Artikel von Lutz Alexander
Zum Inhaltsverzeichnis von World of Cosmos 121
Im Januar sind es nur noch 500 Jahre bis zum von Denny Zager & Rick Evans besungenen Jahr 2525. Sollten wir uns schon jetzt darauf freuen, was unsere Nachfahren in einem halben Jahrtausend erwartet? Kommt darauf an, was wir selbst vom Leben erwarten und wie wir unser Menschsein auf Erden gestalten. Die beiden Sänger sind zwar eher skeptisch, wenn man den Songtext dieses One-Hit-Wonders betrachtet und ihn in die Protestkultur der 1960er-Jahre einordnet. Aber letztlich lassen die Künstler die Frage offen.
Schauen wir uns erst einmal die zwölf einzelnen Strophen an:
In the year 2525
If man is still alive
If woman can survive
They may find
In the year 3535
Ain’t gonna need to tell the truth, tell no lie
Everything you think, do and say
Is in the pill you took today
In the year 4545
You ain’t gonna need your teeth, won’t need your eyes
You won’t find a thing to chew
Nobody’s gonna look at you
In the year 5555
Your arms hangin’ limp at your sides
Your legs got nothin’ to do
Some machine’s doin’ that for you
In the year 6565
You won’t need no husband, won’t need no wife
You’ll pick your son, pick your daughter too
From the bottom of a long glass tube
In the year 7510
If God’s a coming, He oughta make it by then
Maybe He’ll look around Himself and say
Guess it’s time for the judgment day
In the year 8510
God is gonna shake His mighty head
He’ll either say I’m pleased where man has been
Or tear it down, and start again
In the year 9595
I’m kinda wonderin’ if man is gonna be alive
He’s taken everything this old earth can give
And he ain’t put back nothing
Now it’s been ten thousand years
Man has cried a billion tears
For what, he never knew
Now man’s reign is through
But through eternal night
The twinkling of starlight
So very far away
Maybe it’s only yesterday
In the year 2525
If man is still alive
If woman can survive
They may find
In the year 3535 …
Mit Ausnahme der letzten haben alle Strophen vier Zeilen. Inhaltlich gliedert sich das Lied in drei Teile. Im ersten, fünf Absätze langen Teil beschreiben die Sänger das Leben in der Zukunft, beginnend mit dem Jahr 2525. Zunächst noch recht unkonkret, geht es in den folgenden vier Strophen im Abstand von jeweils 1010 Jahren anschaulich um den Alltag der Menschen in der Zukunft. Wir erfahren, wie unselbständig die Menschen dann sind: Das Denken und Handeln wird von Pillen bestimmt, die man einnimmt. Körperlich anstrengen muss man sich nicht mehr, weder beim Gehen noch beim Kauen, nicht einmal beim Sex. Überhaupt leben die Menschen in der sozialen Isolation, wie am Schluss der dritten Strophe deutlich wird.
Das geht so bis zum Jahr 6565, doch dann kommt im zweiten Teil der erste von mehreren Brüchen im Lied. Denn den nächsten Blick in die Zukunft gewähren die Sänger bereits nach weiteren 945 Jahren. Im Jahr 7510 können nur noch Mutmaßungen darüber angestellt werden, was sein könnte. So könnte Gott ins Spiel kommen und sich fragen, ob es bald Zeit für die Abrechnung mit den Menschen, also das Jüngste Gericht, ist. Nach 1000 Jahren dann dürfte Gott Gericht halten und entweder „Daumen hoch“ urteilen oder alles zerstören und noch einmal von vorne anfangen.
