder stützten. Großzügige Hotelbauten standen Besuchern und Transitreisenden zur Verfügung, KJB erlebte einen Touristenboom, es mussten Flugschneisen für den Hin- und Rückflug eingerichtet werden. Die GCC verkaufte solche Fähren an verschiedene Betreiber oder vermietete sie direkt an den Reiseveranstalter. Ein Ballett bei einem Sechstel der Erdschwerkraft zu sehen, war schon etwas ganz Besonderes. Dazu die Erde am schwarzen Himmel, Kurztrips wurden für viele erschwinglich und waren bald nicht mehr nur einer kleinen Elite vorbehalten. Ein Nebeneffekt der Einführung dieser Fähren war, dass auch der Flugverkehr auf der Erde mehr und mehr mit diesen kostengünstigsten Fluggeräten durchgeführt wurde und sowohl Verbrennungstriebwerke als auch Propeller endgültig verschwanden.

Als Drittes gab es noch die ‚General Pounder Spaceforce Base‘, den militärischen Raumhafen der GCC und Basis der Heimatflotte, komplett mit Kasernen und Übungsplätzen. Angeschlossen war seit 2058 die ‚John Glenn Space Academy‘, wo die Kadetten der terranischen Raumflotte auf ihren Dienst vorbereitet wurden, sowohl männliche als auch weibliche. Soldatische Tugenden waren ebenso auf dem Lehrplan wie Naturwissenschaften und viele humanistische Fächer. Ab 2062 wurde die Teilnahme an den Kursen letzterer verpflichtend und das Angebot erweitert. Ab 2066 konnte niemand mehr einen rein naturwissenschaftlichen Abschluss machen, der Ruf der Universität stieg in den Sechzigern enorm. Viele reiche Familien hatten den Ehrgeiz, ihre Töchter und Söhne auf dem Mond ausbilden zu lassen, die Studiengebühren kamen den unzähligen Stipendiaten zu Gute, denn auf der Academy selbst zählte ausschließlich die Leistung. Disziplin wurde natürlich groß geschrieben, doch der Drill hielt sich in Grenzen, die jungen Leute durften durchaus auch das sein, was sie nun mal waren. Jugendliche, die auch schon einmal eine ausgelassene Party feiern wollten.

Man lebte gut, hier auf Luna. Mit Ausnahme einiger Kuppeln, wie etwa jener mit dem Clara Barton – Heim, herrschte normale Erdschwerkraft, verschiedene Bühnen und Sportplätze siedelten sich in einer zweiten Kuppel ohne künstlicher Schwerkraft an. Der allgemeine Tenor war: ‚wir leben hier um vieles besser als in so mancher Gegend der Erde, wo Hunger und persönliche Unfreiheit immer noch beherrschend sind‘. Leider gab und gibt es bei jeder technologischen Revolution auch Verlierer, doch die GCC bemühte sich zumindest, große Härten zu mildern, indem sie Umschulungen anbot und oft einen neuen Job parat hatte. Auch, wenn dieser einen Umzug bedingte, manchmal eben auch auf den Mond. Geschäfte, Lokale und Sportstudios wurden angesiedelt, das Geschäft florierte für die GCC ebenso wie für die kleinen Gewerbetreibenden.

Den wenigsten Mondbewohnern war allerdings der Gang bekannt, der von der Pounder Spaceforce Base zu einem gut getarnten Landeplatz für Raumfähren führte, von da weiter zu einer streng geheimen Forschungseinrichtung. Sie war zu hundert Prozent autark, etwa 4000 Personen kümmerten sich um die Technik und sämtliche Bedürfnisse der etwa 170 Wissenschaftler aller Bereiche. Wenn einer der ‚Eierköpfe‘ plötzlich um Mitternacht Heißhunger auf ein Eis oder Hummer oder sonst einen exotischen Wunsch hatte, stets war jemand aus der Reihe der dienstbaren Geistern parat, diesen Wunsch zu erfüllen.

Zu Beginn der Einrichtung so um 2041/42 waren die Ergebnisse enorm. Beinahe jede Woche kam eine Erfolgsmeldung an die Zentrale in Galacto City.

„10 % mehr Leistung hier, 20 % dort!“

„Wir haben einen neuen, besseren Fährenantrieb. Null Wärmeemission. Perfekt für Atmosphärenverkehr!“

„Wir können mit weniger Aufwand mehr Pflanzen züchten!“ Dann wurde es stiller um das Labor. Die STARDUST wurde einmal modernisiert, Flottenneubauten auf Kiel gelegt, aber die Kette der Erfolge war gerissen, es kamen eher Meldungen wie: „Wir brauchen wirklich nicht mehr lange!“ oder: „Wir stehen kurz vor einem Durchbruch!“ Im Februar 2083 hatte Rhodan bei seinem Besuch im Sonnensystem reagiert. Er hatte vorgeschlagen, dem Leiter der Forschungseinrichtung entweder einen anderen Posten oder einen vorgezogenen Ruhestand anzubieten und einen jungen Menschen mit Phantasie und Biss einzusetzen. Der Direktor Professor Björn Janson hatte den Vorruhestand akzeptiert, John Marschall hatte einige Kandidaten überprüft und ‚Yoyo‘ Kono Killikioauewa empfohlen. Rhodan hatte nach einem Blick in die Akten zugestimmt und die Professorin für allgemeine Hyperphysik hatte den Job mit Feuereifer übernommen und einige Veränderungen durchgesetzt.

„Das Schild vor der Tür?“, fragte Rhodan auf dem Weg.

„Ach das“, lachte Yoyo. „Ein kleiner Scherz. Immerhin wurde früher einmal behauptet, in Area 51 wären Forschungen an Alientechnologie im Gange gewesen. Wir arbeiten hier mit arkonidischer, also!“

„Dort gab es niemals außerirdische Technologie“, betonte Reginald Bull.

„Natürlich nicht!“ Ein hagerer, schmalbrüstiger Mann hatte sich aus einer Tür der Gruppe genähert und Bullys Worte gehört. „Damals wollte die US-Regierung einfach, dass alle genau das glaubten, während die wirkliche Forschung irgendwo anders stattfand. Wahrscheinlich in der Antarktis!“

Bully blieb stehen, als wäre er gegen eine Wand geprallt. „Glauben Sie das wirklich?“

„Was?“, wollte der Mann wissen. „Dass es Außerirdische gibt, dass die Area 51 ein Schwindel war oder die Station in der Antarktis?“

„Hi, Spence! Mister Rhodan, Mister Bull, das ist David Spencer!“

„Hi, Leute. Mittagessen?“

„Klar, komm mit!“

„Ist das…?“ fragte Rhodan und Yoyo Kono nickte eifrig.

„Aber ja! Das ist der Tripledoc. Selbst unter uns ist es selten, dass sich jemand seinen dritten Titel unter dreißig holt.“

„Und Sie, Professor Yoyo?“, wollte Bully wissen.

„Hyper- und Metaphysik reichen mir, Mister Bull.“

„Metaphysik ist eine Wissenschaft?“, erstaunte sich Bull. „Ist das nicht eher so seltsames phantasieren über Gott und die Welt?“

„Das kann man so oder anders sehen, Mister Bull“, erklärte Yoyo lächelnd. „Wir wissen heute, dass der Wille eines Wesens mehr oder weniger Einfluss auf die Welt um sich hat. Nicht die Tat, das Wollen hat schon eine Wirkung. Wenn wir jetzt fragen, wann entsteht dieses Wollen und wann zeigt sich die Wirkung, dann können wir das in Bezug zur Quantenmechanik stellen und so vielleicht eines Tages telepathische Funkgeräte oder telekinetische Kraftverstärker bauen. Wie wäre es mit einem Transmitter, den man im Gürtel mit sich trägt? Einen Antrieb, der das Raumschiff nur mir Willenskraft antreibt? Klingt vielleicht heute noch wie Science-Fiction und ist es auch, aber vor hundert Jahren war der Besuch der Wega genau so utopisch.“

Rhodan lachte laut und offen. „Professor, das ist allerdings ein wahres Wort! Haben Sie in der Zwischenzeit etwas anzubieten, das schon funktioniert?“

„Im Moment sind wir hinter einigen künstlichen Geschmackstoffen her, damit die Flottenrationen nicht so katastrophal schmecken.“

Rhodan runzelte die Stirn. „Gibt es die nicht schon ewig? Im Joghurt ist doch schon seit Jahrzehnten keine Erdbeere mehr gewesen!“

„Nun ja”, führte Yoyo aus. „Alle diese Geschmackstoffe haben einige unangenehme, in einigen Fällen sogar gesundheitsschädliche Nebenwirkungen, und sie schmecken meistens nicht wirklich echt. Oft merkt man bei einem ersten Biss das Synthetische. Wir sind aber auf einem guten Weg, auch wenn es um Vitamine geht.“

„Wirklich synthetische Nahrung, die gesund ist und gut schmeckt?“ Perry Rhodan war beeindruckt, Yoyo Kono nickte eifrig und lächelte.

„Ja, Chef. Und nein! Wir haben eine Tube mit der Farbe und dem Geschmack von Spinat hergestellt. Solange die Creme warm war, hatte sie durchaus ihre Fans. Aber kalt – also ehrlich, ich kenne niemanden, der kalten Spinat mag. Aber der Geschmack war ziemlich echt, und von der Ernährung her war alles vorhanden, das ein Mensch so braucht. Nur an den Bratkartoffeln müssen wir noch länger arbeiten. Aber hier sind wir, Chef. Unsere Mensa. Ach, der Küchenchef hat einen Klassiker bereit gestellt. Rindsgulasch mit Semmelknödel. Bitte, meine Herren, greifen Sie zu!“

Das Essen verlief eher laut, eine Horde ausgelassener, junger Menschen. Mitten unter ihnen, aber offensichtlich mit großem Spaß, gab es zwei nicht mehr ganz so junge Frauen von etwa 40, 45 Jahren und einen Mann, der ebenfalls in diesem Alter war.

„Sind das die einzigen, die von der alten Garde übrig sind?“ erkundigte sich Rhodan.

„Oh, nein. Es ist auch noch Enikö da. Dort drüben!“ wies Yoyo in die Richtung, wo eine schlanke Frau mit hüftlangen weißen Haaren mit einigen der jungen Leute lachte. „Enikö Hayoschwari ist zwar schon über siebzig, aber sie hat Power und Ideen für zwei. Sie ist eine tolle Mikrobiologin und Chemikerin. Und sie hat immer ein offenes Ohr, wenn wir Jungen ein – nennen wir es ein privates Problem haben. Wie schmeckt im Übrigen das Pörkölt?“

Rhodan betrachtete den Bissen, den er eben verspeisen wollte. „Ist das etwa aus Ihrer Produktion? Schmeckt ganz normal!“

„Oh ja, Mister Rhodan. Das soll es ja auch. Einen Müsliriegel zum Nachtisch? Aber Vorsicht, Chef. Der Riegel beinhaltet beinahe alles, was ein durchschnittlicher Mensch in 24 Stunden braucht.“

„Ziemlich klein.“ Rhodan betrachtete den Pseudomüsliriegel, der etwa Daumengroß war. Sein Daumen. „Sie haben gesagt, beinahe alles. Was fehlt noch? Er schmeckt jedenfalls gut.“

„Wasser“ Yoyo hob ihr Glas. „H2O, in welcher Sprache sie es benennen möchten. Und es gibt keinen Weg, dieses absolut notwendige Element platz- und gewichtssparend zu transportieren.“

„Es war köstlich, Professor Yoyo. Aber mich würde doch interessieren, wie Sie in diesem Institut weiterkommen. In letzter Zeit waren Ausflüchte häufiger als Erfolgsmeldungen. Ich möchte nicht drängen, aber ich habe ein Geschäft zu leiten. Und Adams steigt mir auf das Dach wegen der Kosten hier!“ Yoyo Kono, Rhodan und Bull hatten es sich im Büro der jungen Hawaiianerin bei einem Kaffee gemütlich gemacht.

„Ich will nichts beschönigen, Mister Rhodan.“ Sie spielte mit ihrer Tasse. „Im Moment haben wir mehr Ideen als Ergebnisse und mehr Enthusiasmus als Erfolg. Die Person, der diese Picotronik gelungen ist, hat einen Quantensprung gemacht, den wir die nächste Zeit nicht einholen werden. Für einige Jahrzehnte wird es bei Rechnern wohl ‚Starlight inside‘ heißen, die Rechnerkerne werden wir kaufen müssen. Die RAM – Bausteine auch. Den Rest der Modernisierungen an der STARDUST könnten wir ganz gut hinbekommen, nur bei den Kleinstreaktoren möchte ich mich noch nicht festlegen. Wir können die jetzigen verkleinern und verbessern, ob auf den Standard der jetzigen STARDUST, das wage ich nicht zu versprechen. Aber eines haben wir geschafft.“ Sie holte aus ihrem Safe zwei Geräte in der Größe einer Zigarettenschachtel. „Dies ist der Körperschirm der Starlight Enterprises, er hielt acht Roboterwaffen für drei Stunden Dauerfeuer stand, dann haben wir abgebrochen. Unserer ist nicht ganz so stark, dafür ist uns ein Aufprallabsorber gelungen. Ballistische Waffen stoßen den Träger nicht mehr zu Boden. Für den Polizeieinsatz wäre die Stärke ausreichend, wir können ihn billig genug für normale Dienststellen liefern und trotzdem noch Gewinne einstreichen.

„So schnell können wir also nicht aufholen“ Rhodan seufzte. „Ich hatte schon gehofft, einige Stationen wie die HEPHAISTOS, nur bewaffnet, als Schutz in den Erdorbit zu bekommen.“

Yoyo runzelte die Stirn und zückte ihr Pad. „Das sollte schon machbar sein, Chef. Solange Sie keine unmessbaren Hypersprünge für diese Monster erwarten. Wir könnten den ÜL-Antrieb weglassen und statt dessen schwere Geschütze einbauen. Hm, dieses Deck mit dem Park der Erde zugewandt, wir ziehen hier noch das Hangardeck etwas weiter in die Höhe, pro Einheit könnten dann noch einige schwere Kreuzer stationiert werden. Wir könnten das gleiche machen, wie Starlights im Reggy-System und den Merkur für die Rohstoffe ausbeuten, die Energie der Solaranlagen für die Produktion der Teile benützen. Wenn sie fertig sind – nun, beweglich sind die Stationen ja. Geostationäre Umlaufbahnen? Na klar. Sie bekommen Ihre Forts, Chef. Und Wohnraum in der besten Lage dazu, wenn Sie wollen! Wir haben nur nicht daran gedacht, uns erschienen Sprungschiffe immer als primär wichtiger! Ich schätze vorsichtig, anderthalb, zwei Jahre, die erste Station.“

*

Reggys System, An Bord der HEPHAISTOS

„Chris?“

„Hm?“

„Nein, Chris, hör nicht auf mit dem, was Du tust. Mach weiter! Aber sag mal, könntest Du Dir vorstellen, mit mir ein Kind zu haben? Oh! Ich werte das als ganz offensichtliches JA!“

„Oh Mann! Tana, bist Du etwa schon…?“

Victoria schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich wollte Dich nicht überfahren und zuerst mit Dir reden.“

„Das hast Du ja jetzt! Wollen wir es sofort versuchen?“

„Chris, da muss ich Dir gleich noch etwas sagen!“

„Oha! Was kommt jetzt für eine Ohrfeige?“

Tana schwang ihr Bein über Chris und setzte sich rittlings auf seinen Bauch. „Im Ernst, mein Hübscher! Ich bin nicht als Tana Starlight geboren!“

Christian streichelte ihre Knie. „Ist das alles?“, lachte er. „Hallo? Starlight? Ein Raumschiff namens Orion mit dieser Form? Ich habe mich schon gewundert, dass Dein Sohn nicht Cliff Allister heißt! Ein mehr als durchsichtiges Alias.“ Seine geschickten Hände wanderten höher.

„Und es stört dich nicht? Mach doch weiter mit dem, was du eben tust!“

„Du bist Du, egal wie Du heißt. Du wirst Deine Gründe haben! Es ist mir egal, wer Du wirklich bist! Und wenn Du die verschollene Rhodantochter wärst! Komm, lass uns kleine Starlights machen!“

Mit strahlenden Augen glitt sie tiefer.

„JA, TANA!“

„Chris?“ Sie hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt und zauste sein Brusthaar, er lächelte versonnen und fragte:

„Was meinst Du, was es wird. Sohn oder Tochter?“

Ihre Hand klatschte auf seinen Bauch. „Hör mir zu, ich meine es ernst. Ich bin die verlorene Rhodantochter.“

Chris nickte. „Das erklärt einiges. Ich nehme an, es soll nicht an die große Glocke? Nein? Nicht einmal eine Kleine? Dachte ich mir. Wer weiß es noch außer mir?“

„Nicht viele, Chris. Mam und Dad, Bully, Atlan und Allan. Also, Mercant! Reginald und Leslie. Mit Dir acht Personen.“

Er stützte sich auf einen Ellenbogen und küsste sie. „Tana, ich danke Dir für Dein Vertrauen, aber für mich wirst Du stets Tana Starlight bleiben. Und jetzt, denkst Du, es hat geklappt mit dem Nachwuchs oder müssen wir es noch einmal versuchen?“

„Ich bin Sicherheitsfan, Chris. Gehen wir kein Risiko ein, komm her!“

*

Karin Adler war in Deutschland geboren und hatte begonnen, Jura zu studieren. Nebenbei hatte sie seit ihrer Kindheit Judo und Karate gelernt, es schließlich sogar in das Olympiateam geschafft. Eine Silbermedaille in Karate war die Belohnung ihres jahrelangen Trainings. Die Polizei von Schweinfurt war auf die junge Frau aufmerksam geworden, sie hatte zu Jura auch Psychologie und Kriminalistik belegt und wurde in den aktiven Dienst übernommen. Ihr Lebensgefährte hatte eine neue Theorie über Hyperstrings aufgestellt, Starlight Enterprises war darauf aufmerksam geworden und hatte ihm einen Job angeboten. Karin ließ sich beurlauben und begleitete Jens zur HEPHAISTOS, wo der Polizeichef ihre Sicherheitsakte routinemäßig las. Ein Gespräch unter vier Augen und einige psychologische Tests später trug Karin stolz eine Marke. Es war wie ein Traum, sie konnte mit Jens zusammen leben und trotzdem ihren Beruf ausüben. Karin war schließlich Detective Chief Inspector der Station Police geworden und saß in einem eigenen Büro am Strip. Detective Sergeant John Swert unterstütze sie, ebenso einige uniformierte Kollegen. Karin Adler war ziemlich glücklich, auch wenn Jens mittlerweile Geschichte war…

Natürlich kann man trotz strenger Auswahlkriterien und jeder Menge Überprüfungen bei einigen tausend Menschen Kriminalität nie ausschließen, auch nicht auf einer Station wie der HEPHAISTOS. Immer wieder geschahen Taten im Affekt, kleinere Diebstähle, einmal hatte einer der Chemiker sogar versucht, synthetische Drogen den Kindern der Stationsbesatzung zu verkaufen. Es hatte nicht lange funktioniert. Ein 17 jähriger hatte seine Mutter informiert, die zuerst die Nachbarn und etwas später die Polizei. Da war der Chemiker bereits in einer leergepumpten Schleusenkammer mit etwa 10 Minuten Sauerstoffvorrat gewesen und hatte es vorgezogen, den Anzug gleich zu öffnen. Die Polizei musste Selbstmord in das Protokoll schreiben, es gab keine Beweise dafür, dass der Man in die Schleuse gezwungen wurde.

Selbstverständlich ging es auf dem Raumhafen nicht so ruhig zu. Immer wieder versuchten irdische Rauschgiftkartelle oder andere kriminelle Organisationen, irgendwie auf der HEPHAISTOS Fuß zu fassen. Bisher ohne Erfolg. Einmal hatte jemand versucht, drei Prostituierte auf die Station zu bringen. Die Mädchen durften bleiben, der hoffnungsvolle Jungunternehmer musste ohne seinen ‚Besitz‘ die Station wieder verlassen. Auch im 21 Jahrhundert waren die Säulen des organisierten Verbrechens immer noch Prostitution, Glücksspiel und Drogen. Und natürlich das Verleihen von Geld zu Wucherzinsen. Jeder kleine Dealer hatte die Hoffnung, einmal zum Boss einer bestimmten Region aufzusteigen und dann selber solch hoffnungsvolle Nachwuchstalente mit Stoff zu versorgen. Tana Starlight hatte gewusst, dass der Kampf gegen Prostitution ein aussichtloser war, also hatte sie auf der HEPHAISTOS daraus einen normalen Beruf mit Sozial-, Renten- und Pensionsversicherung gemacht. Den sogenannten Zuhältern hatte sie jedoch ohne wenn und aber den Kampf angesagt, mit empfindlichen Strafen. Jene, die sich daran versuchten, waren glücklich, wenn sie Station wieder verlassen durften. Es gab eben immer noch sehr unangenehme Jobs, die gemacht werden mussten. ‚Merde aux merde‘ war Tanas übliches Motto, wenn es um diese Art von Leuten ging, die Strafe richtete sich danach.

Das Glückspiel ist natürlich immer schwierig zu überwachen. Man kann Karten und Würfeln nicht per Se verbieten, und damit kann man natürlich auch um hohe Beträge spielen. Aber auf der HEPHAISTOS gab es zwei Casinos, eines, in dem man sich in schöne Kleider hüllte, Champagner trank, plauderte und dazwischen einige Einsätze wagte, und eines, in dem es leger zuging. Beide Betreiber hatten strenge Auflagen, die immer wieder überprüft wurden, und in denen es ehrlich zuging, ebenso in dem Wettbüro. Die HEPHAISTOS war keine heile Welt, aber es gab weniger Kriminalität als an den meisten anderen Orten der Galaxis. Klöster eingerechnet.

Karin war, wie alle anderen Bewohner der Station, dankbar über die Unterstützung eines Pthokorr. Dieses Angehörige einer telepathischen Spezies war zu einem Blindsprung durch ein Wurmloch gezwungen gewesen und hatte sich dabei gründlichst verirrt. Irgendwann hatte es die HEPHAISTOS geortet und angeflogen, musste aber feststellen, dass auch hier sein Heimatsystem nicht festgestellt werden konnte. Seither lebte diese Person auf der Station. Zuerst hatte das Wesen durch seine optische Erscheinung ein wenig Angst und Schrecken ausgelöst, viele erinnerte es an die Sage der Gorgo Medusa. Der Kopf mit dem Gesicht einer schönen Menschenfrau war mit dicken Tentakeln besetzt, die sich in ständiger Bewegung befanden, auch der Oberkörper erinnerte an einen weiblichen Humanoiden, ging an der Hüfte jedoch in einen etwa 7 Meter langen geschuppten Schlangenleib über.

