Ägypten

Abseits des Niltals ist Ägypten ein sehr trockenes Land, aber nicht unbedingt überall eine Sandwüste. Stellenweise tritt auch der nackte Fels zwischen den Dünen hervor, die beinahe ständig wehenden Winde ziehen lange gelbe und ockerfarbene Fahnen durch die Gegend. Die Sonne brennt vom stets gleichen wolkenlosen tiefblauen Himmel und dörrt das Gebiet, welches von der Arabisch sprechenden Bevölkerung as-sahrā al-kubrā, die große Wüste oder auch bahr bilā mā, das Meer ohne Wasser genannt wird, noch mehr aus. Und doch wagten sich Menschen in diese Einöde, ritten auf ihren schnellen, genügsamen Kamelen durch die manchmal eiskalten Nächte. In der Zeit der größten Hitze während des Tages ruhten sie im Schatten eines rasch aus ihrem Burnus oder einer Decke und einem Stab errichteten Baldachin. Als Orientierung diente den erfahrenen Bewohnern der Wüste der Sternenhimmel und der Mond, die Landmarken waren ohnehin oft nur verschwommen zu erkennen oder gar schon hinter dem Horizont verschwunden. Dünen entstanden und vergingen, verschlangen hier einen Hügel, gaben dort eine trockene Senke wieder frei, in der vielleicht die von Sand mumifizierte Leiche oder blank gefressenen Gebeine eines Tieres oder gar Menschen lagen. Manche vielleicht seit Jahrzehnten, andere aber auch seit Jahrhunderten.

Wenn man genaue Karten hätte, könnte man natürlich auch als Europäer mit einem Kompass seinen Weg finden, doch diese Karten waren selten. Außerdem konnte man sich nur auf einen Umstand wirklich verlassen, nämlich dass mehr Wasserstellen auf der Karte fehlten als verzeichnet waren. Kein Beduine gab diese geheimen Reservoirs preis, solange er es irgendwie vermeiden konnte. Wollte man ganz sicher sein, eine der unzähligen großen und kleinen Oasen zu erreichen, so suchte man besser nach einem vertrauenswürdigen Führer, der den Weg und natürlich eine genügende Anzahl der Wasserstellen kannte. Der nahm dann vielleicht einen Umweg, aber er kannte dafür kleine Nafura oder Niqat Almiah, vielleicht auch einige Masadir, wie sie in tieferen Senken manchmal zu finden waren. In einem dieser Wadi lagen gleich mehrere Quellen, die einen kleinen See und mehrere noch kleinere Tümpel speisten, welche gemeinsam die Wahah Bahariyya bildeten. Von den zumeist recht steilen Berghängen rundum vor den schlimmsten Winden geschützt, wuchsen hier rund 150.000 Dattelpalmen, einige Oliven- und Obstbäume, dazu ein wenig Gemüse und es gab auch einige Ziegen und das Gras, um diese zu ernähren.

Die Oase erlaubte seit einigen hundert Jahren ihren beinahe 5.000 Einwohnern ihr Auskommen, welche an das Leben keine großen Ansprüche stellten und mit ihrem bescheidenen Glück durchaus zufrieden waren. Selbst als Mitte des 19. Jahrhunderts die Oase unter ägyptische Herrschaft gelangte und die Dampfmaschine ihren Siegeszug durch das Land des Khedive antrat, änderte sich für die Bewohner der Oase nicht viel. sie waren jetzt dem Khedive und damit dem osmanischen Reich steuerpflichtig, nun, die Scheichs brachten ein paar Datteln und Oliven wie schon seit Generationen nach Kairo, und ob dort ein Osmane, ein Seldschuke oder ein Araber das Wort führte und die Steuer entgegen nahm, war den Stammesoberhäuptern ziemlich egal. Die Steuern konnten immer bezahlt werden, ohne dass es zu einer kompletten Verarmung hier in der Oase führte. Jedes Jahr belud Scheich Shabh Alrabi drei Lastkamele mit einem Teil der Ernte, schwang sich auf seine Reitstute und machte sich auf den neun Nächte dauernden Ritt nach Kairo, den Rückweg ohne Lasten schaffte er in sieben. Dann stand der gesamten Oase wieder ein zwar nicht immer leichtes, aber zumindest geruhsames Jahr ohne große Aufregung bevor. Den größten Aufruhr gab es, wenn sich zwei Leute verheirateten oder es Nachwuchs in einer der Familien gab. Dann konnte auch schon zwei, drei Nächte gefeiert werden, und aus den Hirsevorräten wurde ein trübes Bier mit wenig Alkohol für das Dorf gebraut. Sonst kümmerte man sich um das Vieh, zog ab und zu einen neuen Wassergraben und genoss das kleine Glück, das Allah täglich schenkte.

Auch als dann später die Engländer kamen, änderte sich im großen und ganzen nicht viel am Leben der Bewohner von Wahah Bahariyya. Die Briten bauten an den südlichen Teichen, zu Fuß etwa ein, zwei Stunden vom großen Hauptsee entfernt, ein befestigtes Fort. Fort Prince Leopold, nach einem Sohn der Queen benannt. Es war nicht die einzige Festung in den britischen Gebieten, welche diesen Namen trug, in den Papieren der Verwaltung wurde sie als FED (Fort Egypt Dessert) 27 geführt. Stationiert wurden in Prince Leopold ein Major mit einer Kompanie von 260 Mann Infanterie und einer Batterie mit vier Kanonen, insgesamt acht Maschinengewehren mit Dampfantrieb im Kaliber .45, zur Not auch mit einer Handkurbel zu betreiben und drei schweren Briggs and Stratton Radpanzern. Jenen schweren Ungetüme, welche im Sudan den Spitznamen Tiniyin Albukhar oder Steam Dragon, also Dampfdrachen erhalten hatten. Die acht Räder auf vier Achsen hatten einen Durchmesser von 4 Fuß, also knapp über einem Meter zwanzig, und waren 9 Zoll, etwas mehr als 20 Zentimeter breit, mit einer Profiltiefe von 1,5 Zoll. 39 Fuß, knapp über 12 Meter waren diese Monster lang, 13 Fuß, also etwa 4 Meter breit und der Rumpf 7,5 Fuß hoch. Der Kanonenturm mit der 4,8 Zoll – Hinterladerkanone und den beiden .45 Revolverkanonen war noch einmal 7,5 Fuß hoch, hatte 5 Fuß Durchmesser und erinnerte an einen alten Bergfried mit Fenstern rundum und einem plattgedrückten Zwiebeldach darüber. Auf ebener Strecke und guten Straßen brachten es die Dampfdrachen auf etwas über 40 Meilen in der Stunde, immerhin 65 Stundenkilometer. Eine stolze Leistung, die aber in der Wüste auf weniger als 15 Meilen, also 24 Stundenkilometer sank. Immerhin konnten die Radpanzer so die Strecke nach Kairo theoretisch in einem Tag schaffen. Nur sehr theoretisch allerdings, bei der in der Sahara üblicherweise tagsüber herrschenden Hitze. Zu dem militärischen Personal und den Panzerfahrern im Stützpunkt FED 27 kamen noch die Offiziersfrauen der Briten, einige Ehefrauen von ägyptischen Asakern, ein paar Handwerker, Wäscher und andere Zivilangestellte der britischen Armee. Dazu den Betreiber eines Pubs und einige Prostituierte für Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften ohne Anhang. Die üblichen Begleiter einer Armee eben.

Auch dieses Fort änderte am Alltag der meisten Bewohner, in der Mehrzahl koptische Christen, dazu einige dunkelhäutige Sudanesen und islamische Arabischstämmige, nicht sehr viel. Man lebte weiter das kleine, unscheinbare Leben, der Scheich Shabh Alrabi brachte seine Kamellasten eben nicht mehr zum Khedive, sondern direkt zum Fort. Die jungen Frauen hielten sich von der Umgebung der Festung fern, und die Briten mieden die nördlichen Seen der Oase. Major Sir James Cotton, siebenter Earl of Sandforth, hatte seinen Männern unmissverständlich klar gemacht hatte, dass sie sich gefälligst an die mitgebrachten Damen zu halten hatten. Er würde jedem persönlich einen Strick um den Hals legen, der das halbwegs gute Einvernehmen mit den Bewohnern der Oase gefährde. Der Major wollte ganz einfach Frieden in seinem Bezirk, das Leben an der Grenze war seiner Meinung schon schwer genug, da musste man nicht auch noch einen unnötigen Aufstand provozieren. Für ihn schien dieses Leben an der Grenze besonders schwer zu sein, doch wie seine rote Nase zeigte, galt seine große Liebe nicht unbedingt den Frauen. Auch nicht anderen Männern, um dem Major Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, sondern den kurvigen Formen einer Ginflasche, die er allerdings ab und zu schon mal mit einer Flasche Whisky oder Brandy betrog. Lady Beatrice Cotton, seine ihm angetraute Ehefrau, wandte sich ihrerseits an die Lieutenents der Einheit, um ihre persönlichen Bedürfnisse zu stillen und sagte auch bei einem baumlangen, gut ausgestatteten und ausdauernden ägyptischen Sergeanten nicht unbedingt nein, wenn es sich einrichten ließ.

Trotzdem wurden auch einige der Bewohner der Oase zumindest im Moment von große Sorgen gequält. Vor allem der ‚Alkhadim al’awal‘, der ‚Ersten Diener‘ und seine Herrin, die ‚Wahib alhaya‘, ‚Die das Leben spendende‘.

Unser Wakil Ahmad al Massud sollte doch heute morgen zurück kommen!“ Selim stand auf einem der hohen Wohnhäuser, die durch ihre Bauweise wie ein Schornstein funktionierten und deren Inneres durch den stetigen Luftstrom auch in der heißesten Tageszeit gekühlt wurde. Er starrte unentwegt angestrengt nach Nordosten. „Die Sonne steht schon eine Handbreit über dem Horizont!“

Geduld, mein Freund!“ Saloumne trat zu ihm und legte ihre zarte Hand auf seine Schulter. „Er wird kommen. Er ist immer wieder gekommen. Schau dort! Eine Wolke von aufgewirbeltem Sand! Jemand reitet dort!“

Tatsächlich, Herrin! Ich denke, du hast recht!“ Der Alkhadim al’awal griff zu seinen Fernrohr und zog es aus. „Er ist es, er muss es sein“, murmelte er in seinen prächtigen Bart.

Wenig später sprang vor dem Haus der Wahib alhaya ein Mann aus dem Sattel eines Kamels, welches sofort von einem Diener versorgt wurde, während der Reiter seinen Schleier vom Gesicht nahm. Das Gesicht darunter war das eines Asketen, die Augen jedoch verrieten seine Fähigkeit, sich begeistern zu können. Ahmad al Massud el Allah ad Dhin sah sich noch kurz um, dann hing er sein Repetiergewehr über die Schulter und betrat den Turm. Er stieg bedächtig zur Empfangskammer der Hausherrin hinauf, kreuzte die Arme vor der Brust und verneigte sich tief.

Willkommen, Wakil Ahmad!“ Saloumne trat näher heran und hob ihn auf. „Ist es dir gelungen? Konntest du den Plan ausführen?“

Die Prinzessin hat das Gift, das Gegenmittel und den Brief erhalten. Sie wird ganz sicher nach Kairo kommen!“

Sie wird später einmal deinen Kopf fordern, Ahmad“, zeigte sich Selim besorgt.

Sie wird es zu gegebener Zeit verstehen“, beruhigte Ahmad zuversichtlich den ersten Diener.

Und wird sie auch…“

Der Agent nickte. „Ich denke schon. Nach allem, was ich im Vorfeld erfahren habe, und dem persönlichen Gespräch – ja, ich glaube, sie wird.“

Und hast Du…?“

Die Polizei in Österreich ist nicht dumm, Wahib alhaya, ich hoffe doch. Aber ich konnte meine Abreise und meine Erkundigungen leider nicht noch auffälliger gestalten, das wäre viel zu verdächtig gewesen.“

=◇=

Triest

Die Stadt Triest im nördlichsten Teil der Adria war neben Fiume der bedeutendste Kriegshafen der Donaumonarchien in der Adria. Dort lag auch die KAISERIN SOPHIE vor Anker, der flugfähige große Schlachtkreuzer, das Flaggschiff der Flugschiffflotte in Triest und Stolz der kaiserlichen und königlichen Marine. Ihr Schwesterschiff, die KAISERIN MARIA ANNA lag mit ihrer Begleitflotte in Genua bereit, um im Kriegsfall die ligurische See zu schützen, ein drittes Schiff war in Muggia, an der anderen Seite einer Ausbuchtung des Golf von Triest gelegen, auf Kiel gelegt worden. Hier arbeitete das bereits in jungen Jahren berühmt gewordene Genie der Elektrizität Nicola Tesla daran, dem großen Flugschiff eine noch größere Reichweite und noch höhere Geschwindigkeit zu verleihen. Bei der Antriebsmaschinerie sollten neue magnetische Spulen eine bessere Ausnützung des durch die Dampfmaschine und das Vaporid nahezu unbegrenzt zur Verfügung stehenden Kraftstromes liefern, neue, optimierte Propeller diese Energie noch besser nutzen. Mit dem neuen Schiff sollte es eigentlich möglich sein, Africa vom atlantischen Ozean bis zum roten Meer zu überfliegen, und der rührige Ingenieur hatte vor, genau das mit der KAISERIN MARIA JOSEPHA zu versuchen. Auch an der Bewaffnung wurde von den Ingenieuren der Firma Norikum fieberhaft gearbeitet und geforscht, um noch schnellere Schussfolgen, stärkere Durchschlagskraft und höhere Reichweiten zu erzielen.

Der Golf und der Tiefwasserhafen hatten Triest zu einem der größten europäischen Häfen gemacht, besonders seit der Sueskanal seit 1868 das Rote mit dem Mittelmeer verband und damit die so genannte maritime Seitenstraße bildete. Die Semmering- oder Südbahn des Karl Ritter von Ghega verband über die Alpen hinweg Triest mit Wien und dann weitergehend auch mit Prag und Berlin über billig zu betreibende Schienenwege, und natürlich war Triest auch ein Hauptknotenpunkt der Luftschifffahrt. Die Stadt selbst befand sich auf einer Halbinsel, die meisten Gebäude waren nach einem fürchterlichen Brand 1873 bereits im Stil der Belle Epoque und des beginnenden Art Deco wieder aufgebaut und prägten das Stadtbild. Im Norden des Hafens und des Luftschiffhafens stand etwas Abseits das Schloss Miramar. Eine der habsburgischen Residenzen, welche Ferdinand Maximilian von Habsburg in Auftrag gegeben und sehr beliebt gewesen war, ehe er König von Mexiko wurde. Noch heute verlebten er und seine Gemahlin Charlotte von Nederland-België gerne einige Wochen im Jahr hier.

Mit seinem vom Brand verschont gebliebenen mittelalterlichen Stadtkern auf dem steilen Hügel hinter der Stadt und den hübschen Villen auf der Halbinsel machte die Stadt einen friedlichen, beschaulichen Eindruck, wenn man sich der Stadt von der Seeseite näherte. Nichts konnte irreführender sein. Triest war in den Donaumonarchien zu einer der am schnellsten wachsenden Industriestädte des neueren Dampfzeitalter geworden. Nicht nur die großen Werften, welche die kakanischen Kriegsschiffe bauten und auch einen großen Teil der internationalen Schifffahrt belieferten, waren hier angesiedelt. Es wurden hier viele hochqualitative Produkte aller Art hergestellt, Rohstoffe aus fernen Ländern wurden hier zu Fertig- und Halbfertigprodukten verarbeitet und dann weiter verschifft oder per Bahn in Richtung Norden über die Alpen versandt. Eine derzeit noch dampfbetriebene Schnellbahn verband die im Hinterland gelegenen Sozialwohnungen mit dem Hafen von Triest und den Fabriken in Muggia, die Benützung dieser Bahn war für die Arbeiter kostenfrei. Es war eine nötige Maßnahme, denn man wollte das Bild der Stadt nicht durch Fabrikschlote und zu hohe Häuser beeinträchtigen, trotzdem die Arbeitskräfte rasch an ihren Posten haben. Ein durchaus revolutionäres Konzept, aber bereits von Beginn an ein großer Erfolg. Die Stellen in Triest waren trotz der schweren Arbeit sehr begehrt.

Der Palazzo Tridor lag im Süden der nach Westen vorspringenden Halbinsel, ein einfacher, klassizistischer Bau mit einfachen Säulen, der nach dem Brand in den achtziger Jahren das hier vorher stehende prunkvolle Rokokoschlösschen abgelöst hatte. Die hier lebende Familie war danach bei einem fürchterlichen Schiffsunglück ausgestorben, ein Unternehmer hatte das Gebäude übernommen und noch einmal modernisieren lassen. Elektrisches Licht und mit Vaporid betriebene Dampflifte für Personen und Lasten erleichterten das Leben der Bewohner und vor allem das der Bediensteten ungemein. Vor etwa zwei Jahren war dann eine Signora Mariamne, Fürstin Sabatini hier auf Einladung des Franz, Ritter von Golovics hier eingezogen. Sofort hatte die exotisch schöne Frau die Gerüchteküche der Stadt in Gang gesetzt.

Haben’s schon die Sabatini g’seh’n? Und der Namen Mariamne! Des muss eine Jüdin sein!“

Ich habe gehörrt, sie soll eine Araberin aus Ägypten sein!“

No schlimmer! A Muselmanin. Wie ist die denn a Fürstin word’n?“

Na, wie schon, ordentlich petschieren wird sie sich von so einem alten Krautwaschl lassen haben. Dann hat er’s g’heirat und ist bald drauf daran g’storben.“

Sie soll aus einem uralten Geschlecht in Alexandria kommen, ihr Großonkel soll dort bei den koptisch-orthodoxen Christen einen hohen Rang eingenommen haben. Der hat ihr ein großes Vermögen hinterlassen! Erzählt man sich halt!“

Fesches Frauenzimmer! So eine wie die tät ich von der Bettkanten auch nur in eine Richtung stupsen. Hinein nämlich!“

Glaubst, Kamerad, die lassert sich einmal so richtig – also, du weißt schon, Kamerad, so richtig reiten?“

Weiß ich doch nicht! Aber diese Orientalinnen soll‘n ja viel mehr Spaß an der Freud’ haben wie unsere Frauen!“

Meine Frau hat einmal einen ihrer Zirkel besucht! Gruselig, hat’s gesagt, aber auch aufregend! Die Frau ist ein Medium, die mit Toten und auch mit anderen Geistern redet.“

Der Goldene Frühling! So nennt sie ihren Zirkel! Es ist wirklich erstaunlich, was die Frau weiß. Aber – wir haben versprechen müssen, nichts zu erzählen, denn es sind ja auch andere Leute zugegen. Deren Geheimnisse darf man natürlich nicht ausplaudern. Auch wenn man eigentlich gar nicht weiß, wer wirklich dabei war. Man trägt ja eine Halbmaske!“

Für die Seancen am Nachmittag im Tridor war es schwierig geworden, eine Einladung zu erhalten. Und natürlich auch schon recht teuer. Beate von Hochstieg hatte ihren Gemahl lange beknien müssen, damit der seine Beziehungen spielen ließ und außerdem das Geld für diese Sitzung locker machte. Aber jetzt war es endlich soweit, und Beate konnte ihre Aufregung kaum verbergen.

Willkommen im Salon von Mariamne, der Fürstin Sabatini!“ verneigte sich der Diener vor Horst Graf Hochstieg und seiner Gemahlin.

Aber, aber, doch nicht heute! Wir wollen alle Freunde sein und die Titel ausnahmsweise weg lassen“, rief Mariamne schon von der Tür in den Eingangsbereich, und mit wehenden Schleiern um ihren gut gebauten Körper kam die Fürstin ihren Gästen entgegen. Sie war eine ausgesprochen schöne Frau mit leicht exotischem Flair, der durch die gekonnte Art, wie sie sich zu schminken pflegte, noch unterstrichen wurde.

Signore Horst, Signora Beata, kommen Sie doch bitte mit in meinen Salon“, fuhr sie fort. „Aber zuerst, bitte wählen Sie eine Maske und einen Collo con Cappuccio – einen dieser Kapuzenkrägen. Ich vertraue allen meinen Gästen, als wären sie meine engsten Freunde, und ich hoffe, sie sind es wirklich. Aber, bitte, ich bestehe auf absolute Diskretion.“ Die Gräfin entschied sich für eine türkise Maske mit geheimnisvollen Ornamenten aus kleinen Perlen, während Horst eine schmucklose in scharlachrot wählte. Nachdem das Ehepaar ihre Masken angelegt hatte, führte sie die Fürstin weiter.

Was darf ich Ihnen anbieten? Einen Sherry, Signora Beata? Port? Für Sie auch, Signore? Con Piacere! Sehr gerne! Luigi, due vini porto, per parvore!“ sie stieß die Türen mit einer grandiosen Geste auf. „Benvenuto nel mio Regno!“

Der Salon der Fürstin war ein großer Raum, dessen Fenster mit dichten Vorhängen verhüllt waren. Auf dreizehn im Raum verteilten Kandelabern flackerten unzählige Kerzen und tauchten den Raum in ein mystisches Halbdunkel. Ein runder Tisch mit dreizehn bequemen Sesseln nahm die Mitte des Raumes ein, und zehn Personen, das Gesicht mit ähnlichen Halbmasken, die Frisur und den Kopf mit den Krägen mit Kapuzen verdeckt, standen mit Gläsern in der Hand plaudernd im Raum herum.

Miei cafi amici“, intonierte Mariamne. „Wir sind vollzählig versammelt! Bitte, nehmt Platz.“ Die Personen verteilten sich um den Tisch, und Diener rückten für die sieben Damen die schweren Sessel zurecht, ehe sie den Raum verließen.

Stringere la Mano – bitte reicht einander die Hände!“ forderte die Fürstin ihre Gäste auf. „Ihr Geister, kommt zu uns! Seid gewogen, unsere Fragen zu beantworten! Kommt und weiht uns in eure Geheimnisse ein!“ Die Kerzen auf den Leuchtern flackerten stärker, dann verloschen auf acht von den Kandelabern die Lichter, die Dunkelheit wurde noch tiefer. „Si, si“, stöhnte Mariamne, Fürstin Sabatini und presste die Hände der neben ihr sitzenden Herren fester. „Wir hören euch. Sprecht!“ Tatsächlich war leises Raunen zu hören, als flüsterten unzählige Stimmen zugleich, man glaubte beinahe, einzelne Worte zu verstehen. Aber nur beinahe, es waren stets nur einzelne Silben, die keinen Sinn ergaben, sich dem Verständnis entzogen. Ganz plötzlich, von einer Sekunde zur anderen, erloschen auch die letzten Kerzen. Die Dunkelheit war vollkommen und es herrschte ebenso abrupt tiefste Stille im Saal. Ein goldener Schein entstand über der Tischmitte, ein Ball aus Licht schwebte zwischen den Anwesenden und eine tiefe Stimme, die nach abgrundtief empfundenem Leid klang, ächzte und stöhnte.

Armes Jerusalem, armes Palästina! So lange sehnst du dich schon nach dem Messias, der da wiederkommen wird! Doch wirst du dieses Mal bereit sein, ihn zu empfangen, oder wirst du ihn wieder ermorden, wie schon ein Mal? Wirst du weiter in Knechtschaft liegen oder werden deine Ketten zerspringen? Wird das wahre Geschlecht des Blutes des Herrn die Welt unter sich einen, oder wird der Antichrist weiter wüten und den Bruder gegen den Bruder, den Vater gegen den Sohn kämpfen lassen? Wer wird dem wahren Blut dienen, wenn der Auserwählte aus dem heiligen Schoß Benjamins wieder geboren wird, gezeugt vom Geist Gottes aus dem Samen Davids? Wer wird die Ungläubigen und die Antichristen bekämpfen, welche die Welt in ein Chaos aus Blut und Kriegen stürzen wollen?“ Die Fürstin erschlaffte völlig in ihrem Sessel, die Stimme verklang, der Ball schrumpfte zu einem winzigen Punkt, der noch einmal hell aufleuchtete, ehe wieder absolute Finsternis im Salon herrschte. Dann, ebenso plötzlich wie sie verloschen waren, flackerten die Kerzen wieder auf, und die Stimme der Fürstin Sabatini erklang wieder.

Ja, ich höre dich, Conrad! Du möchtest also deiner Tochter etwas mitteilen? Ja, aber ich glaube, sie weiß, dass du sie geliebt hast. Oh! OH! Also… na schön, Conrad. Das ist ja wohl auch das Mindeste. Die Tochter von Conrad – nein, bitte nicht melden, es geht niemand etwas an, aber die Person weiß Bescheid! Er bittet seine Tochter von ganzem Herzen um Vergebung und sagt, sie solle im Herrenzimmer den Kamin aufsuchen und den Eckstein der dritten Reihe links kräftig nach innen drücken. Es ist keine ausreichende Wiedergutmachung, denn die gibt es nicht, aber es hilft ihr vielleicht weiter. Und wenn ihr Gatte sie besucht, dann soll sie nicht mehr an ihn denken, sondern nur an den Mann, der sie wirklich liebt und den sie liebt. Dann klappt das dann auch mit dem Nachwuchs! Ja, Susanne! Dein Mann ist hier? Du möchtest ihm versichern, dass es dir gut geht, und dass du es billigst, dass er eine neue Frau in sein Leben gelassen hat? Bene, das ist gut. Ach Bianca, natürlich kann ich deinem Sohn etwas ausrichten!“ So ging die Seance noch einige Zeit weiter, bis alle ihre Botschaft aus dem Jenseits erhalten hatten.

Mit Tränen in den Augen schritt Paula von Trassi dem Ausgang des Palais Tridor zu, als Mariamne sie kurz berührte.

Bitte, kommen Sie nachher doch unauffällig zu mir, Signora Paola. Es muss niemand wissen“, flüsterte sie der Frau zu, ehe sie sich umwandte, um mit einem der anwesenden Paare einige Worte zu wechseln. Ein Diener brachte eben die ersten Personen in den Vorraum, wo sie sich ihrer Masken entledigten und den Palazzo verließen.

Mia cara Signora Paola!“ Mariamne rauschte in das Zimmer, in dem ihr Gast sie erwartete. „Es tut mir so leid, was ich eben erfahren habe! Aber ich werde jetzt mit Ihnen offen sprechen. Wissen Sie über Ihren Körper Bescheid?“

Paula von Trassi senkte den Kopf. „Zu gut. Ich bin schmutzig, innen wie außen, sagt unser Pfarrer. Ich bin das Gefäß der Unreinheit, denn mit der Frau kam die Sünde auf die Welt. Sie ist diejenige, welche Adam verführte und daher alle Schuld hat!“

Unsinn!“, erregte sich das Medium. „Das ist der größte Schwachsinn, den einige impotente Kardinäle in die Worte Gottes interpretiert haben! Ja, Sie sind ein Gefäß, Paola, aber ein heiliges. Denn in Ihnen kann neues Leben wachsen. Es gibt kein Kind, das schuldig geboren wird, die Erbsünde bedeutet nur, dass der Mensch fähig ist, zu sündigen. Denken Sie daran, Paola, wenn Sie einem Kind das Leben schenken, geben Sie ihm die Chance auf ein Paradies. Und der Akt des Entstehens, wenn sich Ihr Gatte mit Ihnen vereinigen will, um neues Leben entstehen zu lassen, ist kein sündiger Akt. Niemals. Es ist auch keine Sünde, Vergnügen dabei zu empfinden, denn Gott hat dem Körper auch der Frau die Fähigkeit dazu verliehen. Denken Sie daran, Paola, geben Sie sich hin, mit Freude und Lust. Ihr Mann wird es Ihnen danken, und Sie werden empfangen können. Für Ihre Schmerzen gebe ich Ihnen eine Kräutermixtur mit, nehmen Sie drei Tropfen am Abend mit ein wenig Rotwein!“

=◇=

Die kaiserlich-königliche Werft zu Triest, welche selbst die größten Kriegsschiffe der Vereinigten Donaumonarchien zu bauen vermochte, war einer der großen Wirtschaftsfaktoren des Städteverbundes um Triest. Mit direktem Zugang zum tiefen Wasser der Adria an der Westküste etwas außerhalb der allgemeinen Industriezone gelegen, nahm das Werk eine ziemlich große Fläche ein. Vor der Küste lagen einige schwimmende Trockendocks, welche selbst die schweren Schlachtschiffe bergen und für Reparaturen aus dem Wasser heben konnten. Ja, sie wurden sogar hier noch gebaut, diese nicht flugfähigen, behäbigen schwimmenden Festungen aus normalem Stahl, sie und ihre Begleitflotten waren vor allem für die Verteidigung größerer Küstenabschnitte immer noch unverzichtbar. Und es wurde bereits daran gearbeitet, eines Tages auch diese Schiffe aus dem Wasser heben zu können. Zumindest teilweise. Aber selbst für den großen Visionär und Techniker Nicola Tesla war das noch Zukunftsmusik.

Für den Flugkreuzer KAISERIN MARIA JOSEPHA hatte das kroatische Genie seine Pläne wieder einmal überarbeitet, und die neue Turbine zur Gewinnung des elektrischen Stromes aus dem bei Ulm legierten und aufbereiteten kristallinen Leichtstahl sollte morgen gegossen werden. Noch effizienter sollte das neue Design der verstellbaren Rotorblätter sein, acht leicht gekrümmte Blätter mit verstellbarem Anströmwinkel. Mehr Strom mit gleicher Dampfmaschine, mehr Kraft in die Auf- und Antriebsrohre. Die KAISERIN MARIA JOSEPHA sollte mit ihren 300 Metern Länge und 41 Metern Breite kleiner als das Großdeutsche Pendant werden, und ihre Geschütze wiesen nur ein Kaliber von 29 statt der 35 Zentimeter der SPREEWALD auf. Dafür waren es 12 Geschütze in den gepanzerten Drehtürmen, zwei Türme zum Bug hin und zwei nach achtern. Dazu noch acht mal zwei 10,5 Zentimeter-Geschütze in Kasematten, welche auch nach unten ausrichtbar waren und einige im Rumpf versenkbare Kielgeschütze, ebenfalls im Kaliber 10,5 Zentimeter. Alle 10,5er wie auch die Hauptbatterien waren durch eine spezielle Konstruktion der Lafetten mit langem hydraulischem Rücklauf rückstoßfrei gelagert. Dazu wurde durch den halbautomatischen Ladevorgang noch der letzte Rest des Rückstoßes aufgezehrt. Der Verschluss wurde durch den Schuss nach hinten getrieben, die leere Kartusche nach unten ausgeworfen und der Verschluss verriegelt. Dann legte der Ladeschütze eine neue Granate ein und löste mit einem Hebel die Verriegelung wieder. Eine Feder schob Verschluss und Granate nach vorne in das Rohr, das Geschütz war wieder feuerbereit. Die neuartigen Granaten für die 10,5er waren stark panzerbrechend, die Hohlladung durchschlug bis zu 350 Millimeter Stahlpanzerung. Rundum verteilt auf dem Hauptdeck trug die MARIA JOSEPHA noch 38 Revolverkanonen mit einem Kaliber von 2 Zentimeter und einer Kadenz von 250 Schüssen in einer Minute in Stellungen, welche gegen den Fahrtwind geschützt waren. Über den Rumpf und die Aufbauten verteilt waren noch 50 der 7,62 Millimeter Maxim-Gewehre mit ihrer Kadenz von 600 Schüssen in der Minute für einen eventuellen Nahkampf. Beachtlich waren natürlich auch die 110 Knoten, also mehr als zweihundert Stundenkilometer, welche das Schiff in der Luft und die 60 Knoten oder 110 Stundenkilometer im Wasser machte. Es gab auf der Erde derzeit keinen künstlichen Körper, der schneller als die KAISERIN MARIA JOSEPHA flog.

Ingenieur Josip Tarkič fuhr wie an jedem Tag mit der Bahn zu seiner Arbeitsstelle, der Werft, wo er an der MARIA JOSEPHA mitarbeitete. Er saß allein in seinem Abteil und betrachtete aus dem Fenster die Umgebung, als hätte er sie nie zuvor gesehen. Er nahm innerlich Abschied, denn ganz egal, was heute geschah, morgen wäre alles anders. Auch wenn alles glatt lief – er müsste immer damit leben, seine Heimat und seinen Arbeitgeber verraten zu haben. Bis zu seinem Ende, das wohl nicht mehr in ferner Zukunft liegen würde. Er verfluchte den Tag, an dem er das Palais Tridor zum ersten Mal betreten hatte. Es hatte nicht lange gedauert, und er war der Fürstin Sabatini komplett verfallen, ihre exotische Schönheit hatte ihn nicht mehr los gelassen, bis sie ihn endlich erhörte und in ihr Bett holte. Und das war erst der Beginn, langsam wurde er ihr mehr und mehr hörig, Josip wollte, konnte ohne ihre Gunstbeweise nicht mehr sein. Jetzt hatte sie einen Liebesbeweis von ihm verlangt, er hatte sein Wort verpfändet – und sie wünschte die Details der KAISERIN MARIA JOSEPHA. Vor allem die neuen Energiemaschinen von Tesla, und natürlich alles über die Sicherheitskräfte und die Wachmaßnahmen der Werft. Er war ruiniert! Denn selbst, wenn er es schaffen sollte, völlig unauffällig allen Wünschen Mariamnes nachzukommen, seine Stunden in ihrem Bett waren gezählt. Er hätte ihr danach nichts mehr zu bieten, darüber machte sich der Ingenieur jetzt keine Illusionen mehr. Durch all den Nebel in seinem Gehirn sah er zum ersten Mal seit langem wieder klar. Noch einmal die heißen Küsse der schönen Südländerin am ganzen Körper erfahren, noch einmal die vollkommene Ekstase erleben? Oder doch sofort mit allem Schluss machen, er hatte dafür doch seinen Revolver in der Aktentasche. Besser sofort, obwohl – all sein Sehnen, sein Denken kam immer wieder auf diese Sekunden des höchsten Glücks zurück. Trotzdem, besser jetzt Schluss machen, ehe man zum Verräter wurde, zum Verräter an der Heimat. Josip zog ein Heft und einen Füller heraus und begann seinen Abschiedsbrief. Ungeduldig strich er bereits nach wenigen Worten das Geschriebene aus, riss die Seiten aus dem Heft und stopfte das zerknüllte Papier in seine Aktentasche. Auf seinem Weg in der Werft überschritt er die Brücke über einer Montagegrube, tief unter ihm wurden die Panzerplatten eines Kreuzers an die Spanten genietet, um danach noch einmal verschweißt zu werden. Doppelte Sicherheit, das war das Motto der Werft. Er sah grübelnd den Männern einige Minuten bei ihrer Arbeit zu, dann senkte er den Kopf, ging in sein Büro und kopierte dort die Pläne, welche er sich vorher aus Teslas Büro besorgt hatte. Er konnte nicht anders, diesen Blick, dieses Lächeln, diese Brüste – es musste sein, solange sie es ihm gewährte. Es war ihr Zwang, und er war ihm unterlegen. Die Fürstin Sabatini hatte die volle Gewalt über ihn gewonnen und würde die Pläne Teslas erhalten. Heute Abend noch.

Fein gemacht, Josip!“ Mariamne streichelte die Wange des Ingenieurs. „Damit hast du dir eine Belohnung verdient!“ sie öffnete ihre Bluse und entblößte ihren Busen. „Du darfst ihn küssen!“ Der Ingenieur ging vor ich auf die Knie und griff nach den festen Halbkugeln. „Küssen habe ich gesagt, nicht berühren!“ Sie entzog sich seinen Händen. „Hier!“ Sie zeigte auf ihre linke Brustspitze, und Josip spitzte gehorsam die Lippen. „Stehen die genauen Maße auch auf dem Blatt?“ Mariamne griff in das Haar Josips und zog seinen Kopf ein wenig zurück, zwang ihn, zu ihr aufzusehen.

Natürlich, meine Herrin!“

Guter Junge.“ Sie hob ihren Rock vorne ein wenig hoch. „Du darfst jetzt meine Schenkel streicheln…“

Ist der Cretino gegangen?“ Mariamne saß vor ihrem Spiegel und puderte ihr Gesicht nach.

Dieses maiale incredulo ist aus dem Haus geschlichen wie ein geprügelter Hund, Herrin Mariamne.“ Der Vertraute der Fürstin Sabatini war in ihr Boudoir getreten.

Bene“, nickte Mariamne. Sie griff nach einer Mappe, in welcher die Pläne für die Energieanlage der MARIA JOSEPHA waren und reichte sie dem Mann. „Morgen bringt doch eine Agentin aus Preußen einige Pellegrino unseres Ordens zur Heiligen Mutter Oberin nach Kairo. Sie soll diese Mappe mitnehmen.“

Natürlich, Herrin, es wird geschehen! Übrigens, der Priester und Beichtvater der Familie von Trassi ist gekommen und erwartet dich!“

Dann gib mir rasch das Mieder und hilf mir, es zu verschnüren! Rasch, rasch, der Padre kommt heute aber verdammt früh!“ Mariamne schlüpfte in hohe Stiefel und ein enges Korsett, dessen Schnüre Guido fest anzog. Dann nahm sie eine Reitgerte zur Hand und ging zum Nebenraum.

Kann ich dir sonst noch helfen, Mariamne?“

Heute nicht mehr, Guido. Gute Nacht!“ Dann stieß sie die Tür auf und schlug mit der Gerte gegen ihren Stiefel, so dass es laut knallte.

Schweig“, brüllte sie sofort in den Raum. „Warum bist du Bastard noch auf deinen Beinen? Knie hin, und küsse meine Stiefel! Sofort!“ Guido verkniff es sich, durch die Tür zu blicken und den Priester bei seiner Unterwerfung zuzusehen. Natürlich war die Vorliebe des Padres ein Geschenk für den Goldenen Frühling, aber er empfand nur Ekel vor diesen Männern.

=◇=

Herr von Tesla, diese Zeichnung da kann nicht stimmen!“ Der junge Ingenieur Georg Lindner kam mit einigen Skizzen zu seinem Chef. Der sah von seinen Plänen auf.

Was hast du denn da? Ach, die Turbinen. Was glaubst du denn, das nicht funktioniert?“

Na ja, also, funktionier‘n würd’s schon. Vielleicht zwei, drei Stund’! Dann sind die Lager ausg’schlagen, und des ganze ist im Ar… – also kaputt.“

Gut beobachtet!“ Tesla pinnte die Pläne auf eine Zeichentafel. „Stimmt schon, das Spiel von den Achsen ist zu groß, da hilft die beste Schmier’ nichts.“

Ja, aber, Herr von Tesla…“

Der zum Graf geadelte Ingenieur Tesla nahm einen Ring vom Tisch und reichte ihn Lindner. „Kennst du so etwas?“

Ein Kugellager! Deswegen ist der Ring mit den Schraubenflügel also in drei Teilen und die zwei eing’frästen Rillen vis a vis im Gehäuse und auf der Achs’. Haltet den Propeller an Ort und Stell’ und lasst den Propeller leichter rotieren! Chef, das ist genial! Aber warum steht’s denn nicht auf dem Plan?“

Nicola Graf von Tesla lachte laut. „Erstens geht es die Gießerei gar nichts an, die Kugellager bestellen wir wo anders. Und zweitens – hast du schon einmal etwas von Industriespionage gehört? Habe ich halt was weggelassen. Aber du bist gut, wirklich gut. Der erste, dem das Spiel aufgefallen ist. Mach so weiter, und du wirst noch eine gute Karriere machen. Auf jeden Fall, ab morgen bist in meinem direkten Forschungsteam.“

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London

Im Londoner Stadtteil City of Westminster lagen und liegen immer noch einige der prominentesten Adressen von London. Vom Buckingham Palast führt die breite Einkaufs- und Prachtstraße ‚The Mall’ bis zum Trafalgar Square, der vor 1835 noch den Namen Charing Cross trug und damals bereits als gesetzliches Zentrum von London angesehen wurde. Offizielle Entfernungsangaben im gesamten Empire bezogen sich damals wie heute auf einen mit einer markanten Säule markierten Punkt etwas nördlich des Nelson Monument. Vor der Nelsonsäule lag ein ovaler Platz mit der Reitersäule von King Charles I, auf der anderen Seite des Platzes lief die Mall als ‚The Strand‘ bis zur ‚Temple Bar’ weiter, der Grenze zwischen der ‚City of Westminster‘ und der ‚City of London‘. Dort lief die Straße dann als ‚Fleet Street’ weiter, die Grenze zwischen den Stadtteilen markierte eine Säule, auf welcher ein Greif stand. Nach Süden ging die Whitehall Avenue, die dann zur Parliament Street wurde, mit dem alten Navy Building, der Horse Guard und dem War Office Building. Von der Parliament zweigte eine kleine, unauffällige Gasse ab, welche allerdings weltberühmt war. Es handelte sich um die Downing Street, wo in Nummer zehn der Premierminister logierte und arbeitete. Die Themse und das Victoria Embankment erreichte man vom Trafalgar Square über die Northumberland Avenue. Die Whitehall und Northumberland verband eine Straße, welche der dort seit 1829 residierenden Behörde auf ewige Zeiten ihren Stempel aufdrücken sollte. Die Behörde war die Metropolitan Police mit dem CID, dem Criminal Investigation Department, für die Metropole London – mit Ausnahme der ‚City of London‘, die Straße trug den Namen Great Scotland Yard.