Nach diesen beiden Strophen Intermezzo kehrt das Lied kurz zur alten Struktur aus dem ersten Teil zurück und wir sind im Jahr 9595. Es ist unklar, ob es das Jüngste Gericht gegeben hat und welches Urteil gegebenenfalls gesprochen wurde. Nun reflektieren die Sänger über die Zukunft, und sie ziehen ein klar negatives Fazit: Der Mensch „hat alles genommen, was die alte Erde geben kann. Und er hat nichts zurückgegeben.“
Die neunte Strophe dann wird deutlich ruhiger gespielt, und sie fällt in mehrfacher Hinsicht aus dem Rahmen: So befinden wir uns von der Gegenwart aus betrachtet runde 10 000 Jahre in der Zukunft, also etwa im Jahr 12 024. Nun ist der Blick in die Zeit wieder relativ klar: Die Vorherrschaft der Menschheit ist vorbei – ob sie aber noch lebt oder durch das Strafgericht, ihre Technologiegläubigkeit beziehungsweise medizinische Innovationen vernichtet wurde, bleibt unklar.
In der zehnten Strophe dann stellt sich die Frage, ob wir tatsächlich in die Zukunft geblickt haben oder wir all das schon erlebt haben und wieder von vorne beginnen (müssen). Dann wären wir in einem Zyklus aus Geburt, Tod und Wiedergeburt auf dem besten Wege, womöglich dieselben Fehler noch mal zu begehen wie unsere Vorfahren.
So ist denn auch der dritte und letzte Teil des Liedes eine Wiederholung der ersten und des Beginns der zweiten Strophe. Es ist quasi, als ob Gott die Zeitmaschine angeschmissen hat, sodass die beschriebene ferne Zukunft eigentlich die Vergangenheit ist. Das heißt, im neuen Jahr 2525 sind die neuen Menschen eventuell erneut auf der Suche nach dem richtigen Weg, nachdem die alte Menschheit entweder ausgelöscht wurde oder der Bedeutungslosigkeit anheimgefallen ist. Das Schicksal der Menschheit bleibt aber letztlich offen, und auch der manchmal in der Literatur zu findende Zusatz „Exordium & Terminus“ zum Titel „In the Year 2525“ bringt alles in allem nicht wirklich neue Erkenntnisse, da die lateinischen Begriffe schlicht „Beginn und Ende“ bedeuten.
Zager & Evans haben das Lied „In the Year 2525“ im Jahr 1969 bei RCA Records veröffentlicht, und eigenen Angaben zufolge hat Rick Evans den Song bereits 1964 innerhalb einer halben Stunde geschrieben. Dabei hatte er sicherlich vieles bewusst oder unbewusst im Hinterkopf, was die Menschen in den 60ern beschäftige hat: Gesellschaftskritik, Fluch und Segen der Technik, Dystopien sowie die Frage, ob die Menschheit alles umkrempelt und sich am Ende ihr eigenes Grab schaufelt.
Die Künstler selber unterstrichen ihren eher skeptischen Grundton, indem sie ihren Song in einem Musikvideo vor einem eher trostlosen hochhausähnlichen Wohnblock präsentierten, der zu dieser Zeit freilich als modern galt. Auf Youtube gibt es Videos, die „In the Year 2525“ auch mit Szenen aus dem monumentalen expressionistischen Stummfilm „Metropolis“ des Regisseurs Fritz Lang versehen. Inzwischen gut restauriert und in das Weltdokumentenerbe der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur aufgenommen, zeugt der Streifen vom Leben in einer Zweiklassengesellschaft in einer scheinbar fortschrittlichen Großstadt.
Damit reihen sich Zager & Evans in eine Reihe von Bands ein, die in Protestsongs politische oder gesellschaftliche Missstände wie die mangelnde Gleichberechtigung der Frauen ansprechen. Hier denken wir sofort an Aretha Franklin, die in der Komödie „Blues Brothers“ mit dem Song „Think“ aus dem Jahr 1968 ihrem Ehemann Matt „Guitar“ Murphy gehörig die Meinung sagt. Denn dieser will wieder mit den „Blues Brothers“ auf Tour gehen und würde so in der Küche ihres Imbisses fehlen.