Wer allerdings mit Matta sprach, merkte sehr schnell, dass das Pthokorr eine ehrliche, nette und hochintelligente Persönlichkeit besaß und ausschließlich vegetarische Nahrung verdauen konnte. Und natürlich Schokolade, nach der es beinahe süchtig war. Aber Schokolade ist zum größten Teil vegetarisch, das bisschen Milch schadete ihm nicht. Es akzeptierte die Anrede als ‚er‘ ebenso wie als ‚sie‘ oder ‚es‘. Matta kannte das Konzept des Geschlechtes nicht, die Spezies war selbstbefruchtend und eierlegend, in einigen Monaten würden ihre Kinder ihr Gesellschaft leisten. Aber Matta kannte das Konzept von Recht und Unrecht, sie hatte der Station Police ihre Dienste angeboten, die dankbar angenommen wurde. Die meisten ihrer Kollegen am Ankunftsterminal hatten sich an Matta gewöhnt und betrachteten sie als gute Freundin. Sie mussten es wohl ernst meinen, denn Matta war mehr als nur ein wenig telepathisch und empathisch begabt. Und sie konnte schon ein wenig böse werden, wenn man sie belog.

Durch ihr Terminal musste man, wenn man den Raumhafen verlassen wollte, um die eigentliche Station zu betreten. Nur besondere Gäste wurden durch ein Hologramm von Hera begrüßt und unauffällig direkt zum zentralen Lift gebracht, die Öffnungen zum Durschreiten der Energieschirme erstellte bei diesen Gästen das Zentralgehirn. Seit die Existenz der Station bekannt war, gab es durchaus auch einen gewissen Tourismus, und die Existenz selbst war spätestens nach der Ablösung der ersten Technikercrew auch in der Öffentlichkeit kein Geheimnis mehr. Für Transitreisende gab es selbstverständlich sowohl Hotels als auch Lokale und Erholungsmöglichkeiten zwischen der Ankunft und ihrem Weiterflug. Kleinigkeiten wie ein Schwimmbad mit Gegenstromeinrichtung, Fitnessstudios und ähnliches. Immer wieder gaben Kuppeln den Blick in den freien Raum wieder, selbst die Wartezeit bis zu Weiterflug wurde so zum Erlebnis. Wer allerdings die Station selbst betreten wollte, musste unbedingt an Matta vorbei.

„Haben Sie etwas zu verzollen oder verbotene Substanzen, Sir?“

„Äh, nein.“ Der junge Techniker schwitzte, als sich Mattas Gesicht dem seinen näherte.

„Wirklich nicht?“ fragte sie leise.

„Nein!“ Er versuchte empört zu klingen.

„Und was ist in dem Beutel in ihrer Jacke?“ Sie hob fragend eine Augenbraue, der Mann sackte in sich zusammen.

„Pornomagazine”, flüsterte er beinahe unhörbar. Matta hatte in der Zwischenzeit menschliche Mimik studiert und zeigte nun ein amüsiertes Schmunzeln.

„Oh, na gut, das ist ja nicht verboten. Viel Spaß damit!“ Der Techniker schnappte seine Tasche und beeilte sich, mit hochrotem Kopf das Terminal zu verlassen.

„Haben Sie etwas zu verzollen oder verbotene Substanzen, Ma’am? Danke, der nächste!“ Matta stockte kurz, dann konzentrierte sie sich auf den Mann, der etwas weiter hinten in der Reihe stand. Unauffällig verständigte sie ihre Kollegen, dass etwas nicht in Ordnung sei, worauf diese als eingespieltes Team unauffällig ihre Plätze einnahmen.

„Etwas zu verzollen?“ sagte Matta ihren üblichen Spruch auf, während sich ihr Schlangenleib langsam neben ihrem Pult nach vorne streckte.

„Natürlich nicht!“ empörte sich der Mann und knallte seine Tasche großspurig auf den Tresen.

„Dann dürfte es für sie kein Problem sein, einmal einer medizinischen Untersuchung zuzustimmen.“ Drei, vier, fünfmal ringelte sich der Schlangenkörper um den Besucher. Im Plauderton sprach Matta weiter. „Wissen Sie, dass es mittlerweile Stoffe gibt, die im Röntgengerät nicht sichtbar werden? Da kann man dann kleine Beutel daraus machen, irgendeine böse Substanz wie Heroin oder so einfüllen, die man dann in seinen Körperöffnungen transportiert.“

Der Mann war sichtlich nicht mehr so selbstsicher. „Äh, ich, muss das denn sein?“ Matta lächelte ihr freundlichstes Lächeln und näherte ihr Gesicht dem ihres Opfers, neben dem bereits zwei uniformierte Kollegen standen.

„Ich fürchte, ja. Wenn Sie also bitte den netten Herren folgen wollen? Es tut auch nicht weh! Zumindest nicht auf der HEPHAISTOS.“ Sie zog ihren Körper zurück, ordnete ihre Uniformjacke und lächelte den nächsten in der Reihe an. „Haben Sie etwa zu verzollen oder verbotene Substanzen, Sir?“

Zum Glück für die Station Police waren Personen, welche die Station für längere Zeit besuchen wollten, selten genug, um mit einem Telepathen ein Auskommen zu haben. Wenn die neue Station fertig war und mehr Bewohner kamen, war allerdings ein Engpass zu befürchten. Doch mit genügend Organisation hoffte man der Lage Herr zu werden, bis Mattas Nachwuchs so weit war, sie zu unterstützen.

*

New York, UN-Gebäude, Einsatzzentrale des TBI

„Man darf das nicht glauben!“ Sam Bold warf das Pad mit den Berichten, die er eben durchlas, verärgert auf den Tisch. „Da wird eine Leiche gefunden, und nur weil die Kleidung fehlt und der Junge ein Junkie war, geht man von einem Sexualdelikt aus! Dabei gibt es keinerlei Hinweise auf eine Penetration, weder in der Vergangenheit oder knapp vor seinem Tod! Auch keinerlei Spuren an seinem Ding, dass er vorher noch Sex hatte!“

„Zeig mal!“ Akiri nahm das Pad auf und las, Rick dachte nach.

„Wo?“ fragte sie stirnrunzelnd.

„Niagara Falls, New York.“

„Und? Gab es einen Zwischenfall mit einem Nichtterraner?“

„Bootsunfall bei den Niagarafällen, Leiche nie gefunden. PMI des nackten Jungen passt in den Zeitraum.“

„Ich habe hier einen ähnlichen Fall. Daytona, Florida. Weiblich, schwarz, 18 Jahre. Ebenso wenige Hinweise, aber auch auf Grund fehlender Kleidung als fehlgeschlagene Vergewaltigung eingestuft.“ Akiri wedelte mit beiden Pads. „Als hätten die Pfuscher voneinander abgeschrieben. Passend in das PMI ein Unfall an der Rennstrecke. Nicht genug Material für eine Identifizierung der Zuseherin. Laut Unterlagen Bekhonidin.“

„Und bei mir ist es in Salt Lake City. Ein junger Tourist. In den Zeitraum passt das Verschwinden eines Zaliters in der großen Salzwüste.“ Rick trug alle drei Fälle in einer Karte ein. „Sehen wir uns die anderen Auffälligkeiten rund um das Verschwinden der Nichtterraner an. Ich schlage vor, wir tauschen, dann hat jeder etwas Neues zum Durchackern. Es soll ja nicht langweilig werden.“

Das TBI hatte die drei in ein Team gesteckt, und sie hatten auch sehr schnell zu einander gefunden. Offiziell wurde Major Akamoku als Ranghöchste zur Teamleiterin ernannt, von außen war davon nicht viel zu erkennen, sie arbeiteten Hand in Hand und ergänzten sich hervorragend.

„Es gibt auffallend viele Brände in den Zeiträumen, die wir untersuchen. Einige betreffen polizeibekannte Fälscher, denen man aber nie etwas nachweisen konnte!“ Akiri studierte die Karte.

„Geographisch sehe ich keinen Zusammenhang“ meinte Sam, der neben ihr stand. „Nur dass die Kleiderbeschaffung und die Brände zusammen passen.“

„Natürlich, falsche Papiere!“ Rick und Akiri riefen es gleichzeitig.

„Heilige Sch…!“ schlug sich Sam mit der Hand vor die Stirn. „Spuren verwischen! Niemand soll mehr wissen, wie die Person aussieht, die den Ausweis bekommen hat!“

„Wir sollten mit ein paar anderen Teams sprechen.“

Die New Yorker Cops Carlos Temposa und Ryan O’Neill sahen aus, als wären sie direkt aus einem B – Actionmovie entsprungen. Stoppelhaar, bei Carlos schwarz, bei Ryan rot. Untersetzt, Muskelstränge, die man bei jeder Bewegung arbeiten sah. Wenn man die zwei so ansah, rechnete man nicht, dass sie die Ladungen ihrer Waffen zählen konnten. Ein Eindruck, der täuschte. Auch ihr aufgesetztes Machogehabe nahm hier in der Zentrale des TBI niemand mehr ernst, man hatte ihnen Sophia Chipprini aus Rom zugeteilt, der man Gedankenarbeit schon eher ansah.

„Hi! Schau mal, Carlos. Die schärfsten Waffen des TBI in einem Raum versammelt. Klein, mittel und groß!“

Akiri stemmte den Arm in die Hüfte und schwang sie übertrieben. „Wenn die Herren jetzt genug gesehen haben? Wir haben etwas gefunden!“

„Wir auch“, deutete Carlos auf die Karte.

„Brände nach dem Verschwinden eines Alien?“, fragte Akiri nach.

Ryan nickte. „Was sage ich, die schärfsten Waffen.“ Diesmal deuteten seine Hände keine Kurven an, sondern deuteten auf die Köpfe. „Informieren wir Cesar Alexander! Wir müssen vor Ort nachforschen.“

*

USA, Daytona Beach, Florida

Die Sonne Floridas brannte heiß auf die ehrwürdige Rennstrecke von Daytona Beach. Seit der Einführung der Stock-car – Rennen hatte sich viel getan, besonders seit mit der arkonidischen Technologie eine weitere technische Revolution stattgefunden hatte. Zuerst hatte BMW die Lizenzen für mittelstarke Antigravitationsaggregate und Generatoren für ein leichtes elektromagnetisches Abstoßfeld mit autarker Energieversorgung günstig von der GCC gekauft und dort in Motorräder eingebaut, wo vorher Tank und Motor waren. Dann hatte man gedacht, man könne genau so gut auf die Räder verzichten, die doch nur im Ruhezustand Bodenkontakt hatten. Ein wenig Verkleidung statt dessen, der gewonnene Platz war als Stauraum für Gepäck durchaus willkommen. Hier und dort noch einige kosmetische Operationen, ein Ablenkungsschild für den Flugwind, fertig war die BMW 2040, die Höchstgeschwindigkeit wurde auf etwa 180 Stundenkilometer eingeregelt, die Bodenfreiheit konnte der Kunde vor Fahrtantritt auf einen Wert zwischen fünf und dreißig Zentimeter einstellen. Die Maschine schlug bei Motorradfans, die seit der Einführung von Elektrobikes mehr als unzufrieden waren, wie eine Granate ein. DER Verkaufsschlager seit dem legendären Käfer oder 2CV zeichnete sich ab, BMW – Aktionäre rieben sich bereits glücklich die Hände. Die europäischen Polizeidienste hatten Interesse an schnelleren Modellen mit Blaulicht und Schutzschirm gezeigt. Die Entwicklung des Gerätes war schnell abgeschlossen, die 2041P erfolgreich mit etwas mehr als 500 km/h Spitze auf den großen Straßen Europas unterwegs. Eine Firma Steyr baute ein flugfähiges Militärmodell, ein Zweisitzer mit Schutzschirm, einem schweren Thermostrahler und einem Desintegrator in Flugrichtung als Aufklärer und zur Infanterieunterstützung.

Ebenfalls 2040 brachte die amerikanische Firma Harley-Davidson mit ähnlichen Überlegungen die Nuke – Glide auf den Markt. Ground speed max. 75 Meilen, man verzichtete auf jede Ablenkung des Luftwiderstandes, der Fahrer sollte das Gefühl der Fahrt mit jeder Faser fühlen können. Es folgten die Easy – Nuke, das ‚Choppermodell‘ mit vorverlegten Fußstützen, nach hinten gezogenen Steuerelementen, Rückenstützen und jeder Menge Chrom, die relativ unbekannte und optisch nicht sehr auffällige Police – Nuke mit Prallschirm und 200 Meilen Ground Speed, bis 500 Meter flugfähig, sowie die ungebremste Racer – Glide für die NASCAR. Letztere waren minimalistische Geräte, die ausschließlich für die Rennbahn gedacht waren und auch nur dort eingesetzt wurden. Nachdem das Grundmodell des Racer nicht mehr ohne strukturelle Probleme verändert werden konnte, bastelten die Rennfahrer und ihre Teams an den Verkleidungen. Genug, um windschlüpfrig und während der Fahrt lagestabil zu bleiben, so wenig wie möglich, um Gewicht zu sparen.

Nach einer Zeit der Flaute brachte diese Innovation wieder eine Menge Fans an die Rennstrecken. Viele murrten zu Beginn, ohne den Geruch von Benzin und das Heulen der Motoren, auf maximale Drehzahl beschleunigt, könne man das Rennen genau so gut im Trivid betrachten, wo auch noch jede Menge Nahaufnahmen und Bilder aus den Helmkameras gezeigt wurden. Nach und nach fanden sich aber doch alle wieder ein. Das Gefühl, wenn die Reiter – ein Begriff, der sich schnell in der Szene und auch außerhalb durchsetzte – in der langen Geraden des Daytona Beach-Kurses alles aus ihren Maschinen holten und die Überhöhung der Kurven bis zum Limit ausreizten, das Donnern und die Druckwelle der verdrängten Luft musste man fühlen. Endlich, knapp vor der drohenden Auflösung, schrieb die NASCAR wieder schwarze Zahlen und erholte sich rasant.

„Genau dort war es, Detectives. In der Kurve hat der Reiter irgendwie die Kontrolle über den Racer verloren und ist mit etwa 300 Sachen in den Steher gebrettert. Ungebremst!“ Rick ging etwas in die Hocke und visierte die Strecke an.

„Sollte es nicht Sicherheitsschirme geben, damit ein Racer nicht aus der Kurve fliegt?“

Der Fan nickte. „Sicher gibt es die, es ist vorher und nachher nie passiert, dass einer von der Bahn geflogen ist.“ Sam steckte die Hände in die Hosentasche und kickte einen Stein weg.

„Was hat doch der Polizeibericht gesagt? ‚Unerklärliche Fluktuation im Prallschirm, ausgelöst durch einen Defekt am Racer!‘ Da kann man nur noch verzweifeln!“ Akiri stand an der Rennstrecke und stemmte die Hände in die Hüften, musterte den Boden. Dann suchte sie den Generator für den Schirm, öffnete die Verkleidung.

„Nichts! Was soll man auch nach fünfzehn Jahren noch groß finden? Und wenn, ich würde es nicht erkennen. Ich hoffe, die Techniker haben damals genau hingesehen.“

„Ihre Freundin muss ganz fertig gewesen sein. Die ist doch knapp vorher noch bei ihr gestanden und dann ist sie weg gegangen. Wahrscheinlich wollte sie sich etwas zu trinken holen!“

„Eine Freundin?“ Sam lächelte den Fan an. Wie immer brachte seine Ausstrahlung Zeugen dazu, tief aus ihrem Unterbewusstsein noch unwichtig scheinende Informationen hervor zu kramen. „Davon steht nicht ein Wort im Bericht!“

„Ich wollte es den Cops doch noch sagen, aber die haben nur von der Grünhaarigen mit den komischen Zähnen geredet und wollten nichts Anderes hören! So eine dunkle Schönheit mit roten Locken. Nichts für ungut, Detective, aber Menschen ihrer Hautfarbe haben wohl kein naturrotes Haar, oder? Die müssen gefärbt gewesen sein.“

„Nicht unbedingt, Sir.“ Rick zeigte ein dünnes Lächeln. „Da draußen im Weltall gibt es dunkelhäutige Menschen mit weißen und solche mit roten Haaren. Sogar mit natürlichen violetten, aber die haben eine blaue Hautfarbe.“

„Was es nicht gibt“, staunte der Racerfan. „Aber gut, solange sie uns leben lassen, wie wir sind, ist es mir egal! Wäre schön blöd, sich über eine Haut- oder Haarfarbe aufzuregen. War ein hübsches Ding. Hat ausgesehen wie diese eine Schauspielerin. Moment, ich hab’s gleich. Bethany le Bojeur, nur eben mit roten Haaren. Und von den – äh, vom Busen könnte Bethany auch nur träumen. Also, wirkliche Riesendinger! War ja auch eine große Frau! So um die eins-achtzig, würde ich schätzen.“

Akiri war näher gekommen. „Wie stehen die Chancen für ein Phantombild?“

Sam lachte auf. „Nicht schlecht, wahrscheinlich. Bethany le Bojeur mit D- oder E- Körbchen und etwa 180 Zentimeter. Hat jemand einen Stift für sein Pad?“

„Hier! Ich wusste gar nicht, dass Du zeichnen kannst!“ wunderte sich Akiri, und Sam begann, mit schnellen Strichen ein Bild des Trivid-Stars abzuändern.

„Vier Jahre Kunstakademie, aber ich hätte mich für meinen Erfolg zu sehr verbiegen müssen. Jetzt male ich nur noch als Hobby!“

„Hier, die Ohren etwas größer“ Der Fan war begeistert, bei der Erstellung eines Steckbriefes zu helfen. „Der Mund voller. Die Augen – nein, kann ich nicht sagen, die hatte eine Sonnenbrille auf. Das Kinn etwas breiter, perfekt! He, nicht so viel, Detective. Also, so unnatürlich große Ti… Brüste hatte sie nun auch wieder nicht. Ja, das passt!“

„Also schön” Sam speicherte das Bild. „Jetzt müssen wir die Lady nur noch finden!“

Rick betrachtete das Bild sehr intensiv. „Sir, erinnern Sie sich auch an das schwarze Mädchen, das damals verschwunden ist?“

„Sie meinen die junge Cochran? Na klar, schlimme Sache. Zuerst verschwindet sie, ein paar Tage später dann dieser Unfall, und dann findet man Mary ohne einen Faden am Körper. Armes Ding. Wer macht denn so etwas? Warum, glauben Sie, das hängt zusammen?“ Akiri kniff die Augen zusammen, beschattete die Augen mit der Hand und blickte nach Westen, weg vom Ozean.

„Schon möglich! Danke Sir!“ Der Mann ging, und Rick starrte immer noch auf das Bild.

„Fünfzehn Jahre…“

„Du denkst an eine Verknüpfung? Zeig mir das Bild bitte.“ Akiri studierte ihrerseits die Skizze.

„Na ja”, Sam Bold kratzte seinen Skalp. „Wenn er die Nachrichten so knapp hintereinander gesehen hat, ein gewisses Trauma durch den Anblick des Unfalls, keine Korrektur, weil niemand sonst darüber redet, die Ähnlichkeit mit einer dunkelhäutigen Schauspielerin… Ich denke doch!“

Akiri sprach es aus. „Wir suchen wahrscheinlich eine Weiße.“

„Vielleicht sogar eine mit Knochenplatten statt Rippen.“ Sam schüttelte die Haare aus und feixte. „Wollt ihr mir nicht beweisen, dass ihr selber echte Rippen habt?“

„Bist wohl bei Carlos und Ryan in die Schule gegangen?“ Rick deutete eine Kopfnuss an.

„Hey, wer wollte mir denn eine Sonderpose schenken?“

Akiri und Rick sahen sich an. „Männer!“ sagten sie im Chor.

Rock’n’Roll, Baby!

September 2083

Reggy-System,

An Bord der HEPHAISTOS

Betty Grisholm röhrte „I love rock`n‘roll – so put another dime in the juke box baby!“ in das Mikrophon des ‚Rockland‘, hunderte Gäste grölten den Refrain des Rockhits von Joan Jett aus dem Jahr 1981 mit. Künstlicher Nebel wallte über die Bühne, die Bassgitarre dröhnte aus dem Verstärker, der Drummer legte ein Stakkato ein. Betty selbst, in knallenger Hose aus schwarzem Lederimitat und einem Top, das locker an zwei Spaghettiträgern hing, ging in die Hocke und bewegte lasziv das Becken. „And we‘ll be movin‘ on – an’ singin’ the same old song! Yeah with me – singin’! I love rock`n’roll!“ Die Gäste des Rocklands hielt nichts mehr auf ihren Plätzen. Sie sprangen auf, johlten, pfiffen und jubelten der Sängerin zu, die mit beiden Händen den alten Rockergruß mit geballter Faust, kleiner und Zeigefinger gestreckt, zeigte, ehe sie sich mit einer Kusshand verabschiedete.

Ghoma drehte sich zur Bar um und nippte an ihrem Bier. Der harte Rhythmus, die ungebremsten, ungefilterten Emotionen der Anhänger dieser Musikrichtung gefielen ihr ausnehmend gut, die Auswahl an Getränken weniger. Die meisten Drinks mit Papierschirmen waren ihr zu süß, und warum man Fruchtsaft mit Alkohol ‚sex on the beach‘ oder ‚between the sheets‘ nannte, war und blieb ihr ein Rätsel. Vielleicht ein Code, den nur Insider kannten? Nun, es gab zumindest Bier, das bittere Pils mochte sie immer noch am liebsten.

Es war für sie manchmal wie ein Ausbruch aus einem Gefängnis, hierher zu kommen, vielleicht auch auf die Tanzfläche zu gehen und den Körper zur Musik zu bewegen. Großartige Regeln schien es bei dieser Tanzform nicht zu geben, solange die Bewegungen rhythmisch waren, wenn möglich auch ein wenig sinnlich. Mit all dem hatte Ghoma keine Probleme, es machte ihr durchaus großes Vergnügen. Nachdem sie durch Zufall von diesem Lokal gehört hatte, war sie zuerst skeptisch, dann mit wachsender Begeisterung hierher gekommen, jetzt zum dritten Mal. Die einzige Regel, die Ghoma bemerkte und die auch von den vier Ordnern durchgesetzt wurde, war die, dass sich niemand einer anderen Person aufdrängen durfte, ansonsten war scheinbar alles erlaubt.