Der Mann, der eben durch die Arlington Street rannte, war von der Piccadilly abgebogen und hoffte, in dem Chaos der kleinen Hinterhöfen mit den Durchgängen zu beiden angrenzenden Straßen zu entkommen. Schwer atmend blieb er kurz stehen, unterdrückte seine allzu lauten Atemgeräusche. Das Herz aber ließ sich nicht unterdrücken, das Blut rauschte in seinen Ohren und störte seine Versuche, die Verfolger zu hören. Jetzt! Jetzt knallten draußen wieder genagelte Stiefel auf das Pflaster, genau solches Schuhwerk trugen seine Verfolger. Noch ein wenig Ruhe, noch ein wenig Luft in die gequälten Lungen holen. Er musste weiter, ewig konnte er doch nicht hier verweilen. Langsam schlich er sich weiter, erreichte über die Ryder Street den Saint James Square. Hier ruhte er sich zwischen den Sträuchern des Parks wieder ein wenig aus. Sein Problem war allerdings, dass seine Jäger genau wussten, wo er hin wollte, wo er hin musste! Detective Inspector Joseph Ponder musste zum Scotland Yard. Unbedingt, daran führte kein Weg vorbei. Er konnte sich noch erinnern, wie er im geheimen Auftrag des Commissioner in der Old Park Lane den Club beobachtet hatte, er sollte sich unvoreingenommen einmal ein Bild machen. Er fand einen Club, in welchem Damen ein und aus gingen, ohne Herrenbegleitung, ganz allein! Zuerst hatte er an ein anstößiges Haus gedacht, aber bisher außer dem Besuch weiblicher Personen nichts Besonderes gefunden. Dann hatte er eine der Damen erkannt, Lady Adele, verheiratet mit dem achtzehnten Viscount of Forestchapel, welche ebenfalls ohne Begleitung das Haus betreten hatte. Der Verdacht des Polizisten, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugehen konnte, wuchs. Vielleicht handelte es sich gar um eine Suffragettenloge! Empörend, aber noch nicht gegen das Gesetz. Aber dann waren auch Herren eingetroffen, unter ihnen sein zweites Zielobjekt, und das Haus war noch nicht einmal eines dieser neumodischen Bäder, wo Damen und Herren in – selbstverständlich getrennten – Schwimmhallen dem Wassersport frönen konnten. Insgesamt war die ganze Situation für Joseph Ponder verdächtig genug, um sich genauer umsehen zu wollen.

Also hatte sich DI Ponder näher an das Haus gepirscht und die Messingplakette betrachtet. ‚Lady Abigail Chesterton, Medium‘ stand in verschnörkelten Buchstaben neben der Tür. Eine Bezeichnung, bei der Ponders innere Alarmglocken noch lauter anschlugen. Der DI hielt als überzeugter Anhänger der Aufklärung nichts von irgendwelchen außerkörperlichen Wahrnehmungen, es existierte für ihn nur Chemie und Physik. Nun, Gott gab es natürlich, aber dass jemand mit dem Jenseits kommunizieren konnte, war für den Polizisten schlimmer als Unfug. Dieses ganze esoterische Zeug war für ihn einzig und allein ein riesiger Schwindel, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu holen. Ein gewerbsmäßiger Betrug, um sich in der Juristensprache auszudrücken. Nebenbei war es Blasphemie! Häresie! Gegen Gottes Gebote. Aber bevor es zu einer offiziellen Ermittlung kam, brauchte er natürlich Beweise, hieb- und stichfeste Beweise. Also klopfte er an, irgendwie mussten die Besucher doch ihre Termine ausmachen können. Ein Butler in der üblichen gestreiften Weste mit blasiertem Gesicht öffnete die Tür.

Wie kann ich ihnen helfen Sir?“

Ich komme – wegen eines Termines für eine Sitzung bei Lady Abigail“, bekannte er DI mit leichter Spannung in der Stimme.

Bitte treten Sie ein, Sir. Der Sekretär ihrer Ladyship wird sofort bei ihnen sein.“

Der Sekretär Georges D. Marschall entpuppte sich als kleines, quirliges Männchen, welches die Treppe weniger herunter ging, sondern eher sprang.

Willkommen, Sir! Herzlich willkommen! Sie möchten einen Termin mit Lady Abigail vereinbaren? Wie wäre es mit heute? Die nächste Seance beginnt in etwas mehr als zwei Stunden, und einer der Herren für diese Sitzung musste kurzfristig absagen. Ihre Ladyschaft wird entzückt sein, dass es doch eine komplette Runde wird. Sie müssen wissen, dass die Energie am besten fließen kann, wenn es exakt zwölf Gäste sind. Nein, bitte fragen Sie mich nicht, warum, Sir. Ich kann mit Feder und Papier umgehen, ich kann addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren. Aber für das geistliche ist ganz allein Lady Abigail zuständig, hier bin ich nur ein staunender Bewunderer ihrer Kunst.“

Natürlich”, zeigte sich Joseph Ponder erfreut, obgleich er wirklich nicht mit einer derart schnellen Einladung gerechnet hatte. Eigentlich war er überzeugt gewesen, erst in einigen Tagen einen Termin zu erhalten, wenn die Detektive des Mediums einiges über ihn herausgefunden hatten. Der DI hatte sich schon gefreut, ein wenig mit ihnen Katz und Maus spielen zu können, falsche Fährten zu legen und dann seinen Ausweis auf den Tisch zu legen und die Dame wegen Betruges verhaften zu können. Aber egal, er würde eben heute seine Rolle spielen, sich überzeugt von den Fähigkeiten der Lady geben und demnächst eine weitere Einladung erhalten. Diese Detektive warteten sicher schon nach der Sitzung auf ihn, und er würde ihnen ein paar hübsche Schnippchen schlagen.

Bitte, Sir, wenn Sie Platz nehmen wollen? Eine Tasse Tee, oder etwas anderes zu trinken, um die Wartezeit zu verkürzen? Einen Port vielleicht? Ich kann ihnen auch gerne einige Zeitungen anbieten. Wenn Sie etwas benötigen, wenden Sie sich bitte an Samuel, den Butler! Ich wünsche dem Herrn eine schöne Zeit unter unserem Dach!“

Nach etwa anderthalb Stunden war Samuel erschienen und hatte Ponder gebeten, eine Halbmaske aufzusetzen und ihm in das Sitzungszimmer zu folgen. Der Polizist kam dieser Aufforderung selbstverständlich umgehend nach und ging hinter dem Butler in einen verdunkelten Raum, in dessen Mitte ein großer, runder Tisch und dreizehn bequeme, gepolsterte Stühle mit hohen Lehnen standen, das Licht kam von einer Unmenge an Kerzen, welche auf vierarmigen Leuchtern standen.

Bitte, Sir!“ Eine beinahe knabenhaft schlanke Dame in einer weißen Dschellaba erwartete den DI und reichte ihm die Hand zum Kuss. „Georges hat mir erzählt, dass wir heute einen neuen Gast begrüßen dürfen. Ich bin froh, Sie kennen zu lernen, Joseph, ganz besonders, da einer meiner Gäste absagen musste.“ Ponder zuckte innerlich zusammen. Woher kannte diese Person seinen Namen? Lady Abigail trug keinerlei Maske auf ihrem Gesicht, er wusste also, er hatte sie nie getroffen. Hatten ihre Männer wirklich so schnell arbeiten können? Dann wusste sie wahrscheinlich auch schon, welchen Beruf er ausübte, also ging er in die Offensive.

Ich freue mich auch, Lady Abigail!“ Er verbeugte sich formvollendet und küsste ihre Hand. „Ich sollte Mylady vielleicht darauf aufmerksam machen, dass ich Polizist bin, und…“

Kein Wort weiter, mein lieber Joseph!“ Die Dame des Hauses winkte mit einer eleganten Handbewegung ab. „Für mich ist nicht wichtig, wer hierher kommt, um von den Geistern etwas zu erfahren, solange es privater Natur ist. Daher, ich bitte um Verständnis, die Maske. Niemand soll vor anderen Personen bloß gestellt werden. Wenn Sie berufliche Informationen wegen eines Verbrechens suchen sollten, so bitte ich Sie, während einer Einzelsitzung danach zu fragen. Entschuldigen Sie, dass Georges nicht auf den Gedanken kam, Sie zu fragen. Er war so erleichtert, der Sitzung nicht beiwohnen zu müssen. Er hat immer ein klein wenig Angst dabei, es kann eben nicht jeder ein mutiger Detective Inspector werden.“

Danke, Milady …“

Bitte, nennen Sie mich wie alle hier Abigail, Joseph. Wir verzichten hier auf Titel wie auch auf Familiennamen, aus dem gleichen Grund, warum wir eine Maske tragen.“

Ich akzeptiere das das natürlich – Abigail“, verbeugte sich Joseph Ponder. „Ich versichere ihnen, ich bin heute als Privatmann gekommen!“

Wirklich?“ Erstaunen schwang in Abigails Stimme wieder. „Nun, die Geister werden es offenbaren, mein lieber Joseph. Ihnen bleibt nichts verborgen. Ach, mein lieber Killroy, es ist viel zu lange her, dass wir uns gesehen haben.“

Ein großer, breitschultriger Mann in guter, wenn auch nicht überaus teurer Kleidung hatte den Raum betreten. „Aber meine liebe Abigail! Jedes Mal, wenn ich London besuche, muss ich einfach bei ihnen vorbei kommen.“ Die Frau warf das lange, schwarze Haar aus dem schmalen Gesicht, dessen Nase ein ganz klein wenig zu spitz geratenen war, um eine echte Schönheit nach den Maßstäben der Londoner Gesellschaft zu sein, und lachte mit tiefer, kehliger Stimme.

Sie waren schon immer ein übler Schmeichler, Killroy, und ein Charmeur“, schmeichelte sie. „Gibt es denn im Königreich denn eine Frau, die ihnen widerstehen kann?“

Ich habe noch keine getroffen, meine liebe Abigail, ich habe noch keine getroffen“, prahlte Killroy. „Und ich hoffe, nie einer zu begegnen.“

Spielerisch wirkend schlug Abigail mit der Hand nach dem Besucher. „Sie sind mir aber ein schlimmer Finger, mein lieber… Willkommen, Elisabeth. Wie schön, dass Sie gekommen sind!“ Das strenge, schwarze Kostüm der eintretenden Dame verbarg ihre gesamte Figur, man konnte nur erkennen, dass sie von hoher Statur war. Nach und nach waren die Teilnehmer der Sitzung zusammen gekommen, und Lady Abigail bat ihre Gäste zu dem runden Tisch und forderte sie auf, sich an den Händen zu nehmen.

Die Hausherrin begann mit einer mantraartig wiederholten Einladung an die Geister, welche willig waren, ihre Fragen oder diejenigen der Anwesenden zu beantworten. In der Mitte des Tisches entstand ein fahlblauer, durchsichtiger Kopf einer ansonsten schönen Frau, mit großen, leicht mandelförmigen Augen und vollen blauen Lippen, grünes Haar wogte in ständiger Bewegung um die Gesichtszüge. Das Gesicht wandte sich jedem der Anwesenden zu und schien sie mit den Blicken zu durchdringen. Dann stoppte es bei DI Joseph Ponder.

Ach, heute ist ein Zweifler unter uns. Ein berufsmäßiger Zweifler sogar. Sagen Sie, Joseph, warum glauben Sie, dass in diesem Haus krumme Dinge ablaufen. Weil Frauen, sogar Damen hier ohne Herrenbegleitung ein- und ausgehen? Männer machen so etwas doch dauernd, sie verkehren oft in verschiedenen Häusern. Sogar in solchen, in denen ein anständiger Mann eigentlich nichts zu suchen hätte! Wieso finden Sie das nicht seltsam? Ach, weil Frauen eben Frauen sind? Und eine Dame ohne ihren Vormund nirgendwo hin geht? Wir sind am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, Mister Joseph! Wir haben Dampfeisenbahnen, Dampfschiffe, Luftschiffe und Ornithopter! Und da denken Sie, dass eine Frau wie vor tausend Jahren zu Hause sitzen muss und den Tag mit Müßiggang herumbringen soll? Zur Hölle mit diesen Vorstellungen, die schlimmer als im Mittelalter sind! Es wird Zeit, sich einer neuen Zeit zu stellen, es wird Zeit, dass eine neue Epoche anbricht, eine Epoche der Befreiung! Und nicht nur eine Ära der Emanzipation der Frauen, sondern aller Menschen. Eine Befreiung vom Joch des Adels und der Großgrundbesitzer! Der Messias, der neue Befreier, wird in Jerusalem erstehen und mit Feuer und Schwert die Ungläubigen in das Meer treiben, doch wer sich zu ihm bekennt, wird leben und zu seinen Ehren frohlocken!“

Dann verschwammen dem DI seine Erinnerungen, wurden wie von Nebeln umwölkt, sein Denken war wie von Watte gehemmt. Irgendwann war er aufgesprungen, aus dem Saal gestürzt, auf die Straße. Hinter sich die genagelten Schuhe, tapp, tapp, tapp! Auf dem Piccadilly war er über eine Brücke über den Graben der Underground gehastet, unter ihm war eine noch mit Kohle beheizte Garnitur der Bakerloo-Line gefahren. Der Qualm hatte ihn zwar gedeckt, aber seinen Atem noch mehr behindert. Jetzt endlich, im Park des Saint James Square, beruhigte sich sein pfeifender Atem ein wenig. Er musste irgendwie zum Yard, er war sich sicher, den Police Chief Inspector von Mayfair in der Runde bei Lady Abigail erkannt zu haben. Er musste unbedingt zum Yard, keine andere Polizeistation, kein Bobby, der ihm über den Weg lief, war vertrauenswürdig genug. Er musste seine Vorgesetzten warnen, warnen vor dieser revoltierenden Bande, welche die Regeln der viktorianischen Gesellschaft und damit die Queen und das Empire selbst in Frage stellten. Sein Atem hatte sich wieder etwas beruhigt, es war mittlerweile stockdunkel geworden. Hatte er so lange unbemerkt hier gelegen? Ponder schlich weiter, über die Pall Mall und die Cockspur Street zum Trafalgar Square, weiter in die Whitehall Avenue. Kurz vor der Ecke zum Great Scotland Yard, wo seine Dienststelle lag, hörte er hinter sich wieder das Trappeln der genagelten Schuhe. Sie hatten ihn wieder gefunden, sie würden ihn einholen. Er riss seinen verkürzten Webley-Revolver aus der Jacke und drehte sich um, feuerte alle sechs Schüsse in die Nacht und brach danach zusammen. Die Pfeife des wachhabenden Constable, der die Schüsse hörte und die Beamten im Yard alarmierte, vernahm er schon nicht mehr.

Der leitende Beamte der Metropoliten Police, oder wie sie eigentlich im allgemeinen Sprachgebrauch genannt wurde, The Scotland Yard, war 1889 Commissioner Sir Gerald Wilderson, 7th Earl of Chestminster. Seit der Erfindung der dampfbetriebenen Fahrstühle und der von Elisha Graves Otis erfundenen Sicherheitsbremse waren die begehrten Bureaus nicht mehr im Erdgeschoss, sondern so weit oben wie nur irgend möglich. Die großen und hellen Bureaus des Commissioners und seines Stabes befanden sich daher in der obersten, der sechsten Etage. Im Moment saß er hinter seinem Schreibtisch aus dicken Eichenplatten und blätterte im Bericht der Nachtschicht.

Sie haben also nichts und niemanden gesehen, Constable?“, vernahm er eben einen der Peeler

Nein, Sir Gerald.“ PC Hounder stand stramm vor dem Tisch! „Ich hörte deutlich sechs Schüsse, habe die anwesenden Wachhabenden alarmiert, und diese sind dann nach meiner Anweisung in Richtung Whitehall Avenue gelaufen!“

Danke, Constable, abtreten!“, befahl Sir Gerald.

Sir!“ Der Uniformierte stampfte einmal auf, drehte auf der Stelle um ging zackig, den Helm unter dem Arm, zur Tür hinaus.

Also, DS Brown. Sie und einige hier namentlich angeführte Constable sind also nach den Angaben des PC Hounder losgelaufen“, machte der Commisioner mit einem Detective weiter. „Beschreiben Sie noch einmal kurz die Szene!“

Sir, etwa um neun Uhr Abends hörte ich die Alarmpfeife des Wachhabenden.“ Auch DS Brown hatte trotz seiner zivilen Kleidung Haltung angenommen, immerhin stand er vor dem obersten Polizeibeamten der Stadt. „Die Constables Cockmore und Smith folgten mir. Constable Hounder berichtete von sechs Schüssen aus der Richtung Whitehall Avenue. Ich befahl ihm daher, sich mit einer Schusswaffe hinter der Tür in Deckung zu postieren. Auch wir hatten uns mit den für solche Fälle bereitstehenden Schrotflinten bewaffnet und begaben uns zur Avenue. Dort fanden wir DI Ponder auf dem Boden liegend, sein Revolver war noch warm, alle sechs Schüsse waren abgefeuert! Sonst war zu dieser Zeit nicht mehr sehr viel los. Wir haben dann die wenigen Passanten auf der Whiehall befragt, aber alle sind erst nach den Schüssen eingetroffen und haben nicht das geringste gesehen. Behaupten sie zumindest, aber eine Beweisführung für das Gegenteil wäre schwierig. Wir haben keine Ahnung, warum und worauf der DI geschossen hat!“

Hat etwas sagen können?“

Eigentlich nur ‚unsere heilige Ordnung ist in Gefahr, der Frühling wird sich erheben und dieser Hexe von der Old Park Lane nachlaufen.‘ Dann ist er wieder geistig weg getreten, Sir. Wir können uns keinen Reim auf seine Worte machen.“

Wo ist der DI denn jetzt eigentlich“, fragte der Commissioner nach.

Sir, die Ambulanz hat ihn nach Bedlam gebracht, wo er untersucht werden soll!“

Es ist gut, DS Brown“, entließ Sir Gerald den Polizisten. „Halten Sie mich auf dem Laufenden. Sie können abtreten!“

Sir!“, brüllte DS Brown im besten Kasernenton und salutierte. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ das Büro des Commisioner.

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Wien

Der Gastraum des Heurigen ‚Zur Milliwirtin’ im wiener Vorort Hernals war gut besucht, jetzt, im Winter konnten die Gäste natürlich nicht im Freien sitzen. So war denn auch die Luft erfüllt von Zigarrenrauch, dem stetigen Summen der Unterhaltungen und den Klängen einer Geige sowie einer Knopferlharmonika. Trotz des vollen Raumes hatte es Walter Brunner geschafft, für Fräulein Haberl und sich einen kleinen Tisch für zwei in einer Nische zu ergattern, an dem sie sich allein unterhalten konnten.

Herr Walter, ich muss dir seltsam vorkommen, so wie ich mich manchmal benimm“, begann die ÖDLAG-Angestellte ein wenig schüchtern. Das magere Fräulein Fritzi Haberl und der feiste Kommissär Walter Brunner waren ein ungleiches Paar. Er groß, breite Schultern und keine ganz kleine Wampe, sie einen ganzen Kopf kleiner und spindeldürr. Nur bei die Dutterln, also, der Oberweite, da hatte Mutter Natur ein wengerl mehr ausgelassen, und beim Sitzfleisch fanden sich auch ein paar kecke Rundungen. Das Gesicht, das meistens unter einer viel zu großen Brille versteckt war, wies ein süßes Stupsnäschen auf, das sich allerliebst krauste, wenn sie lachte, und sie lachte eigentlich ganz gern. Wenn sie sich entspannen konnt’. Und heute konnte sie, gemeinsam mit dem Kommissär beim Heurigen.

Na, das wird schon seine Gründe haben, Fräulein Fritzi“, entgegnete er. Das Fräulein Haberl nahm die riesigen Pranken des Kommissär in ihre langen schmalen Finger.

Ja, weißt, Herr Walter, ich hab keine leichte Jugend g’habt“, ezählte sie. „Mein Herr Vater war so ein kleiner Planetenverkäufer am Naschmarkt, du weißt schon, für 10 Kreuzer ein astrologisches Glückszetterl für den jeweiligen Tag. Er hat auch den typischen Papagei mitg’habt, der die Zetterl aus dem Bauchladen zupft hat.“ Friederike Haber saß mit dem Kommissär beim Heurigen und nahm einen Schluck von dem herben grünen Veltliner, der in Wien so beliebt war. „Kein großes G’schäft, und es war damals halt noch die Zeit, wo die sozialen Wohnungen eher eine Seltenheit waren. Meine Eltern haben in Favoriten gewohnt, beim Laaberg in der Nähe. Die Frau Mama war Köchin bei einem Hofrat, und wir hab’n noch einen Untermieter im Haus g’habt. Noch einen gebraucht, damit wir uns die Wohnung leisten haben können.“ Rasch noch einen tiefen Schluck. „Bitte, Herr Walter, bestell‘ mir noch – nein, besser gleich ein Vierterl, ich werd’s brauchen. Ich muss dir jetzt was erzählen, damit‘st mich verstehst. I mag dich nämlich, aber, na ja, wir waren beim Untermieter. Der war ein Geselle bei an Fleischhacker. Ein großer, kräftiger Kerl. An dem einen Tag war ich z’Haus, wie er viel früher als normal von der Arbeit heimkommen ist, fuchsteufelswild, weil ihn sein Meister rausg’schmissen hat. Und dann hat er mich umgedreht, mit’n Bauch auf’n Tisch drückt und – na ja, ich muss jetzt eh net weiterreden, oder? Ich war damals grad erst einmal Fünfzehn. Des Viech hat dann seine sieben Zwetschgen einpackt und ist verschwunden. Aber ich hab’ tagelang noch Schmerzen zwischen die Füß‘ g’habt, und deswegen bin ich auch noch net verheirat‘. Der Gedanke, diese Schmerzen noch einmal zu erleben, macht mir Angst, Herr Walter. Ganz große Angst. Trotzdem fang’ ich an, dass ich dich mag, und ich weiß, dass Männer ohne das Eine auf Dauer irgendwie net können. Musst halt vorsichtig bei mir sein mit deine Riesenpranken!“

Ich werd’ mir viel Zeit lassen, Fräulein Fritzi. Sehr viel Zeit. Weil – ich mag’ dich auch!“

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Dass der Komissär Brunner auch ganz anders als nett sein konnte, bewies er dann am nächsten Tag. Da brachten die Mistelbacher, also das bewaffnete paramilitärische Sonderkommando der Polizei, welches in einer Kaserne in dem Ort Mistelbach bei Wien untergebracht war, den Koks-Fredi zu ihm in die Räume der Kommission.

Der Spenadler ist der Koks-Fredi?“ Durch ein Guckerl, ein Guckloch, spähte der Kommissär in den Verhörraum, wo man den Deliquenten angekettet hatte. Der Hauptmann der Mistelbacher in seiner flaschengrünen Uniform mit dem schwarzen, federgeschmückten Zylinder auf den Kopf zuckte mit den Schultern.

Zum verdrah’n vom weißen Koks braucht er keine Muskeln, Herr Kommissär. Da sind die Gulden schwerer als die War’.“

Stimmt eh”, gab Brunner zu. „Na gut, Kamerad. Dank‘ dir schön für die Unterstützung.“

Die G’schmierten von sein Rayon war’n weniger begeistert. Ich glaub’, der Inspektor von dort wird bald da auftauchen.“ Der Hauptmann legte seine Hand an den Hut. „Aber, jetzt ist das ihr Problem. Habe die Ehre, Herr Kommissär!“

Ich auch, Herr Hauptmann“, nickte Brunner und reichte dem Offizier die Hand. „Und dann werd’ ich den Häuslratz jetzt einmal ganz freundlich befragen!“ Er stieß die Tür auf, dass sie laut gegen die Wand knallte und walzte auf den Tisch zu, hinter dem der Koks-Fredi angekettet auf seinem Stuhl saß. Schwer ließ er sich gegenüber auf den Sessel fallen, warf die Akten auf den Tisch und wandte sich an den Uniformierten am Gang.

Wachtmeister, geh’ Er einmal hinüber zur Wirtschaft, hol’ Er mir ein Krügerl Bier und eine Leberkassemmel. Mit an scharfen Senf. Und mach’ Er die Tür zu!“

Allsdann”, wandte er sich an den Arrestanten, als die Tür ins Schloss gefallen war. „Dann leg‘ nieder, du Arsch mit Ohren! Sonst hau’ ich dir eine Tschinellen eine, dass dir der Fetzenschädel noch drei Tag wackelt!“

Ich sag’ nix, Herr Inspektor! Ich hab’ nix g’macht!“

Die Faust Brunner donnerte auf den Tisch. „Net deppert reden, G’frastsackl. Da herin nutzen dir deine Haberer von Rayon genau elfe, also gar nix. Wenn der Rayonsinspektor spinnert wird, sitzt er neben dir und kriegt auch sei Schmalz ab. Also?“

Ist schon gut, Herr Inspektor“, zuckte der dürre Drogenhändler zurück.

Kommissär, wenn’s recht ist!“

Gut, dann halt Herr Kommissär. Ich geb’s ja zu, ich hab’ halt ein bisserl Koks verscherbelt“, hob der Alfred beschwichtigend die Hände. „Das ist doch jetzt net so schlimm, dass gleich mit de Mistelbacher anrucken müssen!“

Die Schnupfnas’n von dir und deiner gefäulten Blas’n interessiert mich jetzt auch net ganz so dringend. Aber wenn‘st net am unter‘n End von einem Strick eine Polka tanzen willst, dann sagt mir aber stante pede, was’d mit dem Kerl zum tun g’habt hast!“ Brunner warf die Phantomzeichnung über den Tisch.

Der Kümmeltürk’ hat mi ausg’fratschelt über meine Kunden.“ Der Koks-Fredi hatte nur einen kurzen Blick auf die Zeichnung geworfen. „Und dann hat er mich zum Luftschiffhaf’n b’stellt und mir ein ganzes Packel Hunderter in die Hand druckt. Dann hat er sich ang‘stellt, ich glaub’, nach Triest!“

Wenn’s net mehr wird, ich glaub’, dann lernst den Karl Selinger doch noch kennen“, knurrte Walter Brunner. „Und den kleinen, dreieckigen Hof vom Landl.“

Aber wieso?“ Alfred Musek wurde immer unruhiger.

Weil des g’schissene G’fries unsere Prinzessin umbringen hat woll’n“, brüllte der Kommissär laut.

Was, die Maria Sophia? Unser Prinzessin? Das ist ja ganz furchtbar. Ich sag’ alles, Herr Kommissär. Ehrlich. Ja, ich hab’ Koks verdraht. Und ja, ich hab Kieberer g’schmiert. War ja net wirklich schwer, weil die meisten haben eh nur ab und zu ein Naserl voll und dazu eine von meine Strichkatz‘n wollen. Dafür hab’ns dann halt bei meine G’schäft ein bisserl weg’schaut.“

Also Peitscherlbua bist auch noch?“ Brunner hieb seine flache Hand auf den Tisch. „Das wird ja immer schöner!“

Von irgend was muss der Mensch leben, Herr Kommissär. Und ich hab’ meine Mäderln immer gut behandelt, wenn’s ordentlich die Füß’ auseinander geb’n haben.“ Der dünne Fredi zuckte mit den Schultern. „Jeder kann net ein Kommissär werden, es muss auch uns Ganefs geb’n, sonst werdet’s ihr ja noch arbeitslos.“

Die rechte Hand des Kommissär Brunner landete einmal glatt, einmal verkehrt in der Visage des Fredi. „Das war für deine Frechheit, Bürscherl. Damit du net vergisst, wo du bist! Also, der schwarze Murl, was war mit dem?“

Ja, ich red’ ja schon. Maria’nd Joseph, des war’n jetzt aber zwei Tetschen. Na, net noch einmal, Herr Kommissär, ich bitt’ gar schön. Der Wappler hat mich nach der Baronesse Klederwald g’fragt.“

Und, hast der a einen Koks verdraht?“, fragte der Kommissär und hieb mit der flachen Hand auf den Tisch.

Nein, die hat was ganz anderes wollen. Narrische Schwammerl und Spanische Fliegen!“

Brunner hob die Hand. „Willst du mich verarschen? Wo die zwei vorher herkommen sind, gibt’s noch mehr!“

Kein Schmäh, Herr Kommissär“ duckte sich der Fredi. „Ich sag’s ihnen, ganz ehrlich. Die Blasen um die Baronesse machen einen auf spiritistischen Zirkel, Goldenes Frühjahr oder so. Aber ich glaub’, die hobeln einfach kreuz und quer und bilden sich dabei weiß Gott was ein, wie weit über die ander’n Leut sie stehen. Dabei ist die Baronesse gar nicht echt. Als Pepi Hintwitz ist’s auf d’Welt kommen, und de Hax’n hat’s schon als jung’s Madl für an jeden breit g’macht, der gnua Geld umewachsen hat lassen. Draußen, in Simmering is aufg’wachsen, so, wie ich auch. Aber ich hab’s wieder erkannt, die blöde Blunz’n, aber sie mich net. Na, hab ich halt nix g’sagt.“

Noch nicht, oder?“, insistierte Brunner, und Alfred zuckte nur wieder mit den Schultern.

Ja, ich weiß schon“, winkte der dicke Kommissär ab. „Von irgendwas muss der Mensch ja leben!“

Genau, Herr Kommissär“, grinste Musek.

Brunner hob die Pranke. „Du kannst für deine Frechheit gleich… Ja! Was denn?“

Das Krügerl für den Herrn Kommissär und die Semmel mit‘n Leberkas“, salutierte der Schließer.

Ich komm’ schon! Stell Er das Ganze doch draußen ab! Er kriegt sein Geld auch gleich!“

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So, meine Herren!“ Kommissär Brunner lehnte sich in seinem Sessel zurück und betrachtete die Agenten der Kriminalkommission, die unter seinem Kommando standen. „Ich möcht‘ so schnell wie möglich Informationen über die Baronesse Klederwald. Eventuell eine geborene Pepi Hintwitz aus Simmering. Ich möcht‘ wissen, was sie isst, was sie trinkt, und wenn’s an Schas lasst, möcht’ ich wissen, nach was er fäult. Ich will wissen, mit wem sie was red’t und mit wem’s wie hobelt! Wenn der Falott aus Kamelistan nach der Trutsch’n g’fragt hat, halt ich die Wab’n für interessant. Also, gemma, gemma, kalt is net!“

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Über dem Mittelmeer

Die AUSSEE, ein Luftschiff der ÖDLAG, befuhr im Liniendienst die Strecke von Berlin nach Karthum, mit Stopps in Prag, Wien, Budapest, Belgrad, Sofia, Konstantinopel und Kairo. Den einhundert Passagieren standen einige bequeme Räumlichkeiten mit weichen Sesseln und Tischchen, ein Salon zum Speisen und eine Aussichtspromenade zur Verfügung. Passagiere Erster Klasse konnten auch eine der 16 Doppelkabinen beziehen und während der Reise ein wenig Privatsphäre genießen und ein wenig ruhen. Allerdings waren die Kabinen eher mit den winzigen Schlafabteilen der Eisenbahnzügen wie etwa dem berühmten Orientexpress oder der Petersburglinie von Venedig nach Sankt Petersburg zu vergleichen, doch ohne den Vorteil eines Fensters. Jede Schiffskabine war im Vergleich ein Ballsaal, denn neben den beiden übereinander liegenden Betten war gerade genug Platz, um sich einen Morgenmantel überzuwerfen zu können, wenn man sich zur Toilette begeben musste, und die Kojen selbst waren auch eher schmal. Daher hielten sich die Passagiere die meiste Zeit doch lieber in den allgemeinen Räumen auf und suchten ihre Kabine nur zum Schlafen während der langen Reisen auf. Die Höchstgeschwindigkeit der 250 Meter langen, gedrungen wirkenden Zigarre betrug zwar ganze 125 Stundenkilometer, doch im Durchschnitt schaffte es das Luftschiff bei der Reisegeschwindigkeit nur noch auf 100. Damit kam man von Wien nach Budapest in zwei und einer Viertelstunde, und die reine Flugdauer von Wien nach Kairo hätte man in etwa 26 Stunden zurücklegen können. Aber drei Stunden Aufenthalt in Budapest, je eine in Belgrad und Sofia, zwei in Stambul, das machte eine gesamte Reisezeit von 33 Stunden für die Strecke von Wien nach Kairo. Da war auch die trainierte und an sich nicht sehr verwöhnte Maria Sophia ganz froh über die Möglichkeit eines kleinen Nickerchens in einer privaten Kabine. Zwischendurch hatte sie auch ihre Bediensteten in diese Kabine geschickt, zum Schlafen.

Da gibt’s genug Personal an Bord, die mir einen Sekt oder etwas zum Essen bringen können. Und beschützen können mich die Leut‘ von der ÖDLAG ja zur Not auch, es wird schon kein durchgedrehter Serb‘ oder Katzelmacher an Bord kommen, der eine Prinzessin von Österreich erschlagen will. Wenn er’s überhaupt könnt‘! Und woher sollt’ der wissen, dass ich an Bord bin? Wir hab’n meine Reise ja nicht an die große Glock’n g’hängt. Also, legt’s euch ein bisserl nieder und schlaft’s einmal ein paar Runden!“

So saß sie jetzt allein mit geschlossenen Augen in der Raucherlounge an einem Fenstertisch und genoss ihren Cohiba Zigarillo mit dem Mundstück aus Holz. Dieses Mundstück war eine spezielle Ausstattung, welche der Hersteller für einen sehr kleinen Kreis exklusiver Kunden anbot, zu denen eben auch Maria Sophia von Österreich gehörte. Tief unter der AUSSEE war das Mittelmeer mit seinen ewigen Wellen zu sehen, Antalya lag bereits weit hinter dem Luftschiff, während Alexandria, wo die AUSSEE Africa erreichen sollte, noch ein ganzes Ende entfernt war. Es gab also nur Wolken, Wasser und ab und zu einem Schiff oder Felsen aus den Fenstern zu sehen. Es war, wenn man ganz ehrlich sein wollte, schon eine etwas langweilige Reise, die Zeitungen schrieben auch alle das gleiche mit anderen Worten, für ihren mitgebrachten Roman fehlte es ihr im Moment an innerer und äußerer Ruhe. Die Ankunft in Kairo war für den frühen Abend des 15. März geplant, und das Hotel Oriental in Kairo war eines der besten am Platze, welches regelmäßig eine Dampfdroschke zum Luftschiffhafen entsandte. Dieser lag auf einer Insel im Nil, welche von den Europäern Gezira und den Ägyptern Zamalek genannt wurde. Sowohl mit der Stadt Kairo am rechten als auch mit der Ortschaft Gizeh am linken Ufer war Zamalek über feste Brücken aus Stahl verbunden. Sie griff nach ihrer Tasse, die war aber schon wieder leer, daher sah sich Maria Sophia nach dem Ober um. Ihr Blick fiel auf einen Mann in der weißen Uniform der kaiserlich-königlichen Marine, dessen Abzeichen ihn als Fregattenkapitän und Kommandanten eines Flugschiffes auswiesen, welcher in dem sonst vollbesetzten Salon an einer Wand stand und einen Aschenbecher in der Hand hielt. Die Prinzessin überlegte nicht lange und winkte ihn näher.

Hoheit?“, fragte der Mann, während er die Grundstellung einnahm und salutierte.

Setzen’s sich doch an meinen Tisch, Kapitän. Ist ja genug Platz“, lud Maria den Marineoffizier ein.

Danke, Hoheit, aber…!“

Muss ich’s als Befehl formulieren? Setzen, Kapitän…?“

Von Lydewitz, Hoheit!“ der Mann salutierte wieder und verbeugte sich. „Ludwig Maximilian von Lydewitz von der KKS LEITHA. Ich soll das Schiff in Port Said übernehmen. Danke, Hoheit! Aber es wäre doch wirklich nicht – schicklich!“

Aber gehn’s, vor all den Leut’?“ Maria winkte schmunzelnd ab. „Und es ist ja jetzt nicht so, als hätt’ ich Sie schon in meine Kabin’ eing‘laden!“

Hoheit!“ Der Kapitän war leicht schockiert.

Lassen’s doch das dauernde Hoheit weg, ich weiß, wer und was ich bin“, befahl die Erzherzogin leutselig. „Auch wenn’s Mitzi sagen wollten!“

Was ich nicht tun werde“, betonte Lydewitz.

Was Sie selbstverständlich nicht tun werden“, bestätigte Maria Sophia. „Die LEITHA ist eine flugfähiger Fregatte?“

Jawohl, ein Schmuckstück, erst sechs Jahre alt, 112 Meter Kiellänge, 14,5 breit, zwei mal drei Auftriebsröhren mit je vier gegenläufigen Ressel-Turbinen mit den Tesla Elektromotoren darin, ein Antriebsrohr mit acht Propellern. In der Luft macht sie ihre 103 Knoten, pardon, 190 Stundenkilometer! Im großen Bugturm haben wir zwei von den schweren 29 Zentimeter rückstoßfreien Langgeschützen mit einer Reichweite von fast 20 Kilometern, und auf dem Achterdeck zwei mal zwei von den 10,5 Zentimeter, natürlich auch rückstoßfrei. Und noch acht von den 2 Zentimeter Gatling – Revolverkanonen rundherum.“ Der Kapitän geriet ins Schwärmen, als er von seinem Schiff sprach. „Aber leider haben wir noch nicht viele Schiffe, die schon die Technik vom Tesla eingebaut haben. Unsere Flugschiffflotte besteht ja zum größten Teil wie die aller anderen Flotten der Welt immer noch aus den alten Werner-Dampfern, die gerade einmal eine Flugstrecke von vier- fünfhundert Kilometer schaffen.“

Sie sind ein begeisterungsfähiger junger Mann“, stellte Maria Sophia fest. „Das g’fallt mir. Wie kommt eigentlich ihre Frau mit dieser langen Trennung klar?“

Wie jede Frau eines Seemannes”, seufzte Lydewitz. „Sie wartet in Triest auf meine Rückkehr, aber dieses Mal zumindest nicht so lange, wie sonst üblich.“ Er zuckte mit den Schultern. „Fürs erste soll ich die LEITHA ja nur zurück nach Triest bringen, damit die Besatzung zu ihrem verdienten Urlaub kommt.“

Ist das nicht ungewöhnlich, dass ein neuer Kapitän nach Ägypten fliegt, um sein Schiff zu übernehmen?“, überlegte Maria. „Könnt’ nicht der Erste Offizier bis Triest kommandieren?“

Üblicherweise schon, Hoheit, aber – nun ja, die Umstände sind noch nicht wirklich geklärt, aber sowohl der Kapitän als auch der Erste dürften sich aus irgendeinem Grund gegenseitig über‘n Haufen g‘schossen haben“ erklärte der Fregattenkapitän. „Scheinbar eine blöde Weiberg’schicht. Entschuldigen Sie bitte den Ausdruck.“

Ich hab‘ schon schlimmere g’hört“, versetzte die Erzherzogin. „Ach, da ist ja der Ober. Ich möcht’ noch einen Verlängerten mit Schlagobers und eine Sachertorte. Und für Sie, Kapitän?“

Wenn Hoh…“ Der Kapitän unterbrach sich. „Eine Schale Gold bitte. Nummer 23 auf der Farbtafel.“

Ja, also, ich hab schon schlimmere Ausdrücke g’hört“, wiederholte Maria Sophia. „Und auch selber benutzt. Rauchen’s doch eine, wenn Sie wollen. Und erzählen’s mir noch ein bisserl von…“

So vergingen die letzten vier Stunden der Fahrt mit angenehmen Geplauder, bis der Steward die Gäste informierte, dass sich die AUSSEE Kairo näherte und bald anlegen würde. Wirklich kam auch schon die österreichische Stadt Gezira unter dem Zeppelin in Sicht. Das Luftschiff flog immer langsamer werdend einen freien Mast an und ließ seine Ankerseile aus dem Bug und Heck ab. Mit Blinksignalen verständigten sich Hafen und Schiff, und es dauerte nicht lange, bis die AUSSEE sicher zwischen den Masten hing.