Bereits 1966 verkündete Nancy Sinatra, die Tochter des Sängers und Schauspielers Frank Sinatra: „These Boots are made for Walkin’“ – in Anspielung auf einen Ausspruch von Frankie Boy im Komödien-Western „Vier in Texas“: „Man hat mir gesagt, dass diese Stiefel nicht zum Laufen gemacht sind.“ Nancy Sinatra jedoch läuft mit ihren Stiefeln sehr wohl – und in Zukunft auch über die Männer hinweg.
Während hierzulande zu den Protestsongs die Lieder der Arbeiterbewegung oder die Songs der Liedermacher in West und Ost zählen, liegt der Fokus in den USA seit den 1950er-Jahren auf der Folkmusik. Ende der 60er-Jahre kam der Punk und etwas später der Hip-Hop hinzu.
In die Reihe der Folksongs gehört etwa das Lied „America“ von Simon and Garfunkel. Hier geht es um ein junges Liebespaar, das auf der Suche nach einem Amerika ist, das wohl nicht mehr so ideal und schön ist, wie sie es sich erträumt haben. Davon sang auch Woody Guthrie im Song „This Land Is Your Land“. Da kommt zunächst Lagerfeuer-Romantik auf und man fühlt sich eins mit der Natur. Doch dann folgt die Ernüchterung: Die Menschen hungern trotzdem und sind ungleich. Und dann die Frage: Sind die USA wirklich ein Land für jeden?
Ferner sei an den Song „Streets of London“ erinnert, der 1969 von Ralph McTell aufgenommen und später sehr erfolgreich von Roger Whittaker gecovert wurde. Dieses Lied behandelt die vergessenen und ignorierten Menschen in der Gesellschaft, wie etwa die Obdachlosen, die Alten oder die Alleinstehenden beziehungsweise Einzelgänger. Um letztere geht es auch im psychedelischen Rock-Song „People Are Strange“ von den Doors, interpretiert von Jim Morrison. Man kann sich fragen. Was wäre wohl aus den Doors geworden, wenn diese Ikone der Hippiebewegung nicht schon 1971 im Alter von nur 27 Jahren gestorben wäre?
Beim Stichwort „Sympathie und Solidarität mit den Armen der Gesellschaft“ darf der Name Bob Dylan nicht fehlen. Zu dessen wichtigsten Kompositionen zählt neben dem Song „Masters of War“ aus dem Umfeld der Anti-Atomkraft-Bewegung das Lied „Chimes of Freedom“, das von mehreren Künstlern, darunter den „Byrds“, gecovert wurde. In „Blowin’ in the Wind“ stellt sich Dylan (rhetorische) Fragen zu Freiheit, Rassismus, Krieg und Frieden.
Der Songwriter und Soul-Sänger Sam Cooke hörte „Blowin’ in the Wind“ und ließ sich für seinen eigenen Song „A Change is Gonna Come“ auch von der Rede „I Have a Dream“ des Bürgerrechtlers Dr. Martin Luther King inspirieren. Dieses Lied entstand dann im Februar 1964 – kurz nachdem Cooke mit seiner Band von einer nur für Weiße zugänglichen Raststätte (Motel) abgewiesen worden war. Cooke wurde im Dezember des selben Jahres unter nicht vollständig geklärten Umständen von einer Motel-Managerin erschossen.
Eher in die Richtung Blues-Rock geht „Street Fighting Man“ von den Rolling Stones, das Zeugnis von der zerrütteten Gesellschaft Ende der 60er-Jahre ablegte. Davon berichteten bereits 1966 Buffalo Springfield in ihrem Song „For What It’s Worth“.