Auf der Bühne war mittlerweile ein kleines dürres Männchen erschienen, das wie ein geölter Blitz von einer Seite zur anderen fegte und „But is all right, I’m Jumpin‘ Jack flash – it’s a gas, gas, gas“ sang. Nun, Betty konnte Joan Jett durchaus das Wasser reichen, doch bei dieser Nummer fehlte viel zu Mick Jagger, auch der Gitarrist kam an einen Keith Richards nicht wirklich heran. So zumindest lautete die Meinung von dem Mann neben Goma, und sein Freund meinte, der Knabe hätte sich die Latte verdammt noch mal zu hoch gelegt. Die Stones konnte man nicht so leicht wiedergeben. Trotzdem betrachtete Ghoma diesen Besuch als gelungenen Abend, und sie war mehr denn je entschlossen, diesen Musikclub wieder zu besuchen.

Eben als sie gehen wollte und sich von ihren Nachbarn verabschiedet hatte, röhrten die Verstärker noch einmal auf. „Make his fight on an early day – Constant chill deep inside!“ Ghomas Kopf fuhr in die Höhe, einen derartigen Text hatte sie nicht erwartet. Blut wallte heiß durch ihre Adern. „For whom the bells toll – times marches on!“ Der Rhythmus schoss ihr direkt in alle Glieder, brachte sie innerlich zum Beben, fuhr direkt in ihren Unterleib.

„Wer – wer war das?“ Sie drehte sich schwer atmend zu ihren Nachbarn um, einer lächelte sie an.

„Die Band hieß Metallica!“ Oh ja, das war definitiv nicht ihr letzter Besuch hier!

Das ‚Rockland‘ lag in der unteren Etage des Strips, ein großer Saal, an dessen einem Ende eine große Bühne aufgebaut war. Links und rechts auf erhöhtem Terrain lagen sich zwei lange Bars gegenüber, dazwischen eine metallene Tanzfläche. Hoch oben waren die Scheinwerfer angebracht, auf der Bühne konnte ein furioses Spektakel mit Licht und Kunstnebel gezeigt werden, die Möglichkeiten der Lasershows schienen beinahe grenzenlos zu sein. Trotz modernster Technik hatte der Betreiber riesige, alte akustische Lautsprecher aufgestellt.

„Die elektronischen klingen doch alle flach und stumpf“, sagte er all jenen, die ihn zu einer Modernisierung überreden wollten. Und so blieben die uralten Riesenboxen eben unter der Decke. An den Wänden hingen Poster der alten, legendären Lokale und Studios, in denen der Rock’n’Roll geboren wurde, an prominenter Stelle die ‚Sun Studios‘ in Memphis, Tennessee, und einige Gibson-Gitarren mit persönlichen Autogrammen. T-Shirts von allen Hard-Rock-Cafés auf der ganzen Welt waren ebenso zu sehen wie Shirts mit den Gesichtern der großen Bands.

Tische und Stühle gab es nur in den vier Nebenräumen, in dreien war die Band über einen großen Bildschirm zu sehen, der Ton etwas leiser als in der Live-Halle. Zu essen gab es wenig Auswahl, große belegte Brote mit Speck, Ei oder Hartkäse, keine warmen Speisen. Die Getränke an den Bars waren Longdrinks oder Bier, Shots wurden nicht gerne gesehen. In den Nebenräumen kam noch Wein dazu, sowohl von Terra als auch von arkonidischen Kolonialwelten. Wer die Bierkarte des dritten Nebenraumes nicht gelesen hatte, glaubte nicht, woraus Bier zu brauen war. Selbst Maisbier aus den USA war zu bekommen, fand allerdings kaum Fans. Das derzeit angesagteste war ‚Springerbier‘, leider hatte der Betreiber nicht das beste bekommen, der Name allein sorgte allerdings für Umsatz. Der vierte Raum war in kleine Separees unterteilt, die Musik noch leiser. Hier konnte man sich etwas zurück ziehen, um sich zu unterhalten oder jemand, mit dem man eben getanzt hatte, vielleicht näher kennen lernen.

Ghoma beschloss, den Abend im Quetzal zu beenden. Das Laufband brachte sie rasch an die richtige Stelle, mit einer Rampe erreichte sie die oberste zugängliche Ebene der HEPHAISTOS. Ein halbes Dutzend Feuer beleuchteten den langen Strandbereich mit flackerndem Licht, viele Leute saßen mit Bierflaschen herum, und um die offiziellen Grillstellen hatten sich jede Menge Menschen versammelt, die darauf warteten, dass ihr Essen gar wurde. An einer Stelle hatten sich Personen um eine Gruppe versammelt, die ihre ‚Steeldrums‘ bearbeiteten und Reggae spielten. Kristallklaren und coolen Bob Marley. ‚There was a Buffalo Soldier – in the heart of america – stolen from africa – brought to america – fighting on arrival – fighting to survival’ sang die Gruppe im Chor.

So etwas ähnliches kannte auch Ghoma. Eine Sippe hatte vor einiger Zeit auf einem primitiven Planeten mit etwa 1,3 der Standardgravitation pubertierende Heranwachsende entführt, gebrochen und gedrillt, um sie dann in einem Konflikt zweier Welten an beide Seiten als Infanteristen zu vermieten. Bei den Söldnern waren die Urinstinkte durchgebrochen, von keiner Empathie, Mitleid oder anderen positiven Gefühlen gebremst. Das Leid auf beiden Seiten war enorm gewesen. Hemghat hatte solche ‚Geschäfte‘ immer abgelehnt, auch wenn sie gutes Geld bringen sollten, und Ghoma konnte dem nur zustimmen. Man musste nicht unbedingt andere Intelligenzwesen zerstören und versklaven, um gut leben zu können.

Wenn die Steeldrums gerade nicht spielten, wehten von weiter weg am Strand die Töne eines Saxophons, einzelne Klänge einer bittersüßen Melodie herüber. Man konnte sich darauf verlassen, irgend jemand spielte und sang immer am Strand, einfach zum Spaß oder für Freunde, wem es nicht gefiel, der ging weiter, bis er das richtige fand. Oder er wartete, niemand spielte für lange, das ungeschriebene Gesetz sah maximal eine Stunde vor, wenn viele Zuhörer eine Zugabe verlangten, noch eine halbe mehr, dann musste jemand anderer seine Gelegenheit bekommen.

„Es sind nur Hologramme, Schätzchen, diese Riesenfeuer.“ Boris stelle Ghoma, die diese flackernden riesigen Holzstöße bewundert hatte, eine Schale Trinkschokolade mit Chili auf den Tresen. „Schönen Abend gehabt?“

Sie schlürfte einen Schluck den heißen Gebräus. „Danke, Boris, das hatte ich. Bin zwar noch ein wenig schwerhörig, aber das legt sich wieder.“ Boris winkte graziös ab, legte den Zeigefinger an die Wange, die anderen Finger unter das Kinn und schüttelte das Haupt, seine kunstvoll gelegte Frisur wippte, ehe sie wieder in die perfekte Lage fand.

„Also mich brächten keine Raumfähren in das ‚Rockland‘, Schätzchen! Das ist doch viel zu wild und zu laut!“ Ghoma grinste den Chocolatier an.

„Ein Glück, dass wir unterschiedliche Geschmäcker haben.“

„Aber hallo, Schätzchen! Da spricht die pure Weisheit aus Dir. Hallo, Karin! Was darf es sein?“

„Heiß und süß, Boris. Mit ein wenig Rum. Und Schlagsahne obenauf! Vielleicht noch ein paar von den Streuseln, wenn Du hast.“ Karin Adler rieb sich das Gesicht.

„Das solltest Du lassen, Süße. Das gibt Falten!“, flüsterte Boris. „Und zerstört das Make-up!“

„Danke für den Tipp. Du bist ein Schatz, Boris. Gott, bin ich heute müde! Aber immerhin, Feierabend! Hast Du auch noch etwas von Deiner Schwarzwälder Kirschtorte? Ein großes Stück! Mit…“

„Mit Sahne, Süße, na klar.“ Boris lächelte über das ganze schmale Gesicht. „Und Kakaostreuseln. Ich stelle Dir den Streuer gleich hierher, Sahne gibt es auch noch.“

„Mein Retter in der Not!“ Karin ergriff die Kuchengabel, mit dem Ausdruck reiner Glückseligkeit im Gesicht begann sie zu essen.

Ghoma betrachtete die Frau mit einem gewissen Respekt. Schlank, bei dieser Kalorienzufuhr? Wie viel Sport musste hinter dieser Figur stecken.

„Ich verbrenne schnell!“ sagte Karin, ohne aufzusehen.

„Entschuldigen Sie, ich wollte nicht aufdringlich sein.“ Ghoma wollte sich abwenden, doch Karin sah Sie jetzt direkt an.

„Schon gut! Man gewöhnt sich an die Frage. Karin Adler!“ Sie hielt der Riesin ihre Hand hin.

„Ghoma! Aus der Sippe der Hemghat. Es … freut mich, sie kennenzulernen.“

„Schönen Abend noch.“ Karin verspeiste ihre Torte fertig und ging.

„Nette Frau!“ Boris winkte ihr hinterher. „Sie leitet das Polizeibüro am Strip.“

*

Hektisch summte der Melder an der Tür zu Tana Starlights Suite.

„Mama! Du musst mir… Oh!“ Reginald stürmte in das Zimmer und verstummte, als er Christian sah. „Entschuldigen Sie, ich wusste nicht, dass Mutter Besuch hat.“

„Sie ist im Badezimmer, Reginald. Nimm doch einstweilen Platz. Einen Saft?“ Der Pianist musste sich eine genaue Musterung durch Reginald gefallen lassen.

„Sie sind der neue Freund meiner Mutter?“

„Der bin ich. Hoffentlich hast Du nichts dagegen? Ich bin Chris, sag einfach Du zu mir.“

„Na schön, Chris. Ist es nicht egal, ob ich etwas dagegen habe? Nein, das kam jetzt schlecht. Ich wollte sagen, dass Mutter eine erwachsene Frau ist, und… ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll! Ich hoffe, sie ist glücklich! Verdammt! Wenn Du ihr erzählst, dass ich das gesagt habe, dann…“

„Zu spät, mein kleiner Schatz! Deine Mutter hat gute Ohren.“ Victoria kam ins Zimmer und band sich den Gürtel des Bademantels zu. „Zum Glück, sonst hättest Du noch Deine Mutter ohne Wäsche gesehen.“ Sie lächelte süffisant.

„MAMA! Das ist – ich will da gar nicht daran denken!“

Victoria grinste ihren Sohn breit an. „Ich liebe Dich auch, Reginald.“ Der junge Mann stöhnte.

„Verraten und verkauft vom eigenen Mundwerk! Wer soll mir denn jetzt noch glauben, dass ich total Eis bin?“

Christian lachte. „Wir sagen es nicht weiter, und Deine Mutter wird sich in der Öffentlichkeit weiter so verhalten wie bisher!“

„Was mich zu der Frage bringt,” Tana goss sich ein Glas Saft ein. „Was bringt meinen Sohn um diese Uhrzeit zu mir?“ Sie reichte auch ihrem Sohn ein Glas, der spielte damit herum.

„Du und Dad, wart ihr einmal auf einem Ball? Hat er Dich gefragt?“, brach es endlich heraus.

„Ja und ja, Reginald. Was ist los, weißt Du nicht, wie Du deine Freundin fragen sollst?“

„Das habe ich doch schon”, platzte es aus Reginald heraus. „Und sie hat JA gesagt! Was soll ich denn jetzt machen!“

„Zum Friseur gehen, einen Anzug kaufen und tanzen lernen!“

„TANZEN? Die Sache ist ja noch schlimmer, als ich dachte! Wenn mich jemand von meinen Intis in der Tanzschule sieht?“

„Dann siehst Du ihn doch auch!“ Tana lächelte. „Keine Sorge, wir kriegen das hin!“

„Wie hast Du Dad eigentlich dazu gebracht, in die Tanzschule zu gehen?“ So ganz überzeugt war Reginald nicht.

„Ich habe ihm gesagt, dass Tanzen der erste Schritt ist. Es gibt nicht mehr, bis er tanzt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Offensichtlich hat ihm der erste Kuss so gut geschmeckt, dass er mehr wollte.“

„Und Du Chris?“ Christian lehnte sich vor.

„Ich habe freiwillig Tanzen gelernt, Reginald. Die schönsten Mädchen waren nun mal in der Tanzschule. Und dann habe ich auch noch mit Klavier zu spielen angefangen – und die tollste Frau des Universums damit umgarnt.“

„So? Mit wem betrügst Du mich denn?“, schimpfte Tana lachend und schlug spielerisch mit einem Sofakissen nach Chris, während Reginald schnell weg sah.

„Warte, Reginald, ich zeige Dir etwas.“ Sie griff zu ihrem Pad und rief eine Fotodatei auf. „Das waren Dein Vater und ich bei unserem Ball.“

Die Augen wurden Reginald groß. „Was hat denn mein Vater da an? Muss ich auch so einen unmöglichen Anzug tragen? Dazu dieses Ding um seinen Hals! Schnürt das nicht fürchterlich ein? Da bekommt man schon vom hinsehen Atemnot! Und bei Dir, Mama! Da sieht man ja bei dem Oberteil fast durch! Man kann – na, du weißt schon was – erkennen!“ Unauffällig biss Christian in den Knöchel seines Zeigefingers, um seiner Erregung Herr zu werden, seine Phantasie machte gerade Überstunden.

„Das war doch der Sinn des Stoffes, Reginald. Auch bei der Hose sollte man durchaus etwas sehen, nicht nur erahnen. Schau nicht so entsetzt. Ich hatte natürlich etwas darunter.“ Tana zögerte überlegend, dann sprach sie es doch aus. „Einen schwarzen String!“ Christian biss fester zu. „Damals waren wir alle ein wenig freizügiger, wir fanden toll, nicht nur zu zeigen, was wir haben, sondern es noch extra zu betonen. Für ganz kurze Zeit, dann wurde die Weit wieder ‚spießig‘. Ein wenig schade finde ich das immer noch, aber vielleicht kommt wieder eine lockere Frauenmode. Und auch für Männer.“

Reginald trank rasch noch einen Schluck von seinem Saft, seine Mutter mit freizügiger, figurbetonender Kleidung? Brr! FKK war etwas anderes, dort sah niemand hin, das Aussehen war den Leuten egal. Aber Mode? Vielleicht musste dann auch er… schnell an etwas anderes denken, ehe er rot wurde. Oder sein Interesse an Marie France zu sichtbar, wenn er sich diese Ballkleidung an ihr vorstellte! Wäre das peinlich!

„Na schön. Also Tanzschule! Und welchen Anzug? Doch nicht Papas Antiquität mir diesem Ding um seinen Hals.“

„Das war eine Fliege, Reginald. Nein, dieser Halsschmuck ist derzeit absolut out. Vielleicht ein weißer Anzug, dazu ein schwarzes Hemd?“

„Out, Tana, aber so was von out! Das war vor mehr als hundert Jahren! Na gut, ich trag das manchmal für Auftritte, aber es ist so was von totalem Retro!“ Christian mischte sich in das Gespräch. „Petrolfarbenes Hemd und Hose, dazu ein ledernes Jackett in beige, und die Schuhe in der gleichen Farbe wie die Jacke.“

Tana wandte sich um, stemmte die Fäuste in die Hüften. „Da hat mich wohl gerade jemand eine überalterte unmoderne Ziege genannt! Behauptest Du, ich hätte keinen Geschmack?“ Sie stach mit ihren Zeigefinger gegen Christians Brust. „Überleg‘ Dir die Antwort gut, alles was Du sagst, kann und wird gegen Dich verwendet werden. Später!“

„Äh, ich verweigere die Aussage, mit der ich mich selbst belasten könnte?“ Reginald verdrehte die Augen, während Tana und Chris in Gelächter ausbrachen. ‚Erwachsenenhumor’, stand deutlich in seinem Gesicht geschrieben, ‚muss man nicht verstehen.‘

„Ich würde ja anbieten, mit Dir einen Anzug kaufen zu gehen!“ Bei Tanas Worten gefror das Gesicht ihres Sohnes. „Aber, das willst Du ganz bestimmt nicht. Wenn jemand von Deinen Freunden das sähe!“ Reginald atmete auf, soviel Einsicht hatte er gar nicht erwartet. „Am besten wird sein, ich bestelle für morgen Abend, so um 17.00, Giorgio hierher. Mit Stoffmustern und allem, er soll Maß nehmen. Ihm kannst Du vertrauen, wenn mein Geschmack nicht passend ist.“

„Danke, Ma! Du bist die Beste.“ Er stand auf und drückte Tana rasch ein Küsschen auf die Wange, schreckte gleich wieder zurück.

„Es hat ja niemand gesehen, Reginald.“ beruhigte ihn Tana. „In der Öffentlichkeit musst Du ja nicht.“

„Bis morgen, Mama.“

Tana sah ihrem Sohn lächelnd nach. „Na so etwas! Da wird ja noch etwas aus Junior!“

„Äh, diesen String!“ Chris räusperte sich. „Hast Du den eigentlich noch?“ Tana ging zur Schlafzimmertür, knapp davor ließ sie ihren Bademantel zu Boden gleiten, sah über die Schulter zurück. „Lohnt es sich, ihn jetzt noch anzuziehen, bevor er wieder weg muss?“ Sie klatschte mit der Hand auf ihr Gesäß, lächelte sinnlich und klimperte mit den Wimpern. „Aber ich verspreche Dir, irgendwann einmal darfst Du ihn mir ausziehen. Und die weiße Hose darüber auch. Kommst Du jetzt mit?“

*

Solares System, New York

Eine Hitzewelle hielt den mittleren Osten der USA in Atem. Es schien schon wieder ein heißer Tag in den Straßenschluchten Manhattans zu werden, die Sonne brannte schon morgens vom wolkenlosen Himmel, seit Wochen wartete man sehnsüchtig auf Abkühlung. Die Bewohner der Stadt flüchteten von einem klimatisierten Bereich in den nächsten, die Straßen waren wie immer überfüllt, man konnte das Geräusch der Hupen und Sirenen jetzt, zu Ende des 21. Jahrhunderts, noch deutlicher als früher vernehmen. Endlich waren die Verbrennungsmotoren endgültig verschwunden, Gravmotoren machten deutlich weniger Geräusche, die ständige Hintergrundmusik tausender Motoren war einem leisen Summen gewichen.

Ein Gesetz verbot im Gebiet Manhattans den Einsatz der Schweber oberhalb des Bodenniveaus, nachdem das historische Chrysler Buildig durch einen besonders dummen und rücksichtslosen Piloten 2038 einen in die Millionen gehenden Schaden genommen hatte, der durch keine Versicherung gedeckt war. Außerdem mussten Experten zu Rate gezogen werden, die wunderschöne Art Deco Fassade sollte bis ins Detail wieder rekonstruiert werden. Eine teure und aufwendige Angelegenheit. Nur die Einsatzfahrzeuge von Polizei, Rettung und Feuerwehr hatten eine Flugerlaubnis, selbst das Secret Service musste Flüge erst anmelden, wenn der Präsident der USA seine Heimatstadt besuchen und die Straßen verlassen wollte. Ab 2039 wurden von den Behörden weltweit nur noch Gleiter mit einer maximalen Schwebehöhe von 40 Zentimetern für Privatpersonen zugelassen, ältere Modelle mussten mit einem Höhenbegrenzer nachgerüstet werden. Mit Ausnahmen von ‚Kleinbussen zur gewerbsmäßigen Personenbeförderung‘, die wiederum streng überwachte Routen einzuhalten hatten. Ein Verkehrschaos ganz eigener Art wurde damit abgewendet.

Es war für die GCC eines der ersten Großbauprojekte geworden, als die Bürgermeisterin in den späten Dreißigern den Ausbau der Metro und der Versorgungsnetze unter Manhattan in Auftrag gab. Endlich konnte dank der arkonidischen Technologie die Ver- und Entsorgung von Wasser und Fäkalien für Zuwachs geplant gebaut werden, statt mit Stückwerken den Einwohnerzahlen hinterher zu hinken. Das Datum der Eröffnung wurde zum Feiertag erklärt, und zumindest die Beamten der Stadtwerke feierten ihn als ‚Madeline Goldsteen Day’ jedes Jahr mit einem Umzug über den Avenue of the Americas, der 6th vom Central Park südwärts, die 45th Street nach Westen über den Times Square bis zum Intrepid Museum. Liebevoll restauriert lag der alte Flugzeugträger noch immer hier vor Anker, der Pier davor war vergrößert worden, ein Marslander der Stardustklasse stand neben der Concorde und war von außen und innen zu besichtigen.

Seltsamerweise hatte die Liquvital – Krise in dieser Stadt weniger starke Auswirkungen als im Vergleich zum Rest der USA. Obwohl die Bevölkerungsdichte bei weitem die Höchste im Land war, kam es zu erfreulich wenig bemerkbaren Ausschreitungen. Die Partyszene wurde noch um einiges wilder und exzessiver, als sie es ohnehin schon war, es wurden etwas mehr Schlägereien gemeldet, aber das Leben funktionierte nach einigen schlimmen Tagen wieder einigermaßen normal. So normal, wie es in einer Stadt wie New York überhaupt möglich war, einer Stadt, die niemals schläft.

Mabel Villeneuve ging selbstbewusst mit klappernden Absätzen hüftschwingend über die 5th Avenue. Eigentlich war das tragen hoher Stöckelschuhe in der Stadt New York verboten, doch dieses Gesetz diente nur zur Abweisung von Klagen auf Schadensersatz bei Knochenbrüchen und Verstauchungen aufgrund des alten Straßenpflasters, das immer noch so auf so mancher Straße Manhattans verlegt war. Es wurde nie exekutiert. Die Stadt wollte sich nur nicht mehr verklagen lassen, das Pflaster stand unter dem Schutz eines UNESCO – Kulturerbes. Wie aber hätten es Mabel oder eine andere der New Yorkerinnen ohne diese Absätze denn geschafft, ihre Hüften derart schwingen zu lassen? Sie liebte es, die Blicke der Männer auf ihre ausladende Oberweite mit Körbchen ‚E‘ und ihr rundes Gesäß zu lenken, betonte beides durch Kleidung und Bewegung, in diesem Fall durch einen engen, blauen Rock und eine weiße Bluse mit Spitzenbesatz, welche einen großem Ausschnitt aufwies, der tiefe Einblicke bot. Die Knöpfe dieser Bluse waren auf das Äußerste belastet, die schwarzen Dessous schimmerten leicht durch den hellen Stoff und forderten zur Beachtung auf. Sie wusste, von den Passanten, die ihr jetzt begegneten, wäre keiner in der Lage gewesen, der Polizei eine halbwegs brauchbare Beschreibung ihrer Person zu liefern. Dabei war ihr Gesicht ziemlich hübsch, man sagte ihr manchmal, sie sähe einer Schauspielerin ähnlich. Aber sie lenkte die Aufmerksamkeit der Menschen lieber auf ihre herausragenden Attribute, durchaus mit Erfolg.