Fregattenkapitän Lydewitz erhob sich und salutierte schneidig. „Hoheit möchten mich bitte entschuldigen, ich muss meine Verbindung nach Port Said erreichen!“

Selbstverständlich, Kapitän. Danke für die nette Gesellschaft. Abtreten!“

Danke, Generaloberst!“ Noch ein letzter Salut, dann schritt der Marineoffizier aus der Tür. Auch Maria Sophia erhob sich und zog ihre dünnen Handschuhe aus Tüll über die Hände. Oberstleutnant Slatin erschien neben ihr und grüßte militärisch.

Hoheit?“

Ich komme schon, Freiherr von Slatin. Danke!“

=◇=

Kairo

Kairo, in arabischer Sprache al-Qāhira, die Starke, die Eroberin, oder im ägyptisch-arabischen nach dem gesamten Land auch einfach Masr genannt, zerfiel in vier völlig unterschiedliche Teile. Der älteste Teil der Hauptstadt des Landes Masr, wie Ägypten von den Einheimischen genannt wurde, befand sich um die Zitadelle des Saladin aus dem 12. Jahrhundert und der Moschee al Azhar. Auch die Suq, das alte Marktviertel, war dort im alten Teil al-Qāhiras. Zwischen dieser Altstadt und dem Nil, aber auch nach Osten und Süden hin hatte sich die Stadt in den wechselnden islamischen Baustilen der Jahrhunderte immer weiter ausgebreitet. 1873 wurde die Stadt Gezira, welche auf der Insel, die von den Einheimischen Zamalek genannt wurde, an die Vereinigten Donaumonarchien für 700 Jahre verpachtet. Dort bauten die Österreicher eine moderne Stadt des Dampfzeitalters, mit Warmwasser, elektrischer Beleuchtung und Straßenbahn, breiten Straßen und jeder Annehmlichkeit. Die Gebäude selbst wurden allerdings im typischen Stil der Häuser Ägyptens erbaut und über den Straßen große, leichte Sonnensegel aufgezogen. Die Verwaltung hatte in dem Bewusstsein geplant, dass die einheimische Bevölkerung besser über klimatische Bedingungen und angepasste Baustile Bescheid wissen sollte als jeder kaiserliche Beamte. Auf dieser Insel richteten die Donaumonarchien neben der Stadt auch ihren Luftschiffhafen ein und verbanden die Insel mit zwei Brücken mit beiden Ufern des Nil. Eigentlich war diese Anlegestelle ja der Hauptgrund für den Pachtvertrag und die Brücken, die Stadt entwickelte sich so nebenbei, zuerst baute man Kasernen für die Verteidigungstruppen, dann kamen Versorgungsbetriebe für die Kasernen, Handelshäuser bauten Kontore. Die Stadt Gezira wuchs und gedieh.

1882 marschierten dann die Briten in Ägypten ein und beendeten die so genannte Urabi-Bewegung. Ahmed Urabi Pascha wollte nicht weniger, als die Fremdherrschaft mit europäischen Ministern in Ägypten beenden und eine ägyptische Regierung einsetzen. Nach dem Bau des Suez-Kanales war das Land in die Schuldenfalle geraten und musste eine internationale Regierung akzeptieren. Dann stellten die neuen Herren die Landwirtschaft zu einem großen Teil auf billige Baumwolle um, und die frühere Kornkammer Roms musste nun Getreide importieren. Getreide, für welches Ägypten teuer bezahlen musste. Das Korn für Brot, auch die billigste Hirse, war immer noch teurer als die vor allem nach England gelieferte Baumwolle, halb Europa verdiente an Ägypten und zog Ressourcen und Mittel ab. Besonders die Besitzer von Spinnereien und Webereien in merry old England wurden reich und dick, während Ägypten und die Ägypter immer ärmer, Land und Personen immer stärker von den Bankiers in London abhängig wurden.

All das wollte Urabi Pascha beenden, und zu Beginn sah es auch durchaus so aus, als könne es gelingen. Der liberale Premierminister William Ewart Gladstone verhielt sich zunächst ruhig, als Oberst Urabi eine eigene Armee aufstellte und das Land unter seine Herrschaft brachte. Erst, als Urabi den Suezkanal erreichte und öffentlich über Zölle und eine Benutzungsgebühr nachdachte, setzte Gladstone eine Flotte unter Admiral Seymoore und eine Armee unter General Wolseley in Marsch. Das bedeutete das Ende des unabhängigen Ägypten. Wieder einmal. Die siegreichen Briten brachten das Land zwar offiziell wieder in den osmanischen Staatenverbund zurück, waren aber de facto die unumschränkten Herren im Land. sie bauten für ihre Beamten der Verwaltung, ihre Offiziere und deren Familien British Cairo im Norden des ägyptischen Masr. Eine Stadt ganz in viktorianischem Stil und mit britischem Flair, auch, was die Mode der anwesenden Damen und Herren betraf.

Das renommierte Hotel Oriental lag an der Tariq Almuluk, der Kings Road, einer breiten Prachtstraße, welche das echte ägyptische Kairo von British Cairo trennte. Es war eines der ganz wenigen Gebäude in diesem Stadtteil, welche mit einem grünen Innenhof ganz im ägyptischen Stil gebaut waren und trotzdem den üblichen britischen Luxus aufwiesen. Warum Ahmad al Massud el Allah ad Dhin die österreichische Prinzessin Maria Sophia hierher bestellt hatte, wusste man zwar nicht, aber zumindest war es ein dem Stand einer Prinzessin von Österreich durchaus angemessenes Haus. Am Luftschiffhafen der Stadt Gezira hatten bereits mehrere Dampfdroschken auf die Prinzessin und ihr Gefolge gewartet, Träger des Hotels hatten sich um das umfangreiche Gepäck der Erzherzogin und ihrer Begleitung gekümmert, welches die Lademeister bereits in Wien so verstaut hatten, dass es sofort und ohne Wartezeit für ihre Hoheit ausgeladen werden konnte. Auch wenn Österreich bereits eine konstitutionelle Monarchie war, eine Schwester des Thronfolgers war eben doch eine Prinzessin und eine Erzherzogin, und auch wenn Maria Sophia im Allgemeinen sehr liberale Ansichten vertrat, so nahm sie verschiedene Privilegien trotzdem als völlig normal und ihr zustehend an. Und selbstverständlich reiste sie nicht allein, das wäre völlig unmöglich gewesen. Undenkbar! Ihre Begleitung bestand zwar nur aus einer Hofdame, der Baronesse Elisabeth von Oberwinden, einer Zofe, Fräulein Josepha Müller, einem Diener, Horst Komarek, und zwei Offizieren, einem Oberstleutnant der Motorgeschütztruppe, dem 31-jährigen Rudolf Carl Freiherr von Slatin mit Africaerfahrung, und einem Obersten der Infanterie, Wilhelm Graf von Inzersmarkt. Diese beiden Offiziere aber nahmen wiederum ihre Pfeifendeckel mit auf die Reise, und ebenso wenig konnte die Baronesse auf ihre Zofe und ihren Diener verzichten. Daher bestand das Gefolge Maria Sophias, auch wenn es nur ein sehr kleines war, aus immerhin neun Personen. Aber natürlich waren zwei Landauer für je vier Personen kein Problem für das Hotel, und die Prinzessin bestieg mit dem Oberstleutnant von Slatin, der seinen zur sandfarbenen Uniform gehörenden schweren Armeerevolver offen an der Koppel trug, eine leichte Dampfgig. Die Bewaffnung des Oberstleutnant rief zwar einiges an säuerlichem Lächeln bei den britischen Posten am jenseitigen Ende der Brücke hervor, doch eine Prinzessin von Österreich ohne bewaffnete Begleitung wäre ebenso unmöglich gewesen. Auch wenn sie mehr oder weniger inkognito mit einem normalen Linienluftschiff unangemeldet anreiste. Britannien und die Donaumonarchien lebten zwar derzeit in Frieden miteinander, dennoch – nein, völlig unmöglich. Nicht verhandelbar.

Vor dem Hotel waren bereits einige livrierte Diener in einer Reihe angetreten, und drei Offiziere in den rot-schwarzen Ausgehuniformen der Royal Egypt Army beobachteten die spektakuläre Ankunft der Österreicherin.

So ein Aufwand für einen Gast!“ Colonel Edgar Cunningham, dritter Earl of Scarlett strich sich über den rotblonden Backenbart. „Es ist ja fast, als käme ein Mitglied des Königshauses zu Besuch! Aber die Söhne unserer Monarchin haben sich doch nicht angemeldet, das hätten wir in der Garnison gehört! Schon wegen der Ehrengarde!“

Ich wollte, unsere geliebte und verehrte Queen könnte sich noch einmal zu einem Besuch in ihren überseeischen Besitzungen aufraffen!“ Major Sir John Darling rückte seine Uniformjacke zurecht.

Unzweifelhaft, Sir.“ Captain Georges Peterson trug die Abzeichen der Artillerie auf seiner Brust und wurde als Absolvent der Akademie von den Adeligen mit ihren gekauften Patenten nicht so ganz als echter Gentleman betrachtet. Aber, die Artillerie und vor allem die großen, schwer gepanzerten Selbstfahrlafetten mit Dampfantrieb waren für die moderne Kriegsführung unerlässlich geworden, auch das Air Service mit den Ornithoptern wurde zunehmend wichtiger, daher bröckelten die Ressentiments den Abgängern der Royal Military Acadamy gegenüber allmählich, aber – damned! – ein Earl blieb eben stets ein Earl, ein Ritter war immer noch von Adel und ein Bürgerlicher gehörte nun einmal nicht dazu. Nicht wirklich. Eine ganz verzwickte Sache.

Da kommt die Gig!“ Der Colonel klemmte sich einen Kneifer auf die Nase. „Aber das ist ja ein Ausländer! Das ist doch keine von unseren Uniformen!“

Das sind die Uniformen der Vereinigten Donaumonarchien für ihre Truppen in Africa, Colonel“, stellte der Captain fest.

Die Österreicher haben Truppen in Africa? Die haben ja gar keine Kolonien auf dem Kontinent!“ staunte Major Darling.

Sie haben zwar keine Kolonien oder Schutzgebiete wie die Deutschen, Sir. Aber sie haben langfristige Pachtverträge so wie die Insel Zamalek hier in Kairo oder eine ähnlich große Stelle bei Karthoum, bei Windhook, Kapstadt und noch ein paar Dutzend Stellen auf der ganzen Welt, wo sie ihre Luftschiffhäfen unterhalten. Gerade groß genug für eine Stadt mit ein wenig Grün, an einigen Orten auch ein wenig mehr. In Südafrica haben sie eine Gold- und auch eine Diamantenmine gekauft. In Südamerika betreiben sie eine Kupfermine, ich weiß aber nicht mehr genau wo. Und in Deutsch-Südwestafrica haben sie auch ein paar Berge gepachtet und schürfen dort nach etwas, aber ich weiß nicht, wonach. Es muss aber etwas mit dem Vaporid zu tun haben. Und zwei Königreiche haben sich der Vereinigung angeschlossen, Neuhochadlerstein und Madagaskar.“

Ach“, wunderte sich der Major. „Wenn wir schon so viel wissen, wieso ist dann unser eigenes Steampowder so viel schwächer als das österreichische?“

Es scheint noch eine Art von Booster zu fehlen, Major“, erklärte Peterson. „Wir haben ja keine Ahnung, was sie in ihren eigenen Ländern, auf Māoi-Land oder Germina Australia schürfen.“

Ach so, ja natürlich!“ Der Earl war nicht übermäßig interessiert an diesem Thema. „Aber einen ganz hübschen Hasen hat er da mit. Für eine Ausländerin, meine ich“, bemerkte er bewundernd und zwirbelte seinen Schnurrbart.

Der Captain richtete seine Aufmerksamkeit auf den weiblichen Fahrgast. „Oh, heilige Scheiße! Verdammt noch mal“, rief er aus. „Entschuldigung! Aber da darf man sich jetzt nicht mehr über den großen Empfang wundern. Gentlemen, das ist die Prinzessin Maria Sophia von Österreich und den Vereinigten Donaumonarchien. Was sucht DIE denn hier in British Cairo?“

Was denn, die Prinzessin, die diesen italienischen Freibeuter eigenhändig erschossen haben soll?“ Colonel Cunningham holte seinen Kneifer aus der Tasche, klemmte in auf die Nase und sah genauer hin. „Von der erzählt man sich ja die wildesten Sachen!“

Der Direktor des Hotel Oriental, ein quirliger Brite aus Sussex, wuselte den roten Teppich entlang, als die Gig ankam und öffnete die Kutschentür.

Hoheit! Willkommen in unserem Haus! Verfügen Sie über mich, über die Angestellten und das Haus.“ Er verbeugte sich tief, ehe er der Prinzessin die Hand reichte, um ihr beim Ausstieg behilflich zu sein. Eine Geste, die jede Dame gerne als ihr zustehend akzeptierte, ob sie die Hilfe nun wirklich nötig hatte oder nicht. Also ergriff die Prinzessin die angebotene Hilfe mit ihrer in einem kurzen Handschuh steckenden Rechten und schwang ihre wohlgeformten Beine aus der Kutsche. Sie trug ein grünes Reisekostüm, was bedeutete, dass der Rock weit geschnitten war, seitwärts bis knapp über das Knie und vorne wie hinten bis knapp unter die Knie reichte. Das dazu gehörende Jäckchen war taillenlang und wurde vorne offen getragen, die weiße Seidenbluse leuchtete darunter hervor. Die modischen, geschnürten Stiefeletten mit dem etwa fingerlangen Absatz reichten bis zur Hälfte der Waden und strecken das Bein noch mehr. Der Hut war breitkrempig, einfach geschnitten und aus luftigem Material, er beschattete das Gesicht der Prinzessin. Die Erzherzogin trug dazu eine runde Brille mit dunkel getönten Gläsern, welche sie nun abnahm, während sie aus der Kutsche stieg.

Danke, Direktor. Sie haben eine Suite für mich und mein Gefolge reserviert?“ Marias englisch war so gut wie akzentfrei.

Natürlich, Hoheit!“ Charles Monterey beugte sich über den mit grünem Tüll bedeckten Handrücken und deutete einen Handkuss an. „Ein Wohnzimmer mit Balkon auf den Garten, ein Schlafzimmer für Hoheit mit einer Kammer für die Zofe eurer Hoheit, ein Zimmer mit Zofenkammer für die Hofdame der Prinzessin, ein Salon. Die Herren Offiziere sind in je einem Zimmer gleich nebenan untergebracht, die Diener und Offiziersburschen teilen sich ein Zimmer im selben Flur. Ich hoffe, Hoheit werden zufrieden sein!“

Maria Sophia nickte. „Dann lassen Sie mein Gepäck in die Suite bringen, ich werde im Salon warten, bis alles fertig ist. Sie werden die Güte haben, mir eine Flasche Sodawasser und ein Glas Champagner bringen zu lassen!“

Der Direktor verbeugte sich wieder. „Von Herzen gerne, Hoheit!“ Er begleitete Anna Sophia in den Salon im Erdgeschoss des Hotels und hielt ihr den gepolsterten Sessel, während sie sich setzte. „Haben Hoheit noch Wünsche?“

Ich melde mich“, versprach die Prinzessin, dann winkte sie ihre Zofe Josepha zu sich. Die legte eine Schachtel Zigarillos der Marke Cohiba und Zündhölzer auf den Tisch, dann wartete sie auf weitere Anweisungen. „Sie kann gehen, Josepha. Hol’ Sie mich, wenn alles fertig ist. Danke!“

Das schlanke, blonde Mädchen knickste. „Empfehle mich, Hoheit!“ Dann ging sie den Männern nach, welche das Gepäck der Prinzessin trugen. „Passen Sie doch auf mit dem Koffer! Da ist Glas darin!“ Auch die Kammerzofe sprach ein hervorragendes Englisch.

Trotz ihrer Situation genoss Maria Sophia den Ausblick in den schattigen Innengarten, die großen Türen waren weit geöffnet und sorgten ebenso wie die großen Deckenventilatoren für einen kühlenden Durchzug. Sie zog eines ihrer Zigarillos aus der Schachtel und wollte zur Zündholzschachtel greifen, doch eine Männerhand kam ihr zuvor und riss eines der langen Hölzer an.

Hoheit gestatten?“ Sir John Darling wartete, bis der Schwefel verbrannt war und bot Maria Sophia die Flamme an.

Aber natürlich, Major!“ Sie paffte, bis der Zigarillo zufriedenstellend glühte. „Bitte, nehmen Sie doch Platz“, lud sie den Briten lächelnd ein.

Sir John Darling, Hoheit!“ Der Offizier nahm Haltung an und verneigte sich beinahe preußisch anmutend, ehe er sich setzte. „Hoheit müssen entschuldigen, aber – nun, es kommt nicht oft vor, dass Mitglieder einer kaiserlichen oder königlichen Familie ohne Anmeldung und Staatsempfang hier im Hotel Oriental oder überhaupt in British Cairo logieren wollen. Unsere Garnison wurde überhaupt nicht informiert, sonst hätten wir natürlich die Ehrengarde antreten lassen, und – nun ja“, er zauste seinen üppigen Backenbart. „Wir wissen einfach nicht, welches Protokoll jetzt in diesem Fall angezeigt ist. Wie sollen wir Eure Hoheit behandeln?“

Wie Gentlemen eine Dame zu behandeln pflegen, Sir John“ lächelte Maria freundlich. „Ich lege keinen übertriebenen Wert auf großes Zeremoniell.“

Danke, Ma’am, und willkommen in Cairo. Ich möchte Sie auch gar nicht weiter stören!“ Der Major machte Anstalten, sich wieder zu erheben, doch eine Handbewegung Marias unterbrach die begonnene Bewegung.

Sie stören nicht, Sir John. Wenn Ihre Aufgaben es zulassen, wird mir Ihre Gesellschaft nicht unangenehm sein. Vielleicht können Sie mir einige Ratschläge geben. Ich möchte unbedingt die Zitadelle des Saladin sehen, und die Suq von el Kahira. Aber die al Azhar Moschee wird für mich als Frau wohl ein Problem sein?“

Nicht wirklich!“ der Offizier lehnte sich wieder zurück. „Vielleicht gestatten Madame, dass ich mir ein Glas Ginpunsch bestelle? Und mir auch eine Zigarre anzünde?“

Mit einer eleganter Handbewegung stimmte Maria Sophia zu. „Aber gerne, Sir John. Nur zu.“

Danke, Ma’am, Sie sind sehr nett und großzügig. Boy!“ Nachdem Major Darling seine Bestellung aufgegeben hatte, wandte er sich wieder Maria Sophia zu. „Wissen Sie, Ma’am, hier in Kairo herrschen schon beinahe europäische Verhältnisse. Sie können als Frau unverschleiert selbst die Altstadt besuchen, aber ein Kopftuch oder noch besser ein Kapuzenmantel empfiehlt sich für den Besuch einer Moschee schon. Weiter draußen in Ägypten gibt es durchaus größere Probleme mit den streng gläubigen Muslimen, aber hier in der Stadt sieht man das schon viel lockerer.“

Das ist nicht unerfreulich, obgleich es mir auch nichts ausmachen würde, mir ein Hijab umzulegen.“

Als er sah, dass sein Major ganz entspannt mit der Prinzessin plauderte und sogar ein Getränk und eine Zigarre genießen durfte, trat auch der etwas versnobtere Colonel Edgar Cunningham mit Captain Georges Peterson im Schlepptau an den Tisch.

Sir!“ Major Darling sprang auf und nahm Haltung an und verbeugte sich vor Maria Sophia. „Wenn kaiserliche und königliche Hoheit es mir gnädiger Weise erlauben möchten, darf ich Euer Hoheit den dritten Earl of Scarlett, Sir Edgar Cunningham, V.C., K.C.B.O, Colonel der British Egypt Army vorstellen. Und Captain Peterson, Royal Artillery Corps.“

Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir Edgar!“ Die Prinzessin neigte huldvoll das Haupt und hielt dem Earl den immer noch behandschuhten Handrücken entgegen, worauf der Haltung annahm, sich verneigte und ebenfalls einen Handkuss andeutete.

Kaiserliche und königliche Hoheit!“

Bitte, gesellen Sie sich doch zu uns, und Ihr Captain selbstverständlich ebenfalls!“ lud Maria die Offiziere ein.

Hoheit!“

Ich habe mir eben von Ihrem netten Major Ratschläge für meine Besichtigungstour geben lassen. Die Zitadelle, die Moschee, den Suq. Und natürlich die Pyramiden auf der anderen Seite des Nils, den großen Sphinx. Ich bin nur als Touristin hier, meine Herren“, erklärte sie den Offizieren. „Es ist nicht nötig, mir zu viel Ehre zu erweisen. Keine Paraden, keine Staatsempfänge, keine diplomatischen Diners oder ähnliches, bitte. Sollte der Generalkonsul von Ägypten, Sir Evelyn Baring, mit mir zu sprechen wünschen, bin ich gerne bereit, hier im Hotel mit ihm zu soupieren oder zu dinieren, aber bitte ohne große Entourage. Ich würde es allerdings vollauf verstehen, wenn sein sicher voller Terminkalender ihn daran hindert, hier zu erscheinen. Ich bin ja, wie Sie bereits selbst erwähnten, völlig unangemeldet hier eingetroffen. Darum verspreche ich auch, keinen dieser Fälle als Vorwand für eine bissige Note zu nehmen. Ich bin als Privatperson hier und habe keine Sonderbehandlung zu fordern!“ Sie lächelte die Herren gewinnend an. „Zumindest keine, welche über jenes Maß hinausgeht, dem ein Gentleman einer Dame gegenüber verpflichtet ist!“

Das ist verdammt – entschuldigen Sie einem alten Soldaten, Ma’am – das ist sehr nett von Ihnen. Natürlich heißen wir Sie gerne in Kairo willkommen! Wenn Sie keine Ehrungen möchten, Ma’am, vielleicht darf ich Sie zumindest morgen zu einem Lunch im Offiziersclub der Royal Egypt Army einladen. Und Major Darling könnte Ihnen Kairo und die Pyramiden von oben zeigen, er kommandiert das hiesige Royal Air Service. Zwanzig der neuesten Ornithopter von Boulton und Watt. Feine Stücke. Ihre Monarchien verwenden nicht viele Ornithopter, oder?“

Sehr selten, Sir Edgar, leider bisher noch nicht oft!“ Marias Augen begannen zu leuchten. „Für diese Einladung müsste ich eigentlich meinen rechten Arm verpfänden! Meine Herren, es wird mir eine Ehre sein, mit Ihnen zu speisen und ein ausgesprochenes Vergnügen, der Einladung zu einem Rundflug zu folgen. Ich bitte Sie nur, die Einladung um einen Tag verschieben zu dürfen, da ich morgen bereits verplant bin.“

Selbstverständlich, Ma’am!“ Sir Edgar setzte seinen Kneifer wieder auf die Nase. „Ich lasse euer Hoheit dann übermorgen um die Mittagszeit abholen? Wäre Ihnen elf Uhr recht?“

Sehr! Aber bitte, lassen Sie das ewige Hoheit.“

Gerne, Ma’am!“ der Colonel verbeugte sich im Sitzen.

Ach, ich sehe gerade, meine Zofe winkt mir.“ Maria Sophia trank den Rest ihres Champagners. „Würden mich die Herren bitte entschuldigen, ich möchte mich nach der Reise gerne etwas frisch machen!“

Selbstverständlich!“ Major Darling war sofort auf den Beinen und reichte ihr die Hand zur Stütze, die sie höflich ergriff. Auch die anderen beiden Offiziere erhoben sich sofort und verneigten sich. „Meine Herren, bis übermorgen! Ich freue mich wirklich sehr, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben!“

Eine hübsche und starke Frau“, bemerkte Sir Edgar.

Und trotzdem von Kopf bis Fuß eine echte Lady“, ergänzte Sir John.

Und wir wissen immer noch nicht, warum Sie ausgerechnet hier abgestiegen ist!“ Captain Petersen stellte etwas fest, das die Herren ganz vergessen hatten.

Wir werden wohl den zivilen Secret Service einschalten müssen“, seufzte Sir Edgar. „Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was die Dame in Kairo gegen das British Empire unternehmen könnte.“

Sie ist klug”, überlegte der Captain. „Klug, schön und charmant. Eine vorzügliche Schützin und gute Fechterin. Und sie weiß ihre Vorzüge auch einzusetzen. Sie ist eine gefährliche Frau, wenn man sie sich zum Feind macht. Ich möchte sie nicht zur Gegnerin!“ Sir Edgar und Sir John sahen zuerst den Captain verwundert an, dann einander.

In der Tat”, bestätigte der Oberst. „Da ist durchaus etwas Wahres dran!“

=◇=

Im zweiten Obergeschoss trat Maria Sophia von Österreich durch die Tür in den Hauptraum ihrer Suite. Den Angriff fühlte sie mehr, als sie ihn kommen sah, ein Schatten schoss überraschend von hinten auf sie zu. Die Prinzessin reagierte prompt, sie ließ sich nach vorn fallen, stieß sich ab und hechtete nach vorne. Dann verlängerte sie den Sprung mit einer Rolle. Ein schlanker, in einen engen Dress aus schwarzer Seide gehüllter, offensichtlich weiblicher Körper flog mit einem gestreckten Bein voraus auf ihren Kopf zu, Maria knickte auf dem linken Bein weg und brachte sich so aus der Gefahrenzone. Sie wirbelte herum, ging zum Gegenangriff über, ihr gut gezielter Schlag wurde geblockt, und dann musste die Prinzessin ihrerseits einen Tritt gegen die Rippen abwehren. Sie schlug mit unheimlich scheinender Geschwindigkeit zu, das Ziel ihres Handballen war die Nase ihres Gegenübers. Ein Hieb, der, wenn er richtig gesetzt wurde und traf, den Nasenknochen brechen und mit tödlicher Wirkung ins Gehirn treiben musste. Ihr Gegner wusste das auch, er wischte den Schlag mit seinem Unterarm zur Seite und setzte zu einem kurzen Schlag auf den Rippenbogen Marias an. Die wich aus, wirbelte in dieser Bewegung herum, schlug mit dem Ellenbogen in die Luft, wo eben noch ihre Gegnerin gewesen war und sah einen Handballen auf ihre Kehle zurasen. Es war zu spät, viel zu spät für jede Abwehr. Nur Millimeter vor dem Aufprall stoppte die Hand, und die Baronesse Oberwinden senkte ihre Hand.

Das war schon ganz gut, Mitzi. Die Reaktion, formidabel, schnell und richtig. Aber bei deiner Attacke aus der Drehung hast dich zu sehr auf den Angriff konzentriert. Da hast du deine Deckung vergessen!“

Du hast ganz recht, Lisi, da war ich mehr als unvorsichtig“, musste Maria zugeben.

Aber einen normalen Attentäter hättest ganz passabel fertig g’macht. Warum hast denn nicht g’schossen?“ Elisabeth von Oberwinden löste die Haarspangen und schüttelte das lackschwarze, glatte Haar aus.

Weil ich g‘sehen hab’, dass du‘s bist“, versetzte die Prinzessin schmunzelnd.

Da solltest aber trotzdem vorsichtiger sein“, mahnte Elisabeth ihre Freundin. „Trotzdem, seit du damals von meiner Mama dieses japanische Karadingsbums g’lernt hast, bist ganz schön schnell geworden.“

Nicht so schnell wie du, Lisi!“ Maria Sophia zog ihre Jacke aus und hing sie über die Sessellehne, Josepha würde das Stück nachher zur Reinigung bringen.

Kein Wunder! Ich hab’ damit in Japan ang’fangen, da war ich etwas über drei, nicht dreizehn so wie du, wie wir dann nach Hause gekommen sind. Ich hab‘ dir nicht nur zehn Jahr’ voraus, sondern hab’ einen richtigen Meister g’habt. Aber wie du das Karate umg’legt hast auf’s Fechten mit’n Rapier, also allerhand Achtung, Mitzi!“

Was hätt’ ich sonst tun soll’n, wenn der Wahnsinnige mir seine Initialen mit einem Kadettendegen in die Brust schnitzen will? Da hab’ ich halt g’meint, dass ich schneller sein muss!“ Maria Sophia knöpfte ihre Bluse auf. „Und jetzt, Lisi, wenn‘s dir nichts ausmacht, möcht’ ich duschen!“

Mit wem denn“, neckte Elisabeth von Oberwinden ihre Freundin und hob direkt obszön die Augenbraue. „Mit dem feschen Oberstleutnant Slatin vielleicht?“

Mir dir, wenns‘t dich jetzt nicht gleich schleichst!“ Maria Sophia warf lachend ihre Bluse nach der Freundin.

Man wird doch noch fragen dürfen? Ph!“ Die Baronesse machte ein übertrieben pikiertes Gesicht, als sie zur Tür ging.

Warum, bist selbst scharf auf das Mannsbild?“ Maria griff in ihren Rücken und nahm die kleine Flechettepistole aus dem Bund, die mit einer Dampfpatrone 0,5 Millimeter Stahlpfeile verschoss. Jedes Mal drei Pfeile, wenn sie den Abzug betätigte, zehn solcher Schüsse waren möglich. Oder dreißig Pfeile auf einmal, wenn ein kleines Hebelchen umgelegt war. Sinnend betrachtete Maria kurz die Waffe, ehe sie diese auf den Tisch legte.

Na ja, so für Zwischendurch ist der Pascha sicher ein Gustostückerl”, überlegte die Baronesse laut. „Da könnt‘ man doch schon mal schwach werden.“

Dann lass dich von mir nicht aufhalten, Lisi!“

Das warme Wasser prasselte auf den nackten Körper der Prinzessin von Kakanien und trommelte die Verspannungen aus ihren steifen Muskeln. Trotz aller Scherze war ihr und ihrem Gefolge bewusst, dass die Uhr unaufhaltsam tickte. Ihre Uhr. Ihr Leben. Noch sechs Tage, vielleicht sieben, und sie hatte keine Ahnung, wie es weiter gehen sollte. Keine Vorstellung, was dieser Ahmad al Massud es Allah ad Dhin eigentlich von ihr wollte. Nun, morgen würde sie den befohlenen Spaziergang durch das muslimische al Kahira machen, vielleicht sah sie dann klarer, bekam eine Botschaft oder was auch immer. Heute musste sie noch ein Abendessen im Hotelrestaurant zu sich nehmen, weiterhin die neugierige Touristin mimen, sonst hatte sie die Briten zu dicht an den Haken. Viel zu dicht. Wenn sie die leutselige, etwas exzentrische Prinzessin gab, die einmal ganz privat die Luft des Orients schnuppern wollte, würde die Leine vielleicht etwas länger und lockerer sein. Zuerst aber wollte sie nach einer kurzen Dusche in den Hamam des Hotels gehen und dort eine Massage buchen, ihre harten, verspannten Muskeln ordentlich durchkneten lassen. Also verständigte sie die Rezeption und ihre Zofe, dann schlüpfte sie in ihre Badekleidung und einen von dem Hotel bereit gelegten Kaftan, bevor sie sich mit Josepha Müller in den Badebereich für Damen begab. Dort saßen in der dampfgeschwängerten Luft bereits einige nackte weibliche Gäste im heißen Wasser, ihre Badeanzüge hatten sie mit ihren Kaftanen in der Garderobe gleich nach dem Eingang abgelegt.

Ah! Ein Neuzugang”, rief eine der Damen. „Legen Sie ab und kommen Sie herein. Nur keine Scham, wir sind Ladies unter uns!“ Der breite Dialekt verriet die Schottin.

Moira! So kannst du mit der Dame doch nicht sprechen! Sie ist immerhin eine kaiserliche Prinzessin und Herzogin mit noch etwas vorne daran. Äh – Erzherzogin, das war es. Entschuldigen Hoheit, aber unsere Moira ist sehr direkt!“ Dem Akzent nach war sie eine Irin. „Mein Name ist Siobhan O’Neill aus Dublin, Hoheit, und das sind die vorlaute Moira MacMohannan aus Edinburgh und Diana Conrad aus London. Wenn Hoheit wollen, werden wir ihr die Räume selbstverständlich überlassen.“

Maria Sophias englische Aussprache war so gut wie akzentfrei, als sie der Irin antwortete. „Aber nein, meine Damen. Ich bin privat hier, nicht als Prinzessin. Bitte, lassen Sie sich doch durch mich nicht stören!“ Es wurde ein anregendes und entspannten Gespräch unter Damen, und dann war auch der Termin für die Massage gekommen. Ein breitschultriger Nubier betrat den Badebereich, nur mit einem Lendenschurz und Bastsandalen bekleidet.

Ob die Dinger von den Schwarzen wirklich so groß sind, wie man sagt“, flüsterte Moira Diana ins Ohr, welche sofort zutiefst errötete.

Man erzählt sich ja wahre Wunderdinge von den Africanern!“ Die Irin leckte sich sinnlich die Lippen. „Vielleicht würde es sich ja lohnen, einmal unter das Tuch zu sehen. So wie bei den Schotten unter den Kilt!“

Jedenfalls hat er große und starke Hände“, bekundete Maria Sophia. „Das sind ja richtige Pranken! Und wenn ich ehrlich sein soll, im Moment bin ich eher an diesen interessiert als an allem anderen.“ Sie stieg aus dem Wasser und legte sich bäuchlings auf die Liege, der Nubier verteilte großzügig Massageöl auf seinen Händen und griff zu, bei den Füßen beginnend immer höher knetend. Die Prinzessin stöhnte wohlig, als die von der Reise strapazierten Muskeln endlich wieder weich gewalkt wurden, besonders der vom vielen Sitzen schon arg strapazierte Podex.

◇=

Mitte März waren zwar die Tage bereits heiß in Kairo, die Nächte konnten aber, wie es in Gebieten nahe der Wüste nicht unüblich ist, immer noch ziemlich kühl werden. Daher legte sich Maria Sophia für den Abend einen vorne offenen, doch wärmenden Poncho aus feinem Kaschmir über die Schultern, ehe sie den Speisesaal aufsuchte. Die britische Mode, welche im Hotel Oriental vorwiegend getragen wurde, war von den Schnitten, aber noch viel mehr von den Farben her wesentlich gedeckter als die bunte und relativ freizügige österreichische. Die Damen trugen pastellfarbene Kostüme mit überlangen Röcken, die hinten am Boden schliffen, und genau dort üblicherweise auch voll Schmutz waren. So erregte das nur knöchellange Kleid der Prinzessin in kräftigem Violett zu der himmelblauen Bluse mit kleinem, offenen Kragen und den Ärmeln, welche noch über den Ellenbogen endeten, allseits Aufmerksamkeit, als sie am Arm von Oberst Inzersmarkt den Saal betrat. Auch ihre Hofdame, die Baronesse Oberwinden, war nach der Wiener Mode gekleidet, mit einem scharlachroten Rock und einer Bluse in apricot. Sie betrat den Saal am Arm des Oberstleutnant Slatin Pascha, welcher die mit dem Ehrentitel Pascha verbundene Ordensspange ostentativ an seinem Uniformrock trug. Immerhin hatte ihn der Khedive nach der Sache mit Karthoum persönlich dazu ernannt, nach Major General Charles Gordon erst der zweite und bisher letzte Europäer, dem diese Auszeichnung zuteil geworden war. Gemeinsam folgten sie dem Oberkellner, der sie zu ihrem Tisch führte, wo die Herren selbstverständlich den Damen die Stühle zurecht rückten.

Einige Tische weiter erhob sich ein Mann in der schwarzen Uniform des Sirdar, des Oberbefehlshabers der ägyptischen Armee unter britischen Kommando und trat an den Tisch der Österreicher. Oberst Graf von Inzersmarkt und Oberstleutnant Slatin erhoben sich bei seinem Eintreffen höflich wieder von den Stühlen.

Lieutenant Colonel Slatin, würden Sie mich bitte den Damen vorstellen“, fragte er kurz und knapp.

Gerne“, verbeugte sich Slatin Pascha knapp, es war eher ein Kopfnicken. „Kaiserliche und königliche Hoheit, Hochwohlgeborene, Hochgeboren, ich darf Ihnen den obersten Befehlshaber der ägyptischen Armee vorstellen, Brevet Colonel Horatio Herbert Kitchener, Träger des osmanischen Medijeh Ordens für besondere Verdienste um das gesamtosmanische Reich!“

Ach, das ist also der große Kitchener!“ Maria Sophia musterte den Offizier offen.

Colonel Kitchener, diese Dame ist Ihre kaiserliche und königliche Hoheit, Prinzessin der Vereinigten Donaumonarchien, Erzherzogin von Österreich, Herzogin von Venetien, Friaul und Triest, Gräfin von Steyer, Maria Sophia Ludovika von Habsburg-Lothringen. Fräulein Elisabeth, Baronesse von Oberwinden, Oberst Wilhelm Graf von Inzersmarkt.“

Wollen Sie sich nicht zu uns gesellen und uns Gesellschaft leisten, Sirdar“, lud die Erzherzogin den Offizier ein, indem sie mit eleganter Geste auf einen noch freien Stuhl wies.

Das wäre mir eine Ehre, Hoheit!“ Der Kommandant setzte sich und winkte einem einheimischen Kellner. „Boy, bring mir mein Gedeck und mein Glas, Zack-Zack! Und sag meinem Adjutanten, ich brauche ihn erst morgen wieder!“ Am Tisch des Sirdar erhob sich ein Mann in roter Uniform mit den Abzeichen eines Captain und schritt auf den Ausgang zu.

Bitten Sie doch den Hauptmann auch zu uns, Oberstleutnant!“ Maria Sophia winkte einem Ober. „Bringen Sie bitte noch einen Stuhl und ein Gedeck, der Captain soll doch nicht hungrig nach Hause gehen!“

Gerne, Hoheit!“ Slatin Pascha schritt dem Captain nach und rief ihn an, der Blick des Sirdars, mit dem er dem Österreicher nachsah, bekam eine seltsame Qualität.

Sie sind also der Oberste Kommandant aller ägyptischen Streitkräfte, Kitchener?“ Maria Sophia legte ihr Kinn auf die gefalteten Hände.

Der bin ich Hoheit! Wollen Ma’am noch lange in Ägypten bleiben?“ Der Sirdar musterte die Prinzessin ebenso offen wie sie ihn.

Ich weiß es nicht, Kitchener, noch nicht“, entgegnete Maria Sophia. „Ich möchte mich ein wenig umsehen, die Welt kennen lernen. Es ist doch kein Leben, von einem Hofball zum nächsten, nur immer brav zu Hause sitzen und auf den Ehemann warten. Ich möchte etwas sehen und erleben!“

Ich verstehe“, Kitchener lehnte sich zurück. „Und was sagt Ihr Mann dazu, Ma’am?“

Ich habe noch keinen“, die Prinzessin lächelte ihn kokett an. „Oder, wollten Sie sich eben etwa als solcher anbieten, Sirdar!“

Im Gesicht des Briten zuckte kein Muskel, sein Blick blieb weiterhin kühl. „Natürlich nicht, Hoheit! Das wäre – zu vermessen!“

Kaiserliche und königliche Hoheit?“

Maria Sophia blickte auf. „Ja bitte, Freiherr von Slatin Pascha!“

Wenn es Hoheit genehm ist, möchte ich ihr Captain Oswald Fitzgerald, den Adjutanten des Sirdar vorstellen!“

Your imperial and royal highness!“ Der Captain stand und salutierte beinahe wie ein Preuße!

Setzen Sie sich doch, Captain“, deutete Maria Sophia auf den Stuhl, der eben gebracht wurde. „Es wäre doch nicht fair, Sie mit leerem Magen nach Hause zu schicken, weil ihr Colonel mit uns speisen möchte.“

Vielen Dank, Ma’am! Zu freundlich!“ Der Captain ließ sich auf den zusätzlichen Stuhl sinken, den ein Ober mittlerweile gebracht hatte.

Madam, ich möchte ganz offen sprechen!“ Kitchener lehnte sich wieder vor, mit einer beinahe aggressiv wirkenden Bewegung.

Wie man es von Brevet Colonel Kitchener erwartet”, blieb Maria Sophia entspannt. „Wie erfrischend, wenn einmal jemand aufrichtig und direkt sprechen möchte! Und es dann auch tut!“

Nun gut. Prinzessin, Sie sind ein verdammtes Problem für mich! Ein Sicherheitsrisiko! Wenn ihnen hier in Kairo etwas zustößt, könnte das zu großen Problemen zwischen unseren Ländern führen.“

Ach? Das glaube ich nicht, Kitchener“ wehrte die Erzherzogin ab. „Meine Mutter weiß, dass ich unangemeldet nach Ägypten gekommen bin. Sie wird also weder der hohen Pforte in Stambul noch dem Khedive oder seinem Befehlshaber große Vorwürfe machen, falls mir etwas zustößt. Oder Britannien, was ja ihre größte Sorge sein dürfte.“

Das beruhigt mich jetzt aber ungemein!“ Der Sirdar trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. „Trotzdem kann ich ihnen nicht so einfach eine Leibgarde mitgeben.“

Ich habe keine verlangt, Kitchener!“ Auch Maria Sophia lehnte sich vor, drang jetzt ganz bewusst ihrerseits in den Freiraum des Briten ein, so wie er es vorher bei ihr versucht hatte. „Es klingt ja schon fast so, als könnten Sie mich nicht leiden und wünschten sich, dass ich überfallen werde“, bemerkte sie dabei süffisant lächelnd.