Wenn es um Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft geht, die Protest hervorriefen und immer noch hervorrufen, dürfen ferner auch die Lieder der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung nicht vergessen werden. Stellvertretend genannt seien hier zum einen der Funk-Song „Say it Loud – I’m Black & I’m Proud“ von James Brown und „Message From a Black Man“, das 1969 von den „Temptations“ komponiert und später unter anderem von Derrick Harriott gecovert wurde. In dem Lied heißt es: „Black is a color, / Just like white. / Tell me: how can a color determine whether / You’re wrong or right?“ Und weiter: „No matter how hard you try, You can’t stop me now.“ Was schon eher militant klingt und ein Grund dafür gewesen sein mag, dass der Soul-Song zwar im Radio sehr populär war, aber von den Temptations nicht live präsentiert wurde.
Als Reaktion auf die Ermordung schwarzer Bürgerrechtler und Kinder entstand das Lied „Mississippi Goddam“, das Nina Simone auf einem Konzert in der berühmten New Yorker Konzerthalle Carnegie Hall sang. Sarkastisch trug sie vor: “A show tune, but the show hasn’t been written for it yet.” Der Song entstand 1964 und ist leider aktueller denn je. Das gilt auch für das Lied „Strange Fruit“ von Billie Holiday aus dem Jahr 1939.
„Revolution ja – Gewalt nein“ lautete indes das Motto im (Hard-)Rock-Song „Revolution“ der Beatles – Eine Position, die von einigen linken Aktivisten der Zeit kritisiert wurde. Das Lied schaffte es in den USA auf Platz 12 der Hitparade Billboard Hot 100.
Die Kritik an der Gesellschaft manifestiert sich in diesen Liedern also nicht wie bei Zager & Evans in einer blinden Zukunftsgläubigkeit, sondern oft in Herausforderungen der Gegenwart. Ein weiteres wichtiges Thema der Protestsongs ist die Auseinandersetzung mit der atomaren Bedrohung sowie den Kriegen im Nahen Osten und in Vietnam. Genannt sei hier unter anderem das Lied „Eve of Destruction“, das Mitte der 60er-Jahre von dem 19-jährigen Musiker P. F. Sloan geschrieben und an einem frühen Morgen vom müden Barry McGuire eingesungen wurde. Diese Rohversion bekam ein Radiosender in die Finger und erreichte so in den USA Platz 1 der Billboard Hot 100. In Frankreich war das Lied ganze 98 Mal auf Platz 1.
Weitere Beispiele für Anti-Kriegs-Songs sind das 1968 erschienene Lied „The war is over“ von Phil Ochs und „Give peace a chance“, ein 1969 von John Lennon und seiner Frau Yoko Ono aufgenommenes Lied, das mit der Zeit zu einer sehr populäre Hymne der Friedensbewegung wurde. Bereits 1967 sangen die „Youngbloods“ im Song „Get Together“ von Frieden, Harmonie und Einigkeit als Rezepte gegen den Krieg. In diese Reihe gehört zudem der Soul-Song „War“, der in der Version von Edwin Starr berühmt und ursprünglich von den Temptations interpretiert wurde.
Als Kulminationspunkt der Protestbewegung Ende der 60er gilt das Open-Air-Musikfestival Woodstock in Bethel im US-Bundesstaat New York. Die Veranstalter sagten, dass jeder, der ein Ticket für das Fest kaufe, ein Statement gegen den Krieg in Vietnam abgebe. Am Ende des ersten Tages des Festivals, also am 15. August 1969, sang Joan Baez „We shall overcome, some day“ – Ein Lied, das darauf hoffen lässt, dass irgendwann in der Zukunft Missstände welcher Art auch immer überwunden werden – Und Zuversicht verbreitet, wenn man an die Zeilen von „In the Year 2525“ denkt.
In Woodstock verschmolzen die Anti-Vietnam-Bewegung mit der „Love Generation“ – „Make Love Not War“ war das Motto. Deutlich wird das in dem Song „San Francisco Nights“ von „Eric Burdon & The Animals“. Denn während die jungen Soldaten in den Krieg mussten, warteten zu Hause, in Kalifornien etwa, die Freundinnen.