Das Ziel der rothaarigen Frau war ihre Arbeitsstelle in einem der Hochhäuser, einem älteren Nebengebäude des Rockefeller Center, wo sie für Rechtsanwälte Recherchen betrieb. Sie und ihre acht Mitarbeiter wurden, seit sie das Büro vor etwa zehn Jahren eröffnet hatte, bei immer heikleren Fällen kontaktiert, um Hintergrundinformationen über eine der am Prozess beteiligten Personen zu beschaffen. Manchmal auch über den einen oder anderen Richter oder die Geschworenen. Man konnte also durchaus sagen, dass Mabel ihren Finger am Puls der Metropole hatte, selbst aus den Rechnern der Polizei hatte sie bereits Informationen erhalten. Nur in das Netzwerk des TBI einzudringen war ihr noch nicht gelungen. So entging es ihr, dass weltweit alle Fotos von Personen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit ihr aufwiesen, abgerufen und in den TBI-Rechnern analysiert wurden. Man prüfte Geburtsregister, Schulakten, Universitäten – alle Stationen, welche von den Frauen, auf welche die Beschreibung eines Racerfans in Daytona zutraf, in ihrem Leben durchlaufen wurden. Selbst Bethany le Bojeur wurde insgeheim untersucht, eine DNA – Probe zu erhalten war bei dieser exaltierten Person kein Problem. Wie erwartet war das Ergebnis unauffällig.

Gute Fälscher beschränkten sich nicht darauf, nur Dokumente herzustellen, sie hackten sich auch in Geburtsregister und Schulcomputer, in Taufbücher und sogar in das Sozialversicherungssystem, so eines vorhanden war, und legten dort die entsprechenden Eintragungen ab. Sehr Gute arbeiteten so geschickt, dass selbst forensische Computernerds ihre Probleme hatten, die nachträglich eingefügten Daten von den echten zu unterscheiden. Richtige Spezialisten – es war unmöglich, hier etwas heraus zu finden. Doch richtige Spezialisten waren schon immer selten, teuer und arbeiteten nicht für Jedermann. Das TBI jedoch hatte einen verpflichten können, der lieber auf der richtigen Seite des Gesetzes stand.

„Es gibt immer einen, der irgendwann besser ist, als man selber!“, pflegte er zu sagen. „Und wenn ich dem eines Tages begegne, möchte ich nachher nicht in den Knast”.

Einige Lebensläufe wiesen Lücken auf – durchaus möglich in einem Land ohne Meldepflicht wie den USA. Auch in Afrika und Südamerika waren lückenlose Dokumentationen der Leben sehr selten zu finden, doch im Buschland der Serengeti, fernab jeder technologischen Zivilisation oder in den Urwäldern des Amazonas vermutete selbst das misstrauische TBI keine Schläfer. In Europa und Asien jedoch war durch die Meldepflicht der Weg eines Individuums durch die Behörden durchaus nachvollziehbar.

Die Prozessorkerne der Starlight 2580er Rechner in der TBI – Zentrale in New York liefen im Dauereinsatz, Peta- um Petabyte wurde durchgerechnet, summierten sich zu Exabytes. Rasch waren rund die Hälfte ausgesiebt gewesen, derzeit ging man von einer Frau aus. Mehr und immer mehr Datensätze kamen auf die ‚Unwahrscheinlich – Liste’, das Netz wurde engmaschiger, nur wenige Namen blieben nach wenigen Stunden über. Das TBI überprüfte Phones und Pads, entschlüsselte und analysierte die Nachrichten und Telefonate der Verdächtigen, entsandte dann seine Agenten, um im Falle vor Ort präsent zu sein, eine letzte Überprüfung konnte doch nur von Menschen vorgenommen werden. Major Akamoku Akiri und ihr Team sparten die Flugtickets. Ihr Ziel war in New York, direkt vor der Haustür des TBI, in Manhattan. Von all dem bekam Mabel Villeneuve nicht das Geringste mit, aber ihr Name stand ganz oben auf einer sehr kurzen Liste.

Mabel betrat das Nebengebäude des Rockefeller Center wie immer durch den Eingang auf der 5th Avenue und wollte dem Portier, ebenfalls wie immer, zunicken, doch der war eifrig an seinem Pad beschäftigt. Vor seiner Loge stand ein vierschrötiger Mann mit langem blonden Haar, der sich bei ihrem Eintreten nach ihr umsah. Kurz blickte er in ihr Gesicht, dann schweifte sein Blick tiefer, ein beifälliges Grinsen huschte kurz über seine Züge, dann wandte er sich wieder dem jungen Mann in der Pförtnerloge zu.

„Sie sind ganz sicher, dass Mister Wong nicht hier in diesem Haus angestellt ist?“

„Sir, ich habe alle Eintragungen durchgesehen, es gibt nicht einmal jemand, der einen Mister Wong als Verwandten oder Bürgen angegeben hat!“

„Aber das ist das alte Rockefeller Center, oder?“

„Das ist es, Sir!“

Enttäuscht klopfte der Mann zweimal auf die Theke. „Na schön. Danke! Ist ja nicht Ihre Schuld“, schob er dem Portier einen Schein zu.

„Danke, Sir. Vielleicht versuchen Sie es im Godiva Café? Das liegt hier im Center, im Hauptgebäude, und wird von Damen und Herren geschätzt, um sich zu ersten Vorbesprechungen zu treffen.“

„Nochmal Danke!“ Wieder traf der Blick des Mannes auf Mabel, die näher gekommen war, dieses Mal vielleicht nicht unabsichtlich, der Blick in den Ausschnitt war nicht nur flüchtig.

„Miss Villeneuve, guten Tag. Ihre Post, bitte. Das Paket lasse ich dann hinaufbringen?“

„Danke, Charles. Ihnen auch einen schönen Tag! Darf ich?“

„Ich, ich bitte um Verzeihung, Ma’am! Bitte entschuldigen Sie, Ma’am“ Sam Bold schaffte es auf Kommando, rot zu werden. „Ich wollte nicht zudringlich sein!“

„Schon gut, junger Mann, was in der Auslage liegt, darf angesehen werden. Aber jetzt würde ich gerne vorbei. An Ihnen. Dort nach hinten.“ Sie wies amüsiert lächelnd auf die Lifts. „Dieses alte Gemäuer hat noch einen engen Flur. Gemütlich, aber sie stehen im Weg und ich müsste mein Büro öffnen!“

„Natürlich!“ Sam Bold spielte das Landei in der großen Stadt hervorragend. „Darf ich Ihnen irgendwie helfen?“ Er lief voran und drückte auf den Liftknopf. Mabel lachte.

„Ein Südstaatenkavalier, Ihrer Aussprache nach!“

„Vicksburg, Mississippi, Ma’am.“

„Mhm!“ Mabel sah kurz auf die Anzeige des Lifts, dann drehte sie sich noch einmal zu Sam um. „Haben Sie zu Mittag schon etwas vor, Mister?“

„Bold, Ma’am, Samuel Bold. Nein, Ma’am!“

„Na schön. Ich werde genau 10 Minuten nach zwei Uhr Nachmittag durch diese Türe da vorne Essen gehen. Wenn Sie mich begleiten wollen, müssen Sie pünktlich sein, Sam.“ Ein Klingeln signalisierte die Ankunft des Liftes, aus dem eine großgewachsene dunkelhäutige Frau stieg und, ohne sich weiter umzusehen, das Haus verließ. Kurze Zeit später folgte ihr Sam. Rick Kenda setzte ihre Sonnenbrille auf.

„Hast Du sie einwickeln können, Südstaatenboy?“

„Nein, Ma’am!“ Bold deutete einen Handkuss an. „Besser. Sie hat mich eingewickelt!“

„Voller Einsatz, Sam! Respekt“, grinste Kenda, Sam schmunzelte.

„Was bringt man der Heimat nicht alles an Opfer!“

„Tapferes Baby, soll Mami Dich trösten?“

Jetzt setzte auch Bold die Sonnenbrille auf und grinste. „Zu spät! Jetzt ist zuerst mal Miss Atombusen dran!“

„Tja, ich habe es dir ja gesagt! Ordentlich gekleidet landet besser!“

Es kostete Mabel viel Mühe, ihr Lächeln weiterhin natürlich wirken zu lassen, ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren. Dieser Sam Bold hatte seine Rolle nicht schlecht gespielt, aber dem Mann hatte man ‚COP‘ quer über die Visage gestempelt, die abgewetzte Stelle am Gürtel, wo üblicherweise eine Dienstmarke befestigt war, die Stelle an der Jacke, wo seine Waffe bereits Spuren hinterlassen hatte, der Umstand, dass er bei dieser Hitze überhaupt eine Jacke trug. Kleinigkeiten, die sich summierten. Aber von welcher Dienststelle? NYPD wahrscheinlich nicht, sie hatte vor drei Jahren eine heimliche Affaire mit einem hochrangigen Vertreter der Behörde begonnen, dessen Vorlieben nicht alle von seiner Frau geteilt wurden. Er hätte sie über eine Observation seiner Behörde sicher informiert. Wenn – er es erfuhr, vielleicht hatte das NYPD einen Verdacht? Die State Police des Bundestaates New York war für die City nicht zuständig. FBI? Ein nationaler Geheimdienst? Oder war das TBI ihr schon auf den Fersen?

Nun, als erfahrene Frau von etwas über hundert Jahren hatte sie jedenfalls schnell erkannt, worauf der Cop hinaus wollte und den Spieß einfach umgedreht. Vielleicht konnte sie bei einem Mittagessen ein wenig mehr aus dem Mann heraus holen. Wenn es sein musste, mit vollem Körpereinsatz, nach einem Abendessen mit einigen Gläsern Wein und ein wenig Whisky. Männer wurden hinterher oft sentimental oder plauderten im Schlaf, das Lächeln auf Mabels Lippen wurde wieder entspannter. Wenn man nicht zimperlich war, konnte man verdammt viel erfahren, und Mabel war nicht zimperlich, sie genoss das Spiel in vollen Zügen. Wieder ganz die Mabel, die jeder kannte, holte sie ihren Schlüssel aus der Handtasche und öffnete ihr Büro. In etwa zehn Minuten würden ihre Angestellten kommen, sie hatte also noch Zeit, ihre Snail-Mail durchzugehen.

‚Top of the rock‘ nannte man das Dach des ‚Comcast Buildings‘, mit 70 Stockwerken das höchste Gebäude des Rockefeller Center. Dort war seit Jahrzehnten eine Aussichtsplattform geöffnet, die einen grandiosen Blick über ‚the big apple‘ bot. Die meisten Besucher zogen diese Aussicht der des ‚Empire State Buildings‘ vor, spitze Zungen meinten gar, die Plattform des ‚Empire State‘ hätte nur einen einzigen Vorteil – man müsse das Gebäude von dort nicht sehen. Welcher Fraktion sie auch immer angehören sollten, die Spezialisten, die von der Verwaltung des Gebäudes nach der Vorweis eines TBI – Ausweises auf eine Terrasse unterhalb der Aussichtsplattform gelassen wurden, hatten heute kein Interesse an dem spektakulären Fernblick, sondern nur an den Fenstern des Gebäudes schräg unter ihnen. Genauer gesagt, an den Fenstern eines Büros.

Antennen für jede nur erdenkliche Wellenlänge waren installiert worden, jede Strombewegung in egal welchem Draht oder Kabel wurde aufgezeichnet. Der Chef der Einheit hatte zu Major Akamoku schief grinsend gesagt

„Wenn sie mit einem Kunden über ihr Festnetz telefoniert und der einen Furz lässt, sollten Sie sich die Nase zuhalten!“ Akiri hatte nur lächelnd genickt, sie hatte keine schlechtere Arbeit erwartet. „Kein elektromagnetisches Signal, egal welcher Frequenz, verlässt das Gebäude, ohne bemerkt und aufgezeichnet zu werden, die Mikrophone und Kameras sämtlicher Phones, Pads und Rechner, die wir orten konnten, sind online und werden mitgeschnitten. Wir laden eben Kopien ihrer Speicherinhalte, bisher keine Auffälligkeiten.“ Wieder hatte Akiri genickt, Standardverfahren bei Fällen wie diesem. „Die Fenster sind unter ständiger Beobachtung, wenn sie einmal auch nur ein winziges optisches Signal gibt, wissen wir Bescheid. Wenn aber das Warnsignal darin besteht, dass sie nicht winkt, sind wir machtlos, Major! Wir achten auch darauf, ob von irgendwoher mit einem Laser eine akustische Überwachung des Büros erfolgt.“

„Danke, Commander Moore. Hervorragende Arbeit, sie werden dem guten Ruf ihrer Einheit mehr als gerecht.“

„Wir können den Eingang in der 5th Avenue und den in 47th Street ins Visier nehmen, Ma’am. Ebenso die Fenster.“

„Danke, Leutnant. Bitte warten Sie ab!“ Fünf Scharfschützen waren in Stellung gegangen, warteten neben ihren Gewehren auf einen eventuellen Einsatz. Kenda und Bold betraten die Terrasse und traten zu der Gruppe.

„Hey, Bold, wenn dir der Einsatz zu steil wird, darf ich dann einspringen? Leute, seht Euch das an! Bold, du Glückspilz, wenn du da…“

„Mäßigen Sie Ihre Worte, Agent Mow! Vielleicht ist diese Person eine feindliche Agentin, aber sie ist auf jeden Fall eine Frau und hat wie jede und jeder andere Anspruch auf Respekt.“ Commander Moore ging mit dem vorlauten Agent hart ins Gericht, sein Tonfall besagte, dass ein dickes Ende noch nicht ausgeschlossen war. „Ich werde es dieses Mal bei einer inoffiziellen Verwarnung belassen. Sind wir uns einig?“

„Ja, Sir!“

„Dann wieder an die Arbeit und beneiden Sie Captain Bold gefälligst lautlos.“

„Was machst Du, wenn Sie nichts unternimmt, Sam?“ Akiri betrachtete die Bildschirme, die Alltagsleben des Büros zeigten. Bold zuckte mit der Schulter.

„Mit dem Feind etwas essen gehen, was sonst?“

„Und wenn uns das nicht weiter hilft? Wie weit kannst Du, willst Du gehen?“

„Soweit wie nötig. Sieht die Frau aus, als wäre es eine Strafe, mit ihr ins Bett zu gehen?“ Akiris Mandelaugen verengten sich kurz, das Lächeln gefror. Sam winkte ab. „Nein, keine Sorge Akiri. Soweit wird es nicht nötig sein. Auch wenn man DNA auf Gläsern vermeiden kann, ich komme auch ohne Sex an eine Probe, mach Dir um meine Psyche keine Sorge. Und ich verspreche, ich werde unauffällig sein, so wie der Chef es wünscht. Immerhin – bis jetzt ist sie nur eine Verdächtige, wir haben keinen Beweis, dass sie der Schläfer ist.“

Mabel hatte ihre Füße überkreuzt auf den Schreibtisch gelegt und sah nachdenklich auf ihren Computerschirm, verfolgte die Routinen des Bildschirmschoners, ohne sie wirklich zu sehen.

‚Siehst du mir gerade zu, Sam?‘ dachte sie. ‚Du, und wer noch. War dieser schwarze Panther aus dem Lift dein Partner oder eine Fremde. Wer bist du, Sam?‘ Sie wusste genau, dass es sinnlos war, ihren Rechner anzuwerfen und nach Sam Bold zu suchen. Das einzige, das sie finden würde, wäre genau das, von dem man wollte, dass sie es fände. ‚Ich weiß, dass Du weißt, dass ich weiß, ad infinitum. Es wird ein Spiel, Sam Bold! Auch wenn Du ein Team am Start hast, im entscheidenden Moment wird es ein Spiel zwischen uns Beiden. Ein letztes Spiel für mich, Sam. Ein allerletztes, denn selbst wenn ich dich besiege, kann ich nicht mehr entkommen. Spielst du noch einmal ein Spiel mit mir, Sam Bold? Am Morgen war ich noch sicher, euch alle abschütteln zu können, als strahlende Siegerin alle übertrumpfen zu können. Aber jetzt, nachdem ich nachgedacht habe? Wenn ich verdächtig bin, wird die Behörde nicht locker lassen, bis sie einen absoluten Beweis in die eine oder andere Richtung hat. Irgendwann wird sie meine DNA bekommen, egal wie gut ich aufpasse. Oder einen anderen Beweis.‘ Sie schaltete die Klimaanlage höher.

‚Denkst du schon an heute Abend, Sam? Überlegst du dir, wie du mich verführen willst? Oder denkst du, es ist besser, dich verführen zu lassen? Es ist unwichtig, Sam. Aber es ist meine letzte Rache, dich mit diesen Gedanken jetzt zu beschäftigen! Ich werde dir zwar auf Dauer nicht meine Identität verheimlichen können, wohl aber mein Wissen und meine Gedanken.‘ Sie zog nicht mehr in Betracht, dass Sam etwas anderes als ein Cop sein könnte. Nach dem Mittagessen hätte sie sicher Gewissheit, Zweifel schon jetzt keine mehr. ‚Außer du bist ein Telepath, Sam, aber dann wäre das Theater unnötig. Möchtest du mich zu einem Telepathen führen, der den Beweis sammelt und mein Wissen okkupiert?‘

Sie lächelte versonnen, schwang die Beine vom Tisch und goss sich ein Glas Cognac ein. ‚Was soll es, morgen ist es zu spät!‘ Sie nippte an dem Weinbrand, genoss das volle, warme Aroma der Sonne über diesem Landstrich Frankreichs, der sich im Getränk wiederfand, sie hatte durchaus Geschmack daran entwickelt. ‚Beobachtest du mich, Sam? Fragst du dich, ob ich jeden Tag so früh trinke? Oder wertest du es als Zeichen meiner Nervosität? Weil du mir auf den Fersen bist? Ich bin nicht nervös, Sam! Ich nehme Abschied! Ich habe es weit gebracht, und ich hatte ein schönes Leben, Sam. Sogar jede Menge Spaß daran!“ Sie lachte bei einigen Erinnerungen leise vor sich hin. „Zu sterben gehört nicht nur zum Beruf, es gehört auch zum Leben. Das wirst du auch noch lernen. Danke, Sam Bold, dass ich Abschied nehmen und mich vorbereiten kann.‘ Ihre Tür öffnete sich und Mabel sah auf.

„Ja, Frances?“

„Miss Villeneuve, Ihr elf Uhr Termin wartet.“

„Ich komme, Frances. Bitte die Herren noch um fünf Minuten Geduld. Danke.“

Mabel Villeneuve nahm ihre Handtasche und betrat die Toilette für Damen. Dort gab es einen winzigen toten Punkt, in dem aus irgendwelchen Gründen keine Strahlung der Phones hinreichte. Sie rief die Social Media Gruppe der ‚Fans der Rockoper‘ auf und löschte den selbst programmierten Zusatz zur App, eine Frage von Sekunden. Dann ging sie zum Waschbecken, wusch sich das Gesicht und erneuerte ihr Make-up. Vor dem Konferenzraum atmete sie tief durch und betrat mit einem strahlenden Lächeln den Raum.

„Meine Herren, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie warten ließ. Ich habe heute ein wenig die Zeit vergessen!“

„Was war das?“ Agent Mow ließ die Anzeige der Aufnahme zurücklaufen. „Sir, für exakt 5 Sekunden und 63 Hundertstel war das Phone der Zielperson ohne Kontakt zu unserem Server.“ Commander Moore lief an das Pult.

„Da geht sie zur Toilette, sieht auf ihr Phone – die fünfeinhalb Sekunden Pause, sie sieht immer noch, sie steckt es ein und geht in die Kabine. Kamera ist dunkel, aber der Ton eindeutig. Jetzt Spülung, Händewaschen, sie kramt in der Handtasche, dunkel, sie begrüßt ihre Kunden.“

„Worüber reden die?“

„Einen Prozess, Sir. Ich hab es überprüft, dürfte echt sein.“ Agent Carmichael zeigte seinem Vorgesetzten die offizielle Prozessliste. „Der Anwalt, der das Büro betreten hat, ist tatsächlich der in der Liste hier.“

„Sie wirkt nicht sehr beunruhigt, Sam!“ Rick Kenda beachtete nicht das Gespräch, das ohnehin aufgezeichnet wurde, sondern nur die Körpersprache. „Es ist fast – ich weiß nicht, eine entspannte Gelöstheit. Der Cognac vorher, der schien fast so etwas wie ein Abschied. Ich habe ein blödes Gefühl. Am liebsten würde ich hinüberstürmen, mit einer Sanitätseinheit im Rücken.“

Akiri studierte ebenfalls angespannt die Bildübertragung. „Das stimmt. Bringen wir ein Team in Bereitschaft. Können wir es irgendwo verstecken, Commander Moore?“

„Wir haben eine Möglichkeit im Treppenhaus, das nie benützt wird. Den Schlüssel haben wir, dort warten einige Leute, falls sie auf diesem Weg fliehen sollte.“

„Unwahrscheinlich!“ knurrte Sam. „Die Frau ist zu klug, sie weiß, dass sie verloren hat. Die Frage ist, wie will sie die anderen warnen. Wenn es ein ‚Totmannschalter‘ ist, haben wir verloren.“

„Dann müssten wir die regelmäßigen Kontakte überprüfen.“ wandte Akiri ein. „Irgendein Signal, das plötzlich vorbei ist, muss vorher vorhanden sein.“

„Sie wird uns überraschen!“ prophezeite Rick. „Ich spüre es in meinem … im kleinen Finger, sie wird uns überraschen!“

Nach der Besprechung ging Mabel Villeneuve wieder in ihr Büro, zog ihre Bluse und BH aus, stellte sich vor die Öffnung der Klimaanlage, ließ den kühlenden Luftstrom ihren verschwitzten Körper umschmeicheln. Es war ihr schlichtweg egal, ob jemand zusehen konnte, sie ging davon aus, dass ihr Bild nun auf einigen Bildschirmen zu sehen war. Na, und wenn schon? Sie war nicht prüde und wollte es bequem haben, wenn sie die Erde verließ. Sie nahm sich noch einen Cognac, setzte sich an ihren Schreibtisch und rückte den Schirm zurecht.