Das wäre für Britannien und Ägypten eine enorme Katastrophe“, zischte Kitchener. „Also bitte keine Unterstellungen!“

Dann, Sirdar, lassen Sie eben mein Bild an ihre Polizisten verteilen. Das sollte doch reichen, um meine Sicherheit einen Tag lang zu gewährleisten! Übermorgen haben mich sowieso ihre Offiziere unter ihrem Schutz, und am Tag danach verlasse ich Kairo ohnehin mit der MALIKAT MISR. Falls Sie nichts dagegen haben? Ach – hier kommt ja unser Dinner!“

=◇=

Das ägyptische Kairo war geprägt von wenigen breiten Straßen, welche auf die Zitadelle des Saladin und die al Azhar Moschee zuliefen, und vielen engen und engsten Gässchen. Sonnensegel waren in der Höhe des ersten Stockwerkes über die Gassen gespannt, manchen Fleck darunter hatte bereits seit Jahrhunderten kein Sonnenstrahl mehr getroffen. Hier boten Händler aller Art ihre Waren feil, Naschwerk aus jeder Menge Zucker, süße Feigen und Datteln, frisches Fleisch und Gemüse, den im ganzen arabischen Raum getrunkenen Tee mit frischer Minze, Kaffee in kleinen, zierlichen Tässchen, Kupfergeschirr, Dolche und Krummsäbel, bunte Stoffe und helle Wüstenmäntel. Es duftete nach Gewürzen und Speisen, hier briet jemand kleine Fleischstücke am Spieß, dort kochte jemand eine sämige Sauce und Reis oder Couscous, ein dritter bereitete frischen Fisch zu. Über allem lag das ständige Brummen hunderter Stimmen, die Waren anpriesen, feilschten oder sich einfach die Neuigkeiten der letzten Wochen, Tage oder Stunden mitteilten. Hier ging ein Mann in der osmanischen Tracht mit Pluderhose, aufgebogenen Schuhen und Weste, dort ein Beduine in seinem weißen Kapuzenmantel. Frauen mit einfachem Kopftuch bis hin zur vollen Verschleierung begegneten einander und wechselten Worte und Waren. Der Warentransport wurde teilweise wie vor Hunderten von Jahren mit Eseln oder Schubkarren vorgenommen. Allerdings gab es auch eine nicht unbeträchtliche Anzahl kleiner, mit Druckluft betriebener Wägelchen, die Antriebsachse lag etwas hinter der Mitte und trug zwei etwa hüfthohe Räder, vorne war ein kleines, lenkbares Rad. Die Lenkstange selbst war so konstruiert, dass man mit einer Hand auch den Antrieb und die Bremse damit steuern konnte, sowohl wenn man auf dem Wagen saß, aber auch wenn davor her schritt. Der ganze Wagen war nur etwas mehr als einen halben Meter breit und vielleicht ein wenig über anderthalb lang, der Druck für den Antrieb kam aus einer Patrone, welche offenbar leicht zu wechseln war.

In ein weites, bodenlanges Cape mit Kapuze gehüllt ließ sich Maria Sophia von Österreich durch die Gassen der Altstadt von Kairo treiben, neben ihr eine hohe Gestalt im Berbermantel, mit einem Fez auf dem Haupt und einem großen Schnauzbart im Gesicht. Oberstleutnant Slatin wich seiner Prinzessin nicht von der Seite und behielt die Umgebung wachsam im Blick. Interessiert beobachtete Maria, wie an einem Stand an einer Hauswand ein Transporteur einen unterarmlangen Zylinder aus seinem Wagen nahm und ihn dem Mann hinter dem Tresen reichte. Der nahm ihn entgegen und schloss ihn an eine Rohrleitung an, der Bajonettverschluss mit einem Sicherheitsbügel klickte, und der Händler öffnete ein Ventil. Ein lautes Zischen erklang, doch offensichtlich war man diese Geräusche hier durchaus gewöhnt. Händler und Fahrer plauderten entspannt miteinander, der Dampfhändler goss dem Käufer und Gast sowie sich selbst noch ein Glas Tee ein, während der Dampf seine Arbeit verrichtete und Luft unter hohem Druck in die Patrone presste. Dann reichte der Fahrer einige kleine Münzen über Tisch, all zu teuer schien die Aufladung nicht sein. Maria Sophia trat neugierig näher.

Sayida, was ich für Sie kann tun”, fragte der Händler in gebrochenem, aber durchaus verständlichem Englisch.

Oh, ich bin nur neugierig!“ Maria betrachtete die Anlage. „Womit fährt dieser Wagen?“

Mit Luft!“ Maria Sophia runzelte die Stirn, diese Antwort hatte sie nicht erwartet. Rasch schaltete sich Slatin ein und fragte auf Arabisch nach Details, und erleichtert erklärten die beiden Männer in ihrer Muttersprache weiter.

Es ist wirklich Luft, Alsyd. Der Khedive hat eine Dampfanlage gebaut und gedacht, dass man Dampf speichern kann. Aber wenn Dampf abkühlt, verliert er an Kraft, ein Ernst Abbe, ein Mann aus Almania, der Ägypten damals besuchte und der gefragt wurde, sagte dem Khedive, weil man Wasser nicht zusammen pressen kann. Also versuchten die Albahit des Khedive es mit der Hilfe des Duktur Abbe mit anderen Stoffen, und am billigsten und besten gelang es mit einfacher Luft. Eine Stunde kann dieser Wagen mit einer solchen Kharthusha im Schritttempo fahren, schneller muss und kann er hier ja auch nicht. Der Duktur baute auch noch eine schwere Scheibe ein, ein Schwungrad, wenn man am Anfang kräftig zieht und dem Motor hilft, fährt das Wägelchen länger! Den Dampf, mit dem wir die Luft in die Kharthusha pressen, schenkt uns der Khedive, möge er noch tausend Jahre leben!“

Interessant!“ Maria Sophia ging um das Gefährt herum. „Darf ich?“

Natürlich, Sayida!“ Stolz ging der Besitzer des Wagens, offensichtlich ein eher lässiger Bekenner des Islam und an selbständig denkende und neugierige Frauen gewohnt, ihr nach und erklärte den Aufbau. Aus einem der Geschäfte nebenan trat ein schwitzender Brite, gekleidet in für diese Breiten viel zu warme, teure Wollstoffe, die im englischen Stil geschnitten waren und mit einem mächtigen, rotblonden Backenbart. Seinem Gesichtsausdruck sah man an, dass er einer jener Personen war, welche die Welt als britisches Eigentum und sich selbst als Herr über alle Ausländer betrachtete. Eben beugte sich die Prinzessin von Österreich etwas weiter vor, um das Schwungrad des Wägelchens genauer zu betrachten, der Brite sah nur die schöne, vorstehende Rundung, er konnte und wollte nicht widerstehen, es klatschte, als seine Hand kräftig auf den hochwohlgeborenen Hintern und gleich noch zweimal, als die Hand von Maria Sophia zwei Mal sein Gesicht traf, einmal mit dem Rücken und einmal mit der Fläche.

Was fällt dir wildgewordenem Weib ein, einen Peer von England…“

Was fällt es Ihm ein, eine Prinzessin von Österreich unsittlich zu berühren?“ Zornbebend stand sie vor dem Earl und funkelte ihn an. „Und selbst wenn wir die Frau eines nilotischen Bauern wären, Sein Benehmen ist trotzdem unziemlich gewesen!“

Ha, Prinzessin von Kakanien! Warum nicht gleich Kaiserin von China!“ Der eingebildete Brite gab sich noch lange nicht geschlagen. „Heda, Asaker! Polizei! Verhaftet diese Weibsperson! Eingesperrt und geprügelt muss sie werden! Sie hat es gewagt, mich zu schlagen! Das muss streng bestraft werden!“

Stopp!“, vertrat Slatin Pascha den uniformierten Polizisten den Weg, die rasch angelaufen kamen. „Diese Frau ist Maria Sophia, Erzherzogin von Österreich, und sie wurde von diesem Rüpel belästigt.“

Was denn noch, so ein Unsinn. Ich bin ein Earl, ein Peer des Commonwealth! Nehmt sie beide fest!“ Der Freiherr von Slatin warf seinen Mantel ab und zeigte die Medaille, welche er auf der Brust trug und die seinen Status als Pascha bestätigte.

Slatin Pascha?“ Der Korporal erkannte die Bedeutung des Abzeichen, und es gab nur noch einen lebenden europäischen Pascha.

Nonsens“, erregte sich der Brite. „Festnehmen, sage ich!“

Das wird den Sirdar aber gar nicht freuen!“ Maria Sophia warf die Kapuze auf den Rücken, schüttelte ihr braunrotes Haar aus, öffnete ihr Cape und stand in der sandfarbenen österreichischen Uniform vor dem Earl. „Er hat jetzt schon Angst, dass wir einen internationalen Zwischenfall provozieren. Aber einen Schurken zu züchtigen, das fällt wohl kaum in diese Kategorie!“ Wieder klatschten ihr Hände hart in sein Gesicht. „Greift Er denn jeder Frau, die ihm über den Weg läuft, ganz einfach an den Hintern? Dann ist Er nur ein kleiner mieser Drecksack, ein Lump, dem man den Earl absprechen sollte! Wäre Er ein Mann von Ehre, würden wir Ihn nicht züchtigen, sondern vor unsere Pistole oder unseren Säbel fordern. Aber ein Hundsfott, wie Er einer ist, wird einfach verprügelt, wie es Ihm zukommt! Und Er soll froh sein, dass wir keine Reitpeitsche zur Hand haben, denn sonst würde man auch in Seinem Londoner Club die Spuren Seine Schande sehen können!“ Der Brite hob die Hände und versuchte die Schläge abzuwehren, was ihm aber nur unzureichend gelang. Denn jetzt trafen nicht mehr nur die flachen Hände sein Gesicht, sondern wirklich harte, gezielte Hiebe mit den Fäusten auch seinen Oberkörper. Maria Sophia schlug außerdem nicht einfach nur blindlings zu, sie traf zielsicher und kräftig die schmerzhaftesten Nervenknoten. „Wenn ein Drecksack wie Er glaubt, dass Frauen Freiwild sind, nur weil Er einen Titel vor seinem Namen trägt, verdient Er ein paar kräftige Schläge und noch viel mehr! Außerdem gehört Ägypten noch lange nicht zum Empire, auch wenn Er scheinbar glaubt, dass die ganze Welt den Briten gehört.“ Es war ein seltsamer Anblick, die Polizisten und die rasch wachsende Menge sahen mit einer gewissen Befriedigung zu, wie der Mann von einer Frau verdroschen wurde.

Halt! Stopp!“ Ein Captain der britischen Ägyptenarmee brach durch die Menge.

Warum?“ Slatin Pascha stellte sich auch diesem Mann in den Weg. „Wenn jemand ihre Hoheit unzüchtig berührt, dann hat er Strafe verdient!“

Dann sollte sich eine Hoheit aber auch wie eine benehmen und nicht…“

Was sagt Er da?“ Maria Sophia hatte von ihrem Opfer abgelassen und wandte sich mit stechenden Augen dem Offizier zu. „Will ER uns etwa vorschreiben, was WIR anziehen oder machen dürfen? Und ist es für Ihn in Ordnung, wenn ein Engländer einer ägyptischen Frau einfach ungeniert und ungestraft an den Hintern greifen darf? Will Er das damit sagen? Es ekelt uns vor Ihm und Seiner fehlenden Moral! Ich dachte immer, Offiziere sollten Gentlemen sein“, musterte Maria den Captain abfällig von oben nach unten. „Davon ist bei Ihm aber überhaupt nichts zu bemerken. Gehen wir, Slatin Pascha!“

Wie kaiserliche und königliche Hoheit wünschen!“ Die raunende Menge bildete eine respektvolle Gasse, um die Prinzessin und ihren Beschützer durch zu lassen. Leise klangen Worte wie Slatin Pascha, Amirat namsawia – österreichische Prinzessin, Amrah qawiuh – starke Frau, `iina Allah eadil – Gott ist doch gerecht, akhyrana shakhs ma yueaqib al’iinjlizia – endlich bestraft jemand den Engländer oder Amirat aleadl – Fürstin der Gerechtigkeit durch das Gewühl. Selbst muslimische Männer erwiesen ihr Respekt und verneigten sich, die beiden Briten sahen ihr ratlos nach.

Verdammt! Wer konnte das wissen! War angezogen wie eine von den denen, mit dem Kapuzencape. Und wie sie dann den Arsch so herausgestreckt hat…!“

Mit raschen Schritten strebte Maria Sophia durch die Gassen aus dem ägyptischen Viertel.

Den degenerierten Fetzenschäd’l soll der Blitz beim Scheißen derschlag’n“, ärgerte sich die österreichische Erzherzogin. „Dem soll’t der Sirdar einmal kräftig den Arsch aufreißen!“

Hoheit können sicher sein, der Sirdar Kitchener würde das sehr gerne tun!“

Die Prinzessin verhielt mitten im Schritt. „Wollen‘s damit sagen, der Kitchener ist…? Na ja, warum auch nicht? Wenn’s ihm Spaß macht! Das würd’ dann auch den Blick erklär’n, mit dem er ihnen gestern auf den Allerwertesten g’schaut hat.“

Nein, da haben Sie mich missverstanden, Fräulein. Ich habe gehört, es ist dem Sirdar völlig egal, ob ihm ein Mann oder eine Frau das Hinterteil hin hält!“ Carl Freiherr von Slatin zuckte mit den Schultern. „Aber das sind nur Gerüchte, vielleicht möchte ihm und seinem Ansehen ja auch jemand damit schaden?“ Maria kratzte sich an der Nase.

Den Leuten von der Royal Navy sagt man auch so einiges nach, und es schad‘t ihnen nichts“, resümierte Maria. „Also, ob der Sirdar im Bett auf Buben oder Mädel steht, oder ob er einfach Popscherlpartien vorzieht, das kann ich jetzt auch nicht sagen, aber Horatio Kitchener liebt ausschließlich Horatio Kitchener. Soviel zumindest ist sicher.“

Das ist es in der Tat, Fräulein Maria Sophia. Er ist einzig auf seinen eigenen Vorteil bedacht.“

Ein eiskalter Glücksritter auf jeden Fall. Na ja, man weiß ja nicht, wie er so g’worden ist. Vielleicht hat er ja auch sein’ Hintern zu oft irgend jemandem andern hinhalten müssen. Geh’n wir weiter!“

=◇=

Bitte! Warum bin ich hier? Was wollen Sie denn noch von mir?“ Die junge Gräfin Lichtenbach war in Tränen aufgelöst. So hatte sie sich Ägypten und den Traum vom Königreich Gottes wirklich nicht vorgestellt. Die Gleichheit aller Menschen, Männer und Frauen, hatte sie in Wien noch stark angezogen. Das, und der hemmungslose Hedonismus während der Zirkel. Dann war sie nach Kairo gekommen, um mehr zu erfahren, um mitzuhelfen, das Paradies auf Erden vorzubereiten. Aber hier musste sie feststellen, dass das Paradies wieder nur für wenige bestimmt war. Was sie aber als Adelige noch nicht all zu sehr gestört hätte. Immerhin hatte die junge Gräfin immer zur privilegierten Schicht gehört, und wenn sie auch durchaus schon früher für soziale Gerechtigkeit und die Emanzipation der Frau eingetreten war, ein paar kleine Vorteile hatten noch niemand geschadet. Besonders die eigenen nicht. Aber dass das Feuer, das auf die Ungläubigen regnen sollte, aus den Rohren von Flugschiffen kommen sollte, dass Mord und Gewalt ein friedliches Miteinander einläuten sollten, ein Krieg, der die ganze Welt erfassen und zerstören sollte, das alles erschreckte und verstörte die junge Frau zutiefst. So hatte sie sich die schöne, neue Welt nicht vorgestellt, so hart, brutal und voll von Gewalt. Sie wollte bald nur noch nach Hause, zu ihren Eltern und Geschwistern, doch man hatte sie nur ausgelacht. Sie war jetzt Eigentum der Vereinigung, sie hatte sich freiwillig in deren Hand gegeben, als sie auf ihrer Pilgerreise mit anderen Pilgern des Goldenen Frühlings nach Palästina in Kairo gelandet war. Die Leiterin des Zirkels in Kairo, Yasmin, hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie den Orden der Yegēt Lijochi nie, nie, nie wieder verlassen würde. Seither hatte man sie nur noch für einzelne ‚Zeremonien‘ aus ihrer ansonst nie unverschlossenen Zelle geholt. Das, was ihr vorher bei den Treffen des Goldenen Frühling so gut gefallen hatte, die große Auswahl an Männern, wurde nun zum unerbittlichen Zwang. Außerdem wurde sie nun immer den Herren mit ‚Sonderwünschen‘ zugewiesen. Zumeist unangenehmen und für sie schmerzhaften oder demütigenden Sonderwünschen. Dann waren einige Männer gekommen, hatten ihren seit einiger Zeit stets nackten Körper mit weiten, arabischen Kleidern verhüllt, ihr die Augen verbunden und hatten mit ihr das Haus verlassen, in welchem sich die Yegēt Lijochi in Kairo trafen. Sie hörte arabische Stimmen, roch unvertraute Gewürze, dann, Ruhe, Stille. Die Binde vor den Augen wurde ihr abgenommen, ein Mann stand vor ihr, die Kapuze seines Burnuses so weit ins Gesicht gezogen, dass sie sein Gesicht nicht zu erkennen vermochte.

Was soll ich jetzt machen? Ich tue doch alles, aber bitte nicht mehr schlagen! Bitte!“ Die Tränen flossen über die Wangen des Mädchens, und wie durch einen Schleier hörte sie die Worte:

Lauf! Halte dich an der Tür rechts und am Ende der Gasse links, dann immer geradeaus. Bleib nicht stehen, auf gar keinen Fall, sondern beeile dich, lauf, lauf, lauf!“ Und Sabine lief. Lief, wie noch nie in ihrem Leben, raffte den langen Kaftan, stolperte, fing sich, lief weiter, drängte sich durch die Körper, welche dicht an dicht auf der Gasse unterwegs waren. Eine bekannte Stimme – deutsch, noch dazu im Schönbrunner Dialekt!

Geh’n wir weiter!“

Hoheit“, rief, nein brüllte Sabine von Lichtenbach und stürmte auf die beiden Gestalten in den hellen Uniformen zu.

Lichtenbach!“ Das Erstaunen der Prinzessin von Kakanien war unüberhörbar. Sabine stürmte weiter, hinter ihr brüllte eine männliche Stimme.

Bleib stehen, Ungläubige!“ Eine ihr nur zu gut bekannte Stimme, sie hatte sie in der letzten Zeit zu hassen gelernt. Weiter laufen, befahl sie sich, immer weiter, so, wie es die Stimme vorher gesagt hatte. Niemand auf der Welt konnte es doch wagen, eine Prinzessin der Vereinigten Donaumonarchien und ihren Schützling anzugreifen, nicht einmal hier, in der Altstadt Kairos. Hinter ihr knallte etwas, ein dumpfer Schlag in den Rücken stieß sie vorwärts, der Erzherzogin direkt in die Arme.

Sabine!“ Die Arme Maria Sophias schlossen sich um die Zusammenbrechende und stützten sie, neben ihr bellte die schwere Dienstwaffe des Oberstleutnant Slatin auf. Einmal – zweimal – dreimal in schneller Folge, der hagere Ägypter in der Dschellaba mit dem kurzläufigen Revolver in der Hand wurde zurück gestoßen und brach zusammen.

Sabine sah der Prinzessin in die Augen, langsam wurde es dunkel um sie. War das jetzt der Tod? Kein Schrecken mehr, keine Schmerzen, kam die – Erlösung von all dem? Sie riss sich noch einmal zusammen, sie musste jemandem mitteilen, was sie wusste.

Feuer! Feuer aus den Rohren von Flugschiffen“, flüsterte sie, rufen konnte sie es nicht mehr. Ein Hustanfall schüttelte den dünnen, schlaffen Körper, der einstmals stark und vom Reitsport gestählt gewesen war. „Goldener…“ Wieder hustete sie Blut auf die Kleidung der Prinzessin, von irgendwo her erklang das Trillern einer Pfeife „…goldener Frühling. Awlad Alrabi. Ein Paradies, Toussidé. Der Messias in Jerusalem. Gondar! Es hätte so schön… so schön…“ Der Kopf der jungen Gräfin fiel hintenüber, und ein Dabit Shurta, ein Polizeioffizier drängte durch die Menge.

Was ist hier geschehen?“

Der Mann da am Boden hat auf die Frau geschossen, und der Pascha hat zurück gefeuert!“ rief eine laute Stimme aus der Menge, und zustimmendes Murmeln klang auf.

Ein Attentat auf eine hohe Person!“ Auch auf der anderen Seite erklang eine laute Stimme, die bejahende Kommentare auslöste.

Pascha?“ Der Polizist sah sich um, sein Blick fiel auf Slatin. „Natürlich, Pascha. Verzeihen Sie meine Unachtsamkeit, können Sie mir vielleicht etwas sagen? Wissen Sie, wer das Opfer ist?“

Es ist die österreichische Gräfin von Lichtenbach, Mulazim.“ Maria Sophia legte den Leichnam vorsichtig ab und erhob sich.

Warum hat man wohl auf sie geschossen? Was hat der Mann vorher noch gerufen?“

Bleib stehen, Ungläubige“, antwortete Slatin.

Warum hat er bloß auf die arme Lichtenbach geschossen?“ Traurig blickte die Erzherzogin auf die Tote hinab.

Und darf ich fragen, wer die – Dame in ihrer Begleitung ist?“ Der Polizeileutnant hatte sein Notizbuch aufgeschlagen und sich den Namen Slatins und der Gräfin Lichtenbach notiert. Jetzt blickte er neugierig auf die Frau, welche unter einem Kapuzencape die gleiche Uniform wie Slatin Pascha trug, nur ohne Ordensspangen. Slatin strich sich über den seitwärts gekämmten Schnurrbart.

Wie ist ihr Name, Mula…“

Lassen wir die Etikette doch einmal außen vor, Freiherr“ unterbrach Maria ihren Begleiter. „Ich bin Erzherzogin Maria Sophia von Österreich, und ich bitte Sie, den Leichnam der armen Baronin auf die Insel Zamalek zur Botschaft zu bringen. Wir werden uns jetzt ebenso dorthin begeben und der Polizei des Khedive selbstverständlich für Fragen zur Verfügung stehen.“

=◇=

Ein geländegängiges Dampfmobil der britischen Streitkräfte holte die Prinzessin am nächsten Tag wie versprochen vom Hotel Oriental ab, um sie zu ihrem Lunch im Offiziersclub der britischen Offiziere zu bringen. Die Polizei Kairos hatte einen hohen Offizier nach Gezira auf der Insel Zamalek geschickt, um die Aussagen von Maria Sophia und Slatin Pascha aufzunehmen, dabei war zu bemerken, dass der Aussage des Freiherrn um einiges mehr Gewicht zugemessen wurde. Slatin war eben ein Mann, und Kairo immer noch ein stark muslimisch geprägtes Land. Ihre Hoheit hatte es stoisch zur Kenntnis genommen, Kairo war nun einmal nicht Wien. Hier würde noch viel Wasser den Nil hinab fließen und noch lange Jahre vergehen, ehe der Islam auch nur annähernd gleiche Rechte für Frauen erlaubte. Und war es nicht auch in Europa so, dass Frauen sich jedes einzelne Recht hart vor Gericht erstreiten mussten? Auch in Österreich, allen kaiserlichen Edikten und Gesetzen zum Trotz? Aber immerhin konnten sie es in den Vereinigten Donaumonarchien mit recht guten Chancen versuchen, da sie das Gesetz auf ihrer Seite hatten. Mittlerweile gab es auch gute Anwälte für eben solche Fälle, in denen moderne Frauen ihren Platz in der modernen Gesellschaft erstreiten wollten. Ein eigenes Bankkonto zum Beispiel, oder ohne Erlaubnis des Ehemannes zu arbeiten und eigenes Geld zu verdienen. Aber selbst diese kleinen Fortschritte würden in Ägypten noch lange nicht der Fall sein. Immerhin waren auch die viktorianischen Briten nicht von einer Gleichstellung der Frau begeistert und bereit, diese anzuerkennen. Noch nicht einmal Queen Victoria, außer natürlich, es ging um ihre eigenen, persönlichen Rechte.

Sir Edgar hatte auf den Rat von Captain Petersen keine Luxusdroschke angefordert, sondern einen kleinen Spähwagen der Infanterie zum Hotel beordert. Offen gebaut, aber mit einer Plane ausgestattet, welche vor den direkten Strahlen der Sonne schützte, schnell und wendig. Einen Wagen, wie die Egypt Armee ihn für ihre Aufklärungsfahrten und die Offiziere in der Wüste verwendete. Draußen, in den Dünen, raste das Vehikel auf seinen etwa einen Meter durchmessenden und ungefähr handbreiten Rädern mit einer kaum vorstellbaren Geschwindigkeit von beinahe vierzig Stundenkilometern durch die Wüste. Nur ein sehr gutes Kamel war im tiefen Sand der Sahara noch schneller unterwegs, es ermüdete aber auch weit früher. Bei einer inneren Spurbreite von 148 Zentimetern bot der Wagen auf zwei Bänken vier Personen einigermaßen Platz, ein unbewaffneter Winzling, aber ein guter Offroader für den Militäreinsatz in Wüstengebieten. Petersen hatte die Prinzessin durchaus richtig eingeschätzt, sie schwang sich in ihrer hellen Africauniform mit den Schulterstücken eines Generalobersts der Vereinigten Donaumonarchien mit zusätzlicher Kaiserkrone im Sternenkranz zum Fahrer auf den Nebensitz und löcherte diesen die ganze Fahrt über mit Fragen zu technischen Details des Vehikels. Der Fahrer, ein Sergeant Cummings, beantwortete diese Fragen zuerst noch ein wenig schüchtern und zurückhaltend. Dann aber, das echte Interesse bemerkend, legte er einen wachsenden Enthusiasmus an den Tag. Die österreichischen Konstrukteure waren einen ganz anderen Weg beim Aufbau ihrer Fahrzeuge gegangen. Ausgestattet mir leichteren Materialien und der beinahe unerschöpflicher Energie des puren Vaporids und der Spulen Teslas bauten sie eine Wärmepumpe in einem größeren, aber relativ gut gepanzerten Fahrzeug ein. Im Winter wurde der Innenraum warm und im Sommer kühl gehalten, die Revolverkanone im Kaliber zwei Zentimeter verschoss siebzig Granaten in der Minute und machte daraus schon eher einen kleinen Radpanzer. Der Puch Noriker war mit seiner Spurbreite von 2,28 Metern auch deutlich breiter und 6,8 Metern sehr viel länger als der englische Camel, von dem Maria Sophia abgeholt wurde. Und auch wenn das österreichische Fabrikat in der Geschwindigkeit dem englischen nicht nachstand, war doch das Fahren mit offener Fahrgastzelle mit einem ganz anderem, einem direkteren, freudigen Gefühl verbunden.

Auch auf den Flug mit dem Ornithopter freute sich die Erzherzogin. Das direkte Gefühl, in der Luft zu sein, auf einem riesigen Vogel zu reiten – das konnte kein Thorneycroft, kein Flugschiff und auch kein Luftschiff bieten. Nur ein Ornithopter. In diesem Gebiet, das musste man einfach anerkennen, war Britannien die führende Nation, weit vor allen anderen. Schon früh hatte man im deutschsprachigen Raum mit den Resselpropellern eine Antriebsart entdeckt, mit der man, genügend Energie vorausgesetzt, nicht nur schnell vorwärts, sondern auch aufwärts kommen konnte. Dank Nikolaus Novacek und dessen Vaporid war die Energie vorhanden, und 1854 entwickelte Karl Friedrich Werner den Werner-Turbinenmotor mit extrem hohen PS-Werten, der dafür sorgte, dass die Kriegsschiffe der österreichischen und deutschen Kaiser fliegen lernten. Und jetzt, mit den Tesla-Motoren, arbeitete man auch schon an kleineren, flugfähigen Panzern. Mit kleinen Resselpropellern in Rohren, wie in den großen Schiffen. Die Dampfturbinen von Werner und auch die elektrischen Tesla-Motore erzeugten direkt eine drehende Bewegung, was dem Antrieb eines rotierenden Propeller entgegenkam. Die Kolbendampfmaschine der Briten wurde zwar ebenfalls mit Vaporid, beziehungsweise dem Steampowder aus britischer Eigenproduktion geheizt, erzeugte aber eine hin-und-her-Bewegung, oder, wie im Falle des Ornithopterantriebs, eben eine auf-und-ab gehende. Mit diesen Kolben wurden dann direkt die Flügel bewegt.

Das gesamte Offizierscorps der Kairoer Garnison war anwesend, der schottische Artilleriemajor hatte für diesen Anlass seinen Kilt und den Sporran angelegt. Er hatte auch eigens seine alte Warpipe hervor geholt, um ihre Hoheit mit dem Marsch ‚Scotts forever in Honor‘ zu begrüßen. Der Kommandant der Garnison, Colonel Edgar Cunningham, reichte Maria Sophia persönlich die Hand, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.

Es ist eine große Ehre und ein Vergnügen für uns, Hoheit heute hier begrüßen zu dürfen.“ Er verbeugte sich galant und küsste ihre Hand, als sie vor ihm stand.

Danke, Sir Edgar. Ich habe schon befürchtet, ich wäre hier nicht mehr willkommen!“ Das Lächeln der Prinzessin erstrahlte und konnte es durchaus mit einem der Landescheinwerfer für Flugschiffe aufnehmen.

Aber warum denn, kaiserliche und königliche Hoheit! Weil Sie den vorlauten Earl von Wooster geschlagen haben? Wenn Sie ein offenes Wort erlauben wollen, Ma’am?“

Ein Wort unter Soldaten, Colonel?“

Der Brite straffte seine Gestalt und drückte seine Brust so weit heraus, dass sie beinahe eine Ebene mit seinem etwas voluminösen Bauch erreichte! „Ein Wort unter Soldaten, sehr gut, General! Ich kann jeden verstehen, der einer Frau mit einem gut geformten Hinterteil an dasselbe greifen möchte, das gleiche gilt auch für die Oberweite. Wohlgemerkt, ich spreche von einem Wunsch, den wohl jeder normale Mann verspüren wird. Aber wenn er sich nicht beherrschen kann und diesem Wunsch auf ungeziemende Weise, also ohne ausdrückliche Erlaubnis, nachkommt und tatsächlich zugreift, dann muss er die Reaktion der Frau auch wie ein Mann ertragen und die Ohrfeigen eben als gebührende Strafe akzeptieren.“ Er führte die Generaloberst an den salutierenden Offizieren vorbei.

Ach, Captain Petersen“, Maria Sophia reichte dem Briten die Hand, der zuerst salutierte, um sie dann zu ergreifen und sich darüber zu beugen.

Ma’am!“

Sie haben Recht, Colonel“ Maria Sophia schritt am Arm von Sir Edgar weiter. „Und hätte er, anstatt die Polizei zu rufen, sich entschuldigt und einfach entfernt, wäre die Sache längst vergessen. Es muss niemand peinlich sein, wenn er auf mein Sitzfleisch schaut, oder in meinen Ausschnitt – wenn ich ein Kleid mit einem solchen trage. Ansehen jederzeit, aber angreifen nur mit einer direkten Einladung. Ach, guten Morgen, Major Darling!“

Generaloberst!“ Auch Sir John salutierte erst und deutete danach einen Handkuss an, ganz Gentlemen.

Ich freue mich schon auf unseren Rundflug, Major“, gestand Maria. „Darum habe ich mir erlaubt, heute Hosen zu tragen. Auch wenn einer ihrer Captains das vielleicht anstößig finden wird.“

Mehr als einer, fürchte ich! Und nicht nur Captains.“ Der Earl kraulte seinen prächtigen Backenbart. „Ich gestehe ganz ehrlich, dass mir das auch ein wenig seltsam vorkommt. Eine Frau in Hosen ist für uns alle ein klein wenig ungewöhnlich. Bitte, nehmen Sie doch Platz, Hoheit!“ Ein Bediensteter hielt der Prinzessin den Stuhl und rückte ihn zurecht.

Danke! Sie scheinen damit aber ziemlich gut zurecht zu kommen, Colonel“, plauderte sie.

Madam General, es ist seltsam, aber es gibt doch schon einen Präzedenzfall“ referierte der Colonel. „Auch Zarin Katherina die Große zeigte sich öffentlich in der Uniform eines Kommandanten des Sankt Petersburger Garderegiments zu Pferd.“

Nun, Colonel, ich habe allerdings nicht vor, einen Thron zu erheiraten und meinen Mann dann aus dem Weg zu räumen, wie es Sophie Auguste Friederike machte,“ lachte die österreichische Prinzessin hell. „Außer natürlich, er hätte das mit mir vor. Also, doch keine Ehe mit einem König oder Kaiser. Man lebt ohne angenehmer.“

Aber eine gute Figur hat sie damals schon gemacht, in der roten, auf den Leib geschneiderten roten Uniform mit dem grünen Überzieher“, erklärte Colonel Cunningham. „Also ja, ich wollte nur sagen, es beginnt jetzt bald das zwanzigste Jahrhundert, wer weiß, was das noch alles an Neuerungen bringen wird. Als ich mir das Patent zum Kornett bei den leichten Dragonern Nummer 11, also bei Cardigans Husaren kaufen konnte, reichte es völlig aus, wenn man halbwegs reiten, schießen und mit dem Säbel umgehen konnte. Heute muss man mit Maschinen und Fahrzeugen zurecht kommen, man muss dafür sorgen, dass die eigenen Soldaten nicht mehr in einer Reihe stehen, sondern gute Deckung finden. Weil ja ein einzelner Soldat mit einem Maxim-Gewehr eine ganze Kompanie auslöschen kann, wenn die in alter Formation kämpft. Heute eine Kavallerieattacke gegen eine Stellung mit Revolverkanonen, Maxims und den neuen Karabinern zu reiten, käme einem Selbstmord gleich. Bei Balaklawa hat die ‚Light Brigade‘ mit ihrem Sturm auf die Artilleriestellung trotz riesiger Verluste noch Erfolg gehabt, aber heute? Die Kavalleristen kämen noch nicht einmal in die Nähe der Stellungen. Unter Umständen ist eine Einheit Dragoner auch heute noch von gewissem taktischem Nutzen, berittene Infanterie für schnelle Stellungswechsel. Aber eine Kavallerieattacke… das würde in einem fürchterlichen sinnlosen Gemetzel enden. Ich verstehe die neue Zeit nicht sehr gut, General. Ich gehe immerhin altersmäßig bereits stark auf die siebzig zu. Ja, man sieht es mir noch nicht so an, aber – na, ist ja auch egal. Wie gesagt, ich habe bereits so viele Veränderungen erlebt, ich verstehe sie nicht alle, mir gefallen auch nicht alle, aber ich habe gelernt, damit zu leben. Und die neue Methode der Kriegsführung verlangt eben eher nach Männern wie Kitchener, hart, brutal und kompromisslos. Und leider kein bisschen Gentleman. Darum ist er ja auch als ‚Colonel auf Zeit‘ mein Vorgesetzter, obwohl ich ein echter und unbefristeter Colonel bin. Darf ich ihnen als Aperitif vielleicht einen leichten Sherry anbieten, Ma’am?“

=◇=

Das ist ja phantastisch!“ Maria Sophia ging nach dem Diner mit Major Darling zum Flugfeld. Dort umrundete sie einen der britischen Ornithopter und streichelte bewundernd die Flanken. Der Rumpf des Zweisitzers war einen knappen Meter breit, es war also nur schlanken Personen möglich, zu zweit in diesem Fluggerät Platz zu nehmen. Sir John hatte schmale Schultern und ein nur kleines Hinterteil, und auch die Erzherzogin war, wenn auch gut geformt, so doch nicht all zu üppig gebaut. Bei der Länge von fünf Metern nahm der Schwanz des Fluggerätes aus einzeln verstellbaren Kunstfedern, welche aus einem mit Segeltuch bespannten Metallrohrrahmen bestanden, etwas mehr als die Hälfte ein.

Diese Flügel, bestehen die aus den gleichen Federn wie die am Schwanz?“ Aufgeregt sah Maria Sophia zu den hochgeklappten Flügeln hoch.

Beinahe!“ Der Major untermalte mit seinen Händen die Erklärungen. „Die Schwanzfedern sind vom Gelenk bis zur Spitze komplett symmetrisch, während die Flügelfedern vom Gelenk aus eine starke Vorderkannte aufweisen und nach hinten schmäler werden. Durch diese Krümmung bekommen wir noch ein wenig mehr Auftrieb. Wenn der Motor mit den Flügeln nach unten – hinten schlägt, schließen sich die Federn und bilden eine dichte Fläche, wenn sie nach oben – vorne gehoben werden, stellen sie sich schräg und lassen viel Luft durch. Hier kommt auch die asymmetrische Form der Flügelfedern zum Tragen. Für den Start benützen wir diese Hydraulikbeine hier. Zuerst wird das Gerät mit dem Antriebsmotor ganz nach unten gezwungen und dann die Kraft in den Kolben in weniger als einer Sekunde frei gegeben. Es ist ein Erlebnis, ich kann es einfach nicht beschreiben, das muss man erleben. Jedenfalls gibt es nichts Schöneres! Zumindest nicht in kompletter Kleidung!“

Sie werden doch nicht frech werden wollen, Captain“, lachte die Prinzessin von Österreich. „Wieviel Spannweite hat das Gerät?“

Nur verbal, Ma’am, und nicht sehr. Ich verspreche es! Voll ausgebreitet erreichen die Flügel im Gleitflug fast dreißig Fuß!“

Allerhand! Wie steigt man ein?“

Diese Leiter, Ma’am. Ich verspreche auch, nicht hin zu sehen, während Sie klettern!“ Der Major wies auf eine Strickleiter.

Sehen Sie nur zu, Major. Ich habe ja keinen Rock an, Sie müssen also nicht die Augen abwenden!“ Geschickt turnte die junge Frau die Leiter hinauf und schwang sich in die Kanzel.

Auf den linken Platz, bitte“, rief der Major hinterher, dann griff er selber nach der Leiter.

Hier starten man die Maschine”, erklärte Sir John und legte einen gelb markierten Hebel um. „Jetzt dauert es wie bei jeder Dampfmaschine etwas, bis der Druck aufgebaut wird. Hier sehen Sie, wie die Nadel des Druckmessers steigt. Sobald sie im grün markierten Bereich ist, könnte man beginnen, aber ich warte ohne Notfall gerne, bis sie in der Mitte der Markierung erreicht. So wie jetzt. Ich schalte nun den Motor ein, der die Hydraulikbeine spannt. Sie bemerken, wie der Rumpf allmählich absinkt. Die Flügel sind komplett oben und vorne. Sehen Sie, Ma’am, das Licht leuchtet auf, und nun könnte ich diesen roten Starthebel ziehen. Bitte, schlüpfen Sie aber zuerst in das Gurtgeschirr und setzen Sie die Schutzbrille auf, Ma’am, außer Sie wollen jetzt wieder aussteigen.“

Auf gar keinen Fall!“ Maria Sophia folgte dem Beispiel des Majors, klickend schlossen sich die Karabiner und Sir John griff hinüber und kontrollierte den Sitz der einzelnen Lederbänder.

Verzeihung, Ma’am, falls ich Sie berühren sollte, aber ich möchte nicht, dass Sie durch einen dummen Zufall aus der Maschine fallen.“

Kein Problem, Major“, beruhigte Maria den Briten. „Greifen Sie nur zu und machen Sie, was nötig ist!“

Alles in Ordnung, Ma’am. Halten Sie ihre Innereien gut fest, es geht jetzt los!“ Seine Hand drückte den Hebel nach unten, die Beine des Ornithopters gaben ihre Kraft frei und katapultierten den künstlichen Vogel in den Himmel. Just in dem Moment, als sich der Schwung aufzehrte, legte der Major einen anderen Hebel um, die mächtigen Schwingen schlugen kraftvoll nach unten und hoben das Gerät noch höher. Immer wieder hoben und senkten sich nun die großen Flügel mit mechanischer Präzision und trugen die Flugmaschine davon.