Zager & Evans traten nicht in Woodstock auf, aber dafür Creedence Clearwater Revival. Dort spielten sie „Bad Moon Rising“ und „Proud Mary“, aber nicht das Lied „Fortunate Son“, das wohl als eines der wichtigsten Anti-Vietnam- und Anti-Kriegs-Songs gilt – schließlich wurde es erst im September 1969 und damit rund einen Monat nach Festival-Ende veröffentlicht. Wie der Titel andeutet, geht es in diesem Lied um das alte Thema, dass sich die Kinder reicher Eltern vom Wehrdienst freikaufen können.
Bei „Fortunate Son“ steht aber eher das positive Lebensgefühl der jungen Menschen im Fokus – genau so wie bei „Sugar, Sugar“ von den Archies oder bei dem aus dem Musical „Hair“ bekannten Lied „Age of Aquarius“ von „The 5th Dimension“. Der letztgenannte Song weckt Hoffnungen auf ein besseres Leben im Wassermannzeitalter, das nach astrologischer Theorie in 200 oder gar erst in 1.600 Jahren beginnt.
Dieser positiven Vision einer fernen Zukunft setzen Zager & Evans die eher düsteren Aussichten gegenüber, die schon in dem 1932 erschienene Roman „Brave New World“ („Schöne neue Welt“) von Aldous Huxley beschrieben wurden. Hier wird eine Kastengesellschaft im Jahre 2540 beschrieben, in der Drogen, Sex, Konsum und Eintrichterungen von oben dazu genutzt werden, jegliche Eigeninitiativen zu unterdrücken. Um immer gut drauf zu sein und sich selbst zu betäuben, nimmt man per Pille die Glücksdroge Soma ein.
Bei Zager & Evans scheint es ein solches System noch im Jahr 3535 zu geben. Denn in der zweiten Strophe von „In the Year 2525“ heißt es: „Alles, was du denkst, tust und sagst, steckt in der Pille, die du heute genommen haben.“ Hier liegen die Parallelen zum Jahr 1969 klar auf der Hand – schließlich verbindet man die späten 60er und Woodstock oft auch mit den Begriffen Sex, Drugs & Rock’n’Roll.
Mit der Kritik am Kasten- beziehungsweise Klassensystem bei Huxley ist damit der Bogen geschlagen zu dem ersten Band des Buches „Das Kapital“ von 1867, im dem der Trierer Ökonom und Philosoph Karl Marx die kapitalistische Gesellschaft kritisch analysierte. Nach dessen Tod 1883 veröffentlichte der Barmer Unternehmer und Gesellschaftstheoretiker Friedrich Engels zwei weitere Bände. Von daher verwundert es nicht, dass Zager & Evans auch mal mit dem Slogan „Simon & Garfunkel go Marx & Engels” beschrieben wurden.
1958 wagte Huxley ein „Wiedersehen mit der Schönen neuen Welt“. Sein Fazit ist ernüchternd: So sehr sich die Menschen auch bemühen, sie können keinen sozialen Organismus schaffen, sondern nur eine Organisation. Diese aber birgt die Gefahr einer Überorganisation und kann deshalb verhängnisvoll sei. Denn zu viel Organisation verwandelt die Menschen in Automaten, erstickt den schöpferischen Geist und beseitigt sogar die Möglichkeit von Freiheit. Wie gewöhnlich liegt der einzige sichere Kurs in der Mitte, zwischen den Extremen des Laissez-faire einerseits und totaler Reglementierung andererseits.
Überorganisation, Überbevölkerung und Propaganda im weitesten Sinne verhindern, dass Menschen lernen, in Freiheit zu leben. Stattdessen sind sie Huxely zufolge anfällig für „wissenschaftliche Diktaturen“, also moderne Technokratien, die technokratisch von Tech-Eliten angeführt werden. Die Idee dabei ist, dass die modernen Technologien dazu genutzt werden, um die Massen zu manipulieren und zu steuern. Aus der Perspektive der späten 50er-Jahren folgert Huxlex, dass viele seiner Vorhersagen für das Jahr 2540 tatsächlich bald Realität werden könnten.