„Sam, ich weiß, dass du mich hören kannst!“ Mabels Stimme klang klar aus den Lautsprechern, ihr Bild war deutlich zu sehen. „Ich will es kurz machen. Mein Name ist Maabehl“ Sie sprach die beiden ‚a‘ getrennt aus und zog das ‚e‘ in die Länge. „Ich bin auf einem Raumschiff mitten im All geboren, das wirst Du schon vermutet haben, die Obduktion wird kein anderes Resultat bringen. Ich habe mich entschlossen, unser Spiel jetzt schon zu beenden. Mit dem einzigen Zug, der eine Art Unentschieden herstellt. Ich entkomme nicht, du bekommst keine Informationen außer denen, die schon hast. Maabehl aus und Ende!“ Ihre Hand hob sich, um auf eine Taste zu drücken.

„Verbindung aus!“ brüllte Commander Moore laut, und seine Leute trennten mit raschen Griffen ihre Rechner von den Antennen. Die Detectives und Moore stürzten zum einzigen Bildschirm, der noch ein Bild aus dem Büro übertrug, von einer kleine Kameradrohne gesendet. Mabels Hand hatte die Taste gedrückt, über den Bildschirm rasten Nullen und Einsen, während ihr Körper erschlaffte. „Team zwei, Vorrücken, schnell, schnell! Notfallambulanz! Verdammt, geht das nicht schneller?“

„Zu spät, Commander!“ Rick schlug mit beiden Handballen gegen die seitlichen Halterungen des Bildschirms. „Ich habe es gesagt, sie ist für eine Überraschung gut!“

Auf dem Bildschirm war ein Trupp bewaffneter Männer zu sehen, die das Büro stürmten, einer steckte die Waffe weg, tastete bei Maabehl nach einem Puls. Dann sah er in die Kamera und schüttelte den Kopf.

„Leader zwei an OpCom, Zielperson tot. Wir sind zu spät gekommen.“

„Sie hat ihren Tod schon einmal vorgetäuscht!“ fuhr Akiri auf. „Vielleicht versucht sie es wieder. Fesselfelder und ab in die Klinik! Ständige Überwachung des EEG! Verdammt nochmal! Bleibt misstrauisch, sogar wenn sie schon aufgeschnitten ist! Ein bewaffnetes Team im Obduktionssaal! Und ich möchte den besten Pathologen der Stadt. Und einen Anthropologen! Permanente Videoüberwachung!“ Sie stützte ihre Hände auf das Geländer der Plattform, ließ den Kopf hängen. Rick und Sam traten neben sie, Rick legte ihren Arm um Akiris Schulter.

„Wir haben eine gefunden, wir finden auch andere. Gehen wir wieder an die Arbeit!“

Akiri schlug mit der Faust auf die Geländerstange. „Ihr versteht nicht. Meine Verantwortung, meine Schuld. Ich sollte zumindest…“ Rick packte die Schultern ihrer nominellen Vorgesetzten und schüttelte die junge Frau.

„Wenn Du jetzt mit diesem Samuraimüll kommst”, unterbrach sie Akiri, „Dann bekommst Du eine Ohrfeige, die Du nicht so schnell vergisst. Bei uns lernt man aus Fehlern und macht weiter! Alles klar?“ Akiri befreite sich aus Richardas Griff.

„Alles klar, Rick! Außer dass Dein Schlag ins Leere ginge und Du ausgeknockt wärst!“

Richarda lachte. „Träum weiter, Baby, ohne Kanone bist Du wehrlos!“

„Hättest Du wohl gerne!“ Das Lächeln stahl sich auf Akiris Gesicht zurück, sie umarmte Kenda. „Danke, Rick. Sam? Komm her, lass Dich auch einmal drücken, und dann zurück in die Tretmühle. Wir werden wohl Cesar Alexander beichten müssen.“

*

Reggy-System, An Bord der HEPHAISTOS

Georg Mandelbrodt oder, wie er sich im Geschäft nannte, Giorgio Amarettino war einer der besten Schneider auf der HEPHAISTOS. Und es war ihm stets ein Vergnügen, für ‚la Signora‘ zu arbeiten. Er trug das gewellte Haar zu einer Tolle frisiert, schminkte sich, benützte Unmengen an Parfum und trug auffallende Ringe. Sein Bärtchen war wie mit dem Lineal ausrasiert und seine Bewegungen spotteten jeder Beschreibung. Wenn er nach Hause kam und „Haach! War das wieder ein Tag!“ sagte und dabei theatralisch den Handrücken auf die Stirn presste, war ihm das Lachen seiner Frau und zwei Kinder sicher. 15 Minuten später war von der pathetischen Dramaqueen, dem exaltierten Modeschöpfer nur noch das Bärtchen übrig.

„Wer nimmt schon einen normalen Künstler ernst?“, hatte er einmal zu Tana gesagt. „Anwesende ausgenommen, wie immer!“

„Also, einen Anzug für Sie, Mister Reginald!“ Giorgio stellte das Bekannte noch einmal in den Raum. „Klassisch, modern oder extravagant? Vielleicht ein Kilt, kariert schwarz auf schwarz, komplett mit Sporran und allem, dazu eine paramilitärische schwarze Bluse und ein schwarzes Schiffchen für den Kopf?“

„Den möchte ich dann probieren.“ Reginalds Augen leuchteten auf. „Die Bluse kann gerne ziviler wirken, ich bin nicht so der militärische Typ. Und keinen Hut. Aber dazu die schwarze Stutzen, Eis! Zuerst brauche ich allerdings etwas für den Schulball!“

„Für den Schulball? Also moderne Klassik! Hm, die Modefarben für den Herrn sind, da muss ich Signore Chris recht geben, petrol und lavendel. Also, ich glaube nicht, dass sie der Lavendeltyp sind. Dafür sollten Sie bedenken, in diesem Jahrzehnt kommen kurze Jacketts wieder in Mode, das Hemd wird wieder in die Hose gesteckt. Wie vor hundert Jahren! Es kommen auch Hemdkragen in Kontrastfarbe auf, dazu möchte ich für diesen Anlass nicht raten.“

„Petrolfarbener Anzug? Na schön!“ entschied sich Reginald.

„Aber nein!“ widersprach Giorgio. „Das Hemd und die Hose in petrol, Schuhe und Gürtel, mal sehen, schwarz, dazu entweder ein sehr helles Sakko, weiß oder senfgelb. Hmm! Vielleicht auch schwarz, aber das würde ich nicht raten. Oder eine Abart des Fracks, ohne die Schöße. Hier kommt dann nur weiß in Frage.“

„Das! Das nehmen wir!“ rief Reginald und wies auf das Bild. „Geht das petrol vielleicht etwas dunkler? Ja!“

„Eine gute Wahl, Signore Reginald! Husch, Husch, aufs Podestchen! Entschuldigung, alte Gewohnheit!“ Georg Mandelbrodt holte eine Kamera aus der Tasche und ging einmal um Reginald herum. „Ihre Maße habe ich jetzt, ich melde mich dann.“

„Danke Giorgio!“ Tana brachte den Modeschöpfer zur Tür.

„Es ist mir immer ein Vergnügen, für Ihre Familie tätig zu sein.“

*

Unter der Parkanlage des obersten Decks der HEPHAISTOS lag mittig der größte Saal der Station. Die Form des Raumes erinnerte an zwei antike Theater, die an der ‚Szene‘ ineinander übergingen. Der offizielle Name des Saales lautete einfach Theater, auch wenn er ebenfalls als überkonfessioneller Gebetsraum benutzt wurde. Prinzipiell konnte jeder den Saal für Veranstaltungen buchen, wenn der Termin noch frei war.

Montag Abend gehörte er den Opern- und Theaterfreunden, die auch regelmäßige Aufführungen in ihrem Programm hatten. Das Orchester war erstaunlich gut, obwohl jedes Mitglied eigentlich einen anderen Beruf hatte und nur zum Vergnügen spielte. Auch die Schauspieler und Sänger waren Amateure, aber enthusiastisch am Werk. Ab und zu gelang es dem Verein sogar, eine der Größen der Opernwelt auf die HEPHAISTOS einzuladen. Die Vorstellungen waren eigentlich durchweg gut besucht, das Ensemble freute sich über das kleine Zubrot, mit dem neue Kostüme, Instrumente und Bühnendekoration beschafft wurden.

„Er ist ein richtiges Genie!“ schwärmte Paul Dvorak vom neuen Regisseur. „Matta, ich sage dir, der Mann bringt selber keinen geraden Ton aus seinem Mund, aber er kann dir genau sagen, was du tun musst, um besser zu singen.“ Nach langem Zögern hatte Matta dem Drängen ihres Kollegen nachgegeben, ihn doch einmal zum Treffen des Vereins zu begleiten. „Du magst doch Musik! Du musst ganz einfach einmal kommen!“ So waren die beiden Zöllner jetzt unterwegs zum Theater. Ein langer Gang führte gedeckt zur Bühne, auf der bereits die ersten Mitglieder um einen Mann mit wilder Mähne standen, der temperamentvoll mit den Händen fuchtelte und etwas zu erklären schien.

„Das ist Haakon Kopmanson, unser Regisseur.“ Paul hatte Matta am Arm gepackt und zerrte sie mit. „Maestro! Ich habe Besuch mitgebracht!“ Der Regisseur drehte sich um und fuhr sich mit den Händen durch das ohnehin schon wirre Haar.

„Ich hoffe, eine Pamina!“ rief er laut. „Isabeau liegt auf der Medostation. Keine Chance, dass sie zur Aufführung wieder fit ist! Eine Katastrophe!“ Dann erblickte er Matta. „Ich bitte um Verzeihung, natürlich ist jeder Gast willkommen. Aber im Moment haben wir Sorgen, sehen Sie mir bitte die Unhöflichkeit nach. Sie können nicht vielleicht singen?“

„Lieder meiner Heimat, sicher!“

„Lassen Sie mal hören, Matta, bitte.“

Und Matta sang. Von den zarten Regenschauern der heimatlichen Wälder, den sanften Hügeln und dem leisen Plätschern der Wellen in den seichten Meeren. Ihre Zuhörer verstanden kein Wort des Vortrages, doch alle verspürten sie die Sehnsucht, das Heimweh. Paul dachte an das Treiben im heimatlichen Prag, die Karlsbrücke, das Rathaus und den Uhrturm, Haakon an Oslo mit dem Vigelandpark und dem Vikingermuseum, die sturmgepeitschte See und den ruhigen Hafen. Jeder träumte sich entweder in die Heimat, die man verlassen hatte und trotz aller Zufriedenheit mit dem neuen Leben doch noch liebte oder in fremde, unbekannte Welten, die es noch zu erfahren gab.

Tränen standen dem Opern- und Theaterverein in den Augen, als Matta ihr Lied beendete. Kopmanson musterte sie von den Tentakeln bis zu Schwanzspitze.

„Zum Teufel, die ‚Zauberflöte‘ ist eine Märchenoper! Matta, hätten Sie Lust, die Königin der Nacht zu spielen?“

„Ich habe keine Ahnung, ich weiß nicht, was…“

„Sie sind doch Telepathin, holen Sie es aus meinem Kopf. Schnell, bitte!“ Matta stockte kurz, dann drang sie vorsichtig in die Gedankenwelt des Mannes ein und machte sich mit dem Libretto und der Musik vertraut. Gleichzeitig erlebte sie die tiefe Liebe des Mannes zu jeder Art von Schönheit mit, und dass er es tatsächlich ernst meinte. Sie sagte schließlich zu.

„Grandissimo! Lernen Sie bitte bis nächsten Montag die Rolle, damit gemeinsam…“

„Entschuldigung, ich habe doch die Rolle gerade aus ihrem Gedächtnis gelernt. Wenn ihre Erinnerung daran korrekt ist, dann verfügen Sie über mich.“

„Noch besser!“ Haakons Augen leuchteten wie die eines Kindes zu Weihnachten. „Singen Sie doch bitte die Arie der Königin!“

Matta richtete ihren Schlangenkörper hoch auf, sodass sie von oben herab auf diese Sterbliche heruntersehen konnte, die ihrem Willen trotzen wollte, ihr Kind, das sich weigerte, ihren Wunsch zu erfüllen. Fast waagrecht hing ihr Oberkörper über der Tochter, als sie tief Luft holte und mit voller Stimme anhub:

„Der Hölle Rache brennt in meinem Herzen – Tod und Verzweiflung flammet um mich her – Fühlt nicht durch dich Sarastro Todesschmerzen – so bist Du meine Tochter nimmermehr – Verstoßen sei auf ewig – Verlassen sei auf ewig – Zertrümmert sei‘n auf ewig – Alle Banden der Natur – Wenn nicht durch dich Sarastro wird erblassen – Hört, Rachegötter, hört der Mutter Schwur…“

Langes, betroffenes Schweigen folgte der Arie, Matta machte sich bereits Sorgen, bis Kopmanson sich mit Willensstärke aus dem Bann befreite und tief durchatmete.

„Das wird die beste Königin seit dem Beginn der Aufzeichnungen. Das war wundervoll! Grandios! Sandy, Du beherrscht doch die Pamina? Gratuliere, eben bist Du statt der Mutter die Tochter geworden. Los, los, machen wir weiter, Kinder, lasst uns proben! In vier Wochen geht der Vorhang hoch! Akt eins, Szene drei – und los geht’s!“ Hektisches Gewusel setzte ein, die drei Damen sangen drohend „Papageno!“

Matta fühlte sich glücklich. Das Ensemble der Bühnenfreunde hatte sie nicht nur akzeptiert, es hatte sie wie selbstverständlich als Mitglied willkommen geheißen. Sie gehörte wirklich dazu, sie war zu Hause angekommen.

*

Atzgols Stern

Maghra war nicht in Atzgols Sippe geboren, sondern adoptiert. Sie hatte auf mehreren Planeten als Prostituierte gearbeitet, mit wechselndem Erfolg. Atzgol hatte das schmutzige, verwahrloste Mädchen gesehen, etwas in ihr erkannt und ihr das Angebot unterbreitet, in seinem Stützpunkt mit einigen anderen Frauen die Männer bei Laune zu halten. Gegen eine Pauschalzahlung, deren Höhe alles übertraf, was sie sich bisher je erhofft hatte. Dazu eine Aufnahme in seine Sippe, ein Traum für die Tochter eines Paria, der das wenige, dass nach dem notdürftigen Flicken der KIZ I übrig blieb, in starken Fusel umsetzte. Leben zu können, ohne Angst um den nächsten Bissen zu haben, eine saubere Umgebung, reine Luft, regelmäßig Duschen zu können, die sie besuchenden Männer gewaschen, sauber und einigermaßen höflich – das neue Leben erschien ihr ein Paradies bereits im Diesseits.

Nachdem sie in der Medostation der ATZ I von Ungeziefer befreit und mit jeder Menge Antibiotika vollgepumpt wurde, war sie in einen langen Schlaf gefallen. Ihr Körper heilte, sie wurde aufgepäppelt, gewaschen und gepflegt. Ihre Zähne, durch Mangelernährung bereits locker, festigten sich wieder, der Dentist legte vorsichtshalber eine Schiene an, um eine gerade Zahnstellung zu erhalten. Ihre Nase, von Schlägen mehrmals gebrochen und schief zusammen gewachsen, wurde operiert, geglättet, sie konnte wieder ohne Probleme durch die Nase atmen. Maghra wurde nicht nur gesund, sie wurde zu einer wirklich hübschen Frau, die Atzgol absolut treu ergeben war. Ohne wenn und aber! Im Bewusstsein, dass ihr Körper ein vergängliches Kapital darstellte, war sie, wann immer ihr Zeit blieb, eine eifrige Studentin, die Bildung wie ein Schwamm aufsog, um auch später der Sippe von Nutzen sein zu können.

Sowohl ihre bedingungslose Treue als auch ihre Intelligenz waren für Atzgol ein willkommener Bonus, und so betraute er sie mit der Aufgabe, den rekrutierten Sohn Rhodans bei Laune zu halten. Inkahar daZoltral – er bestand mit Nachdruck auf diesem Namen – im Griff zu behalten, erforderte mittlerweile mehr als ein apartes Gesicht und eine gute Figur. Es wurde immer schwieriger, ihn von seiner Wichtigkeit zu überzeugen, besonders, da er nur noch als Marionette für die Zukunft aufbewahrt wurde und derzeit keine Aufgabe hatte. Und immer noch fand Maghra Zeit für ihre Bildung. Sie zeigte durchaus Talent für Medizin und Biologie und wurde vom Arzt der Station weiter gefördert. Außerdem bewies sie eine schlafwandlerische Sicherheit, wenn es um komplizierte Berechnungen und Kalkulationen ging, sie war ein mathematisches Naturtalent.

„Wir müssen packen, Herzblatt!“ Maghra schmiegte sich an Thomas Rhodan und küsste ihn. „Atzgol hat eingesehen, dass wir hier nicht mehr sicher sind. Irgendwann wird jemand das Labor finden, dann sollten wir weg sein. Hast Du ja immer wieder gesagt!“ Sie küsste ihn leidenschaftlich.

„Endlich!“ Der geniale, aber stark beeinflusste Mann glaubte mittlerweile selbst daran, dass ein Abflug seine Idee gewesen war, die er gegen Atzgols Selbstsicherheit durchgesetzt hatte. Er machte sich los und begann, seine Habseligkeiten hektisch irgendwie in eine Tasche zu stopfen. Maghra strich ihm über das Haar und küsste sein Ohr.

„Setz Dich, mein Liebster. Ich packe für Dich, schenk mir die Freude, etwas für Dich tun zu dürfen“, wickelte sie den Halbterraner noch mehr um den Finger. Der wandte sich ihr zu.

„Danke“, knurrte er und setzte sich in einen Sessel, beobachtete Maghra, wie sie systematisch und rasch die Taschen füllte, dabei zwischendurch immer noch Zeit für verbale und handfeste Streicheleinheiten fand.

„Fertig, Herzblatt!“ Sie setzte sich auf seinen Schoß und küsste ihn verlangend. „Bald sind wir auf der ATZ I“, flüsterte sie. „Vielleicht haben wir dann mehr Zeit für einander.“ Und wieder verfiel Thomas Inkahar daRhodan den Verführungskünsten Maghras, immer mehr war er von seiner Sendung, der Erneuerung des arkonidischen Imperiums unter seiner Herrschaft, überzeugt.

Die Station der Springer auf Atzgol IV, einer Wasserwelt ohne erwähnenswerte Landflächen, schwamm frei im tiefen Ozean. Das Habitat bildete einen Ring von etwa 200 Metern Durchmesser und durchschnittlich ebenso hoch. Innen war ein Hafen für die kleinen Expeditionsboote angelegt worden, auch die Fenster der meisten Wohneinheiten zeigten zur wettergeschützten Innenseite. Meistens waren sie sowieso durch Stahlblenden verschlossen, denn Springer liebten keinen weiten Ausblick auf planetare Oberflächen. Da jedoch Bio-, Hydro- und Ozeanologen meist angeworbene Spezialisten waren, hatten die Konstrukteure vorsichtshalber auch die Bedürfnisse von Planetariern berücksichtigt. Ein Erfolg jahrhundertelanger Erfahrung. Außen gab es die Möglichkeit, drei Walzenschiffe anzudocken, mit flexibler Verbindung, die bei zu schwerem Seegang lieber gelöst wurde. Atzgol liebte den Gewinn, den der Planet ihm einbrachte, aber er hasste die Wasserwelt als solche.

Derzeit schwamm neben der namenlosen Basis die ATZ I, ein sechshundert Meter langer Walzenraumer mit dem üblichen Aussehen der Springerwalzen. Roboter brachte Maghra und Thomas Inkahar an Bord und wiesen Ihnen eine gemeinsame Kabine zu.

„Ruhe Dich aus, mein Herzblatt!“ gurrte Maghra und streichelte die Wange daRhodans. „Die Transite werden anstrengend und schmerzhaft, vielleicht möchtest Du ein Mittel dagegen?“

Thomas nickte. „Gute Idee, Maghra. Ich fühle wieder diese Migräne!“

„Hier mein Herz, trink das, damit Du später fit und stark bist!“ Nur wenige Minuten später schlief Thomas Inkahar daRhodan tief und fest, er bemerkte nicht, wie Maghra die Kabine verließ.

„Maghra möchte sich bei Patriarch Atzgol an Bord melden!“ Eine rituelle Floskel, normalerweise würde die Bürokraft im Vorzimmer die Meldung bestätigen, ein Willkommen sagen und dann den Meldenden wieder entlassen. Nicht so dieses Mal. Die ältere Frau im Vorzimmer trug Maghras Namen zwar wie gewohnt ein, dann jedoch blickte sie auf und sah ihr ins Gesicht.

„Der Patriarch wünscht Dich zu sprechen, Maghra.“ Sie stand auf und inspizierte Maghras Kleidung, fand nichts auszusetzen. „Ordentlich, junge Dame, sehr ordentlich. Ich glaube, mein Sohn hat doch einen guten Griff getan, als er dich in die Sippe nahm. Auf deine schulischen Leistungen kannst du durchaus Stolz sein. Geh jetzt hinein!“ Mit weichen Knien betrat Maghra das Büro des Mannes, für den sie alles gegeben hätte. Selbst ihr Leben.

Atzgol sah nicht auf, studierte weiter eine Akte auf seinem Pad, winkte ihr nur, sich zu setzen. Endlich legte er das Gerät beiseite und wandte sich seinem Gegenüber zu.

„Maghra! Zuerst einmal, willkommen an Bord. Ich wurde über dich stets auf dem Laufenden gehalten, auch wenn ich unterwegs war, und ich muss sagen, du bestehst darauf, mich zu überraschen. Du weißt, warum du in die Familie geholt wurdest, aber du hast das Zeug zu mehr. Zu sehr viel mehr. Na schön, derzeit bist du für unsere Aktion mit Thomas Rhodan unentbehrlich, aber er wird in Zukunft deine einzige und, wenn die Sache vorbei ist, letzte Verpflichtung sein. Ich mache es jetzt aber schon fest. Mutter! Bitte die Zeugen!“

Lächelnd weidete sich Atzgol am überraschten Gesicht Marghas, fünf Springer traten ein.