Ups! Sie hatten völlig Recht, Major“, jubelte die Erzherzogin. „Voll bekleidet hatte ich noch nie so viel Spaß! Ist das da unten die Zitadelle?“

Die Burg des Saladin! Richtig! Wir schwenken jetzt nach Westen und leicht nach Süden.“ Der Major legte, während er sprach, den Ornithopter in eine Kurve, und Maria Sophia vergaß völlig ihre Sorgen. Über ihr bewegten sich im gleichmäßigen Takt die Schwingen, unter ihr zog die Stadt vorbei, der Nil und jenseits davon die endlose Sahara kamen in Sicht. Meile um Meile Sand, nackter Fels und Sonne, ein gigantischer Anblick. Das Donnern der schweren Dampfmaschine von Boulton and Watt verstummte, als der Captain den gelben Hebel wieder nach oben stellte und die Flügel in Gleitstellung arretierte. Nur noch das leise Rauschen des Windes durchbrach die erhabene Stille, Major Darling senkte ein wenig das Haupt und bekreuzigte sich nach einiger Zeit.

Hier oben spreche ich immer ein kurzes Gebet für meine verstorbenen Eltern und die Kameraden, die in der Wüste geblieben sind“, erklärte er.

Maria Sophia nickte. „Das verstehe ich, Sir John.“ Dann faltete sie ihre Hände und gedachte ihres Vaters und einiger anderer, ihr lieb und teuer gewesener Personen. „Danke, Major!“

John Darling lächelte dünn. „Hier kommt man sich selbst und dem Himmel näher als sonst wo auf der Erde“, sagte er ganz leise, wie um die Stille nicht zu stören. „Ich war auf einem der Flugkreuzer der Marine, dort war es laut und auch aufregend. Auf einem Luftschiff ist es nicht ganz so laut, aber langweilig. Hier aber, hier finde ich zu – Gott. Und das mag vielleicht derselbe sein, den der Papst in Rom oder der Erzbischof in London auf verschiedene Arten anrufen, aber mir zeigt er sich hier wieder ganz anders. Weniger wie ein forderndes Kind, das ständig Beachtung fordert, sondern größer, erhabener. Eine gewaltige Macht, der wir Menschen egal sind.“ Er verstummte.

Das kann ich nachvollziehen. Warum aber beten Sie dann?“ Die Frage Marias kam ebenso leise gesprochen.

Warum ich trotzdem bete?“, wiederholte der Major überlegend. „Wohl, weil es ein Trost für mich ist, eine Möglichkeit, meine Gedanken zu sammeln! Ich bete für mich, nicht für Gott.“

Maria Sophia legte ihre Hand auf seine und drückte fest zu. „Danke, Major, auch für ihre Worte!“ Noch einige Zeit glitt der Ornithopter im Segelflug immer weiter in die Wüste hinaus, dann startete Sir John die Maschine wieder. Die mächtigen Schwingen begannen mit ihrem Spiel, um die verlorene Höhe erneut zu gewinnen, die Nase wandte sich wieder nach Nordosten.

Zeit, wieder aufzusteigen, Ma’am“, erklärte der Major. „Hier draußen ist das Risiko bei einer Landung zu groß. Manchmal sinken die Beine der Maschine im Sand zu weit ein, und es gibt hier immer noch räuberische Stämme. Besonders für schöne, hellhäutige Frauen zahlen manche von den Scheichs im Süden auch heute noch eine ganze Menge Geld. Und ein Ornithopter in deren Hand – da möchte ich nicht dafür verantwortlich sein.“

Kurze Zeit später kletterte die Prinzessin wieder in der Garnison aus dem Gerät. „Major, ich bin ihnen zu großem Dank verpflichtet.“

Darling beugte sich über ihre Hand. „Es war für mich eine große Ehre, Ma’am. Davon werde ich noch meinen Enkelkindern erzählen können, dass ich mit einer kaiserlichen Hoheit fliegen und sie einfach General nennen durfte!“

Nun, Major, dann lassen Sie ihre Frau schön grüßen“, lächelte die Erzherzogin. „Haben Sie bereits Nachwuchs?“

Das werde ich sehr gerne.“ Die Augen des Majors wurden weich. „Und ja, habe ich. Einen Sohn und eine Tochter.“

Sehr schön. Ach, und hier kommt ja auch ihr netter Colonel.“ Tatsächlich näherte sich Edgar Cunningham dem Flugfeld und salutierte vor Maria. „Hatten Sie einen schönen Flug, Ma’am?“

Hervorragend, Colonel“, strahlte die Erzherzogin. „Ich werde das Offizierscorps der Garnison Kairo der Egypt Army unter ihrem Kommando in bester Erinnerung behalten.“

Dann darf ich Sie vielleicht noch zu einem kleinen Port überreden? Später wird Sergeant Cummings mit seinem Camel bereit stehen, Sie wieder in ihr Hotel zu bringen.“

Wie aufmerksam, Sir Edgar. Ich bin hocherfreut. Kommen Sie auch noch mit, Major?“

Es wurde noch etwas später als gedacht, die Sonne war bereits untergegangen, als Sergeant Cummings vor dem Hotel Oriental hielt und ein Page einer recht gut gelaunten Prinzessin von Kakanien die Tür des Spähwagens öffnete. Maria entstieg dem Camel und wandte sich noch einmal mit einigen Dankesworten um, ehe sie kerzengerade das Hotel betrat. Auffallend kerzengerade. Auf das Abendessen verzichtete sie an diesem Tag.

=◇=

Auf dem Nil

Die Sonne spiegelte sich im Nil und warf feine Muster durch die Vorhänge in die Räume an Bord der MALIKAT MISR oder, wie es auf englisch an Bug und Heck stand, der QUEEN OF EGYPT. Das Schaufelrad am Heck wirbelte das Wasser auf und trieb das etwas betagte Schiff gemütlich den Nil stromauf, nach Dahschur, nur etwa 36 Kilometer von Kairo entfernt. Dort gab es die Pyramiden des Snofru, jene mit dem Knick und die rote, dazu noch ein ausgedehntes Gräberfeld. Die Stewarts gingen mit hallenden Handglocken durch das Schiff und riefen den ersten Halt aus.

Es war ein feines Stück englischer Schiffsbaukunst, welches hier auf dem Nil verkehrte, eines der größten rein zivilen Flussschiffe am Ende des 19. Jahrhunderts. Auf seinem 107 Meter langen und 21 Meter breiten Rumpf waren drei Etagen aufgebaut, mit steigendem Luxus. Ganz oben befand sich auf diesem Bau das Ruderhaus, und heckwärts gleich anschließend mit eigenem Aussichtsdeck und seitlichen Balkonen die beiden teuersten Suiten mit jeweils einem Salon und zwei Schlafräumen. Ahmad al Massud mochte ein übler Giftmischer sein, aber geknausert hatte er zumindest nicht. Beide Suiten waren für Maria Sophia und ihr Gefolge reserviert, für die Zofen und die Kammerdiener stand auf dem zweiten Deck zwei angenehme Zweibettkabinen zur Verfügung, ebenso eine solche für die beiden Offiziersburschen. Die Prinzessin hielt es allerdings nicht in ihrer Suite, sie besuchte lieber den Salon der ersten Klasse. Die Erzherzogin wollte ein wenig unter andere Leute, wie sie ihrem Gefolge erklärte. In ihrem knielangen Reiserock und der hellen Bluse sah sie einfach hinreißend aus, als sie sich einen starken türkischen Kaffee orderte und einen Zigarillo entzündete. Noch zwei, vielleicht drei Tage, und von dem Araber war nichts zu sehen oder hören. Sie wollte es nicht zugeben, aber allmählich wurde sie schon ziemlich nervös. So knapp vor dem eigenen Tod durfte man das doch wohl schon. Tief inhalierte sie nachdenklich den schweren Tabakrauch. Sollte ihr Leben hier enden, ferne der Heimat? Wäre es nicht besser gewesen, zu Hause zu warten und das Ende einfach hin zu nehmen? Nein! Solange noch ein Funken Leben in ihr war, wollte, musste sie kämpfen! Mit allem, was sie hatte!

Darf ich stören, kaiserliche und königliche Hoheit?“, erklang eine kultivierte, weibliche Stimme. Maria Sophia sah auf, eine zarte, exotische Frau war an ihren Tisch getreten, geschmackvoll und nach europäischer Mode gekleidet. Eine orientalische Schönheit mit dunkel getönter Haut, die Augen in einem Stil geschminkt, mit dem bereits die Frauen der Pharaonen ihre Männer betörten und auch auf Julius Cäsar und Mark Anton ihre Wirkung nicht verfehlt hatte.

Bitte!“ Die Österreicherin wies auf einen Sessel an dem Tisch.

Danke schön!“ Damit ließ sich die kleine Frau elegant sinken, jetzt erst realisierte die Erzherzogin, dass ihr Gegenüber die deutsche Sprache benutzt hatte. „Mein Name ist Saloumne, man nennt mich auch die Wahib alhaya. Der Name Euer Hoheit ist mir selbstverständlich bekannt, und ich danke für Euer Erscheinen hier in Ägypten. Auch wenn ich durchaus weiß, dass es nicht wirklich freiwillig geschah!“

Wenn Sie damit auf…“

Bitte, Hoheit“, hob Saloumne geziert die Hand. „Ja, genau das meine ich. Ich bitte Hoheit um Vergebung für die ungewöhnliche Methode, Sie zu einem Besuch hier in Ägypten zu überreden. Glaubt mir, es war unumgänglich. Das erste Rätsel Ahmeds, Hoheit haben es in den Straßen von Kairo bereits erfahren! Ich bitte Hoheit sehr, mir folgendes zu glauben: wir haben zwar dafür gesorgt, dass die Gräfin Lichtenbach euren Weg kreuzt, aber wir hofften, Ihr könntet sie gesund in ihre Heimat bringen. Ihr Tod war von uns in keiner Weise gewollt. Natürlich benötigt Ihr Zeit, um das Rätsel lösen zu können, Zeit, welche euch diese kleine Kapsel verschaffen wird. Wir werden uns ganz sicher zu gegebener Zeit wieder sehen, aber für den Moment genießt bitte diese Kreuzfahrt auf dem Nil und denkt nach. Ach, ich sehe, das Schiff macht sich bereits zur Abfahrt bereit, ich muss wieder von Bord. Entschuldigt mich, Hoheit.“ Die Frau erhob sich elegant und schritt graziös aus dem Salon, und wenig später sah Maria Sophia sie das Schiff verlassen, ehe es ablegte. War an den Worten der Lichtenbach doch noch mehr dran als ursprünglich gedacht?

Einen roten Tee mit Minze, und eine Flasche Wasser“, orderte die Prinzessin, und als das Wasser kam, schluckte sie schnell die kleine Kapsel.

Miss“, fragte eine helle Kinderstimme durch die offene Schiebetür hinter ihr. „He, Miss!“ Eine Hand zupfte an ihrem Rock, und jetzt sah sie hin. Ein nicht ganz zehn Jahre alter Junge in kurzen Hosen und einem leichten Sakko über einem weißen Hemd starrte sie an.

Meinst du mich?“, lächelte die Maria Sophia den Jungen freundlich an.

Ja! Meine Ma hat gesagt, dass du eine echte Prinzessin bist. Aber müsstest du dann nicht eine kleine Krone auf dem Kopf tragen und ein gaaanz langes Kleid anhaben“, fragte der Knabe und musterte sie. „Außerdem leben Prinzessinnen doch in einem Schloss.“

Ja, das mit dem Schloss tun wir üblicherweise“, erklärte Maria Sophia. „Aber die ganze Zeit eine Krone tragen und ein gaaanz langes Kleid anhaben, das wäre doch nicht bequem. Und manchmal verreisen wir auch einfach so. Wir sind nämlich nur vom Beruf Prinzessin oder Prinz, König oder Kaiser. Privat sind wir wie alle anderen Leute auch.“

Und wie wird man Prinzessin? Muss man da viel lernen?“ Der Knirps kam herein und stellte sich vor die Erzherzogin.

Eigentlich nicht”, überlegte Maria Sophia. „Üblicherweise werden wir mit dem Amt geboren.“

Ach! Dann hat man dich gar nicht gefragt, ob du es werden willst?“

Nein. Mein Opa war Kaiser, und mein Pa wäre es nach ihm geworden, aber der ist leider zu früh gestorben!“ Maria setzte den Jungen auf einen der Sessel. „Möchtest du heiße Schokolade?“

Ja, bitte, gerne. Und was ist jetzt? Wer ist jetzt Kaiser?“

Mein kleiner Bruder“, erzählte die Prinzessin. „Aber weil der erst vierzehn ist, führt unsere Mutter das Land.“

Wirklich? Deine Mutter regiert ein ganzes Land? Erlaubt ihr Vater das? Und die Regierung?“

Oh, aber ihr Vater hätte da doch nichts mehr zu sagen“, erklärte Maria schmunzelnd. „Meine Mutter ist Erzherzogin und Regentin der Vereinigten Donaumonarchien, und er ist König in Bayern und schon sehr alt. Außerdem, regiert nicht auch in England eine Queen?“

Die regiert ja nicht“, winkte der Knabe ab. „Sie ist nur die Queen. Regieren ist Sache des Prime Minister und des Parlaments!“ Der Junge nippte an seiner Schokolade. „Aber…“

HENRY“, rief eine besorgt klingende Frauenstimme und unterbrach den Knaben.

Hier bin ich, Ma!“ Der Junge winkte, und eine etwa dreißig Jahre alte Frau in einem einfachen, langen Kleid in gedeckten beige-Tönen und einer Rüschenbluse kam mit einem Mann in einem Safarianzug heran geeilt.

Da bist du ja, Henry! Entschuldigen Sie bi… Verzeihung, Euer Hoheit, ich habe euer Hoheit nicht gleich erkannt!“ Die Frau machte einen ungeschickten Hofknicks und stieß ihren Mann an. „Das ist die Prinzessin von Österreich Maria Sophia. Verneige dich doch ordentlich!“

Nein, nein“, wehrte Maria Sophia ab. „Bitte nehmen Sie doch Platz. Sie sind Briten aus den amerikanischen Kolonien, oder?“

Das sind wir, Ma’am, aus Richmond, Virginia, Ma’am! Orville und Henrietta Jones. Das ist unser Sohn Henry. Wir wollten nicht aufdringlich sein!“ Der Mann drehte seinen Hut in den Händen.

Bitte, seien Sie doch auf ein Glas oder zwei meine Gäste!“ Maria wies auf zwei noch freie Plätze. „Ich habe schon lange nicht mehr das amerikanische Englisch gehört.“

Sie waren schon einmal in Amerika, Ma’am?“, fragte der Mann und schob seiner Frau den Sessel zurecht.

In New Mexiko“ bestätigte Maria. „Den Revolvergürtel und den .45er Colt von damals besitze ich heute noch. Was ist Ihr Beruf, Orville?“

Ich soll für Mister Morgan, den Count of Greensboro, North Carolina, eine Ausgrabung in Ägypten durchführen und ihm eine archäologische Sensation liefern. Er glaubt, dass in irgend einer der Oasen die legändere Krone der schwarzen Pharanoinen verborgen ist. Ein Gegenstand, der magische Fähigkeiten hat“, erzählte Orville und nippte an seinem Glas Whisky. „Wegen dieser Krone sollen die Kuschiten eine Zeit lang über Ägypten geherrscht haben, und als dann ein Mann aus Persien die Krone stahl, war auch die Macht der Kuschiten vorbei. Leider steht diese Geschichte nur auf einer einzigen Stele, deren Echtheit bezweifelt werden kann, nein, bezweifelt werden muss. Aber der Count hat Geld, er finanziert eine Expedition und wir sollen einen Führer in Assiut anheuern und von dort einige Oasen aufsuchen. Ich habe Mister Morgan meine Vorbehalte wegen der Stele mitgeteilt, aber er möchte trotzdem, dass ich suche. Nun ja, vielleicht finde ich zwar keine magische Krone, aber trotzdem irgend etwas interessantes. Mal sehen!“

Sie sind nicht begeistert von der Expedition in die Wüste, Orville? Das muss doch ein riesiges Abenteuer sein“, schwärmte die Habsburgerin.

Ja schon. Wenn es nur um mich ginge!“ Orville kratzte sich die volle Haarpracht. „Aber ich mache mir ganz einfach einige Sorgen um Henrietta.“

Papperlapapp“ winkte Henrietta Jones ab. „Das werden unsere nachgeholten Flitterwochen, Orville! In Assiut stellen wir einige ordentliche Fahrzeuge und fähige Leute zusammen, du wirst sehen, das wird ein Kinderspiel! Auch die Llano Estacado und die Wüsten von New Mexiko sind heutzutage leicht zu durchqueren! Und Mister Morgan hat mir für uns immerhin den neuesten klimatisierten Dampfwagen versprochen!“ Orville Jones sah nicht sehr glücklich aus, seine Frau wandte sich an Maria Sophia. „Ma’am, Sie haben doch vorher gesagt, dass Sie auch in New Mexiko waren. Sagen Sie doch bitte meinem Mann, dass das für eine Frau kein Problem mehr ist!“

Es war damals nicht so einfach wie heute, das stimmt schon.“ Die Prinzessin lächelte versonnen. „Wir ritten damals noch zu Pferd durch die Llano Estacado. Ich wollte von Abilene, Texas, nach Colorado, zu jener Zeit machte ich gerade eine schwierige Zeit durch. Liebeskummer, davor ist eben niemand gefeit. Ich traf in Texas dann einen von den ganz großen weißen Jägern, den die Apachen Dinlagahe nannten, genauer gesagt Diné-la-ghé, den ‚Mann mit der tötenden Hand‘. Carl Friedrich Maerz ist sein bürgerlicher Name. Er war, so wie ich, mit dem Luftschiff nach Dallas geflogen und wollte sich mit seinem Freund, dem Häuptling K’ááTo, also ‚Brennendes Wasser‘, in der Nähe von Abilene treffen. Auf dem Ritt von Dallas nach Abilene hat er mir dann einiges beigebracht, vom richtigen Reiten bis zum Treffen mit dem Gewehr. Ich hatte damals, 1875, ein Mauser 71 Repetiergewehr mitgebracht, mir in Dallas einen langläufigen .45er Colt Buntline zugelegt und mich damit für unschlagbar gehalten. Nun, Dinlagahe hat mir gezeigt, dass ich nur ein kleines Küken war, ein Greenhorn eben! Er hat eine neue Erfindung von einem Schweizer Tüftler mitgehabt, den Prototypen von einem Dampf-Hydraulischen Flechettegewehr. 150 Nadeln mit einer Dampfpatrone, wenn es sein soll, in 60 Sekunden verschossen. Dann muss halt eine neue Patrone eingesetzt werden, die alte hebt man auf, füllt sie wieder mit Wasser und einer wasserlöslichen Vaporidkapsel. Man klickt auch ein neues Pfeilmagazin an das Gewehr und hat wieder 150 Schuss. Beinahe lautlos, wir Österreicher stellen das nachfolgende Modell für einige unserer Einheiten jetzt in Lizenz her. Auf jeden Fall, wir haben dann K’ááTo und seine Frau Tł’éé’ńł-ch’i, also ‚Nachtwind‘ getroffen und sind durch den Llano Estacado geritten!“

Aber Tł’éé’ńł-ch’i war doch ein Mann, und er hat Dinèkáhagha, den Mann mit den brennenden Haaren in Dallas getroffen“, warf Henry Jones protestierend ein.

Wir haben die Abenteuer im englischen gelesen! Da war er wirklich mit drei Männern unterwegs“, ergänzte Orville.

Ich weiß”, lachte Maria Sophia „Er hat aus Asdzanikagha, ganz genau aus Asdzání k’ááh’ghaa, also FRAU mit dem brennenden Haar einen Mann gemacht. Herr Maerz war zwar durchaus ein Gentleman, aber scheinbar auch ein wenig – konservativ. Er dachte wohl, dass diese Abenteuersache nichts für uns Frauen wäre! Aber ich bin ihm nicht böse, dass er mich anders geschildert hat.“

Und war K’ááTo wirklich ein so toller Mensch?“ Henry wollte es ganz genau wissen.

Noch viel besser!“ Die Prinzessin wuschelte das Haar des Knaben. „Einiges von dem, das Herr Maerz in seinem Roman für sich in Anspruch nimmt, hat in Wirklichkeit K’ááTo gemacht. Er war noch viel klüger und geschickter als Dinlagahe.“

Ein Indianer? Besser als ein Weißer?“ Orville konnte es nicht glauben.

Aber ja”, bekräftigte Maria Sophia. „Ich glaube, K’ááTo gehört zu den zehn klügsten Köpfen, die ich bisher kennengelernt habe. Damit möchte ich nicht sagen, dass der Herr Maerz dumm oder ungeschickt war, er war ein sehr, sehr guter Jäger. Und der Name Dinlagahe oder Old Skullbreaker hat zu recht einen sehr guten Ruf in den Weiten des wilden Westens. Aber K’ááTo war – ein ganz besonderer Mensch.“ Maria Sophia legte ihr Kinn auf die verschränkten Finger und blickte versonnen lächelnd in eine weite Ferne. „Wenn er nicht schon Tł’éé’ńł-ch’i geliebt hätte, na ja, vielleicht wäre ich für immer bei ihm in den Staaten geblieben.“

Eine echte Prinzessin und ein – ein Wilder?“ Henrietta war bass erstaunt.

Sie tun jetzt K’ááTo im Speziellen und den Indianern im Ganzen unrecht, Henrietta“, lächelte Maria hintergründig. „K’ááTo sprach immerhin fließend Englisch, Spanisch, Deutsch, die Sprachfamilie der Dakota und Cheyenne, die Sprachen der Utha, Commanchen und Irokesen, dazu noch einige Brocken Latein, die er von seinem Freund aufgeschnappt hatte. Zugegeben, nicht jeder Indianer spricht gleich acht Fremdsprachen. Aber die meisten beherrschen Englisch, und die südlichen Stämme sind gezwungen, sich auch auf Spanisch durchschlagen zu können. Ich kenne viele Europäer, die nicht einmal ihre eigene Sprache richtig beherrschen! Und – ich glaube, dass K’ááTo sich öfter wusch als viele andere Personen, die ich kennen gelernt habe. Weiße Personen meine ich.“

Aber, aber die Wohnverhältnisse“, staunte Henrietta Jones. „Die müssen ja entsetzlich gewesen sein!“

Haben Sie schon einmal auf einem Bärenfell geruht, Henrietta? Es ist ein so herrliches sinnliches Vergnügen! Es ist wundervoll, sich hinein zu kuscheln und die Haare auf der blanken Haut zu fühlen. Ja, wahrscheinlich hätte ich das eine oder andere früher oder später doch vermisst“, grinste Maria. „Ich war und bin nun einmal ein verwöhntes adeliges Balg. Aber trotzdem – nun, egal, er war sowieso bereits vergeben, und ich – wie man sieht, bin ich wieder in Schönbrunn gelandet!“

=◇=

Josepha Müller kam in einen Bademantel gehüllt aus der Dusche.

Eine schöne Fahrt wird das“, bemerkte sie zu Horst Komarek, mit dem sie sich eine Kabine teilte. Der Kammerdiener hatte sein Hemd noch nicht angezogen, die Prothese seines linken Armes, die an der Schulter befestigt war, schimmerte metallisch grau mit rötlichen Reflexen im Licht der durch die Scheibe fallenden untergehenden Sonne. „Wie ist ihnen das eigentlich passiert?“ Josepha wies auf den künstlichen Arm.

Na ja, es war vor acht Jahr‘, ich war’ grad Vierzig und seit zwei Jahren Unteroffizier“, erzählte der Kammerdiener. „Auf der KKS SEESCHWALBE, einem schnellen Kreuzer. Wir waren auf Piratenjagd, die Welschen haben wieder einmal ein paar Schiffe auf See g’habt, auch wenn’s der König klarerweis’ abg’stritten hat. Jeder hat g’wusst, dass der VERDI die Korsar‘n losg’schickt…“

Was hat denn der Komponist damit z’tun”, unterbrach Josepha die Erzählung, und Komarek lachte.

VERDI heißt Vittorio Emanuele, Re d’Italia“ erklärte er. „So haben’s immer in Österreichisch-Italien g’rufen, die italienischen Abspalter, die lieber zu Italien g’hört hätten. Wir haben den Namen halt einfach übernommen, auch wie der Viktor Emanuel dann g’storben und der Umberto auf’n Thron g’stiegen ist!“

Aber warum hat denn der Italiener Piraten losg’schickt. Ich hab’ mir `dacht, wir hätt’n Frieden mit denen, seit damals, seit 1878!“

Offiziell haben wir ja auch eh Frieden, aber unter der Oberfläche? Na ja, weißt, solang’s keine Beweise gibt, versuchen’s halt, uns zu schaden“, zuckte der Kammerdiener mit der rechten Schulter.

Und woher wissen die Unsrigen dann davon?“ Die Neugier des Kammerkätzchens war geweckt.

Weil wir erstens im Evidenzbureau eine formidable Geheime Auslandskommission haben!“

Und zweitens?“, bohrte Josepha nach.

Zweitens machen’s wir net viel anders“, grinste Horst. „Nur unauffälliger. Und mit bessere Leut’!“

Was! Piraten im Auftrag von unseren Monarchien?“ Josepha war entsetzt.

Aber sicher, Madel“, seufzte der ehemalige Unteroffizier. „Wenn man die Wirtschaft von einem Gegner stört oder seine Kriegsschiffe bindet, hat man einen Vorteil – es ist nicht schön, aber es ist halt so. Italienische und serbische Schiffe werden gekapert oder versenkt, und sie machen’s bei unseren halt genau so, wenn sie’s schaffen. Keiner redet drüber, niemand hat was g’sehen.“

Nur serbische und italienische Schiff’?“

Im Moment ja, mit den ander’n haben wir doch einen wirklich Fried‘n“, referierte Komarek. „Wenn sich das ändert, wer weiß?“

Ah so! Aber jetzt, wie war das mit den Welschen und dein’ Arm?“

Der Kammerdiener seufzte. „Ja, was wird‘ schon g’wesen sein? Wir haben den Piraten g’stellt und in die Enge `trieben, dann hab’n wir ihm mit den langen Dreierzwanz’gern eing’heizt. Aber er hat auch ein paar Kanonen g’habt, und klarerweis’ hat er dann halt auch z’rückg’schossen. Kann man ihm ja gar net wirklich verdenken, so ist das, sie oder wir, und wir wollt’n, dass der Pirat absauft und der woll’t mit uns d’Fisch füttern. C’est la Guerre! Und wie ich da halt ein paar von meine Leut‘ einweisen wollt’ und mit’n Arm g’fuchtelt hab’, ist just in dem Moment, wo ich g‘winkt hab’, eine italienische Zehn-Fünfer Granat‘n grad‘ dort durchflog’n, wo ich mein Arm hing’alten hab‘! Z‘erst hab’ ich nur deppert g’schaut und gar net begriffen, dass da jetzt mein Arm knapp über’m Ellenbogen weg ist. Dann bin ich umg’fallen wie ein Stückl Holz und erst wieder im Spital in Triest zu mir kommen. Da haben’s mir den Arm schon bis zur Schulter amputieren müssen!“

Auweh! Das muss ganz fürchterlich weh getan hab’n!“ Josepha schlug die Hände vor den Mund.

Na, schön ist was anders. Aber Schmerzen hab’ ich eigentlich nicht wirklich g’habt, sie haben mich dort mit Medikament‘n und Morphium vollpumpt. Damisch war ich halt die ganze Zeit, dreht hat sich alles um mich herum. Mit der Zeit ist’s besser g’worden, und dann haben’s mir das Ding da anpasst!“ Horst Komarek hob die Prothese. „Und danach hat die Entziehung vom Morphium anfangt. Das war auch nicht wirklich schön! Eigentlich war’s das Schlimmste vom Ganzen!“

Was haben’s denn g’habt?“, fragte Josepha voll Mitleid.

Die ganze Palletten halt. Von Schlafstörungen über Bauchschmerzen, Durchfall, Bluthochdruck, Herzrasen, grippeähnliche Zuständ’, Angst, alles, was Gott verboten hat“, der Kammerdiener hob die Schultern. „Aber ich hab’s überstanden und bin nachher auch nimmer rückfällig worden!“

Meine Hochachtung, Herr Horst. Des war sicher net leicht. Aber wieso san Sie dann net in d’Pension gangen? Das Recht hätten’s ihnen ja verdient g’habt!“

Ja, schon, aber was hätt‘ ich denn tun soll’n, den ganzen lieben Tag?“, fragte Horsf Komarek. „Mit den ganzen alten Männern und Frauen im Beserlpark sitzen und Taub’n vergiften? Oder meine ganze Rent’n zu die süßen Mäderln tragen? Nein, da hab’ ich das Angebot angenommen und bin Lakai und später Kammerdiener in Schönbrunn g’worden.“

Mögen’s denn keine Maderl?“ Josepha bürstete ihre Haare.

Viel zu gern’! D’rum hätt’ ich ja viel zu viel Geld ausgeben“, lachte Komarek ein wenig verlegen.

Warum haben’s denn nicht g’heiratet?“, wollte die Zofe wissen.

Mit der Blechpratz’n? Wer hätt’ mich denn g’nommen?“ Der Kammerdiener seufzte tief und schüttelte den Kopf. „Der Zug is halt abg’fahren!“

Aber Sie sind doch ein ganz ein fescher Kampl. Haben’s es denn nie probiert?“ Josepha legte ihre Bürste beiseite, und Horst verbarg sein Gesicht in den Händen.

Würden Sie denn einen Krüppel wie mich nehmen?“, schluchzte er beinahe.

Ja, klar!“

Was, ja klar?“, wunderte er sich.

Klar nehmert ich einen wie Sie. Sie sind ja ein netter und lieber Mensch! Schaun’s mich halt einmal an!“ Horst nahm die Hände von den Augen und sah Josepha an, die ihren Bademantel langsam zu Boden gleiten ließ.

Aber – aber was machen’s denn da, Fräulein Josepha? Fräulein Josepha!“

Mhm!“

Oh mein Gott, Josepha! JOSEPHA! OH – MEIN – GOOOOTT!“

Josepha sah Horst ins Gesicht. „Na, Sie müssen aber arg lang g’spart haben, Herr Horst! Kommen’s jetzt mit, und zeigen’s einmal mir, dass ich ihnen auch ein bisserl g’fall!“

=◇=

Es war damals, 1868, ich war ein blutjunger Leutnant, der sich seine Sporen in einer Stationierung im Königreich Neuhochadlerstein verdienen sollte!“ Oberst von Inzersmarkt hob sein Glas und trank ein Schlückchen Branntwein. Einige Passagiere der ersten Klasse saßen mit ihm in der Raucherlounge der MALIKAT MISR, nicht nur, aber vorwiegend Herren, denn in der Öffentlichkeit rauchende Damen waren im viktorianischen England immer noch eine Seltenheit. „Wie Sie sicher wissen, ist Neuhochadlerstein ein recht kleines Königreich, das einige Ähnlichkeiten mit dem antiken Ägypten aufweist. Eigentlich ist es nur das Land entlang des Flusses Cunene. Ziemlich an der Mündung ist im Norden das portugiesische Angola und südlich von Neuhochadlerstein liegen die Hartmannberge von Deutsch-Südwestafrika. Aus den Bergen kommt ein kleiner Nebenfluss, der Otjinjange. Also, ich möchte Sie jetzt nicht weiter mit Details langweilen, aber in diesen Bergen gab es immer wieder Banden von Unzufriedenen, Gesetzlosen und auch Deserteuren. Flüchtige Mörder, Deutsche, Österreicher, Portugiesen, Himba, Herrero und sogar manchmal, entschuldigen Sie bitte, Briten.“ Inzersmarkt sog an seiner Zigarre und blies Rauchringe in die Luft.

Ich bitte Sie!“ Sir Walter Garham winkte ab. „Wir Briten sind uns bewusst, dass manchmal auch unter uns schwarze Schafe leben. Deswegen haben wir ja auch Gesetze!“

In der Tat”, nickte der Oberst. „Also, wie gesagt, in den Bergen am Otjijange mussten immer Patrouillen unterwegs sein, besonders an der Grenze zu Deutsch-Südwestafrika. Nicht, dass die Deutschen die Übeltäter dort geduldet hätten, ihre Grenztruppen griffen vielleicht sogar noch rigoroser durch als unsere. Aber die Hartmannberge sind sehr unwegsames gebirgiges Gelände und die Deutschen sind, mit Verlaub gesagt, sehr, sehr schlechte Gebirgssoldaten. Lausig wäre besser gesagt. Sie sind hervorstechende Infanteristen in der Ebene, aber in den Bergen – nun, schon mit ihren Stiefeln, diesen Knobelbechern, haben sie ein ganz gravierendes Ausrüstungsproblem. Da lobe ich mir unsere sehr viel bequemeren österreichischen Schnürschuhe und -Stiefel. Egal. Wie gesagt, wir marschieren also von einem kleinen Fort nahe an der Grenze den Otjijange hinauf, mein Zug, mein Vize – in ihrem Sprachgebrauch wäre es wohl so etwas wie ein Warrant Officer – und natürlich ich. Gerade mein Patent von der Akademie als Lieutenant, also eigentlich als Second Lieutenant in der Tasche. Der Warrant Officer war ein alter Veteran, schwarz wie die Nacht und verdammt clever, hat sich aus den Mannschaftsgraden hochgedient mit mehr Patrouillen hinter dem Gürtel als ich Haare auf den – äh, sorry, also, im Gesicht. Vier Gruppen zu je 10 Männern, ein Unteroffizier und meine Person, damals waren wir noch mit diesen alten Einzelladern bewaffnet. Sie erinnern sich vielleicht noch daran? Verschluss öffnen, Patrone einführen, zumachen? Ja, natürlich, Sir Frederik, Sie ganz bestimmt.“ Colonel Holeman hatte kräftig genickt, er kannte sogar noch ältere Modelle.

Das waren noch Zeiten, oder, Sir Frederik? Aber gut, weiter“, fuhr Inzersmarkt fort. „Dazu hatten die vier Zugsführer, mein Vice und ich noch unsere Revolver. Und dann ist da diese Spur. Auf einer Breite von vielleicht zwei, drei Meter war der halbwegs weiche Grund der Schlucht von hunderten Hufen aufgerissen, soviel sah ich sogar als Greenhorn.

Nicht gut’, jammerte Gottfried Paratamu, mein Vice, nachdem er die Spuren sehr lange untersucht hatte. ‚Gar nicht gut. So viele!‘

Brauchen wir Verstärkung für die Viehdiebe oder können wir das selbst erledigen?‘, frage ich den WO, und der schaut mir mit sorgenvoller Mine ins Gesicht.

Verstärkung würde wohl besser sein, Herr Leutnant. Das waren keine Viehdiebe, und es sind mehr als hundert. Viel mehr!‘ Ich gestehe, in dem Moment ging mir der Arsch auf Grundeis. Äh – sorry, wie sagt man bei ihnen wohl? Ach ja, i gets scared schittless. Der Mann nimmt den Hut ab und kratzt sich den Scheitel.

Ewig schade, Herr Leutnant, aber diese Büffel sind schon lange über die Grenze, bevor wir sie einholen. Mit Kavallerie hätten wir die Wanderung unterbrechen können, aber zu Fuß? Niemals. Aber machen sie sich nichts daraus, wenn da oben in ein paar Monaten der Fluss fast trocken wird, kommen sie schon wieder von selbst herunter.‘ Mir ist da aber ein riesiger Stein vom Herzen gefallen!“

Prinzessin Maria Sophia, Elisabeth von Oberwinden und die anderen beiden anwesenden Damen sowie die und zehn Herren brachen in Gelächter aus. Die Mienen und Gestiken, mit denen der Oberst seine kurze Erzählung untermalt hatte, waren zu komisch gewesen, um wirklich ernst zu bleiben.

Ja, lachen Sie nur”, Inzersmarkt hob mit pikiertem Gesichtsausdruck eine Augenbraue. „Damals hätte niemand sicher auch nur einen Kreuzer – also, einen Penny darauf verwettet, dass ich noch ein guter Offizier werden könnte. Aber Gottfried hat mir dann peu a peu alles beigebracht, was in diesen Sturschädel hier hinein gepasst hat. Ein paar Mal hat er mich ganz sicher kräftig verflucht, aber noch öfter ich ihn. Wir haben uns in diesen Grenzscharmützeln mit Banditen, die nicht einmal ihren Weg ins Hauptquartier finden und doch Leben kosten, gelernt, uns zu vertrauen. Auf Gottfried. Damit es ihm und seiner Familie wohl ergehe auf Erden!“ Der Oberst hob sein Glas und trank es aus. Dann signalisierte er dem Barmann, dass dieser doch nachschenken sollte.

Das ist sehr interessant, Oberst!“ Lady Eleonore Bings-Finchburgh nahm einen frischen Zigarillo aus der für die Gäste bereit stehenden Kiste, während der Kellner die Entnahme gewissenhaft verzeichnete. Sechs Hände griffen zu Streichhölzern oder Feuerzeugen, der neben ihr sitzende Maler Gerald Howell war der schnellste.

Danke, junger Mann.“ Die Lady, eine gut erhaltene Witwe, etwa Ende vierzig, Anfang fünfzig, nickte ihm gnädig zu. „Haben Sie auch eine Erzählung für uns, Colonel Slatin?“ Rudolph Carl Freiherr von Slatin betrachtete lange schweigend sein Glas Whisky, bis Lady Eleonore es nicht mehr aushielt. „Sir Rudolph?“ Slatin atmete tief durch, dann drehte er sich lächelnd der Gesellschaft zu.

Ich fürchte, ich bin kein so guter Erzähler wie der Oberst“ gestand er. „Und vieles von dem, was ich erleben musste, eignet sich nicht für eine solche fröhliche Runde.“

Ich habe sogar in England von Ihnen gehört, Colonel“, bekannte Miss Imogen Harris. „Sie haben viele Zivilisten vor dem Tod gerettet, als der Mahdi Karthum gestürmt hat!“

So, haben Sie das gehört, Miss?“ Slatin stürzte seinen Whisky hinunter.

Aber ja, der heldenhafte Retter! Eine glorreiche Tat!“, betonte Miss Imogen.

Glorreich?“ Der Freiherr orderte noch ein Glas und nahm sich eine Zigarre. „Nun, so kann man es auch sehen!“

Aber nur so kann man es sehen”, bekräftigte Major Theodor Stone von der Royal Infanterie. „Wir haben alle davon in den Zeitungen gelesen!“

Man darf nicht alles glauben, was in der Zeitung steht“, wehrte Rudolph ab. „Am Geschrei der Verwundeten, am Blut und Pulverdampf, am zähen Ringen um das Überleben ist nichts Glorreiches. Manchmal etwas Heldenhaftes, aber die wirklichen Helden, die einfachen Soldaten und die Unteroffiziere, die mutig die manchmal idiotischen und leichtsinnigen Befehle der Kommandanten ausführen, werden nie erwähnt. So eine Schlacht ist schrecklich. Dass es manchmal nötig ist, ändert nichts daran, dass Krieg eine grausame Hölle ist!“

Ich muss doch bitten, Sir”, empörte sich Stone. „Wie können Sie es wagen…“

Haben Sie schon eine Kugel außerhalb eines Duellplatzes pfeifen gehört, Major?“ Slatin entzündete seine Zigarre und hielt den Barmann sein Glas entgegen. „Hat ihre Uniform schon ein einziges Mal ein Loch von einer Kugel abbekommen? Nein? Dann gehören Sie noch nicht zum Club.“

Zu welchem Club, verdammt!“ begehrte Theodor Stone auf.

Zum Club der echten Offiziere!“ Der pensionierte Colonel Sir Frederik Holeman vom 28. Royal Sussex Regiment of Foot wies mit seiner Zigarre auf den Major. „Dazu muss man zumindest ein Scharmützel erlebt haben, vorher ist und bleibt man ein Schaumschläger.“

Aber…“

Sie Schaumschläger wollen also wissen, wie es in Karthum war?“, unterbrach Slatin barsch. „Meinetwegen. Aber verschonen Sie uns danach mit ihren Tränen.“ Rasch trank der österreichische Freiherr noch einen Schluck von seinem Glas, ehe er zu erzählen begann.