Hier also setzen Zager & Evans einen Kontrapunkt, waren die 60er doch das Jahrzehnt, in dem so viel technologisch möglich schien und auch war: Die Bändigung des Atoms, der Flug zum Mond und der Sieg des Plastiks. Aber manchen Menschen machten die technologischen Neuheiten Angst vor Entmenschlichung oder Versklavung durch die Technik – oder die Menschen entwickelten gar eine Paranoia.
Und mit der Frage, welchen Einfluss die Technik auf uns hat, machen Zager & Evans schließlich das ganz große Fass auf. Letztlich diskutieren sie, wer am Ende tatsächlich die Fäden in der Hand hält und die Geschicke der Welt lenkt – Gott oder die Menschen. Wenn es Gott ist, dann könnte er die Menschen per Strafgericht für die soziale Kälte im Jahr 4545 oder für die im Jahr 9595 zur Anklage gebrachte, unmoralische Umweltzerstörung zur Rechenschaft ziehen.
Science-Fiction-Fans denken dabei aus heutiger Sicht vielleicht an Stanley Kubricks 1968 erschienenes filmisches Meisterwerk „2001: Odyssee im Weltraum“, das die menschliche Evolution zum Inhalt hat und die Frage nach dem Wesen Gottes gleich zweifach thematisiert: Zum einen beim Blick auf die verfinsterte Erde zu Beginn des Films – eine Referenz an die Schöpfungsgeschichte zu Beginn des Alten Testaments. Zum anderen mit dem Supercomputer HAL 9000, der gottgleich agiert und von dem Hauptdarsteller, dem Astronaut Dr. David Bowman, deaktiviert wird. Dieser wiederum wird nach seinem eigenen Tod als ein in einer Hülle geborgenes „Sternenkind“ wiedergeboren.
Von dieser Warte aus betrachtet erscheint die zehnte Strophe von „In the Year 2525“ in einem vertrauten Licht: „Doch durch die ewige Nacht / Das Funkeln des Sternenlichts / So sehr weit weg /
Vielleicht ist es erst gestern.“
Geht man derweil davon aus, dass wir uns nicht in einem immer wiederkehrenden Zyklus von Geburt und Wiedergeburt befinden, so dauert die Herrschaft der Menschen gerade einmal ein paar tausend Jahre – in geologischer Hinsicht ein kaum messbarer Zeitraum. Hier sprechen wir von Millionen von Jahren: Vor circa 4,6 Milliarden entstand die Protoerde als glühender Feuerball und das erste Äon der Erdgeschichte, das Hadaikum, begann. Dieses wurde vor 4 Milliarden Jahren vom Archaikum abgelöst, das etwa 1,5 Milliarden Jahre dauerte. Zu dieser Zeit entstanden die ersten Spuren des Lebens: Makromoleküle, die sich selbst vervielfältigen können.
Auf das Archaikum folgte das Proterozoikum, das vor etwa 2500 Millionen Jahre begann und vor circa 541 Millionen Jahre endete. Dank der sauerstoffhaltigen Atmosphäre konnte sich in diesem Äon tierisches Leben entwickeln. Das aktuelle Zeitalter ist das Phanerozoikum, das spektakulär mit einer nahezu explosionsartigen Vermehrung des Lebens begann und bis zur aktuell zu Ende gegangenen Kaltzeit innerhalb des laufenden Eiszeitalters reicht.
Würden wir diese Zeitläufe auf einen Tag umrechnen und mit dem Beginn des Hadaikums starten, so würde der Homo Sapiens erst 3,6 Sekunden vor Mitternacht auf der Bühne auftauchen. Aktivitäten wie Viehzucht und Ackerbau kämen erst vor 0,2 Sekunden auf. Das sind eigentlich keine Zeitabschnitte, die es rechtfertigen würden, ein neues Kapital der Erdgeschichte aufschlagen: Das Zeitalter des Menschen, das Anthropozän.