„Margha, ab sofort bist Du ein vollwertiges Mitglied der Familie Atzgols! Wer dich beleidigt, beleidigt uns alle, wer dich betrügt, betrügt uns alle, wer dich bekämpft, bekommt es mit uns allen zu tun! Leg die Fingerspitzen der Herzhand auf die Stirn und sprich mir nach: ‚Blut von meinem Blut, Geist von meinem Geist, eine Familie, eine Kraft!‘ Du darfst deine neuen Brüder jetzt küssen, Maghra!“ Der jungen Frau liefen die Tränen über die Wangen, als sie dem Alter geordnet einen nach dem anderen die Söhne Atzgols küsste. „Kehr jetzt zu Deinem Schützling zurück, Maghra. Und freunde dich mit dem Gedanken an, dass irgendwann die Sippe Nachwuchs von dir erwartet.“ Maghra fasste sich an die Kehle.

„Von mir, der Tochter eines Paria?“

„Von der Tochter Atzgols, Maghra. Wenn alles vorbei ist, werden wir sehen, welchen Vater du für dein Kind in Betracht ziehst. Bis dahin, bleib so lernbegierig wie bisher und kümmere dich um Thomas Inkahar.“

Ein- und Aussichten

Oktober 2083

Solares System,

Venedig, Italien

Nebel hüllten morgens die für Allan D. Mercant wohl schönste Stadt des Planeten Terra in ein Kleid, das Geheimnisse und Schönheit versprach. Leises Plätschern warnte den Spaziergänger vor den Kanten der Fondamente, wer nicht acht gab, konnte leicht ein Bad in der Lagune nehmen, deren Wasser zwar nun langsam wieder sauber wurde, aber trotzdem teuflisch kalt war.

Der eiskalte Geheimdienstchef hatte nur wenige Schwächen, Venedig und die leicht morbide Schönheit dieser alten und alt belassenen Stadt war eine davon. Anfang der 2040er Jahre hatte Mercant Homer G. Adams überredet, einen Teil seiner zukünftigen Gewinnanteile jetzt schon in den Schutz und die Sanierung der Lagunenstadt zu investieren. Adams hatte die Herausforderung angenommen und mit arkonidischer Technik den Grund unter der Stadt stabilisiert, sodass sie nicht weiter absinken konnte. Zudem war das Projekt MOSE überarbeitet, verbessert und vor allem endlich fertiggestellt worden.

Durch die Einführung einer Gebühr für Tagestouristen und dem Verbot der Einfahrt großer Kreuzfahrtschiffe in die Lagune waren die Massen an Besuchern deutlich weniger geworden, die Stadt bot nun VR-Touren, gegen bescheidenes Entgelt mit persönlichem Guide, im Netz an. Tagesbesucher suchten in der Regel keine Lokale und ähnliches auf, das Geschmackserlebnis fehlte also ohnehin. So konnte der Spaziergang jederzeit bei perfektem Wetter billig von der Couch aus unternommen werden, auch die Sehenswürdigkeiten wie den Markusdom und der Palazzo Ducale waren ohne Wartezeiten zu besuchen. Anfassen durfte man dort ja ohnehin nichts. Auch wenn man einige Stunden lang irgendwo verweilte, niemand konnte sich darüber ereifern. Früher war es vor den Attraktionen zu einem immerwährenden Geschiebe und Gedränge gekommen, ein ruhiges Betrachten der wunderschönen Mosaike, Fresken und des pompösen Altares waren sowieso ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Eine sogenannte win – win – Situation, schon der Atem und Schweiß der Besucher hatten durch die schiere Menge derselben den Kunstwerken zugesetzt. Besonders Kunsthistoriker, egal ob Professionelle oder Amateure, liebten diese neue Möglichkeit, die alten Kunstschätze aus der Nähe und von allen Seiten zu betrachten.

Sowohl Einheimische als auch jene Besucher, die für längere Zeit blieben, atmeten auf. Endlich waren der Rialto und der Markusplatz wieder zu betreten, ohne rempeln und stoßen, ohne rücksichtslose Touristen, die brüllten, kreischten und tobten wie kleine Kinder und sich den Bewohnern so haushoch überlegen glaubten, weil die alles in Ruhe und ohne Hektik erledigten. Jenen Einheimischen, welche am Vormittag ‚un Ombra‘, also ein kleines Glas Wein, tranken und zu Mittag nach Hause gingen, um gemütlich und ruhig zu essen und ein Nickerchen zu halten, Zeit mit der Familie oder der Geliebten zu verbringen. Oder mit dem Geliebten, Venezianer waren bei aller Verbundenheit zur Geschichte ein emanzipiertes Völkchen. Nicht der einzige Widerspruch in der liebenswerten Seele der Serenissima und ihrer Bewohner.

Besonders im Herbst und Winter waren die Bewohner fast ganz unter sich, doch wer jetzt kam, war herzlich willkommen. Er schätzte die morbide Eleganz der uralten Serenissima und passte sich den Gewohnheiten der Venezianer an. Nur im Carneval wurde es wieder laut in Venedig, wenn die Masken die Calle und Canali beherrschten und die hohe Zeit der Herrscherin des Meeres wieder auferstand. Die prächtigen, freizügigen Kostüme im Stil des 15. Und 16. Jahrhunderts in den Sälen der renovierten Palazzi, die vielen Kerzen, selbstverständlich lange schon ohne echte Flammen, aber täuschend echt, die den Marmor in flackerndes, warmes Licht tauchten, die Fahrten im Fackelschein mit den Gondeln durch die Kanäle. Man erwartete beinahe das Erscheinen des Dogen. Oder Giacomo Casanovas. Böse Zungen sprachen von einem Babyboom neun Monate danach, doch diese Zeiten waren seit der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts vorbei.

Mercant selbst hatte für sich eine Etage in einem Palazzo gekauft, dort eine kleine Wohnung, ein Büro und einen riesigen Videokonferenzraum eingerichtet. Eine Etage darunter waren die Wohnungen seiner Mitarbeiter, auch hier hatte Allan nicht gespart, die Leute sollten sich doch wohl fühlen. Wann immer es möglich war, kam er hier her, um in Ruhe und Entspannung an einem Problem zu arbeiten. Er liebte es, früh am Morgen, noch ehe die Stadt wirklich erwachte, in die kleine Bar am Fondamenta di Cannarggio zu gehen, den Tag mit einem Espresso doppio und einem Brioche zu beginnen. Eben so, wie es auch die Einheimischen machten, nur etwas früher. Er wusste genau, wann das Boot des Bäckers mit den backfrischen, noch warmen Köstlichkeiten zu kommen hatte und richtete seinen Besuch entsprechend ein.

Luigi wusste, dass sein Gast, wenn er in der Stadt war, eine Minute, bevor der Bäcker kam, die Brücke ‚tri Archi‘ überquerte und so beinahe gleichzeitig mit den warmen Brioches eintreffen würde. Also erwarteten Allan bereits Espresso und frisches Gebäck, welches mit Genuss verspeist wurde, gefolgt von dem kleinen Schluck Kaffee. Manchmal, nicht oft, aber doch ab und zu gönnte sich der unauffällige Mann eine zweite Runde, aß langsam und genoss den Blick über die Lagune zu den fernen schneebedeckten Gipfeln der Alpen, falls diese Sicht nicht vom Nebel beeinträchtigt war. Stets jedoch ließ er sich einige Brioches für seine Mitarbeiter einpacken, die Bäckerei, welche die kleine Bar belieferte, war eine der besten der Stadt.

Luigi mochte den berechenbaren Mann, der regelmäßig mehrmals im Jahr für einige Wochen nach Venedig kam. Er hatte aber keine Ahnung, wer der ältere Mann mit den wenigen Haaren war, ebenso wenig, wie er die Anwesenheit der fünf Geheimdienstmitarbeiter bemerkte, die seinen Gast vor einem Attentat schützen sollten. Es war ein gelockerter Dienst, denn niemand ahnte etwas davon, dass der unauffällige ‚Signore Allano‘ zu den mächtigsten Männern und Frauen der Erde zählte, und das sollte auch so bleiben. Wenn um sechs Uhr die Glocken der unzähligen Kirchen den Tag einläuteten, trat Allan auf den Balkon seiner Wohnung und betrachtete das stets gleiche und immer wieder neue Chaos, wenn die Türen aufflogen und die Venezianer ihren Tag begannen. Es war eine Gratismodeschau für Mercant, denn einen nachlässig gekleideten Einheimischen konnte man sich kaum vorstellen. Kaum eine viertel Stunde später war der Spuk vorbei, in den warmen Jahreszeiten bis zum Mittag, wenn die Lokale ihre Tische und Stühle bei schönem Wetter nach draußen stellten und Betreiber wie Angestellte auf Gäste warteten.

An der Riva S Biasio hatte man an schönen Tagen einen unendlichen Blick über die Lagune, an der Chiesa di San Giorgio Maggiore vorbei, die jenseits des Bacino di San Marco auf einer kleinen Insel erbaut war. Heute jedoch schälten sich gerade noch die markanten Umrisse des Kuppeldaches aus dem Grau, das den Blick begrenzte und auf anderes, näher liegendes zwang. Dumpf dröhnte vom Bacino das Geräusch eines Nebelhornes, die Fähre vom Lido näherte sich der Anlegestelle, wie jede Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr, rund um die Uhr fuhr sie die Strecke Punta Sabbioni – Lido – San Marco und wieder zurück. Die starken Elektromotore wurden von arkonidischen Minireaktoren gespeist und hatten die lauten, stinkenden Diesel abgelöst, beinahe lautlos, gespensterhaft näherte sich das Schiffchen dem Kai, machte sich mit dem Horn bemerkbar.

Pietro Tuscaris Blick blieb an den leise schaukelnden Gondeln hängen, die hier an den typischen Pollern befestigt waren, während er auf ein Vaporetto der Linie 1 wartete, welche den Canale grande befuhr. Ob wohl heute noch jemand eine Fahrt mit einem dieser für Venedig typischen Ruderboote unternehmen würde? Vielleicht, wenn zu Mittag das Wetter aufklarte und die Sonne zum Vorschein käme. Fröstelnd schlug er den Kragen seiner modischen gefütterten Lederjacke hoch, der Nebel kroch wirklich überall hin, kühlte die Haut empfindlich ab.

Mit etwa 42 Jahren hatte es Pietro geschafft, Filialleiter einer internationalen Supermarktkette in Venedig zu werden, das war acht Jahre her. Vorher hatte er in ähnlichen Stellungen in ganz Italien gearbeitet, wenn man seinen makellosen Papieren glauben durfte. Und scheinbar durfte man das, denn Pietro hatte den Umsatz gesteigert und für zufriedene Kunden und Mitarbeiter gesorgt. Er wohnte bescheiden als Single in einer 50 Quadratmeter großen Wohnung im Sestriere Castello, in einem der renovierten alten Häusern mit hohen Räumen an einer engen Calle. Er hielt sich schlank und fit, suchte regelmäßig einen Sportclub auf und ruderte an freien Tagen mit einem eigenen Kanu. Man sah ihn immer wieder mit Frauen ausgehen und flirten, doch eine feste Beziehung war nicht zu erkennen. Entgegen der in Venedig seit Jahrhunderten geltenden Mode der glatt rasierten Gesichter trug er einen sorgfältig gestutzten kurzen Vollbart, das Haupthaar auf Streichholzlänge gekürzt.

Pietro lag schon seit einiger Zeit mit sich selbst im Zwiespalt. Als er vor 13 Jahren sein spektakuläres Verschwinden von dem Kreuzfahrtschiff EMS Queen Elisabeth 2 der Cunard Line inszeniert und seine Maske als Arkonide abgelegt hatte, war er von seiner Mission überzeugt gewesen. Diese eben emporkommenden Barbaren durften auf keinen Fall das Handelsmonopol der Springer stören und mussten für die Ablehnung eines ständigen Handelsstützpunktes gezüchtigt werden. Also sollten er und andere Informationen sammeln, sie bereitstellen, bis sie abgerufen wurden und im Falle einer Aktivierung für Ablenkung und Terror sorgen. Bis dahin nicht auffallen und keine Aufmerksamkeit erregen.

Eine durchaus nicht unübliche Vorgehensweise, egal, ob es sich um eine militärische Operation oder einen Handelskrieg handelte. Er hatte Europa in der Nähe von Lissabon betreten und sich mit wechselnden Identitäten durch Portugal, Spanien und Frankreich bis Italien durchgeschlagen. Bis hierher hatte er genug Erfahrung gesammelt, sich selbst eine vorläufig letzte Person zu erschaffen, einschließlich Papiere und Hintergrund in Form von Computerdateien. Der Pass war sogar echt, er hatte mit Hilfe der restlichen Dokumente einfach bei den Behörden einen beantragt und erhalten. Dann bewarb er sich bei der Supermarktkette und brachte die richtigen Zeugnisse bei, er übernahm die Filiale in Venedig und wurde unsicher, ob sein Auftrag wirklich gerechtfertigt war.

Es war nicht nur die schöne Stadt, deren neue Maskerade das Alter nicht mehr verbergen konnte, wie eine alte Frau, die unter der Schminke doch noch wunderschön war, die Heiterkeit einer früher ständig vom Untergang im Wortsinn bedrohten Stadt, die Paläste, Kunstschätze oder irgend etwas anderes, worauf man den Finger hätte legen können. Es waren auch die Menschen, die Venezianer, die, obwohl sie sich als eigener Menschenschlag sahen, doch gastfreundlich und offen den Fremden mit dem seltsamen Dialekt bei sich aufnahmen. Pietro war sich nicht mehr sicher, ob er seinen Auftrag wirklich erfüllen sollte. Er wollte diese schöne Stadt und ihre Bewohner nicht mehr in den Untergang zu stürzen, ebenso wenig wie die Menschheit als solches.

Ein lautes Geräusch aus einem Lautsprecher riss Pietro aus seinen Gedanken und kündigten die Ankunft eines ebenfalls durch einen Minireaktor betriebenen Vaporettos an. Der Fahrer drängte das Boot gegen das schwimmende Wartehäuschen, während der zweite Mann an Bord mit einem Tau das Wegdriften verhinderte. Dann öffnete er die Schranke und ließ die Passagiere aussteigen, winkte danach die Wartenden an Bord. Pietro blieb lieber im Freien stehen, statt in die geheizte, aber muffig und nach Nässe riechende Kabine zu steigen. Die Angestellten der ACTV kannten ihn und seine Gewohnheiten, begrüßten ihn als einen alten Bekannten.

Erste Sonnenstrahlen durchdrangen den Nebel, plötzlich leuchteten die Farben und das Gold der Fassaden aus dem tristen Grau, die Geräusche wurden deutlicher, die Temperatur stieg deutlich. Pietro schloss dankbar seine Augen und hielt sein Gesicht der Sonne entgegen, genoss die Wärme auf der Haut.

„Ca d’Oro!“ riss ihn die Stimme des Matrosen aus seiner Versunkenheit, Pietro machte sich zum Ausstieg bereit. Morgen würde er eine Entscheidung treffen. Das hatte er schon vor Monaten beschlossen, morgen. Spätestens übermorgen.

*

Galacto City, GCC Tower

Das größte bekannte Fenster auf einem Planeten befindet sich derzeit auf Arkon. Doch jenes des großen Konferenzraums im GCC Tower war durchaus beeindruckend genug. Über drei Etagen nahm es eine komplette Wand ein, die Schrägstellung erlaubte einen Blick direkt nach unten auf die 285 Stockwerke tiefer gelegene Straße ebenso wie in der Ferne die Hügel der Wüste Gobi und den Goshun – See und zahlreiche grüne Parkanlagen mit ihren künstlich angelegten Teichen. Die zu Beginn rein funktional gebaute Stadt wurde nach einiger Zeit gentrifiziert, weitläufige Gelände wieder von Bauwerken befreit und begrünt. Die Bewohner und Geschäftsleute wurden in gleichwertige Bezirke, welche bereits großzügiger geplant und mit grünen Gürteln ausgestattet waren, übersiedelt, breite Straßen verbanden die Viertel im Untergrund. Die mit Glas gedeckte und klimatisierte Oberfläche und die Grünanlagen blieb den Fußgängern vorbehalten, darüber schwebten die Kabinen der frei benutzbaren öffentlichen Verkehrsmittel computergesteuert auf festgelegten Routen.

Obwohl der offizielle Name GCC Tower war, handelte es sich eigentlich um einen Komplex aus vier Gebäuden, alle 320 Stockwerke hoch, und sah aus, als stünden vier Martinigläser im Viereck. Die obersten Stockwerke waren durch Brücken verbunden, der Volksmund nannte den Komplex ‚Happy Hour‘, manche sagten auch ‚gerührt, nicht geschüttelt‘ dazu. In der Mitte des Platzes zwischen den einzelnen Gebäuden erhob sich eine Fontäne hoch in den Himmel, umgeben von einem großzügigen Park. Die Gleiterabstellplätze befanden sich natürlich wie die Straßen unterirdisch, die öffentlichen Verkehrsmittel hatten ein Terminal im Nordturm, in welchem auch die gerne besuchte Bar ‚Heavens Gate‘ und das angesagte Partylokal ‚Arkonids Dream‘ lag.

Man erzählte sich, wer noch nie im ‚Arkonids‘ eine Nacht durchgemacht hatte, wusste nicht, was eine Party war. Reginald Bull zählte zu den oft und gerne gesehenen Gästen, der Arkonide Atlan war dem Besuch ebenfalls nicht abgeneigt und das Mutantencorps hatte hier schon wilde Nächte verbracht. Selbst Thora war bereits gesehen worden, wie sie, in einen bereits von allen Modeschöpfern kopierten, auf beiden Seiten geschlitzten Minirock und ein nabelfreies Top gekleidet, Perry Rhodan auf die Tanzfläche zerrte. Eine bereits legendäre Schlagzeile in den Klatschkolumnen der Boulevardblätter, deren Reportern zwar der Zutritt verboten war, die aber immer wieder Fotos zugespielt bekamen – und gut dafür bezahlten. Rhodan war nicht amüsiert über dieses Foto gewesen, das ihn mit säuerlichem Lächeln zeigte, doch Adams hatte nur gelacht und ihm die Börsenzahlen vorgelegt. Die Preise für die Aktien waren um einige Prozentpunkte gestiegen, weil ‚der Chef von so einem Konzern auch so menschlich und ein Partymuffel ist, und weil seine Frau so umwerfende Beine hat‘, wie eine Umfrage ergab!

Ebenfalls im Nordturm gab es ein riesiges Einkaufszentrum, in dem man so ziemlich alles kaufen konnte, mit dem legal Handel betrieben werden durfte. Von kleinen Edelboutiquen für Kleider, Schmuck und Taschen zu großen Ketten wie etwa Sears-Montgommery-Brooks oder Noble & Barnes, Macys oder Bloomingdales. Darunter gemischt hatten sich ‚Asia Noodle Snack‘, das ‚Dschingis Khan‘, das ‚Vegetasia‘ und hunderte andere kleine und nicht so kleine Läden, wo man seinen Hunger stillen konnte. ‚Burger Queen‘ war vorhanden, ebenso Kaffee- Tee- und Kakaohäuser. Es roch und duftete aus allen Ecken, man konnte sich kaum satt riechen. Harley Davidson hatte ebenso einen Schauraum wie Mercedes und Volvo. Man erzählte sich, dass Atlan eine flugfähige Police Easy – Nuke hier in Bestellung gegeben hatte, in schwarz und mit viel Chrom. Auch hier machte ein Foto schnell die Runde in den Klatschblättern, wie der große Arkonide begeistert vom Design eine Proberunde über der Gobi machte.

Der Ostturm beinhaltete Büros. Jeder, der genug Geld mitbrachte, konnte sich in diesem Trakt einmieten, viele Gesellschaften hatten es schon gemacht. Manche in einem bescheidenen Büro mit Vor- und Warteraum, manche einer ganzen Etage. Wegweiser und Empfangskräfte machten es schwer, sich zu verlaufen, ebenso der überall präsente private Sicherheitsdienst. Es hatten sich auch Rechtsanwaltskanzleien, Steuerberater und eine große Versicherungsfirma niedergelassen, zwei Architekten betrieben ihr Geschäft, manchmal in enger Zusammenarbeit mit einem Konstruktionsbüro.

Im westlichen Turm waren eine Klinik und im Erdgeschoss ein Ärztezentrum zu finden, die Behandlung erfolgte je nach Gehaltsstufe oft sogar kostenlos. Modernste Geräte und kompetente Ärzte verschafften der Klinik einen guten Ruf, wie auch in der ganzen Stadt die medizinische Versorgung vorbildlich war. Angeschlossen war die medizinische Fakultät der UGC mit einem großzügigen Campus und erschwinglichen Schlafstätten für Studenten in einem der vergleichsweise flachen Nebengebäude. Selbst die Küche der Klinik, die auch das medizinische Personal und die Studenten mit verschiedenen Menüs versorgte, fand keine Kritiker. Außer jenem Prozentsatz Nörgler und Unzufriedener, der wohl immer und überall zu finden ist.

Im südlichen Turm residierte die GCC selbst, hier war auch dieser große Konferenzraum mit der atemberaubenden Aussicht. Im obersten Stockwerk saß die General Cosmic Broadcast Inc., derzeit eine der größten TriVid-Dokumentationssendeanstalten Terras. Seit kurzem wagte sich die Anstalt auch ins Unterhaltungsgenre vor und produzierte die Serie ‚First‘, welche die Erforschung und Besiedelung des Planeten First zum Thema hatte. Im Vor- und Abspann wurde darauf hingewiesen, dass es sich nicht um reine Science-Fiction handelte, Interessenten an einer Auswanderung nach First melden sich bitte unter…., nähere Unterlagen, Farbbilder und Bewerbungsformulare unter first.gcc/download. Ein Katalog der Anforderungen und Befähigungen für Bewerber, nähere Informationen und so weiter. Die GCC bereitete den nächsten Schritt der Menschheit aus seiner Wiege vor, legten auch schon das Auswandererschiff MAYFLOWER auf Kiel, wie man es immer noch nannte.