Ich muss jetzt etwas ausholen, damit Sie mich besser verstehen. Zuerst einmal die geographische Lage von Karthum. Der weiße Nil kommt von Südsüdwest und fließt nach Norden. Der Blaue Nil kommt aus Südsüdost, macht dann eine plötzliche Kurve ziemlich direkt nach Westen und mündet 10 Kilometer später in den weißen. Auf dieser Landzunge liegt, auf drei Seiten von Wasser umgeben, die Stadt Khartum, oder auf arabisch al-Chartūm, der Elefantenrüssel. Anfang des 19. Jahrhunderts wollte der damalige Khedive von Ägypten, ich glaube, es war Mehemed Ali, an dieser Stelle einen gut befestigten Hafen mit einer starken Garnison bauen. Es war eine gute strategische Stelle, der Zusammenfluss von blauem und weißem Nil, und aus dem Westen kamen einige stark frequentierte Karawanenstraßen an den Fluss. Für die damalige Zeit war es auch eine durchaus stattliche und wehrhafte Festung, im Norden war die Mauer 10 Kilometer, also etwas mehr als 6 Meilen lang, und das war noch die kürzeste Seite. Außer an der Westseite reichte die Schutzmauer bis an das Ufer, im Westen war der Hafenkai vorgebaut. Bitte erinnern Sie sich, dass zu dieser Zeit Napoleon Kaiser der Franzosen war. Die Gewehre waren noch von vorne, also in stehender Position zu laden. Die Schützen auf den Stadtmauern standen also in guter Deckung, während die Angreifer von Land her wie Zielscheiben aufgereiht stehen mussten. Richtig schwere Kanonen waren aufgrund des lockeren Sandes im Süden schwer in Stellung zu bringen, und die damals gebräuchlichen Nilboote taugten auch nur für kleinere Kaliber. Ja, die Stellung war für diese Zeit ein harter Brocken für jeden Angreifer. Jetzt muss ich noch einmal um etwas Geduld bitten.“ Slatin trank ein kleines Schlückchen und paffte an seiner Zigarre, um die Glut neu anzufachen.

Ich muss ihnen noch von einem Mann erzählen, dessen Geschichte im engen Zusammenhang mit Khartum steht. Sie werden, fürchte ich, von ihm noch nie gehört haben. 1821 lebte in Kairo am Hof des Khediven auch ein Österreicher namens Otto Jagdmann aus Linz. Er war halbwegs reich geworden, hatte eine Ägypterin geehelicht und war so etwas wie ein Berater am Hof. Ob er die Idee mit dem Hafen dem Khedive nahe gebracht hatte oder dieser selbst den Plan fasste, ist unbekannt. Aber Jagdmann sah seine Möglichkeit, auch für sich einen schönen Gewinn zu machen. Er holte aus seiner Heimat einen Schiffsbauer, der mit ihm verwandt war, unternahm mit ihm eine Nilfahrt bei niedrigem Wasserstand und beauftragte seinen Verwandten, einen Luxusdampfer, einen Lastkahn und ein Kanonenboot für die Verhältnisse zu konstruieren. Es wurden die ersten Dampfschiffe auf dem Nil. Das Passagierschiff war ein Katamaran mit breitem Deck und wenig Tiefgang, mit dem Antriebsschaufelrad zwischen den Rümpfen und zum Steuern noch zwei zusätzlichen schmalen Rädern außenbords. Vier Etagen, also etwas höher als unsere MALIKAT MISR hier. 80 Meter lang und insgesamt 70 breit, und das bei einem Tiefgang von weniger als einem halben Meter. Das wären etwa 262 Fuß in der Länge, 230 in der Breite und runde 20 Zoll Tiefgang purer Luxus. Die vier Frachtkähne, welche er nach diesen Plänen bauen ließ, hatten ebenfalls einige Passagierkabinen. Diese waren allerdings nicht wirklich komfortabel, wurden aber von weniger begüterten Reisenden gerne angenommen. Es gab sogar einen Waschraum für Damen, der dann eben auch für Männer geöffnet werden konnte, wenn keine Frau an Bord war. Ein Kanonenboot tauschte er gegen ein Stück Land am Ufer des blauen Nils vis a vis der Stadt Khartum, und Jagdmann baute dort ein Nachschublager und eine Reparaturwerft für seine Schiffe. Dieses Gebiet war ein unumschränktes Geschenk, das Land besaß sogar exterritorialen Status. Der Passus war anfangs nur als Bekräftigung der Schenkung gedacht gewesen, aber im Laufe der Zeit sollte er sich noch als ziemlich bedeutsam erweisen. Wie auch immer, Jagdmann sah sich bald gezwungen, eine Schutzmauer um seinen Besitz zu ziehen und Söldner anzuheuern. Damals regierte Franz II über die österreichischen Lande, gegen eine kleine Beteiligung an der Firma stellte er Jagdmann ein Bataillon Infanterie unter einem Hauptmann zur Verfügung und ernannte Otto Jagdmann zum Markgrafen von Al-Chartūm alnimsawia, also des österreichischen Khartums.“ Wieder legte Slatin eine kurze Pause ein, während alle an seinen Lippen hingen.

Jetzt wird es kompliziert, und vielleicht verstehen es die Briten unter uns besser, aber ich selber habe ein wenig den Überblick verloren. Je nach Premierminister kamen und gingen britische Truppen im Sudan, war das Land manchmal mehr, manchmal weniger unter englischem Einfluss oder gar unter direkter Herrschaft Englands. Auf jeden Fall schickte der liberale Premierminister William Ewart Gladstone im Jahr 1873 Charles George Gordon, um Samuel Baker als Gouverneur abzulösen, im Namen Englands für Gewinn zu sorgen und im Namen des Khediven endlich die Sklaverei der Schwarzafrikaner zu beenden. Nebenbei sollte er in beider Namen Ägypten bis zu den äquatorialen Seen am Oberlauf des Nils und wenn möglich noch etwas weiter ausdehnen. Alle drei Aufgaben meisterte er im großen und ganzen eigentlich recht gut, und unter seiner Ägide wurde Khartum weiter ausgebaut und modernisiert. Die vier Eckbastionen wurden mit Naturstein und venezianischem Puzzolan bis in den Fluss vorgebaut und mit einigen Feldgeschützen bestückt. Die alten Vorderlader ließ er auf den Hafen ausrichten und Kartätschen bereit legen, um im Falle eines Überfalls den Kai verteidigen zu können. Ebenfalls 1873 wurden die ersten Fernluftschiffe in Ulm gebaut, und man bereitete eine Linie von Berlin nach Khartum vor. Also wurde auch die österreichische Festung verstärkt, allerdings verbot Gordon dort schwere Geschütze. 1877 wurde Gordon vom Khediven Ismael offiziell als erster Europäer zum Pascha ernannt. Ich weiß, schon vorher hatten sich andere britische und französische Offiziere und Regierungsbeamte gerne selbst mit diesem Titel geschmückt, den echten mit dem entsprechenden Zeichen auf der Kleidung gab es aber erst für Gouverneur Gordon. 1879 trat Gordon von seinem Amt als Gouverneur zurück, er hatte sich mit Sir Evelyn Baring, damals schon Gouverneur in Kairo, überworfen und empfand die Absetzung des Khediven Ismael durch europäische Mächte als Unrecht. Ich war damals noch ein blutjunger Leutnant, gerade einmal 20 Jahre alt. Mein erster Posten, und zwar war ich als Kommandant eines Motorgeschützes in Al-Chartūm alnimsawia stationiert. Ich sah Gouverneur Gordon, wenn er sich eines unserer Schiffe zu bedienen wünschte. Längst waren aus den fünf Schiffen Jagdmanns mehr als dreißig geworden, sie alle mittlerweile mit endothermischen Kesseln ausgestattet. Gouverneur Gordon war es egal, ob er mit einem Luxusschiff oder einem der Frachter mit Passagierkabinen fuhr, wenn er los wollte, nahm er das nächste Boot, das ablegte. Nun ja, wie gesagt, `79 verließ Gordon den Sudan, `80 wurde auch ich an einen neuen Posten abkommandiert. Als Oberleutnant und Kommandant einer Ausbildungskompanie nach Madagaskar, `81 berief man mich zurück nach Al-Chartūm. Ich habe schon immer leicht alle möglichen Sprachen gelernt, aber das Arabische lag mir irgendwie besonders.“

Slatins Augen waren in weite Fernen gerichtet gewesen, jetzt fokussierte er sie wieder auf die Anwesenden. „Zu dieser Zeit tobte ein Krieg gegen die Engländer im Sudan. Sie erinnern sich sicher, Muhamad Ahmad hatte den Mahdiaufstand ausgelöst und bereits erste Erfolge errungen. Gordon hatte der österreichischen Festung damals Waffen mit einem Kaliber über .80 Zoll verboten, nun, unsere neuen dampfbetriebenen Gatlings hatten nur .787, wir verteilten rund um die fünfeckige Festung aus Stahlbeton zwanzig davon und lagerten jede Menge Munition ein und rüsteten die Wälle mit jeder Menge .30 – Maxim-Gewehren aus. Dazu hatten wir noch acht Burstyn-Motorgeschütze der zweiten Generation zu Verfügung, ich kommandierte als Captain vier davon. Sie nannten es T – für Typ – 35, ein wahres Monster mit fünf Türmen. Einem zentralen, hohen mit einem 4,7 Zoll Geschütz, davor zwei mit je einer der .787 Gatlings und dahinter zwei zum Heck hin mit je einer 4,13 Zoll Kanone, alle fünf Türme zu einer kompakten fahrbaren Festung verbunden. Für die Wüste waren die T35 auch noch mit extrabreiten Ketten ausgestattet. Ja, das das waren deutlich größere Kaliber als die erlaubten .80. Aber es waren mobile Einheiten, und Gordon hatte nur von der Bewaffnung der Zitadelle gesprochen.“ Der Oberstleutnant rollte noch eines Schluck Whisky über seine Zunge.

1880 war auf den konservativen Disraeli wieder Gladstone gefolgt, doch der Liberale wollte keine Armee gegen den Mahdi in den Sudan schicken, sondern empfahl dem Khediven auch noch die Aufgabe des Gebietes“, fuhr er mit seiner Erzählung fort. „Was den Khediven vor ein Problem stellte, denn einige tausend Ägypter und auch von Ägypten angestellte Sudanesen mussten um ihr nacktes Leben fürchten, wenn der Gesandte Allahs sie in seine Finger bekam. 1883 erlaubte Gladstone schließlich Major-General Gordon, die Geschäfte Englands im Sudan aufzulösen und alle für Ägypten und Britannien tätig gewesenen Personen stromaufwärts aus dem Sudan zu bringen. Zur Unterstützung bekam der General kein Bataillon, keine Kompanie, ja nicht einmal einen Zug Infanterie zur Verfügung gestellt. Zwei zum Schreiber ausgebildete Warrant Officer und einen Major als Adjutanten. Ich glaube, als Charles George Gordon im Herbst 1883 mit dem Luftschiff aus Kairo kommend unseren Lufthafen verließ, wusste er, dass er die Gegend nicht mehr lebend verlassen würde. Ich war eben am Flusshafen, als er vom Abfertigungsgebäude kam und in ein Boot nach dem britisch-ägyptischen Khartum stieg. Knapp vorher blieb er stehen, drehte sich noch einmal um und nickte mir kurz zu, als ich salutierte. Dann nahm er langsam seine Uniformmütze ab, reichte sie seinem Adjutanten, Major Jeffrey Naght, und setzte einen roten Fez auf. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, nicht nur die direkt betroffenen britischen und ägyptischen Mitarbeiter, sondern so viele Sudanesen wie möglich zu retten. Auf Gordon Pascha!“ Der Freiherr hob sein Glas und wartete, bis die anderen seinem Toast entsprochen hatten, ehe er fortfuhr.

Hier muss ich noch einwerfen, dass Sudan nichts mit Süden zu tun hat, sondern Land der schwarzen Menschen bedeutet. Und Gordon hatte der Versklavung dieser Schwarzen den Kampf angesagt. Ohne Unterschied. Er hatte in seiner Zeit als Statthalter viele arabische oder ägyptische Menschenhändler und Sklavenjäger an den Galgen gebracht. Er schien, als er in den Siebzigern Gouverneur des Sudan war, überall gleichzeitig zu sein und viele Raubzüge regelrecht im Voraus wittern zu können, daher war er verehrt bei den Sudanesen und sowohl gefürchtet als auch verhasst bei den Arabern. Aus irgendeinem Grund hasste Chinese Gordon die Sklaverei abgrundtief, sodass hier zumindest eine Übereinkunft in der gegenseitigen Ablehnung herrschte. Trotzdem war der General bereit, dem Wort des Mahdi zu glauben, und auch der Mahdi vertraute dem Ehrenwort des Charles George Gordon. Nicht dem des Gouverneurs, nicht dem des Generals, sondern dem des Mannes.“

Ist das nicht das Gleiche?“ unterbrach Imogen ratlos. „Das ist doch derselbe Mann!“

Nein, Miss Harris, das ist nicht das Gleiche. Ein General kann, nein muss strategisch denken. Ein Politiker muss seinen Vorteil im Auge behalten. Bei dem Mann, der seine persönliche Ehre verpfändet, hat das keinen Platz. Also, wie schon erwähnt kam Gordon im Herbst `83 wieder in Khartum an und machte sich daran, die Stadt auf eine Belagerung vorzubereiten, während er die Familien der hier lebenden Briten zuerst evakuierte. Über den Fluss natürlich. Er borgte dafür eines der Schiffe der Jagdmann-Reederei, einen der besseren Passagierdampfer, und sandte zuerst einmal die Frauen mit Bedeckung auf den Weg. Die österreichische Garnison hatte dann für dieses Schiff eine Gatling-gun für das Vorder- und zwei Maxim-Gewehre für das Achterdeck und einen Zug Infanterie abgestellt. Knapp vorher waren für Al-Chartūm alnimsawia aus Wien drei Kompanien als Verstärkung eingetroffen, denn natürlich war der Vormarsch des Mahdi auch in Wien bekannt geworden. Wir hatten also genug Leute, um eine Eskorte für den Transport stellen zu können. Nun, ebenso wie Gordon bereiteten auch wir uns natürlich auf ein längeres Einigeln vor. Aber anders als Gordon, der Furage aus der Umgebung beziehen musste und aufgrund mangelnder Versorgungslage mit jeder Patrone für seine Gewehre und jeder Kartusche für seine Kanonen knausern musste, erhielten wir regelmäßig Nachschub, das meiste per Schiff, aber einige Kleinigkeiten auch per Zeppelin. Es fehlte der österreichischen Garnison an nichts – außer an schweren, weitreichenden Geschützen. Rein prinzipiell hätten wir natürlich gerne mit Munition ausgeholfen, aber die Enfield-Gewehre, welche die Garnison drüben benutzte, hatten damals noch das Kaliber .35 Zoll, und unsere Mannlicher mit dem Geradezugverschluss .314. Außerdem waren unsere Patronen länger, es passte also hinten und vorne nicht. Die einzige Munition, die passte, war jene für die Revolver, und wir schafften einige Schachteln hinüber.

Das einzige, das Gordon leicht fiel, war seine neuerliche Ernennung zum Gouverneur des Sudan. Es wollte diesen Posten ja doch sonst niemand haben. Er war wieder überall und nirgends anzutreffen, kümmerte sich um jede Kleinigkeit. Nun, wie es auch sei, eines Tages kam eine offizielle Botschaft von Muhamad Ahmad an den Kommandanten der österreichischen Festung, damals Lieutenant Colonel Ludwig Graf Staubning. Der Mahdi versicherte uns Österreichern seiner Wertschätzung und dass er weder gegen die Festung noch gegen den weiteren Verbleib der österreichischen Garnison nördlich des blauen Niles Einwände hatte, solange wir nichts gegen seine Truppen unternahmen. Nun, wir sandten die Nachricht natürlich sofort nach Wien weiter, und der Graf begab sich nach Khartum, um mit Gordon Pascha über die Angelegenheit zu sprechen. Ich hatte die Ehre, den Kommandanten bei diesem Besuch begleiten zu dürfen. Die Antwort des Gouverneurs war kurz und bündig, er sah uns mit seinen stechenden Augen an, nickte kurz und sagte nur.

Well! Mind your own Business und mischt euch nicht in meinen Kampf. Wenn ihr helfen wollt, dann mit Schiffsraum.‘ Er wirkte irgendwie erleichtert, vielleicht weil er nun eine Sorge weniger hatte, obwohl wir ja nicht unter seiner Verantwortung standen.

Während Gordon Khartum weiter auf eine Belagerung vorbereitete, kam auch die MEMPHIS wieder zurück. Sie hatte die Frauen und Kinder problemlos bis Kairo gebracht, und Gordon begann mit der Auswahl für die nächste Fahrt. Aus allen Dörfern am Nil trafen jetzt Leute in Khartum ein, die den Sudan verlassen wollten. Auf der nächsten Reise der MEMPHIS Anfang 1884 war ich mit an Bord. Wir Offiziere hatten gelost, wer die Damen mit ihren Kindern begleiten sollte, und bei der zweiten Fahrt hatte es mich getroffen. Wir hatten auf dieser Reise auch einige britische Herren mit an Bord, zumeist ältere Männer, welche für einen Kampf Mann gegen Mann nicht mehr stark genug waren und schmalbrüstige Buchhaltertypen, welche nie dafür geeignet sein würden. Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch, diese Herren waren durchaus mutig und intelligente nette Männer. Nur mit einem Säbel in der Hand in oder um Khartum zu kämpfen – nein, das wäre wohl nicht gut ausgegangen. Gordon wusste schon, was er tat. Einer von ihnen, ein pensionierter Kavalleriemajor mit einem weißen Vollbart, um den ihn wahrscheinlich jeder Mann beneidet hätte, stand die ersten Stunden endlos am Heck der MEMPHIS und starrte zurück. Auch, als Khartum schon lange verschwunden war.

Wissen Sie, Captain, ich lasse das Grab meiner geliebten Saloumne zurück‘, hat er zu mir gesagt. ‚Ich habe ihr versprochen, sie nicht zu verlassen, und jetzt bin ich doch gegangen.‘

Sie wird es verstehen, Major.‘ Das glaubte ich wirklich. Major Woolman hat mich dann angesehen.

Vielleicht. Wie auch immer, Sir. Ich habe meine Jagdgewehre und die Munition Gouverneur Gordon zur Verfügung gestellt. Er hofft, dass London doch noch eine Armee entsendet, wenn er in Khartum bleibt, also wird er jedes Gewehr benötigen. Ich für meinen Teil habe nur meinen alten .44 Navy-Colt behalten, mit Pulverflasche und Kugelbeutel. Mag nicht viel sein, aber mein Revolver und ich stehen zu ihren Diensten.‘ Da habe ich nicht lang überlegt, sondern einfach genickt und salutiert.

Bitte folgen Sie mir, Major’, forderte ich ihn auf, dann sind wir zum Waffenschrank gegangen, und ich habe ihm aus der Reserve einen Mannlicher Karabiner mit kurzem Lauf und einem Munitionsgurt mit 10 Ladestreifen zu je 5 Schuss ausgehändigt. Dem alten Soldaten den Geradezugverschluss und das Einsetzen der Patronen in das Kastenmagazin zu erklären, hat keine Minute in Anspruch genommen.

Danke, Sir!‘ Mehr konnte er nicht sagen, aber in seinen Augen brannte wieder ein heller Funken.

Ich habe zu danken, Major’, antwortete ich ihm, und wir wurden so etwas wie Freunde. Soweit ein 68 Jahre alter Mann und ein 26-jähriger Jüngling Freunde sein können. Aber seine Erfahrung hat mir schon geholfen, später einige Schnitzer zu vermeiden.

Und dann gab es noch Lady Arboutnotton-Thorneywell. Alexandra Cornelia Arboutnotton-Thorneywell, Tochter des 14. Earl of Rockwater und verheiratet mit dem 16 Earl von Mollingou. Ach, der Name ist den Ladies und Gentlemen bekannt? Nun, damals, vor sieben Jahren, war sie Mitte der Vierzig und auf den ersten Blick eine durchaus aparte Erscheinung. Ihr Mann war den weißen Nil hinauf gereist, um dort eine von ihm gekaufte Goldmine zu inspizieren und hatte sie in Khartum zurück gelassen. Acht Jahre vorher, seitdem hat man nichts mehr von ihm gehört. Lady Alexandra hat einige Männer mit Nachforschungen beauftragt, aber die haben nur herausgefunden, dass er mit einigen Männern aufgebrochen war. In der Mine, um die es ziemlich gut stand und der Lady recht gute Gewinne brachte, ist er nie angekommen. Allmählich hatte sie sich damit abgefunden, eine Witwe zu sein, eine letzte Hoffnung hatte sie aber bis jetzt in Khartum fest gehalten. Dem Befehl Gordons war sie nur widerwillig nachgekommen, sie wäre lieber geblieben. Und die Lady hatte Haare auf den Zähnen. Ich sehe sie noch vor mir, in dem hellbraunen Kleid mit dem Cul de Paris, wie man damals die Turnüre nannte. Also, das Kissen über dem Allerwertesten. Dazu das Schnürmieder, der riesige Hut und der Sonnenschirm.

Captain‘, hatte sie mich gleich am ersten Tag angesprochen. ‚Ich wünsche um halb nach drei Uhr einen Spaziergang einige Male rund um das Deck zu unternehmen, etwa eine Stunde, und dann um fünf meinen Tee zu trinken. Sie werden die Güte haben, einen Steward für meine Gäste und mich zu meiner Verfügung zu halten.‘ Ich musste widersprechen.

Ma’am, das geht leider so nicht‘, habe ich geantwortet. ‚Ich bitte Sie, ihren Spaziergang dann zu halten, wenn keine Gefahr besteht! Der Steward wird selbstverständlich ab fünf vor fünf im Salon für die Damen bereit stehen!‘

Schnickschnack!‘, winkte sie ab. ‚Wozu haben Sie denn sonst die zwei Schichten schwere Bohlen und die Sandsäcke an der Reling montiert?‘ Ich musste kurz Luft holen, bevor ich antwortete.

Sie sind nicht hoch genug, um einer aufrecht gehenden oder stehenden Person Schutz zu gewähren, Lady Alexandra. Bitte blicken Sie dort hin, diese Schornsteine sind nur noch Attrappen, ganz oben haben wir Krähennester für Beobachter eingerichtet. Solange diese Männer keine Gefahr erkennen, ist selbstverständlich nichts gegen einen Spaziergang auf Deck einzuwenden. Sollte aber einer der Posten in den Krähennestern mit drei kurzen Tönen die Dampfpfeife betätigen, bitte ich Sie und alle anderen Passagiere, möglichst rasch eine Deckung aufzusuchen. Vorzugsweise im Inneren des Schiffes.‘ Da hat mich die Dame ganz lange angesehen und dann genickt.

Einverstanden, Captain. Wenn Sie mir eines dieser Krähennester zeigen.‘ Eine starke, selbstständige Frau, mit der man gut sprechen konnte.

Ich möchte auch noch ganz kurz über eine dritte Person sprechen, bitte haben Geduld. Es geht um Corporal Hannes Sommer. Der Corporal wurde in einem kleinen Dorf westlich von Wien geboren, in einer Gegend, wo die Menschen von Getreideanbau, Milchwirtschaft und Schweinezucht lebten. Dort in diesem Ort mit etwa 40 Einwohnern gab es keine eigene Schule, und der Knabe musste über eine Stunde zu Fuß zur Schule gehen und eben so lange natürlich wieder zurück. Außer in Zeiten, wo seine Hilfe auf dem Bauernhof seiner Eltern benötigt wurde, also so gut wie immer, außer im Winter. Seine Schulkameraden hatten es nicht besser, und der Lehrer kannte es auch nicht anders. Immerhin lernten die Kinder halbwegs lesen, schreiben und rechnen. Sein älterer Bruder sollte einmal den Hof übernehmen, und für den Jüngeren war kein Erbe zu erwarten. Also beschloss er eines Tages, Soldat zu werden. Es war kein Problem, des Kaisers bunten Rock an zu ziehen, und er war gut genug, um zwei Mal befördert zu werden. Nach der Ausbildung wurde er hierhin und dahin versetzt und landete schließlich im Al-Chartūm alnimsawia. Hannes Sommer erwartete nicht viel vom Leben, er war glücklich über drei sichere Mahlzeiten am Tag, eine Unterkunft, Kleidung und Wäsche, dazu ein wenig Taschengeld für Tabak, ab und zu ein Bier und sonstige Kleinigkeiten. In den letzten Monaten lernte er für eine Prüfung, um Unteroffizier werden zu können. Er hatte sich in die Tochter eines Master Sergeant verliebt, und dieser hatte ihm klar gemacht, dass er ohne diese Prüfung zumindest versucht zu haben, keine Gnade vor seinen Augen fände. Sonst lässt sich über den Corporal nicht mehr viel sagen, er war ein absolut durchschnittlicher und unauffälliger Mann.

Nun, wir dampften also den Nil abwärts nach Norden, und ich fragte mich, warum Gouverneur Gordon eigentlich kein Luftschiff für den Transport der Zivilisten angefordert hatte. Es wäre sehr viel schneller und effizienter gewesen. Aber wahrscheinlich misstraute der alte Fuchs diesen neumodischen Dingern. Wenn es um neue Waffenkonstruktionen ging, forderte er diese sofort für seine Soldaten an, aber sonst war Technik, also technischer Fortschritt, für ihn ein Gräuel. Ich glaube, am liebsten wäre er von London bis Khartum gesegelt und hätte auf Dampfkraft verzichtet. Aber es eilte, und so hat er eben für seine Person den Luftweg gewählt. Aber für die Evakuierung verließ er sich dann doch wieder auf die Schiffe, und Graf Staubning schien diese Einstellung zu teilen. Die Fahrt verlief einige Tage eigentlich recht ereignislos. Als einziges unterbrach etwa 48 Meilen nördlich von Khartum ein Berg die Wüste, und der Nil hatte sich sein Bett quer durch diesen Fels gegraben. Es war ein erhabenes Gefühl, mit dem Schiff durch diese Schlucht zu fahren, aber das hinderte mich nicht, erhöhte Alarmbereitschaft anzuordnen. Wenn es eine Bande Freischärler auf das Leben einiger Weißer abgesehen hatte, war hier ein idealer Punkt. Aber es blieb alles ruhig, zumindest an diesem Tag. Es kehrte allmählich eine gewisse Routine im Bordleben ein. Ich diskutierte ein wenig mit Major Woolman und spielte zwei oder drei Partien Schach gegen ihn. Nachmittags lud mich manchmal Lady Alexandra ein, sie auf ihrem Spaziergang zu begleiten, es war eine Ehre und ein Vergnügen für mich jungen Offizier. Natürlich brachte ich meine Passagiere in Deckung, wenn wir uns einer Ortschaft näherten oder einige Reiter zu sehen waren. Manche von denen beschossen aus ihren Gewehren die MEMPHIS, aber das blieb immer ohne größere Folgen.

Etwa nach einer Woche erreichten wir einen der Katarakte, wo sich bei hohem Wasserstand der Nil in mehrere Arme teilt und größere, nicht ganz flache Inseln bildet, welche auch noch mit Bäumen und Buschwerk bewachsen sind. Bekannt geworden sind von Süd nach Nord die Inseln Doli, Dakhasa und Meinarti, welche das ganze Jahr als Inseln existieren. Gleichzeitig schiebt sich am Ostufer, also rechter Hand, ein niedriger Höhenzug bis an den Fluss. Wie gesagt, kein berühmtes Gebirge, aber hoch genug, um von unseren Ausgucken nicht überblickt werden zu können. Grund genug für mich, alle Posten besetzen zu lassen. Knapp nach diesen Inseln macht der Strom einen ziemlich scharfen Knick nach rechts, und da erwarteten sie uns auch. Zwei einmastige Feluken und zwei zweimastige lagen vor uns und zeigten uns ihre Breitseite. Die drei Signale von der Dampfpfeife hätte es gar nicht gebraucht, jeder im vorderen Teil des Schiffes sah unser Problem. Und wenn es noch Zweifel gegeben hätte, der Kugelhagel von den Schiffen herüber hätte ihn ausgeräumt. Vorne, bei der zwei Zentimeter, Entschuldigung, der .787 Revolverkanone führte ein altgedienter Unteroffizier das Kommando. Der Rang entspräche wohl ihrem Warrant Officer 2nd Class. Noch bevor ich ihm die Feuererlaubnis signalisiert hatte, hatte er seine Waffe bereits ausgerichtet, und er muss nur Sekundenbruchteile nach meinem Signal den Abzug betätigt haben. Vor 5 Jahren hatten wir noch keine Hohlladungsgranaten für die .7-87er. Aber Sprengbrand. Und Feluken kann man nicht unbedingt als Schiffe mit starker Wandung bezeichnen. Kurz gesagt, die Revolverkanone machte Kleinholz aus den Booten, das man dort, wo es angeschwemmt wurde, nur noch zum Feuer machen benutzen konnte. Es gab einige Überlebende, aber die drei Infanteristen im Bug machten kurzen Prozess, wenn sie der MEMPHIS zu nahe kommen wollten. Auf den Unteroffizier Nagy aus Székesfehérvár konnte ich mich verlassen.

Hinter uns waren einige leichte Dahabijes und kleinere Feluken, welche hinter den Inseln hervor gekommen waren. Kleine, schmale Boote, welche sich mit der Strömung treiben ließen. Wir hatten während der Stromschnellen die Schrauben rückwärts laufen lassen, denn auch die Schaufelräder für den Antrieb waren mit der Umrüstung auf Steampowder-Kessel ausgebaut und durch Schiffsschrauben ersetzt worden. Nur an der Seite gab es sie noch, erstens wegen der Optik und zweitens halfen sie manchmal noch immer bei der Steuerung. Ja, also, unser Antrieb lief rückwärts, und diese Boote kamen ungebremst immer näher. Und während die schweren Granaten der .787 die Bootsrümpfe einfach zerfetzte, schlugen die wesentlich kleineren .30er Kugeln der Maxims kaum durch den Aufbau. Die sieben Infanteristen und Major Woolman schossen gezielt auf die Steuerleute, aber allmählich kamen doch einige Boote gefährlich nahe. Die Maxims konzentrierten sich auf die offenen Boote, ähnlich unseren Marinekuttern, aber schnittiger gebaut, die zwar am schnellsten näher kamen, aber deren Insassen keine Deckung hatten. Es entwickelte sich ein veritables Feuergefecht, denn die Aufständischen hatten auch keine alten Vorderladerflinten mehr, sondern ziemlich moderne Repetiergewehre. Nicht einheitlich, aber den gefundenen Projektilen nach französische, britische, deutsche und, ja, auch österreichische Waffen. Daher kann man auch nicht von überlegener Reichweite sprechen. Unser einziger Vorteil waren die Maxims, und zwar gedeckte Varianten. Also, mit angeflanschten Schutzblechen, die dem Schützen ein wenig Deckung versprachen. Das – und natürlich eine starke Dampfmaschine.

Ich habe mein Gewehr von Mannlicher bei der Hand gehabt und den Kapitän gefragt.

Geht es sich aus, dass wir drehen, ohne zu viel Vorsprung zu verlieren?‘ Der Kapitän von der MEMPHIS hat ganz kurz überlegt, dann hat er zum Rudergänger hinüber gerufen.

Backbordrad volle Kraft voraus, Steuerbordrad volle Kraft zurück!‘, und der hat ganz ruhig geantwortet.

Backbord voll voraus, Steuerbord voll zurück!‘ Also ist der Bug nach rechts gewandert, und der Nagy hat sofort verstanden, was los ist und hat unsere Verfolger mit seiner Gatling unter Beschuss genommen. Wie gehabt, Kleinholz ist den Nil hinunter geschwommen, und die Aufständischen haben sich an das Ufer gerettet. Als das Gefecht vorbei war, hat man mich zum Heck gerufen. Es gab einige Blessuren, welche die Lady Alexandra bereits versorgt hatte, als ich ankam. Sie ist, noch während die Kugeln gewechselt wurden, hinaus gerannt und hat sich um Verwundete gekümmert, dass die weiter kämpfen konnten. Und als ihr eine Kugel den Hut vom Kopf riss, hat sie nur ein Wort gerufen. Ich weiß nicht, welches, niemand wollte es mir verraten. Hannes Sommer wurde während des Gefechtes von einem Querschläger in den Rücken getroffen, Major Woolman zog den Corporal zurück und nahm dessen Stelle ein, während Lady Alexandra versuchte, auch ihm erste Hilfe zu leisten. Ein hoffnungsloses Unterfangen, seine Gedärme lagen frei und waren stark zerrissen. Doktor Walser, unser Schiffsarzt hatte ihm eine hohe Dosis Schmermittel und ein starkes Schlafmittel injiziert, der Junge war mit dem Kopf auf Lady Alexandras Schoß eingeschlafen.

Ein hoffnungsloser Fall.’ Walser hat traurig den Kopf geschüttelt. ‚Der arme Junge, aber er wird seine Wunde nicht überleben. Wir können ihm nur noch einen schmerzloses Tod schenken.‘ Was soll ich ihnen erzählen? Ich stand das erste Mal vor einer solchen Entscheidung, und ich war der einzige, der sie treffen konnte. Mein Blick wanderte über die Wüste auf der einen und die Berge auf der anderen Seite des Nils. Ich sah, wie Lady Alexandra ein leises Nicken anzudeuten schien, war mir aber nicht sicher und bin es heute noch nicht. Aber egal, es war ohnehin meine Entscheidung. Meine Verantwortung ganz allein. Ich – atmete einmal tief durch.

Tun Sie es, Doktor!‘ Walser hat nur genickt, er nahm eine Flasche aus seiner Tasche und zog eine dritte Injektion auf.“

Rudolph Carl von Slatin rieb sich über das Gesicht. „Jetzt brauche ich doch noch einen Whisky.“ Er wechselte kurz ins Deutsche. „Keine Sorge, Wilhelm, es wird der letzte für heute.“ Dann sprach er wieder auf Englisch weiter. „Also, Major Stone? Wie gefällt ihnen das Heldentum jetzt? Nun, auf jeden Fall brachten wir das Schiff und die Passagiere heil nach Kairo, dann wurde auf Gezira die MEMPHIS wieder aufpoliert, ehe sie zurück fuhr. Jetzt mit vier von den .787 Geschützen, zwei zum Bug und zwei zum Heck. Damit haben wir uns dann nach Khartum zurück gekämpft. Vielleicht hatte ja Mohammad Ahmad nichts gegen einige österreichische Stationen im Sudan, aber einige seiner Anhänger hatten definitiv etwas gegen unsere Fahrten. Im Frühjahr 1884 wurde noch eine Schiffsladung Zivilisten nach Kairo verschifft, dieses Mal traf das Los als begleitenden meinen direkten Vorgesetzten, Major Szilágy. Er – kam nie zurück, und so beförderte mich Graf Staubning als den dienstälteren von uns beiden Oberleutnanten zum Major und Kommandanten der zwei Kompanien Motorgeschütze. 26 Jahre alt und schon Major, das hatte ich nicht erwartet, als ich mich in der Theresianischen Militärakademie zur Ausbildung gemeldet hatte. Insgesamt war es gelungen, 2.500 Personen, in erster Linie britische Frauen, Kinder, Kranke, Alte und Schwache zu evakuieren. Und trotzdem gab es immer noch jede Menge ägyptische und sudanesische Frauen und Kinder in Khartum, welche wir noch versuchten, in Sicherheit zu bringen, als im Sommer der Mahdi mit seiner Armee eintraf. Der erste Sturm der Rebellen auf die Tore an der Südmauer, der einzige Zugang vom Land aus, wurde zu einem Gemetzel. Gordon hatte, wie schon erwähnt, die alten Bronzekanonen auf die Bastionen gestellt und mit Kartätschen laden lassen. Kamelreiter gegen moderne Schnellfeuerkanonen und Kartätschen – es war ein Blutbad. Am Ende des Tages lagen hunderte toter Menschen und Kamele vor den Toren. In der Stadt gab es noch ungebrauchte Salzvorräte, also schickte Gordon Männer vor die Tore, welche noch Fleisch von den am nähest liegenden Kamelen besorgen und einpökeln sollten. Er hoffte immer noch auf eine Rettungsmission aus England. Auf ein Entsatzheer. Auch jetzt noch, er wollte und konnte einfach nicht glauben, dass Gladstone ihn im Stich ließ.

Es war für uns nicht leicht, einfach untätig zu bleiben. Aber aus Wien war der Befehl gekommen, sich nicht in die Kämpfe einzumischen und Ruhe zu bewahren, Großbritannien hatte sich jede Einmischung verbeten, also sahen wir wirklich nur zu. Mussten wir zusehen. Nun, es ging uns ja wirklich nichts an, es war nicht unser Kampf. Und wären in dem Fort nur Soldaten gewesen, oder wären die Truppen des Mahdi weniger fanatisch gewesen, wäre es uns auch sicher leichter gefallen. Abgesehen davon, dass viele unserer sudanesischen Arbeitskräfte natürlich noch Verwandte oder Freunde in Khartum hatten. Das weitere ist soweit wohl bekannt? Die Araber bezogen ihr Lager rund um Khartum, und der Mahdi selbst auf der anderen Seite des Nils, gerade außerhalb der effektiven Schussweite der britischen Kanonen. Mohammad Ahmad selbst war kein ungebildeter Mann, müssen Sie wissen. Und der Grund für den Aufstand ist ebenfalls nicht von der Hand zu weisen. Er war der Meinung, dass der Anbau von Lebensmitteln für das Volk besser war als die Produktion von Baumwolle, und das ist verständlich. Aber sein Verständnis zur Sklaverei und sein religiöser Fanatismus, seine Methoden des blanken Terrors jedem gegenüber, der nicht auf seiner Seite stand, disqualifizierten den Aufstand. Ja, es ist richtig, ich kann kein Omelette herstellen, ohne ein paar Eier zu zerbrechen. Aber ich werde jetzt lieber nicht ausführlich berichten, wie das Schicksal gefangener Sudanesen aussah. Noch schlimmer erging es den Frauen, und wenn ihre Männer auch noch für Britannien gearbeitet hatten – wenn ich all das berichten wollte, bräuchte ich die ganze Flasche. Außerdem sind hier Damen anwesend. Vielleicht nur so viel – die Nederlands-Belgische Congo Samenleving ist bei aller Brutalität und Grausamkeit den dunkelhäutigen Africanern gegenüber weniger schlimm als Teile dieser Horde.

Im Dezember `84 war ich gerade bei Lieutenant Colonel Ludwig Graf Staubning zum Rapport, da greift er sich plötzlich an die Brust und ringt nach Atem. Ich habe sofort den Sanitätsoffizier verständigt, der ihn dann in die Krankenabteilung hat bringen lassen. Des letzte, was er noch gesagt hat, war ‚Slatin, übernehmen Sie bis auf Weiteres!‘. Zwei Tage später war er tot, und ich als blutjunger Major Kommandant der Festung Al-Chartūm alnimsawia. Nun, ich habe das ganze natürlich sofort nach Kairo und Wien gemeldet, von dort kam aber vorerst nur die Bestätigung meines derzeitigen Kommandos. Also habe ich erst einmal weiter gemacht und nach Möglichkeit noch ein paar Frauen und Kinder evakuiert, jetzt mit dem Luftschiff aus Kairo, das alle drei Wochen gekommen ist. Am 25.1.85 hat die GOSAU am Mast angelegt, und wie immer haben wir sie sofort mit allem Nötigen versorgt. Mit an Bord war Colonel Wenzel Kratochvil, er sollte am 26.1. das Kommando übernehmen. Am Morgen war der Fluss weiß von Booten, und da war klar, das wird der letzte Angriff. Da bin ich in die GOSAU gestiegen und habe befohlen, so viele Frauen wie möglich aus der Stadt zu retten. 150 Personen haben wir noch retten können, bevor die Aufständischen die Verteidigung überrannt haben. Ganz zum Schluss kam noch Major Naght gelaufen und warf mir ein Päckchen zu.

Die Flagge Britanniens, Sir! Ab nun kämpft Khartum unter der Fahne Gordon Paschas‘, wies er zum Gouverneurspalast, und wirklich, über dem Gebäude wehte an den Ärmeln befestigt ein schwarzer Uniformrock Gordons. Ich hielt dem Major meine Hand entgegen, aber er schüttelte sie nur kurz, dann lief er wieder davon. Zur Hafenmauer, wo er dann auch starb. Als mutiger Kämpfer, mit dem Säbel in der Hand und von sechs Kugeln verwundet, ehe ein Mahdist ihm eine Lanze in den Bauch rammte und ihm dann die Kehle durchschnitt, wie man später hörte. Als die GOSAU aufstieg, sah ich Charles George Gordon auf der südlichen Westbastion, von wo er sowohl das Landtor im Süden als auch das Hafentor im Westen im Blick und im Schussfeld hatte. Ich bin sicher, dort ist er auch gestorben. Mit eiskaltem Blut dem Feind ins Auge blickend, kämpfend bis zur letzten Patrone und dem letzten Blutstropfen. Der Mann hätte sich nie in sein Schicksal ergeben, niemals. Als ihm einmal ein Abgesandter des Mahdis sagte, dass das Schicksal eines jeden Menschen bereits geschrieben stände, sagte

Es ist gar nichts geschrieben, junger Mann. Solange nicht, bis ich es selber schreiben!‘. Also – vielleicht hat man ihn im Gouverneurspalast enthauptet, aber gestorben – gestorben ist er auf der Bastion. Mit einer Waffe in der Faust und einem stattlichen Gefolge für das Jenseits.