Andererseits: Es ist nach aktueller Lesart unbestritten, dass der Mensch massiv auf die Umwelt Einfluss nimmt, und zwar spätestens seit der Industrialisierung. Dafür ließen sich wohl unzählige Beispiele finden, doch der Anfang 2023 verstorbene australische Klimaforscher Will Steffen und seine Kollegen haben 2004 (und aktualisiert 2015) unter dem Schlagwort der „Großen Beschleunigung“ erst einmal grob wirtschaftlich-gesellschaftliche und ökologischen Indikatoren unterschieden sowie dazu jeweils zwölf markante Trends grafisch aufgearbeitet. Das Ergebnis: Ab etwa 1950 zeigen fast alle Kurven exponentiell nach oben, seien es die Weltbevölkerung, die ausländischen Direktinvestitionen, die großen Dämme, der Methanausstoß, die Oberflächentemperatur oder die Garnelenzucht.
Ein sichtbares Zeichen des Einflusses des Menschen auf die Natur ist nach Auffassung der Wissenschaft der aktuelle Klimawandel. Dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung zufolge könnte dadurch die nächste Kaltzeit einfach übersprungen werden. Diese wird eigentlich in rund 50.000 Jahren erwartet und könnte nun erst in 100.000 Jahren anstehen.
Viel später in der Zukunft können dann sogenannte Aufschlüsse Auskunft über den Einfluss des Menschen auf das Klimageschehen geben. Dabei handelt es sich in der Regel um zu Tage getretene Gesteinsformationen, die Schichtungen oder idealerweise Sedimentstrukturen erkennen lassen. Dies ist eine anerkannte Methode, geologische Zeitalter einzuteilen. Bedenkt man aber, wie lange es dauert, bis sich Gestein bildet, kann der Beginn eines etwaigen Anthropozäns also aktuell nur auf Umwegen auf etwa das Jahr 1950 festgelegt werden. Eine Möglichkeit dafür wäre der Nachweis von solchen instabilen und damit radioaktiven Atomsorten (Radionuklide), die aus Atomversuchen stammen. Diese Radionuklide dürften an vielen Orten der Erde nachweisbar sein, was ihre Qualität zur Rekonstruktion der Erdgeschichte unterstreicht.
So gesehen wären auch weitere Zeitmarken denkbar wie das Vorhandensein von Holzkohle als Nachweis für die Beherrschung des Feuers. Dann wäre das Anthropozän unter Umständen bereits vor 1,6 Millionen Jahren angebrochen. Oder es werden Pollen und Tierknochen untersucht, die auf die Anfänge der Landwirtschaft vor etwa 11.000 Jahren hindeuten.
Oder sollten wir uns auf diese geologische Nachweise erst gar nicht einlassen, sondern auf die Bedeutung des Kapitalismus als Ursache für den Klimawandel hinweisen? Dann wären wir ab circa 1450 im Kapitalozän. Ab etwa diesem Zeitpunkt waren Waffen- und Schiffstechnik so weit fortgeschritten, dass mit der Entdeckung und damit der Ausbeutung der neuen Welt begonnen werden konnte.
Vielleicht sind es diese unterschiedlichen Ansätze und Bedeutungsaufladungen ein Grund dafür, warum die für die Ausrufung eines neuen Erdzeitalters zuständige International Union of Geological Sciences und ihren Unterkommissionen sich im März nicht darauf einigen konnten, das Anthropozän auszurufen. Ein anderer Grund mag gewesen sein, dass dieses in geologischen Zeiträumen bis dato kaum ins Gewicht fällt. Bei einem ständigen Wechsel von Geburt und Wiedergeburt im Sinne von Zager & Evans freilich würde eine viel größere Zeitspanne vergehen und ein Anthropozän würde Sinn ergeben.