Eine Angestellte der GCC ging mit energischen Schritten vor der Delegation der Interstellar Trading Companie her und brachte die zwei Damen und drei Herren zum großen Konferenzraum. In ihren blauen Geschäftsanzügen und Kostümen mit Blazern wirkte diese Delegation beinahe, als trüge sie Uniformen, die ausdrucklosen Gesichter verstärkten den Eindruck. Mary Gwhambaga aus Kenia blieb vor der großen Doppeltür kurz stehen und kontrollierte, ob auch alle Gäste vorhanden waren, dann presste sie ihre Hand auf eine Platte, lautlos zogen sich die Türhälften in die Wände zurück.

„Ich darf Sie bitten einzutreten?“ Eine elegante Handbewegung lud die Delegation ein.

„Danke, Miss Gwhambaga!“ Stan Lee Johnson neigte höflich den Kopf, überraschte mit der korrekten Aussprache des Namens der Afroterranerin.

„Mister Johnson!“ Perry Rhodan kam seinem Gast entgegen und reichte ihm die Hand. „Willkommen im GCC Tower Süd. Was können wir für sie tun? Aber bitte, setzen wir uns doch. Meine Damen, die Herren. Kaffee, Tee, Wasser? Bedienen Sie sich, bitte. Wenn Sie etwas brauchen, wird Klaus es Ihnen gerne besorgen.“ Der Aufsichtsratsvorsitzende und CO der Interstellar war ein bereits etwas älterer, aber fit wirkender Mann mit schlohweisser Mähne und gepflegtem Erscheinungsbild. Einige Falten in seinem gebräunten Gesicht zeigten sein wahres Alter von beinahe 80 Jahren, trotzdem hielt er sich kerzengerade, nicht zuletzt Dank einiger Medikamente, die von seiner Konkurrentin auf den Markt gebracht wurden. Vater Johnson hatte Milliarden an der Wall Street verdient, der Sohn hatte beschlossen, mit real vorhandene Dingen zu handeln.

„Mister Rhodan, zu Beginn konnte ich nicht glauben, was Sie über Liquvital sagten, ehrlich gestanden, ich hielt es für einen Trick, die Konkurrenz los zu werden“ Stan Lee Johnson kam sofort zur Sache und ersparte sich einleitendes Geplänkel. „Dann aber traten die von ihnen befürchtete Wirkungen ein, ich wollte es immer noch nicht glauben, habe aber trotzdem umfangreiche Tests in Auftrag gegeben. Alle negativ, und ich sah mich bestätigt. Heute bin ich hier, um mich zu entschuldigen, sie hatten von Anfang an die richtigen Informationen. Doktor Miles Buchanan wird Ihnen seine Ergebnisse mitteilen.“

Buchanan war ein Wissenschaftler wie aus dem Bilderbuch. Klein, schmächtig, wirre Mähne und eine dicke Brille, der Geschäftsanzug schien ihm unangenehm und war es wohl auch. Man konnte sich den Mann eigentlich nur einem Laborkittel wirklich vorstellen.

„Wir haben zwar das Getränk chemisch analysiert, wir haben auch die Dosen auseinander genommen, aber wir haben nie etwas gefunden. Vor einigen Tagen öffnete ich eine der Dosen für eine neue Testreihe, in der Überzeugung, keinen Unterschied feststellen zu können. Ich wurde gerufen, um eine Frage zu beantworten, und als ich zurück kam, überlegte ich kurz, die Dose weg zu kippen und eine frische zu öffnen. Wegen einer möglichen Kontamination in einem nicht zu hundert Prozent sterilen Labor. Ich gab aber dann doch jene, die bereits offen auf meinem Tisch stand, in die Analysestraße. Es war so ein ‚ach was soll schon passieren‘ – Gedanke. Hier ist die Formel von dem, das wir danach gefunden haben. Sie wird aktiviert, wenn das Getränk in einer offenen Dose Sauerstoff ausgesetzt wird. Öffnen und in einem Zug austrinken zeigt keine Wirkung, wenn Sie den Drink in ein Glas umfüllen, ebenso negativ. Aber wir haben eben in den letzten Jahrzehnten die Angewohnheit angenommen, direkt aus den Dosen zu trinken, und es ist so viel Inhalt, dass man sie selten in einem Zug leert. Das war das Verhängnis! Ich konnte dem Ergebnis nicht glauben, wir haben hunderte Dosen neu geöffnet und das Intervall zwischen öffnen und untersuchen kontinuierlich vergrößert. Die Wirkung beginnt sich nach etwa 30 Sekunden zu entfalten.“

„Martha, wären Sie so freundlich?“

„Mein Name ist Martha High, ich bin Anwältin und Mister Johnsons Beraterin.“ Die kleine, etwas pummelige Blondine mit einer großen Ausstrahlung nach Kompetenz und Sachverstand öffnete ihre Aktentasche und entnahm ihr einige Schnellhefter, die sie routiniert unter den Anwesenden verteilte. Rhodan und seine Mitarbeiter vertieften sich in die Schriftstücke. „Auf mein Anraten hat Mister Johnson die Informationen dem Papier anstatt elektromagnetischen Speichern anvertraut, da diese aus einer gewissen Entfernung auszuspionieren sind.“ Mercant warf die Blätter auf den Tisch und blätterte in seinem Pad, verglich zwei Formeln, nickte.

„Meine Damen und Herren, ich bin Geschäftsmann“, polterte Johnson. „Aber ich bin verdammt noch einmal auch ein Mensch dieser Erde! Und ich werde nicht zusehen, wie meine Heimat auf das Hinterhältigste von wem auch immer angegriffen wird. Ich bin hier, um eine gemeinsame Strategie vorzuschlagen! Dazu habe ich meine Anwälte und Stellvertreter mitgebracht.“ Er erhob sich von seinem Sessel. „Ich nehme an, Sie werden zuerst das Gehörte besprechen wollen. Bitte melden Sie sich bei mir.“

Auch Perry Rhodan stand auf und hielt Stan Lee Johnson die Hand hin. „Ich danke für Ihre Ehrlichkeit und Ihren Mut. Nicht viele hätten diese Größe aufgebracht.“

Johnson ergriff die Hand. „Nur, damit wir uns richtig verstehen, Mister Rhodan. Wir bleiben Konkurrenten und werden deshalb noch lange keine Freunde. Aber ich habe Respekt vor Ihnen und vertraue auf Ihre Treue der Erde gegenüber. Ich würde sagen, wir verteidigen gemeinsam die Erde!“

„Das ist ein Wort.“ Perry grinste. „Auf ehrliche Konkurrenten! Bitte behalten Sie Platz, es wird nicht lange dauern. Ich darf Sie auf einen Imbiss einladen? Klaus!“

Die Interstellar Trading Companie war nach Starlight Enterprises der zweite Konkurrent der GCC im Handel mit fremden Systemen. Nachdem auf der Erde die GCC ein Monopol auf die Antriebe für die Transitation in ferne Systeme besaß, hatte die ITC Kontakt zu topsidischen Herstellern aufgenommen und die Nachbauten der Echsenwesen in Kugelschiffzellen einbauen lassen. Die Ingenieure der Topsider hatten sich gewundert, doch der Kunde ist König, und so flogen Kugelschiffe mit topsidischer Energiesignatur durch das Imperium, um Handel zu betreiben. Ähnlich wie Starlights hatte die ITC einen Partner unter den Springern gesucht und gefunden, dann hatte Atzgol ein Angebot gemacht, dem Stan Lee Johnson nicht widerstehen konnte. Er begann, zusätzlich zu seinen anderen Geschäften mit dem Import eines Energydrinks. Mit fatalen Folgen, wenn auch die schlimmste Zeit vorbei war und sich das Leben langsam zu normalisieren schien. Doch auch Stan Lee wusste, es war der erste Schuss in einer langen Schlacht, in welcher er auf der richtigen Seite zu stehen gedachte. Auf der Seite der Erde und der Menschheit.

*

Reggys System, An Bord der HEPHAISTOS

Tana Starlight stand in ihrer Suite und betrachtete nachdenklich den Bildschirm.

„Tana?“ Chris trat hinter Tana und umarmte sie. „Du hast wieder diesen verträumten und sehnsüchtigen Blick, wenn Du das Fenster auf Außenkamera stellst.“ Sie legte ihre Hände auf seine und lehnte sich gegen ihn.

„Da ist etwas Wahres dran, Chris. Ich habe – ach, zum Teufel! Ich besitze ein Vermögen, einen Mann, der mich glücklich macht, einen tollen Sohn, gute Freunde. Ich habe aus dem Nichts ein Imperium geschaffen, innerhalb von nur dreißig Jahren sind wir ein Faktor in der bekannten Milchstraße geworden. Ich habe verhandelt und einiges sogar selbst konstruiert. Ich war unterwegs und habe Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt – und jetzt? Ich schiebe Zahlen auf einem Bildschirm hin und her, und ich gehe beinahe täglich in ein Fitnessstudio, nur um nicht aus dem Leim zu gehen, weil ich zu viel esse und trinke. Weil mir in meinem Büro die Decke auf den Kopf fällt, weil mich die nächste und übernächste Statistik jetzt schon anödet. Als Dad vermisst wurde, war ich plötzlich wieder lebendig, es war ein Abenteuer wie früher! Ich habe Probleme, wieder in den Alltag zu kommen. Hat sich alles gelohnt, nur um jetzt als Oberbuchhalter zu enden?“ Tränen traten in Tanas Augen, Chris knabberte an ihrem Ohr.

„Nimm Dir doch ein Schiff und gehe auf eine Inspektionstour“, hauchte er. „Oder suche neue Planeten, neue Märkte, neue Rohstoffquellen. Persönlich! Steig in die KLEOPATRA, wenn sie umgerüstet ist, und mach Dich auf die Socken. Oder nimm die ORION, dann aber sollte die KLEOPATRA als Eskorte trotzdem dabei sein. Wenn Du mich mitnehmen willst, freut es mich. Wenn nicht, werde ich auf Dich warten.“

„Die KLEOPATRA… warum nicht?“ Die Tränen versiegten und Tanas Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück. „Das ist eine wundervolle Idee, Chris. Wir könnten einmal irgendwohin fliegen und uns etwas ansehen. Wenn ein Geschäft dabei herausspringt, um so besser. Aber endlich einmal wieder da raus! Ich war schon total betriebsblind, habe nur noch Scheuklappen gehabt. Du hast recht, wir machen Flitterwochen, Liebster.“ Sie wandte sich um und küsste ihn stürmisch. „Komm in fünf Minuten nach! Ich habe Dir doch einmal etwas versprochen!“

„Weiße Hose, String?“

„Mmhmm!“ Chris lief ein Schaudern nicht nur über den Rücken. Fünf Minuten können verdammt lange werden…

*

„Hat jeder sein Pint?“ Tana Starlight alias Victoria Rosheen dalRhodan klopfte mit den Knöcheln auf den Tisch. „Meinen Sohn Reginald kennen die Meisten von Euch ja wahrscheinlich schon. Also, Leute, was können wir erfinden, das uns eine Menge Kohle, Zaster, Moneten oder Gold einbringt?“

„Eine Pille gegen die Dummheit!“ der Ingenieur Charles Gentry faltete die Hände vor seinem dicken Bauch und schloss die Augen.

„Das funktioniert nicht!“ Ka’Areen beugte sich vor. Die Medizinerin aus dem Volk der Ara sah auch genau so aus wie alle ihres Volkes, beinahe zwei Meter groß hätte man sie, wäre sie ein Mensch gewesen, als spindeldürr und stark untergewichtig bezeichnet, und das mit vollem Recht. Für ihr Volk jedoch galt sie bereits als üppig, man konnte deutlich das für weibliche Humanoide typische Fettgewebe um die Milchdrüsen und die Hüften sehen, ungewöhnlich für Frauen ihrer Abstammung. „Wir könnten die Intelligenz steigern, das hilft aber wenig, wenn die Person nicht bereit ist, diese zu nutzen. Es gibt kein chemisches Mittel, die Menschen – und da rechne ich durchaus auch die arkonstämmigen Völker dazu – zum denken zu zwingen. Jeder will alles wissen, sich aber durch Seiten wissenschaftlicher Artikel zu lesen, oder überhaupt die Grundlage zu erwerben, diese Artikel zu verstehen, dazu sind sie zu faul. Nun ist nichts gegen körperliche Faulheit einzuwenden. Unser Charly ist dafür das beste Beispiel!“

„Zuviel der Ehre, Teuerste.“ Charles öffnete die Augen und blinzelte. „Ich bin also faul, so, so!“

„Du bist faul, Charly, und wir lieben Dich alle, wie Du bist“, warf Ka’Areen ihm eine Kusshand zu. „Körperliche Anstrengung magst Du gar nicht, darum bist Du ein guter Erfinder. Du erfindest Dinge, die Dir die Arbeit entweder erleichtern oder ganz abnehmen!“

„Ach, es gibt durchaus Gelegenheiten, da ist unser Charly körperlicher Anstrengung gar nicht abhold. Und ich bin sicher, dass er dafür nichts erfindet“, warf Sophia Lorenz ein, die Hochenergietechnikerin war noch nicht lange auf der HEPHAISTOS, hatte sich aber schnell eingelebt.

„Manchmal lohnt es sich, Sophia!“ Charly lächelte versonnen. „Wollen wir wieder einmal essen gehen?“

„So sehr mir Euer privates Glück am Herzen liegt”, unterbrach Tana Starlight. „Und so sehr ich Euch von ganzem Herzen viel Spaß wünsche, bitte ich Euch noch kurz um Aufmerksamkeit. Dann könnt Ihr Euch gerne in eines von Smokebeards Separees zurück ziehen. Also ist eine Pille gegen die Dummheit kein Erfolgsschlager?“

„Wie gesagt, die Masse möchte denken lassen und sucht sich die Meinung, die am besten zu den Vorurteilen passt. Es hilft keine Intelligenzsteigerung, wenn die Person nicht denken will.“

„Verstehe. Andere Vorschläge?“ Tana sah in die Runde. „Hat keines der Genies hier eine Idee? Ja?“

„Wir könnten ein Ortungsgerät bauen, dass unsere verschleierten Sprünge sichtbar macht. Den Dämpfer könnten wir dann allgemein anbieten, wir hätten doch wieder einen Vorsprung. Wir müssten nur sofort eine Tarnung gegen dieses Ortungsgerät entwickeln, dann können wir auch diesen Orter später anbieten.“ Tana warf einige Zahlen in ihr Pad.

„Wir erhalten praktisch den Status quo und verdienen daran? Das gefällt mir.“ Tana klappte ihr Pad zu und nickte.

„Ich möchte an dieser Stelle auch noch eine Ankündigung loswerden.“ Die Chefin lehnte sich vor und sah jeden einzelnen der Runde an. „In wenigen Tagen kommt unser erstes Schiff der 600 Meter Klasse, die KLEOPATRA, aus der Werft. Ich habe sie von der Konstruktion her schon stark bewaffnet, sie, die HELENA und die THEOPHANU sollten der Grundstock einer Kampfflotte für den Ernstfall werden. Ich habe nun ein viertes Schiff bestellt, die POMPADUR. Nach der Umrüstung der KLEOPATRA werde ich eine kleine Expedition unternehmen und mich selbst und persönlich im Imperium umsehen. Leute, allmählich bekomme ich wieder Hummeln im Arsch, ich möchte einige Zeit nicht stillsitzen wie die Spinne im Netz und verstauben! Den Spaß gönne ich mir, wenn ich dabei Geschäfte oder Rohstoffe finde, umso besser. Mein Vertreter wird Leslie Myers, sie wird Reginald als meinen Nachfolger und Erben einarbeiten, bis er sich imstande fühlt, selbst zu übernehmen. Oder bis ich zurück komme, was ich eigentlich vorhabe. Das wäre es fürs Erste. An die Arbeit, Leute!“

*

Montreal, Kanada

Ein eiskalter Wind pfiff durch die Straßen der Stadt Montreal, trieb dicke Regentropfen vor sich her, peitschte die wenigen Passanten in die Häuser.

„Wer diese Gegend die ‚Belle Provence‘ genannt hat, war irgendwie verrückt“, knurrte Sam Bold und zog die Kordel der Kapuze seines Parkas enger. „Zu Hause würde ich mir jetzt am Abend einen Sweater überlegen, und hier friert einem das Hirn ein.“

„Pardon, Monsieur, aber sie haben keine Ahnung, was Kälte ist!“ Der Capitaine der Service de Sécurité Incendie de Montreal lachte vor sich hin. „Kommen sie nächstes oder übernächstes Monat wieder, dann erleben Sie Kälte. Und Schnee.“

„Merde“, fluchte Rick Kenda und hauchte auf ihre klammen Finger. Diesmal hatte sie auf modischen Chic verzichtet hatte und einen ordentlichen Anorak und einen dicken Pullover gewählt, ihre Beine und Füße steckten in dicken Cordhosen und gefütterten Stiefeln.

„Parlez-vous français, Mademoiselle?“ Der Montrealer fragte mit der typischen Begeisterung der frankophonen Bevölkerung für ihre Sprache.

„Peu“, antwortet Richarda. „Très peu! Je suis désolé.“

„Dommage! Aber danke, dass sie ein wenig sprechen. Hier sind wir am Ort, wo wir den Brand löschen mussten. Die Service de Police de la Ville de Montral und die Sûreté de Quebec hatten den Mann schon länger im Visier, er soll ein bekannter Fälscher gewesen sein. Wir hatten damals Glück im Unglück. Drüben, auf den Inseln wäre der Brand fataler ausgegangen. Hier im Vorort sind die Häuser niederer und kleiner. Da unten im Keller muss eine riesige Hitze geherrscht haben, ich wundere mich, dass nicht das ganze Haus komplett verbrannt ist. Na ja, viel ist nicht übrig, aber mehr, als wir erwartet hatten. Und es hat nicht in die Nachbarschaft übergegriffen. Können sie sich vorstellen, wie das bei den ganzen ‚Skycrappern‘ da drüben ausgesehen hätte.“

„Crappern?“ Akiri konnte ihr Gesicht nur mühsam beherrschen.

„Wenn Sie bei der Feuerwehr wären, würden Sie es ähnlich sehen, Mademoiselle. In Wirklichkeit sind diese Hochhäuser Todesfallen, wenn wirklich etwas passiert. Sagen Sie nicht, das es unmöglich ist, dafür habe ich schon zu viel gesehen. Anno 46 war es, da hat es auf der Île Notre-Dame ganz schön gebrannt. Ein ganzes Viertel ist in Schutt und Asche gelegen, ein Glück, dass damals die Untergrundstadt schon fertig war. Da konnten die meisten hinunter, ohne zu erfrieren, die Armee und das RCMP haben ihre Lager geöffnet und Schlafsäcke ausgegeben, dann auch noch schnell eine Ausspeisung organisiert. Auch wenn Quebec frankophon ist, hat uns der Rest von Kanada nicht im Stich gelassen. Wir werden Kanada auch unterstützen, wie immer wir können. Wir sind stolz, Kanadier zu sein! Auf jeden Fall war das damals eine riesige Sache, ich will gar nicht mehr daran denken. Hat aber mit der Sache hier nichts zu tun, die war zehn Jahre später.“

„Wurde ein Mensch von einem anderen Planeten damals vermisst, als es auf der Insel brannte?“ Sam wurde hellhörig.

„Nein, Monsieur, damals nicht. Aber es muss so 56 gewesen sein, da hat man uns verständigt, dass einer in den Horseshoe – Fall oben in Niagara gefallen sei, wir sollten aufpassen, ob wir seine Leiche finden. Unmöglich! Wir haben nie mehr etwas davon gehört. Etwa ein Monat später war dieser Brand hier.“

„Danke, Capitaine!“ Rick reichte dem Mann die beinahe erfrorene Hand, der drückte mit seiner warmen Pranke zu. „Die Beweismittel hat die Polizei von Montreal?“

„Die sind in der Verwahrung der Sûreté de Quebec. Es ist hier nicht direkt die Stadt Montreal, sondern ein Vorort. Sie finden die Büros in der Rue Parthenais, ich nehme an, Sie werden bereits erwartet. Ich bringe sie hin.“

Alle vier klemmten sich in den hochrädrigen SUV mit der Aufschrift SIM und dem roten, kreuzförmigen Emblem auf blauem Grund der Feuerwehr Montreal.

„Wundern Sie sich nicht, wir haben hier gerne noch ein paar Räder. Wenn im Winter die Stürme richtig wüten, ist man manchmal ganz froh, wenn man nicht schweben muss, sondern fahren kann. Daher auch die ausfahrbaren Spikes für mehr Halt. Aber natürlich fährt das Ding schon lange mit arkonidischem Minimeiler für den Antrieb. Genau so, wie die RCMP, die nicht auf ihre Schneemobile mit dem Kettenantrieb verzichten will. Wie gesagt, ist ein kaltes und manchmal stürmisches Land, da oben im Norden. Aber auch ein verflucht schönes.“

Damals, noch ehe Perry Rhodan zu seinem Flug zur Wega aufbrach, hatte die Firma SAAB als erste Kontakt zur GCC wegen der Lieferung von Minimeilern aufgenommen und die alten Konstruktionspläne für ein schweres Flugzeug mit Luftschrauben aus den Schubladen geholt. Es sollte jetzt, durch starke Elektromotore angetrieben, sein Comeback feiern. Es wurden einige tausend Exemplare verkauft, ehe der Fährenantrieb die aerodynamische Luftfahrt auf Kleinstflugzeuge beschränkte. Die Firma VOLVO folgte und baute eine große Luxuslimousine und einen schweren SUV. Der Slogan ‚einmal gekauft, nie mehr getankt’ bescherte hervorragende Verkaufszahlen, die ersten Käufer des SUV war die RCMP, die berühmten Mounties. Unbeschränkte Reichweite und sichere Heizung hatte für diese Polizeieinheit einen deutlichen Anreiz, minus 20 Grad ohne Benzin sind eine unangenehme Sache.

Als dann 2036 die ersten reinen Gravgleiter entwickelt wurden, waren es wieder die kanadischen Polizisten, die in der Wildnis das neue Gerät testeten. Es bewährte sich nur sehr begrenzt, bei starkem Sturm war kein Manöver mehr möglich. Also bat man den Hersteller VOLVO um einen Hybrid, Räder plus Gravantrieb. Platz war in der Karosserie genug vorhanden, und so fuhren die kanadischen Einsatzkräfte immer noch mit Rädern, bei Sturm drehten sie den Grav unter Umständen in die andere Richtung und machten das Fahrzeug schwerer. Mit den ausfahrbaren Spikes und den Spezialreifen waren sie so bei jedem Wetter sicher Unterwegs. VOLVO bot in Folge dieses Modell, das den Namen ‚eXXXtrail’ erhielt, auch mit Erfolg in Skandinavien und Russland an. Lada konstruierte für Sibirien eine einfachere und billigere Variante ohne Luxus, ohne Schwebeeinrichtung und ohne die im Westen so beliebt gewordene Zusatzausstattung, dafür aber für Jedermann erschwinglich.