Nachher hat mich Kratochvil gleich mit der GOSAU nach Kairo geschickt und versucht, meinen Flug dem Mahdi als Alleingang zu verkaufen. Was es ja auch wirklich war. Eigentlich habe ich erwartet, meine Sterne ganz schnell wieder los zu werden, aber die internationale Presse hat Wind von der Sache bekommen und war auf der Suche nach irgend einem Helden, damit die Bevölkerung keinen Aufstand macht. Da hat sich für die englischen Blätter die Rettung der Fahne natürlich angeboten. Der Khedive hat mich zum Pascha ausgerufen, warum auch immer, und da haben die Herren Politiker in England eben säuerlich gelächelt und mich auch als Helden gefeiert. In Österreich hat man mich zum Lieutenant Colonel befördert und zum Kommandant der Burstyn-Kaserne gemacht. Da war ich ganz bestimmt der jüngste Garnisonsbefehlshaber in der österreichischen Geschichte. Horatio Kitchener hatte in der Zwischenzeit doch noch den Befehl erhalten, Khartum und vor allem Gordon zu retten, und wenn er ihn mit Gewalt nach England schleifen musste. Er, und noch viel mehr die britische Regierung haben die Rettung Gordons verbummelt. In Kairo waren genug von den Flusskanonenbooten der Gizehklasse, zehn davon hätten gereicht. Dazu noch fünf oder sechs Passagierschiffe, und Khartum wäre vollständig evakuiert gewesen. Mohammad Ahmad war, wie schon erwähnt, nicht dumm. Er hätte keinen Finger gerührt und danach die leere Stadt kampflos in Besitz genommen, und es hätte keinen Österreicher gebraucht, die Flagge in Sicherheit zu bringen. Nun ja, die Expedition vom Kitchener wäre zwei Tage zu spät gekommen, und als er die Nachricht von seinen Spähern bekam, ist er umgekehrt. Nicht ganz unverständlich, denke ich.“ Slatin schwieg und zündete seine mittlerweile verloschene Zigarre wieder an.

Colonel Holeman erhob sich und nahm sein Glas. „Meiner Meinung nach haben Sie alles richtig gemacht, Colonel Slatin. Ich trinke auf ihr Wohl.“

Ich auch“, bemerkte Maria Sophia von Österreich. „Gut gemacht, Slatin!“

Und, haben Sie sich auch ein Loch in der Uniform eingefangen?“, wollte es Major Stone genau wissen.

Aber ja, genau hier!“ Slatin wies auf seinen linken Rippenbogen. „Ein halber Zoll weiter links, und Kapitän Stepanič hätte die Entscheidung bezüglich des Corporal Hannes Sommer fällen müssen. Wahrscheinlich wären wir, also der Corporal und ich, gemeinsam im Nil gelandet.“ Nun trank Slatin den letzten Schluck seines Whiskys und erhob sich. „So, Ladies und Gentlemen, das war meine Geschichte. Und jetzt bitte ich, mich zu entschuldigen. Gute Nacht.“

Kann ich Sie noch für einen Spaziergang an Deck begeistern?“, fragte Imogen Harris hoffnungsvoll.

Das halte ich für keine gute Idee, Miss Imogen. Nicht heute, bitte verzeihen Sie mir.“ Damit entfernte sich der große Mann aus dem Salon

Paris

Der kleine Mann mit dem beträchtlichen Bart starrte auf die vom Gaslicht flackernd beleuchtete Bühne, wo zwanzig Tänzerinnen ihre Röcke bis an die Brust hoben und die praktisch nackten Beine in den Knöpfchenstiefeln zum Can Can von Jaques Offenbach durch die Luft wirbelten. Sein Bleistift flog über den Skizzenblock und brachte einige Studien zu Papier, welche mit wenigen einfachen Strichen die Freude und die Erotik des Tanzes zum Ausdruck brachten.

Oh, Monsieur Toulouse-Lautrec! Wie ich sehe, sind Sie wieder einmal fleißig!“

Das nennt man das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, Monsieur Offenbach. Vor allem, wenn es derart eingängige Melodien sind!“

Oh, danke. Vielen Dank, mein Freund. Man tut, was man kann. Darf ich mich setzen, es ist ja schon sehr voll hier!“

Der Maler erhob sich kurz und wies auf einen Stuhl. „Oh, entschuldigen Sie, guter Freund, selbstverständlich sind Sie mir willkommen. Bitte, nehmen Sie doch Platz!“

Danke, Monsieur. Hübsche Mädels heute Abend! Woran arbeiten Sie gerade?“

An einer Reklame für Zigaretten.“

Oh!“ Jaques Offenbach winkte einem Ober. „Entschuldigen Sie bitte, Monsieur Toulouse-Lautrec!“

Nichts zu entschuldigen, mein Lieber. Von irgend etwas muss der Mensch doch leben und seine Rechnungen bezahlen! Es ist nur schade, dass dieses Gaslicht nicht heller ist und ständig flackert!“

Der Komponist schob sein Weinglas auf dem Tisch herum. „In Wien und Berlin beleuchten sie sogar ihre Bühnen schon seit einiger Zeit elektrisch“, erklärte Jaques Offenbach seinem Freund. „Viel Licht und überhaupt kein Flackern mehr. Nur noch in den Séparées, wo die Herren die Damen zum romantischen Tete a Tete treffen, werden Kerzen verwendet. Wegen der Stimmung!“

Toulouse-Lautrec warf seinen Bleistift auf den Tisch. „Und ich verderbe mir hier die Augen. Merde!“, schimpfte er. „Nun, die Armee und die Flotte haben ja ihre Scheinwerfer, aber selbst in Paris gibt es nicht einmal ordentliche elektrische Straßenbeleuchtung.“

Offenbach nippte an seinem Rotweinglas. „Überall in Europa gibt es schon Stadtbahnen oder Dampfbusse, in Paris kann man die Dampfdroschken an den Fingern einer Hand abzählen. Nur das Heer, das Heer, das Heer, das bekommt alles Neue! Will unser Kaiser Napoleon, der vierte der Dynastie, etwa wieder einen Krieg, vielleicht mit Italien oder Spanien anzetteln?“

Hoffentlich nicht mit den Boches!“ stöhnte der Maler. „Dann haben wir auch noch die Österreicher am Hals, auch wenn unser Kaiser ein halber von denen ist. Deutschland lassen die nicht so schnell im Stich. Hallo, mein junger Freund! Edgar, das hier ist Monsieur Jaques Offenbach, Monsieur Offenbach, ein junges Talent, Edgar Degas! Wen hast du uns denn mitgebracht?“

Ach, wenn ich vorstellen darf, Monsieur Gaston Leroux!“

Offenbach musterte den Jüngling. „Leroux? Sie sind als Kriminaljournalist für einige Zeitungen tätig?“

Aber ja, Monsieur. Aber meine große Liebe gehört der Novelle. So wie Edgar Allen Poe!“ Der Mann fühlte sich geschmeichelt, dem Komponisten, der bereits sehr berühmt war, bekannt zu sein.

Und, schwebt ihnen schon etwas vor?“ fragte Henri Toulouse-Lautrec. „Ein schrecklicher Fall in der Opera Populaire, der Leuchter stürzt herab, ein bösartiges Monster treibt sein Unwesen. So in etwa!“

Das klingt interessant!“ bemerkte Offenbach. „Darauf freue ich mich schon. Wie soll denn das Werk heißen?“

Voraussichtlich ‚Das schreckliche Phantom in der Opera Populaire‘!“

Zu lange, junger Freund!“ Ein bärtiger, wohlbeleibter Mann und eine Dame mit herben Gesichtszügen waren zu der Runde gestoßen, der Mann hatte diese Bemerkung gemacht.

Wie würden Sie es denn nennen, Monsieur Zola?“ Der Autor schien wirklich an der Meinung des älteren Schreibers interessiert zu sein.

Kurz, bündig und einfach. Vielleicht ‚Das Phantom der Oper‘. Unter Umständen kann man es ja sogar als Bühnenstück adaptieren!“

So wie ihre Therese Raquin?“ Offenbach strich sich über das Kinn. „Ich überlege, ob ich nicht eine Operette daraus machen könnte. Aber es ist ein so tragischer Stoff, da wäre eher eine richtige Oper angebracht. Aber – das wäre nicht mein Metier!“

Aber Monsieur Jaques! Sie schreiben doch so herrliche Musik“, mischte sich Alexandrine Zola ein.

Danke, Madame Alexandrine. Aber es ist eben trotzdem leichte Musik, kein Verdi oder Rossini!“

Na, wenn das nicht der ehrenwehrte Toulouse-Lautrec ist!“

Paul Cezanne! Sie sind also wieder einmal in Paris?“

Der Neuankömmling legte Stock und Hut ab. „Aber ja! Und bin natürlich sofort hierher in das Moulin Rouge gegangen. Was wäre Paris ohne dieses Lokal?“

Natürlich!“ Zola nahm ein Schlückchen Rotwein und genoss das reiche Bouquet. „Hat eigentlich jemand schon von diesem neuesten spiritistischen Zirkel gehört? Printemps doré?“

Nie gehört. Was soll dieser ‚Goldene Frühling‘ eigentlich sein?“ Henri Toulouse-Lautrec brachte seinen Skizzenblock vorsichtshalber einmal in Sicherheit.

Zum Teil gelangweilte adelige Damen, zum anderen unglückliche Frauen und Männer aller Stände und Schichten. Die einen suchen dort Zerstreuung, die anderen Trost. Es soll während der Abendsitzungen sehr egalitär zugehen!“ Leroux schloss überlegend die Augen. „Madame Roxane Solange de Beauvoise und die Marquise de Ploutec gehen, habe ich gehört, auch dorthin. Man erzählt sich, dass ihr Mann, der Marquis, nur noch einmal alle drei, vier Monate über sie kommt, und sie zwischendurch Trost bei einem der Bediensteten der Leiterin des Zirkels erfährt, einem Monsieur Enormbité – ja, bitte nicht lachen, er soll tatsächlich so heißen, und das auch durchaus zu recht. Und Ausdauer soll dem Vernehmen nach er auch noch beweisen. Auf jeden Fall ist die Leiterin des Zirkels eine Mademoiselle Madeleine du Cartaille. Von der niemand weiß, woher sie kommt, außer dass sie eine wirkliche Schönheit sein soll. Aus der Gascogne vielleicht, sie wirkt schon ein klein wenig spanisch, habe ich gehört!“

Aber Gaston!“ Jaques Offenbach musterte den Mann verwundert. „Wie gut Sie Bescheid wissen!“

Ich soll einen Artikel darüber für ‚le Monde‘ schreiben und habe ein wenig recherchiert. Hoffentlich muss ich nicht auch noch zu einer solchen Seance gehen!“

=◇=

Die hübsche, wenn auch nicht mehr ganz junge Frau mit dem tiefen, gut gefüllten Dekolleté lag malerisch auf einem Diwan und lauschte vorerst dem Dialog der beiden Herren, eindeutig Vater und Sohn.

François, wir brauchen endlich un grand succès. Das Volk wird immer unzufriedener, wir müssen es uns wieder gewogen machen. Unsere Regierung wankt!“

Das ist mir bewusst, mon Père. Aber wie wollen wir das anstellen? Im Moment können wir unsere Grenzen auf niemandes Kosten erweitern, es sei denn, in Africa oder vielleicht noch im Pazifik!“ Der jüngere schritt mit langen Schritten im Raum vor dem Schreibtisch seines Vaters, Napoleon IV auf und ab.

Wir Franzosen haben schon genug Überseekolonien!“ warf die Frau ein. „In Africa sind unsere Besitzungen riesig, bestehen aber zum größten Teil aus Sand. Nein, es wird Zeit, dass Frankreich auch wieder in Europa la grande Nation wird, wie wir es früher waren! Wie es unsere Heimat unter dem Aigle Napoleon Bonaparte gewesen ist!“

Leicht gesagt, mon Amour!“ Charles Josef Napoleon Bonaparte IV lehnte sich zurück. „Damals hatte Frankreich ein großes und modernes Heer gegen ein halb zerstrittenes und von inneren Streitigkeiten zerfressenes Europa. Vor allem einige Länder im Norden wie Belgien und die Niederlande, auch Dänemark waren eines nach dem anderen eine leichte Beute. Und der Süden war noch leichter, Spanien, Portugal, Italien. Aber heute? Belgien und die Niederlande haben sich zu einem starken Bund zusammen geschlossen, Skandinavien und Dänemark sind ein Reich geworden, die kleineren Fürstentümer sind entweder im deutschen Kaiserreich oder in den Donaumonarchien aufgegangen. Und wenn diese Reiche wenigstens untereinander zerstritten wären, aber nein, sie sind jetzt auch noch ganz dicke Verbündete. Besonders die Boches und die Österreicher. Und in Italien haben sich die einzelnen Stadtstaaten auch zu einem Reich verbunden und obendrein ein Verteidigungsbündnis mit Portugal und Spanien abgeschlossen.“

Roxane Solange, die Frau des französischen Kaisers, nippte geziert an ihrem Sektkelch. „Tu felix Austria, nube! Ein alter Spruch, also sollte sich Frankreich vielleicht dieses Mal auch daran halten und ein Stück Österreich erheiraten! Maria Sophia ist noch ledig.“

Nein!“ lehnte François Louis kategorisch ab. „Diese femme mordante, diese émanze, nein, niemals! Lass dich doch scheiden und mon Père…“

Garçon stupide!“ unterbrach Roxane ihren Sohn. „Weder Néné noch Sophie würden Frankreich Land bringen, so viele Männer könnten gar nicht sterben. Aber wenn du, mon fils, die Prinzessin Maria Sophia von Österreich heiratest, müssen nur noch der Thronfolger Franz Rudolph und vielleicht noch die Regentin sterben. Das geht nicht so schwer, und der Ehemann von Maria Sophia Ludovika wird Kaiser der Vereinigten Donaumonarchien. Du wirst sie eben zu zähmen wissen müssen! Wenn du zu diesem Weib gehst, darfst du natürlich die Peitsche nicht vergessen!“

Das hat dieser Boche Nietzsche so nie gesagt, ma mère!“

Nein, ICH sage DIR das!“

Vielleicht sollte ich einmal in den Stallungen nachsehen, wo meine Gerte ist”, bemerkte der französische Kaiser lächelnd. „Wenn ich gewusst hätte, dass es meiner Roxane danach gelüstet, einige Striemen auf den Bout…“

Tais toi”, fuhr sie ihrem Mann über den Mund. „Sorge lieber dafür, dass FRANKREICH wieder groß wird! Ich muss direkt noch einmal mit Madeleine du Cartaille über eine solche Ehe sprechen.“

=◇=

Alexandria

Der große Alexander hätte die Stadt, welche er in Auftrag gegeben hatte und bis heute seinen Namen trug, nicht mehr erkannt. Groß sollte sein Hafen am Mittelmeer werden, nach mathematisch genau ausgearbeiteten Einteilungen. Breite Hauptverkehrsstraßen sollten die Stadt in Quadrate aufteilen, diese von weniger breiten Straßen in kleinere unterteilt werden. Auch die kleinen Gassen sollten dann parallel zu den großen Straßen verlaufen und so die gesamte Stadt durchziehen. Unter Ptolemäus II wurde die Stadt genau so fertig gestellt und war lange Zeit Sitz der ägyptischen Könige mit griechischer Abstammung. Bis Kleopatra. Dann wurde Alexandria römisch, überstand aber unverändert noch beinahe vierhundert Jahre. Auch wenn Teile nach einigen Kriegen immer wieder neu aufgebaut werden mussten. Der große Niedergang begann 365 mit einem fürchterlichen Tsunami, ausgelöst von einem Seebeben vor Kreta. Die Küstenlinien waren danach ganz anders, große Teile der damals immer noch modernsten Stadt waren im Mittelmeer versunken. Die Renovierungen der übrig gebliebenen Gebäude kamen nur schleppend in Gang, Rom hatte ganz andere Sorgen. 619 setzten die Sassaniden und später die Araber dem Wiederaufbau ganz ein Ende und bauten eine muslimische Festung aus den Trümmern der Stadt. Auch die Osmanen, welche die Araber ablösten, zeigten kein Interesse an diesem Hafen, sie konzentrierten sich eher auf Rosette, das an einem der größten und wichtigsten Mündungsarme des Nils in das Mittelmeer lag. Die einst blühende Stadt verfiel und glich eher einem Fischerdorf zwischen den Ruinen einstiger Größe. Am Ende des 18. und zum Beginn des 19. Jahrhunderts kamen die Briten und die Franzosen, welche an der strategisch günstig gelegenen Stelle erneut einen Hafen erbauten. Sie plünderten auch noch den Rest der Ruinen und benutzen den Marmor zur Ausschmückung der modernen Gebäude einer neuen Stadt nach europäischem Muster.

Der Gesang der Nonnen und Mönche erfüllte den verborgenen Tempel im Keller eines Hauses im modernen Teil der Hafenstadt Alexandria. Es waren einfache, sonore Kompositionen, mit nur wenigen Worten zu Ehren des großen Gottes, dem sie dienten, und seiner Nachkommenschaft. In der Mitte der singenden, in weite, weiße Kapuzenmäntel gehüllte Menschen stand mit segnend ausgebreiteten Armen ein noch sehr junger Mann, das schwarze, gelockte Haar trug er nackenlang, der Bart war sorgfältig kurz gestutzt. Johannes ben Atrà, der gesalbte Messias, würde bald die drei Mals sechs Jahre alt werden, und dann an die Öffentlichkeit treten, um den Frieden auf der Welt wieder herzustellen. Eine große Menge gläubiger Helfer würde den Weg des Heiligen Friedensfürsten vorbereiten. Er betete laut um Frieden, und er würde niemals Blut vergießen. Atrà, seine Mutter, die Um gadasa Bidhara, die Mutter des heiligen Samen, stand in bescheidener, beinahe demütiger Haltung neben ihrem Sohn. Ihre beinahe vierzig Jahre sah man ihr nicht im Entferntesten an, sie war ein Bild von einer Frau. Ihre stille Ruhe spiegelte sich in ihrem ebenmäßigen Gesicht wieder und sie hatte jene Sanduhrfigur, welche auf die meisten Männer so unwiderstehlich wirkte. Die Kapuze ihres Mantels hatte sie in den Nacken geworfen, das gewellte, schwarze Haar flutete über den Rücken, als sie sich jetzt ihres Kleidungsstückes entledigte.

Nackt und bloß werden wir geboren, nackt und bloß treten wir vor unseren Schöpfer, also lasst uns nun auch nackt und bloß beten“, intonierte sie.

Einer nach dem anderen ließen die Anwesenden ihre Mäntel fallen und knieten nieder. „Nackt und bloß wollen wir beten!“

Vor drei Mal sechshundert Jahren erstand aus dem Samen Davids ein Sohn, geboren von einem Schoß aus dem Hause Benjamins.“ Atrà rezitierte aus den uralten Texten der Gemeinschaft. „Doch nicht diese an sich schon überaus edle Abstammung war das Besondere an diesem Mann! Es war der Geist GOTTES, der sich des heiligen Gefäßes aus dem Stamme Benjamins bediente und es mit dem Blute Davids füllte, um seinem heiligen Geist eine Wohnstatt hier auf Erden zu schenken. Er war im Geiste der Sohn GOTTES, im Leibe der Nachfahre sowohl der Könige als auch der Priester Israels, ein wahrer König des Reiches GOTTES! Doch die Menschen waren noch nicht reif genug, sie sahen nur seine Macht, im Geiste wie im Leibe. Sie wollten sich bewaffnen und die Römer vertreiben, aber nicht, um in Frieden und Freiheit zu leben, sondern um selbst zu herrschen im Land der Länder Israel und der Stadt der Städte Jerusalem. Seine Apostel waren eifersüchtig, denn die Frau des Heiligen verstand den gesalbten Messias schneller und besser als sie, und sie ging mit ihm zu den Aussätzigen und versorgte mit ihm die Ärmsten der Armen, heilte mit ihm ihre Wunden, speiste und tränkte sie. Sie gingen zu den Menschen und sprachen zu ihnen, nicht nur von den hohen Bergen ihrer Weisheit herab, sondern unter ihnen sitzend mit den einfachen Worten des einfachen Volkes. Unter Männer und Frauen sprach der Messias, damit seine Botschaft gehört und verstanden werden sollte. Doch das war ein Privileg, das seine Jünger für sich allein beanspruchten, denn nur auserwählte Männer sollten die ganze Lehre erfahren. Die Frau galt ihnen damals noch weniger als heute, sie sollte nur der Lust der Männer dienen und Kinder gebären, das Haus in Ordnung halten, arbeiten und schweigen. GOTT aber hatte es anders vorgehabt, ER wollte zwei Geschlechter, die einander ergänzen, denn sonst hätte ER der Frau doch kein eigenes Denkvermögen gegeben! Und so wollten seine Jünger zwar seinen Einfluss behalten, aber ihn selber loswerden. Pontius Pilatus, der Statthalter Roms, war ein zutiefst misstrauischer Mann, der überall eine Verschwörung gegen sich und seinen Cäsar Tiberius sah. So war es leicht, ihn von der Gefährlichkeit des Isa, Sohn von Joseph und Maria zu überzeugen. Seine Soldaten nahmen Isa ben Marjam gefangen, folterten ihn und wollten ihn töteten am Kreuze. Doch mit Hilfe einiger reicher Gönner konnte seine Familie ihn retten, und er floh mit seiner Frau und seinem Sohn, der nach dem Vater des Messias im Leibe Joseph genannt wurde, nach Alexandria! Dort hatte Maria Magdalena, die Frau des Isa, eine Schwester, welche Rahel genannt wurde. Der Sohn der Maria Magdalena und des Isa nahm die Tochter der Rahel, die Miriam genannt wurde, zu seiner Frau. Die Freunde und Helfer des Isa hatten die heiligen Gegenstände, die Gott den Israeliten im Laufe der Jahre überlassen hatte, mit nach Alexandria gebracht, wo wir sie heute noch ehren und beschützen. Wir, die wir die Nachkommen von Joseph und Miriam sind!“

Wir behüten die Linie, wir behüten das Heilige!“ murmelten die Anwesenden.

Drei Mal sechs Jahre soll ein Mensch reifen, ehe er in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen wird“, sprach Atrà weiter. „Drei Mal sechshundert Jahre haben wir gewartet, um das Reich GOTTES auf Erden neu zu erschaffen. Und das wird bald sein, sehr bald. Der Antichrist wütete bereits auf der Erde, und der neue Erhabene, der Auserwählte, der wahre Herrscher über das Geschlecht der Menschen wird sich erheben. Mein Sohn Johannes wird bald die drei Mal sechs Jahre vollendet haben, und er wird die drei Mal sechs Jahrhunderte der falschen Propheten beenden. Er wird auf dem Berg von Jerusalem stehen und den Frieden für das ganze Weltenrund verkünden, und es wird ein neues Zeitalter für die Menschen anbrechen, al Eumar Almukhlis. Der Satan wird sich in seine Hölle zurück ziehen müssen, und die Menschen werden glücklich in einem irdischen Paradies leben!“

Wir werden in einem irdischen Paradies leben“, wiederholte die Menge.

Friede sei mit uns und all unseren Freunden! Und möge GOTT jenen verzeihen, die zur Unterstützung unserer Sache Übles tun müssen!“

Friede und Vergebung”, sprachen die Menschen in diesem Tempel die alte Formel, ehe sie sich erhoben und wieder in ihre Dschellabas schlüpften. In diesen Kleidungsstücken fielen sie in Alexandria überhaupt nicht auf, als sie paarweise oder allein zufrieden ihren Wohnstätten zustrebten.

Um qadasa Bidhara?“ Ein kleiner, aber muskulöser Mann betrat wenig später das Wohnzimmer Atràs in ihrem nicht eben kleinen Alexandriner Stadthaus. „Ich habe eine Nachricht aus Paris!“

Was schreibt denn Madeleine du Cartaille?“ Die Frau blickte von einigen Papieren auf, in welchen sie eben gelesen hatte.

Die Frau des Kaisers und Mutter des französischen Thronfolgers besucht ihre Seancen jetzt regelmäßig, Herrin! Unsere Agentin hat Roxane Solange de Beauvoise überreden können, dass ihr Sohn der österreichischen Prinzessin Maria Sophia den Hof machen soll, um sie zu heiraten!“

Hervorragend“, freute sich Atrà. „Dann muss nur noch Franz Rudolph aus dem Weg sein, und die älteste Tochter wird Kaiserin. Über Madame Beauvoise werden Frankreich und Kakanien auf unserer Seite stehen!“

Prinzessin Maria Sophia wird sicher nicht zustimmen, und das Verhältnis zwischen Österreich und Frankreich wird sich verschlechtern“, wagte der Mann einen Widerspruch.

Ach was“, winkte Atrá ab. „Selbst sie wird es nicht wagen, Frankreich derart zu brüskieren. Und die Agenten des Frühlings in Wien sollen sich schon einmal darauf vorbereiten, den Weg der Prinzessin zum Thron frei zu machen. Weiß man etwas von Lady Abigail Chesterton? Hat sie schon einen Draht zum Hof der Queen gefunden?“

Man berichtet, dass sie in den nächsten Tagen im Kensington-Palast bei Charlotte, der Duchess of Moorbay und Tochter der Queen, eingeladen ist. Auch die Königin soll vielleicht anwesend sein.“

Wie schön!“ Atrà klappte ihren Sekretär auf und notierte sich rasch einige Stichworte. „Weiß man, wie Lady Abigail es geschafft hat?“

Angeblich soll der Duke mehr an gut gebauten Männern als an der Duchess interessiert sein. Das kann aber auch nur ein Gerücht sein, denn natürlich kann Lady Abigail es nicht wagen, selbst einen Brief mit solchen Details hierher zu schreiben. Auf jeden Fall hat die Duchess eine intime Beziehung zu Sir Aidan, achter Marquess of Saussage begonnen, und Sir Aidan ist ein großer Bewunderer von Lady Abigail und ein treuer Diener des Goldenen Frühling geworden.“

Ach! Diese falsche Moral, nach der die Menschen nur im Verborgenen zu ihren sexuellen Gelüsten stehen dürfen, hat schon ihre Vorteile, zumindest für uns. Wenn der Duke die Tochter der Königin nicht geheiratet hätte, obwohl er einen Mann vorzog, hätte Charlotte vielleicht Sir Aidan nie beachtet. Das Schicksal hängt doch immer an ganz kleinen Fäden, und es sieht gut für unsere Sache aus. Wann wird Prinz François Louis in Schönbrunn eintreffen?“

Im Moment möchte der Prinz nach Kairo kommen, Herrin.“

Wieso um alles in der Welt das denn?“ Atrà hob erstaunt ihre Brauen.

Er hat erfahren, dass die Prinzessin Maria Sophia von Österreich eben völlig privat und nur mit kleinem Gefolge begleitet eine Kreuzfahrt auf dem Nil unternimmt, Herrin!“

Maleun”, fluchte die Mutter des heiligen Samen unbeherrscht los. „Alqarf almuqadas! Wieso erfahre ich jetzt erst davon?“

Wir – wir haben es auch eben erst über Paris erfahren, Heilige Herrin! Vergebung!“ Der Mann warf sich schreckerfüllt zu Boden.

Nein, ich muss dich um Verzeihung bitten, Sahid!“ Atra kniete sich vor den Mann und nahm ihn an der Schulter. „Ich habe unangemessen reagiert. Alsalam waltasamuh, Allah mahaba, wanarutah fih – Friede und Vergebung, Gott ist Liebe, und wir ruhen in ihr.“

Nurath fi niemat Allah – wir ruhen in Gottes Gnade!“ Der Mann nahm die Hand Aktas und küsste ihre Handfläche, danach sie die seine.

Lass doch bitte mein Gepäck vorbereiten, Sahid. Ich werde wohl selbst nach Kairo gehen und die Sache in meine eigenen Hände nehmen müssen. François Louis soll ja ein hübscher Mann und der Weiblichkeit nicht abhold sein. Und die Awlat Alrabi sollen sich doch diese habsburgische Kuh – nein, entschuldige, Sahid, ich bin heute sehr erregt. Ich meine natürlich, die Erzherzogin Maria Sophia von Österreich sollte eine Zeit Gast der Awlad Alrabi sein! Vielleicht – nein, ganz sicher sogar wird uns das doch noch zum Vorteil gereichen. Welche Frau kann schon zu ihrem Retter nein sagen, ohne die Öffentlichkeit gegen sich zu haben? Diese romantischen Schriftsteller mit ihren absurden Ideen werden uns mehr helfen als hunderte Kanonen!“

=◇=

Kairo

Wenn ein kaiserlicher Prinz und Thronfolger von Frankreich offiziell ein anderes Land besucht, so kann er nicht einfach sein eigenes Luftschiff besteigen, sondern hat seinen Besuch über diplomatische Kanäle anzukündigen. Genau genommen war der Besuch Maria Sophias ein Bruch der Etikette gewesen, aber da sie als Frau nicht die direkte Thronerbin war, sondern erst im Falle eines Todes ihres Bruders ohne Erben den Thron der Donaumonarchien besteigen würde, war ein rein privates Erscheinen in einem öffentlichen Passagierluftschiff zumindest nicht ganz ungehörig. Und Verhandlungen über ein mögliches Verlöbnis mit einer Tochter des Hauses Habsburg-Lothringen wären ja wohl eine mehr als offizielle Angelegenheit und auch extrem kompliziert. Néné und das Parlament der Vereinigten Donaumonarchien zeigten sich zwar prinzipiell gesprächsbereit, mussten dem Hof in Versailles allerdings mitteilen, dass Madame le Princesse derzeit in Ägypten weile. Ganz inoffiziell, ausschließlich zu ihrem Vergnügen. Nein, leider könne man nicht genau sagen, wo sie sich eben befände, aber die letzte Nachricht war, dass sie plante, demnächst eine Nilkreuzfahrt zu machen. Unangenehm für den französischen Thronerben, denn Ägypten war zwar eigentlich de jure osmanisches, de facto aber britisch kontrolliertes Gebiet. Und wenn auch derzeit kein Krieg zwischen Frankreich und Britannien herrschte, die Lage war wieder einmal angespannt. Es ging um Gebiete in Africa, um viel Land, das Frankreich derzeit kontrollierte und das die Queen gerne für das Empire besessen hätte. Auch Canada war selbstverständlich immer noch ein Zankapfel. Zuerst französisch, dann von den Briten erobert und von Napoleon wieder in den Besitz Frankreichs gebracht. Aber es half alles nichts, Maria Sophia war in Ägypten und derzeit nicht ohne weiteres erreichbar. Also spielten wieder die Telegraphen und die Telephone, die Diplomaten sprachen mit Ihresgleichen in den für sie üblichen Verklausulierungen und Vorbehalten. Endlich, nach Tagen konnte Prinz Franz Ludwig Johann Napoleon Bonaparte mit dem Luftschiff AIGLE aufbrechen, um Maria Sophia in Ägypten zu treffen und wenn irgend möglich eine Verlobung anzubahnen. Allerdings wurde der Zweck seiner Reise vor den britischen Diplomaten geheim gehalten, noch blieb es bei einem einfachen Staatsbesuch, ohne die Prinzessin zu erwähnen. Natürlich war das erste Ziel der Reise des Prinzen Kairo, ein Treffen mit dem Generalkonsul Sir Evelyn Baring, erster Earl of Cromer. Und ganz selbstverständlich stieg auch der französische Prinz im Hotel Oriental ab. Es handelte sich nun einmal ganz unzweifelhaft um das luxuriöseste und beste Hotel in allen Stadtteilen Kairos.

Als der französische Dauphin die offizielle Luftyacht der Grande Nation AIGLE in Kairo verließ, war eine Ehrengarde der Royal Egypt Army in ihren hellen Blusen zu den schwarzen Hosen angetreten, die Enfield Repetiergewehre mit den säbelartigen, langen Bajonetten an die Brust gedrückt. Die scharlachroten Wolljacken der britischen Offiziere, eigentlich für dieses Klima nur in der Kühle der winterlichen Nächte wirklich brauchbar, stachen dazwischen auffällig hervor. Der Kommandant der Ehrengarde, Colonel Edgar Cunningham, Earl of Scarlett zog sein Schwert und brüllte seine Kommandos im besten Kasernenhofton, während Sir Evelyn und Sirdar Kitchener am Ende der Treppe warteten, welche rasch an die Kanzel unter dem zigarrenförmigen Körper geschoben wurde. In der Uniform eines Colonel des Pariser Garderegiments Nummer 2, mittelblau mit roten Aufschlägen, Revers und Streifen an den Hosen, reich mit goldenen Borten und Schnüren verziert, mit dem typischen französischen Kepi in blau mit Gold bestickt, mit seinem hochgewachsenen, breitschultrigen Körperbau, seinem kleinen Oberlippenbart und dem kühnen Kinn machte François Louis Jean Napoleon Bonaparte eine durchaus stattliche Figur. Langsam und gemessen schritt er die Treppe hinunter und machte Front zu Sir Evelyn Baring, dem 1. Earl of Cromer und wartete, bis der Earl ihm die Hand reichte. Etikette war eine komplizierte Sache, aber man fuhr immer gut, wenn man etwas zurück stecken konnte. Und Sir Evelyn, wenn er auch kein Mitglied einer Herrscherfamilie war, hatte doch ein gewisses Hausrecht. Dann wandte er sich an Horatio Kitchener und wartete, bis der Sirdar salutierte, ehe er den Gruß erwiderte, bevor die drei Herren die Ehrengarde abschritten. Natürlich war der gesamte Auftritt auf die Minute im Vorfeld von den Diplomaten beider Nationen abgesprochen worden. Der Generalkonsul und der Sirdar begleiteten den Prinz bis zu einer großen Dampfdroschke, die beiden uniformierten Diener, der Fahrer und der Beifahrer standen in strammer Haltung vor dem Gefährt, einer der Bediensteten öffnete die Tür zum Fahrgastraum und klappte das kleine Treppchen hinunter. Als Franz Ludwig in die hohe Droschke gestiegen war, schwangen sich Fahrer und Beifahrer auf den Bock, die Diener sprangen hinten auf ihre Plätze, der Beifahrer blies in das Signalhorn und der Wagen fuhr langsam an.

Zuerst diese habsburgische Prinzessin und jetzt der Franzmann. Ob das irgendwie zusammen hängt?“ Sir Evelyn zog sein rot-blaues Taschentuch hervor und trocknete damit den Schweiß auf seiner Stirn.

Vielleicht will ja der Froschfresser dieses ungezügelte Weib heiraten und bändigen.“ Kitchener sah der Kutsche stirnrunzelnd nach. „Aber wenn er das wirklich vor hätte, wäre er entweder völlig größenwahnsinnig oder total naiv.“

Kitchener!“ Der Generalkonsul schrak sichtlich zusammen. „Malen Sie den Teufel nicht an die Wand! Österreich, Deutschland, vielleicht auch Russland verstärkt von Frankreich – das wäre ein verdammt schwerer Stand für das Empire. Vielleicht sollte der Prime Minister auf eine Verständigung mit Russland hin arbeiten. Oder mit den Osmanen.“

Es war nur eine Idee, Sir Evelyn“, beruhigte Kitchener den Politiker. „Und sie müssen sich nach meiner Meinung keine allzu großen Sorgen machen. Sie haben die Erzherzogin nicht kennengelernt, eher wird sie die Kaiserin und Franky-Boy sitzt im Palast von Schönbrunn und schaukelt seine – seinen Familienschmuck. Etwas in der Politik zu melden hätte nur dieses Flintenweib. Und die Prinzessin ist eine bekannte Anhängerin des Kurses ihres Großvaters. Also ein Krieg zur Errichtung eines großen Kolonialreiches wäre von ihr kaum zu erwarten! Eher gute Mieteinnahmen, wenn sie wieder Gebiete für ihre Luftschiffhäfen benötigt.“

Ihr Wort in Gottes Ohr, Kitchener, ihr Wort in Gottes Ohr!“ Der Earl of Cromer bekam langsam wieder Farbe im Gesicht.

Ich mag diese adelige Suffragette nicht, Sir Evelyn. Ganz und gar nicht. Aber ich hätte es lieber mit diesem Mannweib zu tun als mit dieser Schlange Roxane Solange de Beauvoise und ihrem sogenannten Kaiser, der ja doch nur ihre Marionette ist.“

Das Foyer des Oriental war ganz im Stil der Belle Epoque eingerichtet, das gesamte Hotel verfügte natürlich bereits über elektrisches Licht und die gläsernen Schiebetüren zum Innenhof waren an diesem Tag im März weit geöffnet. Der Durchzug zwischen der Hitze der Straße und der Kühle des schattigen Atriums sorgten für eine angenehme Luft, unter der Decke drehten sich langsam die großen, von Dampfmaschinen im Keller betriebenen Ventilatoren. Natürlich wurde auch der Dauphin mit großem Bahnhof begrüßt, wie es gekrönten Häuptern und Thronfolgern nun einmal zustand, Direktor und Bedienstete wuselten herum und geleiteten François Louis zum Eingang. Ebenso selbstverständlich erhoben sich die im Foyer anwesenden anderen Gäste bei seinem Eintritt. Die anwesenden Herren verneigten sich vor den Dauphin, während die Damen einen tiefen Knicks vor dem französischen Thronfolger Franz Ludwig machten. Eine der Damen fiel ihm dabei besonders in das Auge. Eine mittelgroße Frau, schlanke Taille, üppige Oberweite und breite Hüften, ein herzförmiges, leicht dunkles Gesicht mit sinnlichen Lippen und großen, durch Khol noch extra betonten Augen. Ein fliederfarbenes europäisches Reisegewand, das die Kurven der Frau eher betonte als verbarg, alles an ihr rief ‚komm nur näher, wenn glaubst, mutig und stark genug zu sein’.

Was für eine schöne Frau, Major de Milfort. Finden Sie heraus, wer das ist, und ob es vielleicht möglich wäre, morgen mit ihr zu soupieren“, wandte sich der Dauphin an seinen Adjutanten.

Selbstverständlich, mon Colonel.“ Der Conte Richard de Milfort stiefelte davon, um die nötigen Informationen einzuholen, er hatte bereits mehrmals Erfahrung mit dieser Art von Aufträgen gesammelt. François Louis, Prinz von Frankreich konnte sich auf ihn, seine Fähigkeiten und seine Treue absolut verlassen. Ebenso auch auf seine absolute Verschwiegenheit.

Die Frau heißt Atrà Troudeaut und ist aus Alexandria, mein Prinz“, konnte der Major auch schon wenig später rapportieren. „Sie ist teilweise arabisch-jüdischer und französischer Abstammung, ihre Mutter hat einen Claude Troudeaut aus der Carmague geheiratet, der geschäftlich in Alexandria war!“

Wenn die Mutter wie die Tochter ausgesehen hat – absolut kein Wunder“, kommentierte François und strich sich mit schnellen Bewegungen über den schmalen Schnurrbart.

Beide Eltern waren vor einigen Jahren auf dem Weg nach Marseille, ihr Schiff ist in einem Sturm gesunken. Keine Überlebenden”, fuhr der Conte fort. „Wenn es euer Hoheit recht ist, wäre die Dame gerne bereit, morgen um dreizehn Uhr mit eurer Hoheit zu speisen.“

Sehr erfreulich! Bestellen sie mir doch gleich eine Flasche Champagner, und der Zimmerservice soll sich bereit halten. Und jetzt möchte ich noch unter die Dusche gehen. Gaston, ich brauche die große Uniform für heute, komplett mit allen Orden. Und natürlich den Säbel! Hurtig, hurtig!“

Natürlich, mein Prinz“, bestätigte der Kammerdiener.

=◇=

Für das Treffen mit dem Prinzen hatte Atrà bint Selina ein raffiniertes Kleid aus aprikotfarbener Seide angelegt, das zwar bis zum Hals hochgeschlossen war und den gesamten Körper bedeckte, aber jede Kurve betonte und ein ganz klein wenig durchscheinend war. Im antiken Rom hatte man dieses Gewebe ‚koischer Stoff’ genannt, und mehr als einmal wurde das Tragen desselben als unmoralisch von den Censoren verboten. Man konnte, wenn man genau hinsah, nicht nur ihre Brustwarzen und deren Höfe erkennen, sondern als dunklen Schatten auch das sorgfältig in Form getrimmte Schamhaar im ‚Delta der Venus‘. Es war schon beinahe aufdringlich zu nennen, aber für François Louis genau richtig. Der Dauphin war dafür bekannt, bei schönen Frauen gerne und sehr genau hin zu sehen.

Hoheit!“ Bei ihrem tiefen Hofknicks fielen die Bahnen des Kleides beiseite und enthüllten eine wohlgeformte Wade, wie der Franzose voller Freude bemerkte.

Willkommen, Mademoiselle Atrà. Bitte, nehmen Sie Platz!“ Galant küsste der Prinz die Hand der Dame.