Was also folgt aus alledem für unseren Alltag? Was können wir schon machen im großen Mahlstrom der Zeit? Eine kleine Anleitung liefert der Zukunftsforscher Matthias Horx mit seinem bei Econ erschienenen Buch „15,5 Regeln für die Zukunft – Anleitung zum visionären Leben“.
So rät Horx, sich der Logik von Trend und Gegentrend bewusst zu sein, um nicht im Hamsterrad gefangen zu bleiben. Im Zeitalter flüchtiger digitaler Zeichen etwa gibt es das Bedürfnis nach dem exakten Gegenteil, exemplarisch genannt seien Tattoos auf der Haut. Ein weiteres Beispiel sind analoge Kameras, denn wir sind des „Friedhofs der toten Bilder“ in der digitalen Welt müde. Oder man denke an physische Bücher beziehungsweise die Tendenz, Firmenmitarbeiter aus dem Homeoffice zurückzuholen.
Das Prinzip von Trend und Gegentrend ist Horx zufolge bereits in der Natur im Gesetz der fraktalen Entfaltung angelegt. Dabei werden mathematische Aussagen in einer Art Rückkopplungsschleife immer wieder wiederholt.
Eine weitere Regel ist demnach das Renaissance-Prinzip, wonach Zukunft als erneuerte Wiederkehr in Erscheinung tritt. Denn nicht Bruch oder Überwindung, sondern Integration, Synthese und Veränderung gestalten die Zukunft. Dabei passiert der Wandel im Geistigen, wie man bei Michelangelos Renaissance-Fresko in der Sixtinischen Kapelle sieht.
Sowohl das Renaissance-Prinzip als auch die Logik von Trend und Gegentrend sprechen eigentlich gegen die düstere Zukunftsvision von Zager & Evans, wonach die Menschheit im immer gleichen Trott auf ihr Ende zuzusteuern droht. Und Horx rät auch explizit, nicht auf die vermeintlichen technischen Segnungen der Zukunft hereinzufallen. Der Zukunftsforscher spricht vom Smart-Irrtum und fragt: „Ist es nicht deprimierend, in einem vollautomatischen Haushalt zu sitzen und sich dann von einem vollautomatischen Auto in ein stickiges Muskelstudio fahren zu lassen?“
Vielmehr sollten wir die wahre Co-Evolution von Menschen und Technik begreifen und uns des Dilemmas der Bequemlichkeit bewusst werden. Denn wenn wir uns mit immer mehr technischem Schnickschnack umgeben, fühlen wir uns Horx zufolge auf paradoxe Weise nicht oberflächlich zufrieden wie die Menschen in Zager & Evans Song, sondern immer ohnmächtiger. Denn wir „verlernen eigene Kompetenzen, wenn sie uns ‘abgenommen’ werden.“ In dieser Hinsicht kann sich ja mal jeder selbst prüfen …
Quellen:
- „15 1/2 Regeln für die Zukunft“, von Matthias Horx, Econ, 2020
- „Anthropozän; Das Zeitalter des Menschen – eine Einführung“, von Erle C. Ellis, oekom, 2020
- caponomics.blogspot.com: Song Review: “In The Year 2525” (1969) by Zager and Evans
- geo.de: Hätten Sie’s gedacht? Wir leben in einem Eiszeitalter
- louderthanwar.com: Zager & Evans: In The Year 2525: The RCA Masters 1969 – 1970 – Album Review
- songtexte.com
- „The trajectory oth the Anthropocene: The Great Acceleration.“, von Will Steffen et al, in: The Anthropocene Review, März 2015
- „Wiedersehen mit der Schönen neuen Welt“, von Aldous Huxley, Piper, 1987
- Wikipedia.de
- Youtube.de
- zeit.de: Geologie: Doch kein Anthropozän!