Kenda hielt ihre Hände vor die Heizungsanlage. „Ich hätte die Handschuhe auch nehmen sollen. Voriges Monat Hitzewelle in NYC, und jetzt diese verdammte Kälte! Akiri, wieso frierst Du bloß nicht?“

„Wer behauptet denn so etwas?“ die Japanerin drehte sich zu den hinten eingestiegenen Kenda und Bold um. „Nur weil meine Zähne nicht klappern, bedeutet es nicht, dass mir warm ist. Ich ignoriere die Kälte bloß! Das ist japanisch, und auch ein wenig Zen.“

„Respekt, Madame! Sie könnten hier schnell heimisch werden. Aber ein wenig von der schönsten Sprache der Welt sollten Sie schon lernen.“

Akiri dankte mit einem Lächeln und einem kurzen Nicken. „Sagen Sie, wie ist jetzt die Regierung hier?“ Sie sammelte gerne weiter Informationen.

„Wir sind natürlich Untertanen des König oder der Königin von Britannien. Dazu haben wir ein Parlament und einen Ministerpräsidenten. Als es zu den Liquvital-Unruhen kam, haben einige Vigilanten aus dem Hinterland unseren Arsch gerettet und Ausschreitungen verhindert, mit ihren privaten Thermostrahlern alle vorhandenen Vorräte verdampft und gedroht, jeden an den Ei… Entschuldigung, an den Hoden aufzuknüpfen, der mehr als eine offene Dose ins Land bringt. Die Situation hat sich danach schnell geklärt, ein paar haben aus Scham Selbstmord begangen, es gab massenhaft Scheidungen, aber im großen und ganzen hat sich die Situation wieder halbwegs normalisiert. Nächstens halten wir wieder Wahlen ab, dann geht alles seinen Gang. Der Oberst der Vigilantenarmee, der jetzt als Premier fungiert, wird sich mit seinen Gruppen wieder aus der Politik zurückziehen, er kandidiert bei dieser Wahl nicht. Kaum einer aus den Komitees, der mehr als Bürgermeister werden möchte.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ein guter Kanadier, dieser Bob Grauer Bär. Ein verdammt guter Kanadier!“

Sie fuhren rasch durch die Straßen der Stadt, über eine Brücke kamen sie auf die Hauptinsel der Stadt, die Île de Montreal, und fuhren beinahe lautlos in das Zentrum, wo sich das Büro des SQ befand.

„Wo sind die ganzen Menschen?“ wunderte sich Akamoku, und Yves Moncroix erklärte ihr voller Stolz.

„Die Häuser gehen vier, manche fünf Stockwerke unter die Erde und sind alle mit einander verbunden. Sie können hier hinabfahren und mit den rollenden Wegen am anderen Ende der Insel wieder heraufkommen. Oder Sie nehmen die Metro bis an das Ende der Stadt, unter den drei Flüssen hindurch. Niemand muss bei schlechtem Wetter ins Freie, sie können im Warmen einkaufen oder etwas essen gehen oder was auch immer. Damit haben wir schon Ende des 20. Jahrhunderts angefangen, seitdem ist das System gewachsen, bis die ganze Stadt angeschlossen war. Darauf sind wir mächtig stolz, das haben wir allein hingekriegt, bevor die arkonidische Technik den Vortrieb unter Tage leichter machte. Oben sind die Wohnungen, man kann hinaussehen, für den Sommer gibt es sogar Balkone. Und natürlich kann man auf die Straße gehen. Aber im Winter – glauben Sie mir, bei minus 20, 25 Grad ist man froh, drinnen bleiben zu dürfen!“

„Viel ist nicht übrig geblieben“, seufzte Kenda und stocherte in den mehr als halb verkohlten Überresten, die sie auf dem Tisch in der Asservatenkammer des SQ ausgebreitet hatten.“

„War ein heißes Feuer, Lady!“ Ian Moss von der SQ war groß, dunkelblond und sah mit seinem kantigen Kinn und den sanften Augen absolut umwerfend aus, wie Richarda Kenda fand. Mit Ian gab es keine Verständigungsprobleme, er war Anglophon.

„Was haben wir hier? Sieht aus wie ein Datenstick.“ Akiri hielt mit einer Pinzette das Beweisstück dicht vor ihre Augen.

„Ja, aber wir konnten keine Daten rekonstruieren, es kommt einfach kein Kontakt zustande, wenn man in auslesen will. Und wir haben gute Leute.“

„Dürfte es trotzdem jemand vom TBI versuchen, Sir? Ich will Ihnen und Ihren Leuten nicht zu nahe treten, aber wir haben die bessere Ausrüstung zur Verfügung.“

„Glaube ich sofort”, winkte Ian die Entschuldigung als unnötig fort. „Wir hatten keinen Verdacht, dass die Sache so wichtig ist. Brände kommen vor, und es gab keine Anzeichen von Fremdverschulden. Wir hatten eine vage Hoffnung, so etwas wie eine Kundenliste zu finden, aber deswegen die Terrabehörde einzuschalten – wir hielten es ehrlich gesagt für übertrieben.“

Akamoku hatte bereits ihr Phone in der Hand und schilderte Cesar Alexander den Fall. Dann wandte sie sich wieder an den Kanadier. „John Schwarzer Elch wird morgen da sein. Wir danken Ihnen und der SQ für Ihre Unterstützung, Ian. Können Sie uns ein gutes Hotel empfehlen?“

„Ich bringe Sie hin, das Montreal Hilton mag nicht die erste Adresse sein, aber man wohnt ganz gut und es liegt ziemlich zentral. Wenn Sie möchten, hole ich Sie später zum Abendessen ab?“

„Danke, Ian!“ nahm Richarda an. „Ich werde gerne mitkommen.“ Hinter ihrem Rücken nickten Akiri und Sam, dann zwinkerten sie sich verschwörerisch zu, ohne dass es von Rick und Ian bemerkt wurde.

*

„Es ist kaum zu glauben, dass wir hier drei Stockwerke unter dem Straßenniveau sind!“ Rick Kenda schaute sich bewundernd um. Sie saßen auf einer weiträumigen Terrasse und konnten unter sich eine Plaza bewundern, über ihnen waren kühne Brückenkonstruktionen und Balustraden, Schaufenster, Lokale, eine Stadt unter der Stadt.

„Über uns ist der Park Beaudet“, weidete sich Ian Moss an Kendas Überraschung. „Hier bekommt man das beste Steak in der Stadt, dazu ein feines Moosehead Bier. Wir sind hier in der irischen Kommune, ich dachte, es ist angenehmer, wenn Sie sich auf englisch verständigen können.“

Akiri schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Danke, Ian. Sie geben sich viel Mühe.“ Auch Sam war beeindruckt, noch mehr allerdings, als die riesigen Steaks mit Kartoffeln und Salat aufgetragen wurden.

„Ich bin im Himmel, weckt mich ja nicht auf!“ jubelte er und machte sich daran, seinem Stück Fleisch mit Messer und Gabel zu Leibe zu rücken.

„Es war ein schöner Abend, Ian. Aber wenn Sie mich entschuldigen wollen, ich bin müde.“ Akiri trank ihr Bier aus und hob abwehrend die Hand, als Ian aufstehen wollte. „Bitte, ich finde allein nach Hause.“ Unter dem Tisch trat sie nach Sams Schienbein. Der griff nach seiner Flasche, trank ebenfalls aus.

„Ich komme mit, Akiri. Unterhaltet Euch noch schön.“ Ehe Richarda noch halbherzig Einwände erheben konnte, waren ihre Freunde bereits gegangen.

„Möchten Sie noch ein Bier, Rick? Oder darf ich Ihnen noch ein wenig von meiner Heimatstadt zeigen.“

Kenda überlegte kurz, betrachtete die Bierflasche in ihrer Hand, der weitere Verlauf des Abends war glasklar vorgezeichnet.

„Wollen wir diesen Teil nicht überspringen?“, fragte sie, ein Schmunzeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. „Es ist doch nur noch verschwendete Zeit. Wären wir an einer ernsten Beziehung interessiert, dann könnten wir noch etwas unternehmen und die Sache wirklich langsam angehen lassen. Aber wir wissen beide, wo der Abend enden soll und wird, in zwei, drei Tagen bin ich wieder weg. Vielleicht haben wir auch nur diese eine Nacht, warum gehen wir nicht gleich ins Hilton? Wo wir doch offensichtlich dasselbe wollen!“ Ians Blick aus grünen Augen versenkte sich in den der braunen Ricks, las darin das gleiche Begehren und Feuer, das er selbst empfand.

„Mon jour de Chance“, sagte er leise, ehe er eine Kreditkarte zückte und in den Zahlschlitz des Tisches steckte. „Geht auf das SQ”, wehrte er die Versuche, ihn zu hindern ab. „Am Ende wird das SQ mit dem TBI verrechnen. Aber ab jetzt”, er grinste breit „Wird alles privat!“ Richarda lehnte sich vor und nahm seine Pranken in ihre schmalen Hände.

„Dann lass uns gehen.“ Sie griff in seinen Nacken, zog seinen Kopf halb über den Tisch, kam ihm auf halben Weg entgegen und küsste ihn zärtlich. „Ein kleiner Vorgeschmack. Wollen wir?“

*

„Guten Morgen, Rick, Ian!“ Sam begrüßte seine Partnerin und den SQ – Beamten. „Gut geschlafen?“

„Wie ein Murmeltier, Sam. Danke!“ Rick winkte einem Ober. „Bitte noch ein Gedeck für Mister Moss. Danke. Und Du, Sam?“

„Zumindest länger! Die englischsprachigen Sender hatten kein interessantes Programm, und französisch beherrsche ich nicht. Also habe ich vom Zimmerservice ein paar Bier kommen lassen und mich früh schlafen gelegt. Ich bin wach und fit! Ich hoffe, Ihr hattet mehr Spaß?“ Rick schloss die Augen und genoss den ersten Schluck Kaffee, spürte nach, wie das Getränk heiß und belebend durch ihre Kehle floss und die Lebensgeister erweckte.

„Guten Morgen!“ Akiris Stimme klang fröhlich hinter ihnen. „Ich hoffe, Ihr hattet einen schönen, langen, sehr langen Abend. Ich könnte einen Bullen verspeisen. Oder einen Hengst? Aber ich begnüge mich auch mit Speck und Ei. Ian, werden Sie doch nicht rot!“ Die Japanerin lachte, und auch Rick verzog lächelnd das Gesicht.

„Ich habe Dich gewarnt, Ian. Diese Sticheleien der Neider musst Du jetzt ertragen! Das ist sozusagen der Preis, wenn man in mein Bett will.“

Auch Ian begann zu grinsen. „In diesem Fall, Rick, ist es ein geringer Preis für ein tolles Erlebnis!“

*

Reggys System, An Bord der HEPHAISTOS

Die KLEOPATRA war eine Neukonstruktion, die sich zwar an die alten arkonidischen Muster anlehnte, sich aber doch deutlich von ihnen unterschied. Der Ringwulst war im Verhältnis deutlich größer dimensioniert, zwischen den 18 Impulstriebwerken saßen Geschützdrehtürme, die je zwei wirklich schwere Desintegrator- und Impulsgeschütze trugen. Ebensolche Türme waren in zwei Reihen zwischen Äquator und Pol zu finden, eine Reihe mit zwölf Türmen, eine Reihe mit sechs. Der zentrale Turm am Nordpol trug noch einmal je vier Geschütze, zwei davon zählten zu den stärksten, die je außerhalb eines Raumforts verbaut wurden. Obwohl nur sechshundert Meter im Durchmesser, konnte sie es durchaus mit einem Schlachtschiff der STARDUST-Klasse aufnehmen, nachdem erst die geheimen Umbauten und Neuerungen eingebaut waren. Bei einer Übermacht konnte sie zumindest so lange kräftig zurückbeißen, bis sie entkommen konnte, denn immer noch lagen die größten Stärken der Starlight-Schiffe in Beschleunigung und extrastarken Schirmen.

Schweren Herzens hatte Tana Starlight eingesehen, dass ewiges Verstecken nicht möglich war, einmal würde man die HEPHAISTOS finden. Daher gab sie bereits vor einiger Zeit eine schlagkräftige Kampfflotte in Auftrag. Das erste Schiff wurde eben geliefert, der Umbau begann sofort mit allen Kräften. Die HELENA sollte ein Monat später geliefert werden, wieder ein Monat danach die THEOPHANU. Auf die POMPADUR würde man länger warten müssen, sie wurde eben erst auf Kiel gelegt.

Ghoma hatte, wie beinahe alle Raumfahrer an Bord der HEPHAISTOS, die KLEOPATRA besichtigt. Nach dem Studium der Umbaupläne erfüllte sie tiefer Respekt, das war ein Raumer, das sich sogar gegen die Schiffe der Überschweren durchaus mehr als nur behaupten konnte. Sie hatte sich gefreut wie ein kleines Kind, als sie in der Simulation mit der KLEOPATRA fliegen durfte, das Gefühl war grandios.

„Wie gefällt Ihnen die KLEOPATRA?“ Ausnahmsweise traf Ghoma ihre Chefin nicht in einem Lokal, sondern auf der Brücke des neuen Schiffes.

„Es ist umwerfend!“ rief Ghoma in ehrlicher Bewunderung. „Und es ist wunderschön harmonisch in den Verhältnissen Wulst zu Zelle.

Tana lächelte still. „Setzen Sie sich, Ghoma. Nein, nicht dorthin, das ist ein Reservesitz. Das dort ist Ihrer.“

„Das ist der Sessel des…“ Ghoma stockte der Atem, das konnte nur ein Scherz sein, das war unmöglich. Ihr schwindelte.

„Gratuliere, Skipper. Ihr Schiff! Ich vertraue Ihnen, Ghoma, weil ich Hemghat vertraue und der Ihnen. Also, ich nehme an, Sie werden sich mit Ihrem neuen Kommando vertraut machen wollen. KLEOPATRA! Kommando an Ghoma, heutiger Tag, aktuelle Uhrzeit, durch meine Berechtigung Tango Sierra Sierra KLEOPATRA. Bestätige.“

„Kommando eingetragen. Willkommen an Bord Skipper. Code Tango Sierra Sierra KLEOPATRA. Alle Rechte in Kraft. Bitte legen Sie Ihre Hand auf die leuchtende Platte an Ihrem Sessel. Identität gespeichert. Bitte sprechen Sie jetzt den Code.“

„Tango Sierra Sierra KLEOPATRA!“

„Stimmerkennung gespeichert. Gratuliere, Captain Ghoma!“

„Captain Ghoma, ich möchte Ihnen hier Ihre Bestallung überreichen.“ Tana holte aus einer bisher unbemerkt gebliebenen Mappe ein Schriftstück, dickes Büttenpapier mit einer Schrift, die aussah, als hätte man sie mit dicker Feder handgeschrieben. „Ein Brauch, der ausgestorben war, aber ich finde es schön, so ein Dokument auch mit den Händen angreifen zu können. KLEOPATRA, lass Seite pfeifen!“ Ein schriller Dreiklang erfüllte die Brücke und das Schiff, jeder ließ von der Arbeit, die er eben verrichtete ab und hörte zu. Tana stand auf und bedeutete Ghoma, sich ebenfalls zu erheben.

„Ghoma aus der Sippe Hemghat“, las sie vor, oder tat zumindest so. „Sie werden gebeten und angewiesen, das Kommando über die TSS KLEOPATRA zu übernehmen. Ihre weiteren Aufträge folgen.“ Sie reichte die Mappe der rothaarigen Riesin und hielt ihr die Hand entgegen, Ghoma ergriff beides wie im Traum.

„Aaachtung!“ bellte im Hintergrund eine Männerstimme, hunderte Besatzungsmitglieder und Umbauarbeiter nahmen Haltung an. „Ma’am, im Namen der Besatzung, willkommen an Bord!“

„Danke!“ Ghomas Blick heftete sich auf die Rangabzeichen. „XO, lassen Sie bitte weitermachen. Darf ich Sie in etwa fünf Minuten in mein Büro bitten? Wenn ich es bis dahin gefunden habe“, lachte Ghoma.

Die Stimme der Picotronik klang auf. „Ich führe Sie hin, Skipper. Bitte folgen Sie dem grünen Punkt.“

„Nanu, kein humanoides Hologramm?“ Im Lift konnte sich Ghoma einen Scherz nicht verkneifen. Neben ihr erschien eine in dünne Schleier und viel Schmuck offenherzig gekleidete, schwarzhaarige, gut aussehende orientalische Frau.

„Dieses wäre das Bild, wenn man alle Vorstellungen über Königin Kleopatra auf ein Bild reduziert. Wenn Sie wollen, speichere ich dieses Erscheinungsbild ab.“

Ghoma lachte. „Für mich den Punkt beibehalten. Aber für sonstige Anlässe – speichere ruhig. Besser als eine Schleimkreatur in Gesicht zu bekommen!“

„Ma’am, melde mich wie befohlen!“ Der XO stand stramm und salutierte, Ghoma stand auf und erwiderte den Gruß. Dann reichte sie ihre Rechte über den Tisch.

„Danke, XO. Bitte, setzen Sie sich. Wir sollten uns so rasch wie möglich kennen lernen, denke ich. Ebenso, wie den Rest der Brückenmannschaft.“

„Da geht es mir nur wenig besser, Skipper. Ich kenne die Leute auch erst zwei Tage. Die meisten zumindest. Aber, fangen wir bei mir an.“

Luther Breckenridge aus New Orleans war eine Mischung aus Afroamerikaner, Mexikaner und American Native. Er hatte diesen typischen, weichen Südstaatenslang, der Anfangs immer ein wenig gewöhnungsbedürftig war, eine Figur wie ein Baseball-Spieler und einen brillanten Verstand. Seine Eltern stammten aus einer armen Familie, seine Mutter hatte eine Stelle bei der GCC ergattert und sich einige Zeit später in New Orleans als Leiter der Niederlassung wiedergefunden, einen Afroamerikaner kennengelernt und geheiratet. Wie es normal war, schenkte sie John Breckenridge ein Kind, genauer einen Sohn, der die Schulen der Reihe nach mit Erfolg absolvierte und nebenbei Baseball spielte. Mit 18 Jahren stand er vor einer schweren Entscheidung. Einerseits hatte er ein Angebot von Starlight Enterprises auf dem Tisch liegen, die eine weitere Ausbildung für den Raumdienst plus Studium anbot, andererseits ein Angebot von Yale. Luther überlegte etwa zehn Minuten sehr intensiv, dann ging er zu seiner Mutter.

„Juristen gibt es wie Sand am Meer, Junge!“ hatte Linda gesagt. „Wenn Du die Chance hast, da hinaus zu gehen, und eine Karriere zu machen, dann verdammt noch mal, darfst Du nicht zögern!“ John hatte seinen Sohn an sein Herz gezogen, ihm seine Gibson in die Hand gedrückt und ihm einen Auftrag gegeben.

„Jetzt rocke das Universum, Sohn, und bring ein paar kleine, grüne Breckenridges nach Hause! Na gut, meinetwegen auch blaugrau!“ Er hatte mit seinem rauen Bass lauthals gelacht. „Aliens sind doch das einzige, das wir nicht in der Familie haben! Es wird Zeit, mach Dich daran!“ So landete Luther auf der HEPHAISTOS und arbeitete sich einerseits auf der Universität und andererseits als Raumschiffoffizier nach oben. Nun war er XO des neuesten Schiffes der Starlight- Flotte.

„Sehen Sie es als Problem, weil man mich über Ihren Kopf so schnell zum Kommandanten befördert hat?“ Ghoma sprach die Zentralfrage sofort und direkt an, Luther lächelte offen.

„Ma’am, man hat mir die Wahl gelassen, entweder hier als XO oder auf der bald eintreffenden CARLOS als Kommandant. Die CARLOS wäre mit 400 Metern auch nicht zu verachten, aber ich habe mich entschieden, lieber auf der KLEOPATRA die zweite Geige zu spielen. Dazu kommt, sie haben bei weitem mehr Erfahrung als ich, also keine Sorge. Ich stehe hinter Ihnen, und der Rest der Mannschaft wird das auch.“

„Gut, Mister Breckenridge.“ Ghoma blätterte durch die Akte. „KLEOPATRA, kann ich eine Trinkschokolade mit Chili bekommen? Und der Commander, was immer er möchte?“

„Kaffee, schwarz, zwei Zucker, bitte!“

„Kommt sofort!“ KLEOPATRA hatte man einen angenehmen unaufdringlichen Alt programmiert. Durch eine Klappe auf dem Schreibtisch hoben sich zwei Tassen, von denen eine Ghoma nahm und schnupperte. Die richtige, sie bedeutete Breckenridge, sich den Kaffee zu nehmen.

„Ich gestehe, dass ich wenig Erfahrung in menschlichen militärischen Umgangsformen habe, XO. Also bitte, buchen Sie nicht jedes Wort von meinem Konto ab und helfen Sie mir.“

„Ma’am, das mache ich gerne. Darf ich frei sprechen, Ma’am?“

„Natürlich, XO, reden Sie. Ist es eigentlich nötig, mich bei jedem Satz mit Ma’am anzusprechen, und darf ich Ihnen erlauben, nicht andauernd in dieser steifen Haltung zu sitzen?“

„Nein, Skipper. Und ja, Sie dürfen bequem sitzen und stehen erlauben.“ Luther entspannte sich ein wenig.

„Dann ordne ich es hiermit an. Sitzen und stehen Sie in Zukunft bequem, wenn es das Protokoll nicht anders vorschreibt.“

„Danke, Skipper“, entspannte sich Luther noch mehr. „Ich habe hier einige Punkte vorbereitet, die Ihre Aufmerksamkeit erfordern.“

„Geben Sie mir die Daten, XO. Spielen Sie übrigens Schach?“ Luther erlaubte sich ein Lächeln.

„Leidenschaftlich, Skipper.“

„Gut!“ Ghoma lächelte zurück. „Ich kann einen Lehrer brauchen.“

Fortsetzung folgt …

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