Es ist mir eine ausgesprochene Ehre, mit eurer Kaiserlichen Hoheit speisen zu dürfen“, beteuerte die Orientalin in aufrichtigem Tonfall.

Und ich versichere ihnen, Mademoiselle, dass das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite ist. Ein Glas Champagner?“ Gekonnt, ohne großen Knall und Überschäumen öffnete der französische Prinz die gekühlte Flasche.

Sehr gerne, Hoheit!“ Elegant ließ sich Atrà auf einem der modernen Stühle aus Bugholz mit einer Polsterung, welche mit orientalischer Ornamentik bestickt war, nieder. „Hoheit sind zu großzügig!“ Mit schlanken Fingern ergriff sie das angebotene Glas und wartete, bis auch Franz Ludwig das seine erhob.

Auf das Glück und ein langes Leben“, brachte er einen Trinkspruch aus. „Auf die Liebe und die Schönheit!“

Das widerspricht einander, Hoheit.“ Nachdem sie getrunken hatte, stellte Atrá ihr Glas beiseite. „Langes Leben ist der natürliche Feind der Schönheit. Man – oder besser gesagt, Frau – muss zu immer mehr Tiegeln und Pudern greifen, wenn sie älter wird. Sie muss dort stützen und hier schnüren, dieses pudern und jenes verdecken. Und alles vergeblich, denn eines Tages stellen sich unweigerlich unübersehbare Falten ein, und dann, ja dann ist die ganze Schönheit auch schon perdu.“

Aber Mademoiselle, dieser Tag ist bei ihnen doch ganz sicher noch in weiter Ferne!“ Franz verbeugte sich im Sitzen.

Glauben Sie, Hoheit?“ Atrá betastete ihre Augenwinkel. „Hier beginnen sie üblicherweise, die Krähenfüße.“ sie wies auf ihre Mundwinkel. „Und hier setzen sie sich dann fort.“ Zu guter Letzt wies sie auf ihren Busen. „Und am Ende wird auch das Dekolleté faltig. Dann kann Frau keinen Ausschnitt mehr tragen.“ Franz Ludwig beugte sich wieder vor und betrachtete das Gesicht und den Busen der Alexandrinerin genau, sog dabei ihren Duft nach Jasmin, vermischt mit der nussigen Note marokkanischen Arganöles ein.

Ich kann nichts entdecken, Mademoiselle! Machen Sie sich doch nicht so große Sorgen! Wollen wir nicht eine Kleinigkeit zu essen bestellen?“ Er griff zur Glocke, um den Diener zu rufen.

Aber ja, essen wir doch zuerst einmal!“ Ein kaum hörbarer Unterton in ihrer Stimme brachte sein Blut noch mehr in Wallung, und er schwang die kleine Messingglocke, welche seinen Diener in den Raum rief.

Das Essen soll serviert werden, Gaston!“

Der Kammerdiener hatte das Servierwägelchen vom Hotelpagen übernommen und bereit gestellt. Es handelte sich ohnehin nur um kleine, kalt zu servierende Häppchen wie etwa gegrillte zarte Wachtelbrüstchen mit Feigensenf auf Weißbrot, Lachs mit einer Honig-Senf-Sauce mit Dillspitzen, einige frische Austern mit Zitrone und ähnliches. Und natürlich noch mehr Champagner. Das Hotel hatte wirklich eine exquisite Auswahl auf Lager, mit exzellenten Jahrgängen. Auch der Koch verstand sich auf sein Handwerk, und so ließen sich Atrà und der Prinz das Essen schmecken. Unter Lachen und Scherzen öffnete sich ein Knopf der Kleidung nach dem anderen, bis die Hüllen ganz fielen. Machte sie den ersten Schritt oder ging es von ihm aus? Ganz egal, denn im Grunde wollten sie beide den jeweils anderen verführen, von Anfang an ging es bei diesem Treffen doch nur am das Eine.

Ooooh! Mon Dieu!“, stöhnte Atrá laut, und François antwortete ebenso.

Zuviel der Ehre, Mademoiselle, nur ein Dauphin!“

=◇=

Aber ja, Hoheit! Die Prinzessin Maria Sophia war wirklich hier in Kairo!“ Der Prinz hatte es bei einem weiteren Dîner bei dem Generalkonsul Britanniens geschafft, unauffällig die Rede auf die Reise der Erzherzogin von Österreich zu bringen.

Es war ein Alptraum“, jammerte der Generalkonsul Sir Evelyn Baring. „Ein richtiger Alptraum! Zuerst kommt sie völlig unangemeldet, dann geht sie in die alte arabische Stadt, fast arabisch angezogen und verprügelt dort den armen Earl von Wooster, weil er ihr angeblich an das Hinterteil gegriffen haben soll.“

Das mit dem Gesäß der Dame glaube ich sofort”, warf Lady Silvia Baring in das Gespräch. „Keine hintere Rundung einer Frau ist vor diesem Mann sicher, außer ihr Mann ist gesellschaftlich hoch über ihm oder ein halbwegs guter Fechter.“

Trotzdem“, beharrte der Attaché. „Es ist nicht schicklich für eine Dame, selbst in einem solchen Fall Hand an den Mann zu legen! Eine Furie ist die Prinzessin, mon Dauphin, eine wirkliche und wahrhaftige Furie! Und dann läuft ihr in der Altstadt auch noch so ein österreichisches Mädchen über den Weg, das wird vor ihren Augen erschossen und der Leibwächter der Prinzessin erschießt den Attentäter. Ohne Federlesen, sagt man sich. Zieht einfach die Waffe und – peng, peng, peng! Ich sage ihnen, ich hätte den Österreichern nicht so viel zugetraut, nachdem sie in der kleindeutschen Frage wegen der Parlamente und dem anderen Kram so schnell nachgegeben haben. Aber dieser Colonel Slatin, also der schießt wie ein leibhaftiger Teufel!“

Und warum ist die Prinzessin denn heute nicht hier?“ François Louis sah sich angelegentlich um.

Nun, sie ist doch nach zwei Tagen schon wieder abgereist. Mit dem Schiff, den Nil hinauf! Kommen Hoheit morgen mit zum Kamelrennen? Das ist eine ganz amüsante Sache, müssen Sie wissen. Also, selbstverständlich nicht zu vergleichen mit Ascott, aber trotzdem ganz lustig.“

Aber natürlich, Generalkonsul.“ Der Prinz verneigte sich im Sitzen vor Sir Evelyn. „Es wird mir ein Vergnügen sein!“ Nun ja, es eilte ja nicht wirklich, der Prinzessin nachzueilen, mit der AIGLE konnte er dieses Dampfschiff doch ganz bestimmt rasch einholen. Und bis dahin konnte er noch ein wenig die Umarmungen Atrás und andere Annehmlichkeiten Kairos genießen. Eigentlich wäre es keine schlechte Idee, die Orientalin nachher mit an Bord zu nehmen, wenn er der Prinzessin nachfuhr. Ein wenig Amüsement während des langweiligen Fluges, und dann war immer noch Zeit für einen Abschied. Oh, er würde sich schon erkenntlich zeigen, und das nicht zu knapp. Er war kein knauseriger Mann, das wussten viele Damen in Paris zu bestätigen. Und eine ernsthafte Beziehung mit einem Mann wie ihm konnte eine Frau wie sie ja wohl ohnehin nicht erwarten.

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Rom

Die Märzsonne schien auf die ewige Stadt am Tiber und leuchtete in die Fenster des Plazzo Quirinal, wo der Re d’Italia Umberto I mit seinem Ministerpräsidenten beratschlagte. Der siebzigjährige Politiker hielt sich noch immer kerzengerade, als er einige Papiere aus seiner Aktentasche nahm und dem König auf den Schreibtisch legte. Der blickte statt dessen unverwandt aus dem Fenster auf die Giardini del Quirinale mit ihren streng in Form geschnittenen Hecken und ornamentalen Beeten.

Was ist mit der 23. gemischten Division Palermo, Ministerpräsident?“ Umberto Rainerio Carlo Emanuele Giovanni Maria Ferdinando Egenio di Savoia, König von Italien, drehte sich nicht einmal zu seinem Regierungschef um, als er die Frage bellte.

Sie wird wie geplant Ende März von Mogadischu aufbrechen, Majestät“, wusste Crispi zu berichten.

Wie viele Männer stehen dann insgesamt für den Krieg mit Abessinien im Feld?“ Der König wandte sich nun doch um und begann die Papiere auf seinem durchzusehen.

Sechs Divisionen, Majestät.“ Crispi blieb die Ruhe selbst. „110.000 Männer aller Waffengattungen.“

Gut, Crispi, sehr gut. Dann sollten wir hier zu Hause allmählich eine allgemeine Mobilmachung vorbereiten. Damit die anderen Mächte Europas nicht glauben, Italia wäre eine leichte Beute, während es in Africa seinen legitimen Interessen nachgeht!“

Das würde dem Betreffenden schlecht bekommen, Majestät“, stimmte der Ministerpräsident zu. „Wenn auch nur einer versucht, Italia anzugreifen, würde das auch die anderen Fürsten auf den Plan rufen. Niemand will, dass andere zu groß werden. Und die Abessinier – nun, sie haben zwar teilweise österreichische Waffen, auch Britannien hat etwas geliefert. Aber unseren Beobachtungen nach auch nicht so viel, dass wir uns große Sorgen machen müssten!“

Sehr gut, Crispi!“ Umberto I, der Mann mit den kurzen Haaren, dem gigantischen Schnurrbart und den fanatisch starrenden Augen legte seine Hand auf eine Karte, genau dort, wo das Kaiserreich Abessinien eingezeichnet war. „Vielleicht zeigt sich die Kurie versöhnt, wenn wir ein ganzes Land wieder dem Katholizismus zuführen können!“

Ich fürchte, die Päpste werden es nie verwinden, dass das Patrimonium Petri auf das kleine Stück am vatikanischen Hügel geschrumpft ist, Hoheit!“

Daran müssen sie sich gewöhnen!“ der König ballte die auf Abessinien liegende Hand zur Faust. „Das glorreiche italienische Königreich benötigt eine Hauptstadt, und das kann nur wie schon seit Ewigkeiten Rom sein, keine andere Stadt! Niemals, Crispi! Was macht die Invasionsarmee für den Abschnitt Baylul?“

Diese Flotte mit der ROMA wird mit weiteren 86.000 Mann rechtzeitig vor Ort sein, um Äthiopien im Norden anzugreifen, Hoheit. Es kann nicht mehr schief gehen. Abessinien wird ein Teil Italiens werden! Der Negus Negest Yohannes IV wird den Zorn eurer Majestät Truppen zu spüren bekommen“, dienerte der Regierungschef.

Schön, Crispi! Wie sehen die Finanzen aus?“

Wir – haben genug, Majestät“, holte der Ministerpräsident eine Zahlenaufstellung aus der Aktentasche. „Wir müssen nur die Steuern für Grundnahrungsmittel und Mieten erhöhen, dann geht es sich schon aus!“

Dann machen Sie das, Crispi“, befahl Umberto. „Wir brauchen die Küste von Eritrea und das Landesinnere von Abessinien für Italien. Bereiten Sie unser Land auf den Krieg vor. Vielleicht fällt ja auch noch ein Stück Österreich für uns ab, wenn die es wagen, sich einzumischen.“

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Wien

Wo einst der Linienwall stand und die Vorstädte Wiens vor Angriffen mehr schlecht als recht geschützt hatte, verlief jetzt der so genannte Gürtel. Eine mehrspurige Prachtstraße mit ausgedehnten Grünanlagen und Spielplätzen zwischen den Fahrspuren im Uhrzeigersinn des inneren und jenen gegen diese Richtung des äußeren Gürtels. Jenseits dieser Straße lagen die ehemaligen Vororte Wiens, unter anderem der aus den drei alten Ortschaften Simmering, Kaiserebersdorf und Albern zusammen gesetzte 11. Wiener Bezirk, der nach der größten Ortschaft Simmering genannt wurde. Dort waren in der Nähe dieses neuen Gürtels jene Häuser entstanden, welche die im Zuge des Ausbaus der Kronprinz Franz Joseph Straße ausgesiedelten Familien und Personen aufnahmen. Eigentlich wohnte man hier wieder Tür an Tür mit jenen Leuten, in deren Nähe man vorher schon gewohnt hatte. Der größte Unterschied zu den alten Wohnungen war, dass die Wohnungen größer, heller und besser beheizt waren, der Kaiser Franz Karl hatte sich den Ausbau des Weges von der Hofburg nach Schönbrunn zu einem Prachtboulevard schon einiges kosten lassen. Auch die ganzen Geschäfte, vom Greissler bis zum Wirten, wurden immer noch von den gleichen Leuten betrieben. Na ja, die Häuser waren mehr in die Höhe gebaut und nahmen weniger Baugrund in Anspruch, aber es gab ja Aufzüge für die oberen Etagen. Mit Dampf betrieben, natürlich. Rund herum von dem Grätzl standen noch alte Häuser, wie sie früher, in der Josephinischen Ära nach der großen Kaiserin Maria Theresia in den alten Vororten gang und gäbe gewesen waren. Niedrig, geduckt, billig gebaut. Niemand hatte den Mut gehabt, ordentliche Häuser dort hin zu stellen, zu oft waren sie schon in unzähligen Kriegen und Belagerungen zerstört worden. Dazwischen standen einige wenige größere Gebäude, Sommer- oder Lustschlösschen, die sich einige besonders mutige, reiche Adelige in die noch ländlich anmutende Gegend mit vielen Gemüsefeldern bauen ließen. Einige von den neu angelegten, breiteren Straßen mit Bim-Anbindung durchzogen bereits die Bezirke außerhalb des Gürtels, und auch entlang dieser Straßen wuchsen einige moderne, im Art Deco – Stil geschmückte Sozialwohnhäuser aus dem Boden. Wien war auf dem Weg zu einer Industriestadt, vielleicht nicht so schnell wie Berlin, Ulm oder Triest, aber die Stadt wuchs unaufhörlich. Die Wirtschaft benötigte Arbeiter und diese mussten irgendwo untergebracht werden. Möglichst viele Personen auf möglichst wenig Baugrund, der Ausweg war in die Höhe. Und dank des Kortwitz-Leichtstahls in Verbindung mit Beton war das kein Problem mehr, mit Liften waren obere Etagen leicht zu erreichen und auch durchaus begehrt.

Man munkelte unter vorgehaltener Hand sogar, diese ganz neuen Häuser hätten gar keine Dampflifte mehr, sondern solche mit der ‚Erfindung von diesem Krowoten, dem Dings, dem Tesla! Dank schön! Wie sagen’s dazu? Strom! Genau, elektrischer Strom aus den Dampfturbinen, die’s aus die Resselpropeller g’macht haben. Formidabel, sag‘ ich Ihnen! Überall im Haus elektrische Lampen und Dampfheizung. So kann man Leben. Und stell’ns Ihnen nur vor, in jeder Wohnung fließend Warm- und Kaltwasser, eine gekachelte Dusch‘ und jede Wohnung hat ein eigenes Häusl! Nimmer am Gang, na, wenn ich’s Ihnen doch sag’. Also, das mit dem Wasser und dem Scheißhaus, das hab’ns ja schon bei die Linden- und Felberstraßler so g’macht, aber dort geh’n die Aufzüg’ halt noch nicht elektrisch. Und die Wänd’ sind auch noch aus Ziegel. D’rum sind’s ja so rot von außen, und ganz so hoch sind’s halt auch no net. Ja, und des muss man sich auf der Zungen zergeh’n lassen, also die Größ’ von die Wohnungen. Stellen’s ihnen vor, achtz’g, fünfadachtz‘g Quadratmeter für ein Paarl mit nur zwei Kindern. Ein eigenes Zimmer für die Eltern, zwei Kabinetten für die Pamperletsch, ein gemeinsames Wohnzimmer, Küche, Bad, Klo, also, das ist fast schon herrschaftlich, so eine Wohnung. Und so billig dazu! Also, ein ung’lernter Ziegelböhm’ kann sich so eine Wohnung schon leisten, wenn er auch einen Familienzuschuss kriegt, und hat noch immer genug zum Leben. Du glaubst es einfach nicht! Na ja, wenn der Behm’ ka Familie hat, kriegt er klarerweis’ kan Zuschuss, dann braucht er aber auch ka große Wohnung! Eh klar! Dann muss er sich halt eine kleinere Gemeindewohnung geben lassen. Bis er heirat’, dann kann er ja eine Eingab’ an die G’meinde mach’n!‘

In den neuen Wohnvierteln wurden auch von Anfang an großzügige öffentliche Parkanlagen und, was ebenfalls ganz wichtig war, Marktplätze eingeplant. Solche Märkte waren immer noch die meist genutzte Möglichkeit, sich mit frischem Obst und Gemüse aus den umliegenden kleinen landwirtschaftlichen Gärtnereien einzudecken, oft in einer Direktvermarktung, auch wenn niemand es damals so genannt hätte. Die Frau des Gärtners stellte sich eben mit den paar Steigen Erdäpfeln, Gurken und Paradeisern, die sie am Vortag geerntet hatte, hin und verkaufte diese. Nebenan gab es Kraut oder Kohlsprossen, Paprika oder sonst irgend etwas, von dem der Gärtner hoffte, es verkaufen zu können. Einige der festen Stände gehörten Fleischhackern oder Bäckern, und manchmal bot auch der ‚Gigerer’, also, der Pferdefleischhauer, seine Waren feil. Und weil Wien eben Wien war, ist und blieb, durften auch Möglichkeiten zum Konsum von Speisen, Bier und auch Wein nicht fehlen. Für den schnellen Imbiss gab es den sogenannten Würstelstand, wo allerlei Würste warm angeboten wurden, von den Frankfurter über Debreziner, Klobasse und natürlich der Klassiker, die Burenwurst. Mit Senf und Brot im Stehen verspeist, dazu ein schnelles Seiterl Bier, und schon war man wieder unterwegs. Oder man setzte sich in eines der kleinen Tschecherln und nahm eine etwas größere Mahlzeit zu sich, vielleicht eine Leberknödelsuppe, oder ein Gulasch mit einem frischen Semmerl, ein Blunzengröstel mit Erdäpfelschmarrn oder Knödel mit Ei und einem Salat. Dazu vielleicht ein Glaserl grünen Veltliner oder blauen Portugieser. Eventuell auch statt des Weines ein oder zwei Krügerl vom Ottakringer oder Schwechater, wenn der Verkäufer ein Budweiser aus Prag hatte, war sowieso ein Feiertag. Auf dem Simmeringer Markt beim Herderpark gab es ganz am Rand, etwas abseits vom Trubel und auf der anderen Seite des Parkplatzes für die Lieferanten die Antschi. Die Branntweinerin Anna Dvorak, bei der sich die Sandler und die Drecksarbeiter trafen, die Straßen- und Kanalreiniger, speckig und dreckig, einfach alle jene, welche das Leben nüchtern nicht mehr zu ertragen glaubten. Sie waren die Ausgestoßenen, die Parias und in gewisser Weise sogar ein wenig Stolz darauf. Und keiner sprach mit der Polizei, denn sonst hätten sie dem Unterkommissär Joschi Pospischil die Arbeit enorm erleichtern können. So war der Fesche Joschi, wie er bald auf dem Markt genannt wurde, tagelang auf dem Markt und im Park herumgegangen und hatte ein bestimmtes Haus im Blick behalten. Eine kleines Lustschlösschen im Rokoko-Stil inmitten einer entzückender Parkanlage, teilweise im englischen, natürlichen Stil, teilweise in französischer, streng in geometrischen Mustern angelegter und streng gestutzter Art. Der Erbe des Schlösschens hatte den Schlosspark zum größten Teil mit dem städtischen Herderpark vereinigt und für die Simmeringer frei gegeben. Er hatte nur einen ziemlich schmalen Streifen behalten, als er das Haus vermietete. An die Baronesse Klederwald.

Joschi Pospischil war, wie man in Wien sagte, ein klein wenig in der Rue de Kack! In der Scheißgassen! Er konnte Lieferanten und Gäste beobachten, aber die Baronesse Klederwald verließ selten das Haus. Natürlich brachte die Registrierung der Besucher einiges an Informationen. Die Frau des Geheimen Regierungsrates Joseph Prohaska war regelmäßig zu den Seancen zu Besuch, aber auch zu den Terminen, welche scheinbar weniger öffentlich waren und am Abend stattfanden. Ebenso kamen des Öfteren die Gräfin Wolfenstein, deren Mann im Heeresministerium die technische Kommission leitete. Diese sollte neue Innovationen zu prüfen und die Ausrüstung der Armee und der Flotte auf dem neuesten Stand der Technik halten. Einige junge, gut aussehende Männer und Frauen in nicht ganz so eleganter Kleidung, welche am frühen Morgen das Schlösschen als letzte wieder verließen. Eine davon erkannte Joschi, es war die Flöten-Liesl. Die verdankte ihren Namen natürlich ihren großartigen Fähigkeiten im Flötenspiel, auch wenn diese Flöten nicht immer, nein, eigentlich niemals aus Holz waren. Eine von den Banern, die früher für den g’füllten Szigismund auf den Strich gegangen waren. Das war, bevor der mit einer Schlinge um den Hals in einem Hinterhof gelandet war. Nicht im berühmt-berüchtigten dreieckigen Hinterhof des Landl’s, des Landesgerichtshofes, wo der Scharfrichter von Wien die selten gewordenen Todesurteile vollstreckte, sondern im Hof einer der schäbigen, alten Zinskasernen am Rand von Favoriten. Eines jener Häuser, in welchen kaum noch jemand wohnte und die bald Platz machen würden, für einen modernen Sozialbau wahrscheinlich. Und dann, eines Tages machte sich der Polizist stante Pede auf den Weg zum Kommissär Brunner und erstattete Meldung. Zu einer der Seancen war ein ganz neuer Gast erschienen, den der Joschi von der Zeitung her kannte, weil er eine Expedition in die Antarktis finanziert hatte. Der Graf Lichtenbach selbst! Jener Graf, dessen Tochter erst vor kurzem in Kairo erschossen worden war. Die weitere Beobachtung überließ der Fesche Joschi seinem jungen Kollegen Heinrich Navratil allein.

Und der Heinzi fror sich in seiner Verkleidung ein Asterl ab. Es war noch nicht sehr warm im März, auch wenn die Sonne schon langsam ein eitzerl an Kraft gewann. Darum suchte er sich ein windgeschütztes Platzerl und hielt das Gesicht in die Sonne, genoss das bisschen Wärme, und er begann sogar ein wenig vor sich hin zu träumen.

Hack’nstad oder Kieberer?“ Eine helle Stimme riss ihn aus seiner Traumwelt, ein hübsches Ding in Dienstmädeluniform stand vor ihm. „Einmal schaun, das G’wand ist net schlecht, hat aber schon bessere Zeiten g’sehen. Aber ein wengerl dünn für’n März. Kein Manterl, also die Leut’ von der Kriminalkommission sollten doch zumindest ordentliche Mäntel tragen. So wie der Fesche Joschi, der da in letzter Zeit so offensichtlich herum nasert. Wenn des kein Kieberer ist, darfst Bumsti zu mir sagen!“

Ich glaub‘ auch, des is einer von der He“, verfiel Heinrich sofort in den Vorstadtdialekt, mit dem er aufgewachsen war und den auch das Mädchen sprach. „Was der da eigentlich sucht?“

Das weiß ich doch nicht! Was erfahrt denn unsereiner schon. Ich hab’ ihn halt nur so oft da g’seh’n, wann ich für die Gnädigste einkaufen war!“ Sie deutete mit dem Kopf zu dem kleinen Schlösschen. „Für die Baronesse Klederwald!“

Ach was, eine echte Baronesse wohnt da? Muss schön sein, in so einem Schloss. Na ja, ich warert schon mit einer von die Sozialwohnungen zufrieden.“ Heinrich seufzte. „Aber das bleibt ein Traum. Als kleiner Hack’nstader kannst dir net einmal das leisten.“

Was kannst denn?“

Heinrich hob die Schultern. „G’lernt hab‘ ich eigentlich nichts, ich hab‘ halt bei meinem Vater im Kohleng’schäft gearbeitet. Aber jetzt, wo jeder eine Dampfheizung hat? Da ist er halt eingangen. Mit Rösser hab ich umgeh‘n können, aber jetzt fahrt jeder zweite schon mit Dampf, da ist auch kein Leiberl mehr zu reißen. Stark bin ich, und ich würd fast alles machen!“

Fast?“ Das Dienstmädchen zwinkerte kokett.

Na ja, ich würd’ keinen umbringen oder so!“

Aber sonst”, wackelte die junge Frau mit den Hüften. „Tätest dich zahlen lassen, wenn’st dafür eine Frau hobeln sollst!“

Aber gnädiges Fräulein, Sie müss‘n doch sicher net…“

Wappler! Doch net mich“, fuhr ihm das Mädchen über den Mund. „Aber meine Gnädigste sucht immer wieder potente Herren, die es den Damen unter ihren Gästen so ordentlich besorgen können. Ich frag’ einmal, aber vielleicht könn’st mir jetzt beim trag’n helf’n. Dann probier’n wir nachher halt einmal, ob’st überhaupt geeignet bist. Ein Teller Krautfleisch als Anzahlung könnt’ ich auch noch abzweigen. Magst?“

Ka Frag’! Klar mag ich!“ Dann schlenderte das Paar über den Markt, wo die junge Frau einiges an Obst, Gemüse und Fleisch einkaufte, während der Heinzi die Tasche trug.

I wett’ a Flasch’n Obstler, da Kiberer übernimmt de Klederwald jetzt mit’n Schmäh!“ Einer der Säufer bei der Branntweinerin stieß seinen Nachbarn an. „Siecht ja a Blinder mit da Kruck’n, dass de Trutschn ihm den Sandler abnimmt!“

Ah, geh! Der glaubt sicher, des is da Kucheltrampel, der si auch amal durchhobeln lassen will. Schau amal, wie die mit’n Arsch wackelt, wie a rollerte Katz’. Na ja, so war die Pepi von der Viererstieg’n ja schon immer! Ich weiß gar nimmer, wann die angfang’t hat, mit de Manner, aber mit sechszehne war die schon voll im G’schäft.“

Ja, dann is auf amal a Zeitl weg g’wesen und wie‘s wieder da war, hat’s glaubt, dass keiner mehr dakennt. Aber unsereiner ist ja a net auf der Nudelsuppen daher g’schwommen und hat Frittaten auf de Glurn. Des bisserl mehr auf die Dutteln und am Arsch, a andere Haarfarb‘, des langt no lang’ net, um uns des eine zum drahn.“

I was eh net, wem sie täuschen mecht. Bei der Papp‘n muss’ die do nur drei Wörter red’n, und kaner glaubt ihr mehr de Baronesse! Ja, Baronin, dann hätt’s halt an stanalten Baron z’Tod g’ritten, aber aufg’wachsen in an guten Stall – da muss ma scho grenzdebil oder Kiberer sein, dass ma des glauben mechert.“

Des is a Dings, no, a Pleini… na, so wie weißer Schimmel halt.“

A Pleonasmus?“

Aber ja, genau des. Bist a g‘scheiter Bub. Warum bist du eigentlich da bei uns?“

Ganz a blede G’schicht! I will a gar überhaupt net d’rüber reden! Trink ma lieber noch was!“

Des is a Red’!”

Aber so gut sollt’s mir a amal geh’n. A fesche Katz’ im Dienst für’s Vaterland hobeln.“

Da rederst aber anders, wennst die alte Schaßtrommel von Wolfenstein vor die Kanon’ kriegerst und d’rüber raspeln müsstest!“

Ach was, einfach Augen zu und an die Sicherheit von Österreich denken, dann schafft ma des a no!“

=◇=

Walter Brunner tigerte in seinem Büro auf und ab.

Der Lichtenbach, das muss der Hammeten sofort erfahren, das ist ein wengerl über mein Gehalt. I geh’ jetzt sofort zum Oberkommissär, der hat ein Telephon, da ruf’n wir gleich an. Gut g’macht, Pospischil. Hoffentlich wird der Heinzi mit seiner Aufgab’ fertig!“

Um den mach’ ich mir ka Sorg’, Herr Kommissär. Der Heinzi is ein schneller Denker, der ist fix. Der schafft des schon!“

*

Schmeckt’s, Herr Heinz?“ Der Unterkommissär saß an einem Tisch in der Küche, hatte einen Teller vor sich und löffelte das pikante Krautfleisch mit gelben, glänzenden Erdäpfelstücken, die junge Frau hatte sich ihm gegenüber niedergelassen und beobachtete ihn aufmerksam.

Ausgezeichnet“, lobte er mit vollem Mund. „Fräulein Fini, ihr Szegediner ist was ganz was feines!“

*

Woll’n wir’s hoffen, Pospischil. Er ist halt noch gar jung!“ Brunner hatte sich erhoben und ging auf die Tür seines Büros zu. Der Joschi Pospischil öffnete ihm die Tür, ging dann neben ihm über den Flur und rapportierte.

Knapp über zwanzig, Herr Kommissär. Aber er hat in der Schul’ gut abg’schnitten und hat auch sonst schon ein paar Erfahrungen g’sammelt. Und er ist ein guter Beobachter!“

*

Die Fini stand auf und stellte den leer gegessenen Teller in die Abwasch.

Wollen’s net den kleinen Heinzi zum spielen ‚rauslassen, Herr Heinz?“

Aber ja, Frau Fini, herzlich gern.“ Der Polizist stand auf und knöpfte die Hose auf.

Na was sagt man denn dazu? Das ist ja ein ganz prächtiger, großer Heinzi“ freute sich die Fini.

*

Kommen’s nur herein, Brunner! Haben’s etwas Neues?“ Oberkommissär Konrad Graf Hagenbach wies auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Ja, es geht um die Baronesse Klederwald.“

Ich erinner’ mich!“ forderte der Graf seinen Kommissär zum weitersprechen auf.

Heute hat der Graf Lichtenbach bei ihr vorgesprochen, Herr Graf. Er ist zwar net lang’ blieben, aber wenn man die Ermordung seiner Tochter…“

Der Graf hob seine Hand. „Kommen’s am besten gleich mit, Brunner. Ihr Unterkommissär auch. Franz! Ruf‘ er im Palais Hametten an und meld‘ er uns an. Das ist was für’s Evidenzbureau, Brunner, rapportieren’s gleich dort!“

*

Wollens net auch ihr kleines Katzerl amal an die Luft lassen, Fräulein Fini?“

Warum denn net? Musst halt ganz lieb anklopfen!“ Sie zog ihren Rock aus und stand in knielangen Unterhosen vor ihm, setzte sich auf die Kante des Küchentisches und stützte den rechten Fuß an der Lehne seines Sessels ab.

*

Franz Bauer, das altgediente Faktotum des Grafen Hagenbach, half dem Regierungsrat noch rasch in den Mantel und reichte ihm Hut und Gehstock, ehe er die Tür öffnete.

Ich werde gleich in der Remise anrufen, dass der Wagen des Herrn Grafen vorfährt!“

Gut, Franz, mach Er das! Geh’n wir, Brunner!“

*

Sie hab’m aber ganz entzückende Fußerln, Fräulein Fini!“ Heinz Navratil strich über das Waderl, das ihm so angeboten wurde und hauchte ein paar Küsschen auf den Knöchel, ehe der sich mit der Hand weiter nach oben zur Öffnung in der Bux und zum venerischen Delta wagte.

Na guuut, des war jetzt neeett genug ang’fraaagt! Stehen’s jetzt auf und machen’s es mir ordentlich!“

Aber sofort, Fräulein Fini! Passert – es – so?“

Oh – ja! Machen – Sie – nur – weiter …“

*

Gustl! Zum Palais Hammeten, aber schnell!“ Die drei Herren sprangen in den Wagen, der Fahrer gab Dampf und ließ die gepanzerte Dienstdroschke mit Dampfantrieb losfahren.

Wir nehmen den Weg übern Schwarzenbergplatz, euer Gnaden! Ist net der kürzeste, aber der schnellste Weg!“

Mach’ er nur, Gustl!“

*

Gut – Heinz – gut – machen’s – das! Oooh – JAAAA!“

*

Der Fürst zu Hametten lässt bitten, meine Herren!“ Der Sekretär des Fürsten öffnete die Tür und setzte sich, den Schreibblock in der Hand, zu Seite.

Also, meine Herren. Ich hab‘ g’hört, der Lichtenbach war bei der Klederwald?“

Das war er, Herr Geheimrat. Net lang’, aber er war da. Vielleicht hat’ er nur nach der Sabine g’fragt, weil er wusste, dass sie in dem Zirkel war, aber andererseits, der Baron hat eine Stelle bei der Hofsicherheit. Keine Hohe, aber das kleinste Loch in den Sicherheitsmaßnahmen unserer Herrscherfamilie – ich krieg’ eine Ganselhaut, wenn ich d’ran denk!“

Ich auch, Hagenbach, glaub’n Sie’s mir, ich auch!“ Der Fürst zu Hametten griff nicht nach der Glocke, um seine Leute zusammen zu rufen, sondern zum elektrischen Signalgeber, der alle derzeit im Auswärtigen Amt anwesenden Agenten der geheimen Abteilung zu sich in das Palais rufen würde. Zu gut deutsch, er gab Großalarm!

*

Ich glaub‘, dich kann ich gut für meine Seancen brauchen. Hättest Lust, dir ein paar Gulden zu verdienen, Heinzi?“ Die Baronin von Klederwald brachte ihre Toilette in Ordnung und verstaute den umfangreichen, aber festen Busen wieder ihn ihrer Bluse. „Schau nicht so desperat, ich probier‘ halt alle Männer selber aus, bevor ich’s anstell’. Jetzt gehst aber wieder, komm am Abend an die Hintertür. Darfst eine Nacht im warmen schlafen. Morgen Abend hast dann einen Auftrag.“

Hochwohlgeboren können über mich verfügen!“

Übertreib’s jetzt nicht Heinzi, Hochwohlgeboren sind nur die Fürsten. Gnädigste oder Baronesse reicht, im offiziellen Rahmen. Und jetzt schieb wieder ab!“

=◇=

Auf dem Nil

Die Stadt Assiut am Nilufer wurde von den Griechen in Verkennung des mit einem Schakalskopf dargestellten Anubis Lykopolis genannt. Schon in der Antike hatte hier der Karawanenweg durch die Wüste nach Darfur, also ins Land der Fur begonnen, ein Weg, den die Karawanen auch 1889 noch nahmen, und immer noch waren Kamele das gängigste Verkehrsmittel. Im modernen Hafen in der Nähe der antiken Pharaonenstadt war die MALIKAT MISR vor Anker gegangen und die Stewarts hatten die neugierigen Passagiere auf die alten Stätten bei diesem Halt aufmerksam gemacht. Auch Maria Sofia hatte ihrer Rolle als Touristin folgend das Schiff hier verlassen und bummelte nun durch die Ausgrabungen am Rand der Hafenstadt, als eine bekannte Gestalt ihren Schritt stocken ließ.

Herr Maerz?“, fragte sie erfreut. „Das ist aber eine Überraschung! Da habe ich Sie im fernen Amerika verlassen und treffe Sie hier in Assiut wieder?“ Der mittelgroße Mann im Vollbart, der in einem weiten, weißen Burnus bekleidet die Ruine des Anubistempels und die Statue des Gottes von Assiut betrachtete, fuhr zu Maria Sophia herum!

Kenne ich – Vergebung, Hoheit, mit euch habe ich hier überhaupt nicht gerechnet“, beugte sich Carl Friedrich Maerz über die Hand der Prinzessin.

Hatten wir das nicht schon hinter uns, Scharly?“ Maria Sophia hob die linke Augenbraue.

Damals – ihr wart siebzehn, ein Backfisch mit Liebeskummer, der sich gleich in das nächste Abenteuer stürzen wollte“, nickte der Deutsche.

Ja! Mit K’ááTo“, erinnerte sich Maria Sophia. „Aber der Gute war ja schon vergeben.“

Er war und ist ein Mann von Ehre, Hoheit“, versicherte Maerz. „Weder er noch ich hätten euch je unsittlich berührt.“

Leider“, bedauerte die Prinzessin. „Aber auch dann nicht, wenn ich’s auf bieg’n und brech‘n drauf ang’legt hätt’?“

Auch dann nicht, Hoheit!“

Scharly, sagen’s doch wieder Mary zu mir, wie damals am Pecos“, insistierte Maria Sophia.

Das – wäre mir zwar eine Ehre, aber es wäre auch – unpassend“, wehrte Maerz ab.

Maria Sophia seufzte. „Also gut, aber zumindest…“

Mary! Ich habe dich schon überall gesucht!“ Henry Jones raste auf die Beiden zu und umarmte die Prinzessin. „Ich muss mich doch noch von dir noch verabschieden. Wir gehen hier ein paar Kilometer nach Westen in eine winzige Oase, da sollen ein paar Bauwerke sein. Me’y… Ma’ja…“

Ma’Jayid“, half Maerz in der richtigen Aussprache aus.

Ja genau! Danke Herr Beduine.“

Henry, das ist Herr Maerz“, stellte Maria den Schriftsteller vor, während sie Henry zu ihm umdrehte.

Old Skullbreaker? Wirklich!“ Das Gesicht des Knaben strahlte. „Warum haben Sie denn eigentlich aus Tł’éé’ńł-ch’i und der Mary in ihrer Erzählung zwei Männer gemacht!“

Mein Verleger hat gesagt, es wäre völlig unglaubwürdig, wenn zwei Frauen diese Abenteuer erleben“, schmunzelte Maerz. „Das müsste ich noch einmal überarbeiten. Und da habe ich halt zwei Männer aus den Mädchen gemacht.“

Dürfte ich vielleicht ein Autogramm haben?“, bat Henry.

Natürlich. Schreibe mir nur auf, wo ich die Karte hin schicken kann! Ich fahre mit dem Schiff weiter, mit der QUEEN OF EGYPT, auf dem seid ihr ja wahrscheinlich gekommen!“

Ja, Mister! Danke, Mister!“ Damit lief der Junge schon wieder davon und winkte noch einmal.

Sie sind wieder auf der Suche nach einem Buch?“ Maria Sophia betrachtete angelegentlich das Gräberfeld.

Das bin ich doch immer, Hoheit!“

Könnten wir uns vielleicht zumindest auf Fräulein Maria einigen?“, drang die Erzherzogin weiter in Maerz.

Das…“

Bitte“, zog Maria den gleichen Flunsch wie damals in Texas. Mit dem gleichen Erfolg. Maerz seufzte.

Na gut, Fräulein Maria. Aber Sie erklären es ihren Begleitern.“

Woher wissen Sie…“

Ich bin nicht blind und dumm”, grinste der Autor. „Wenn ich auch nicht so klug wie unser gemeinsamer Freund K’ááTo… – RUNTER!“ Er sprang die Prinzessin an und riss sie zu Boden, jetzt hörte auch sie aus dem Westen Schüsse knallen. Sie rollte herum, sah eine Horde Beduien auf Kamelen reitend auf sich und Maerz zustreben. Der Jäger und Autor griff unter seinen Burnus, seine Hände kamen mit zwei schweren elf Millimeter Mauser Revolvern hervor. Auch Maria Sophias Rechte griff unter ihrem Cape nach ihrer großen, halbautomatischen Pistole im Kaliber 8 Millimeter, das neueste Modell der kaiserlich-königlichen Waffenmanufaktur Mannlicher & Kraus und zog sie aus ihrem Halfter.

Das ist wirklich keine Fantasia!“ rief die Prinzessin und eröffnete das Feuer. Zehn mal, elf mal, zwölf mal, dann blieb der Verschluss offen. Unflätig fluchend warf Maria Sophia das Magazin aus und klemmte ein neues in die Halterung vor dem Abzug.

Du verabscheust Munitionsverschwendung also immer noch!“ brüllte Maerz durch den Lärm der Schüsse, auch seine Revolver spien dem Feind heißes Blei entgegen. Vom Schiff her fielen jetzt Schüsse aus einem schweren Scharfschützengewehr. Der Knall war eindeutig, Wilhelm Graf von Inzersmarkt griff mit seiner liebsten Waffe in den Kampf ein. Ein Schrei aus einer Frauenkehle durchbrach das Knallen der Waffen, die Beduinen machten kehrt und galoppierten auf ihren Kamelen davon. Slatin kam von hinten keuchend angerannt und warf Maria Sophia einen der mit dem Rückstoß repetierenden halbautomatischen Karabiner der kakanischen Dragoner zu.

Sie haben Henrietta Jones mitgenommen, Hoheit”, rief der Pascha.

Verdammt!“ Die Prinzessin stampfte mit dem Fuß auf, der Sand nahm dieser Demonstration ihrer Wut allerdings viel von seiner Wirkung.

Nicht fluchen, Mary! Kommt mit!“ Maerz lief südwärts, wo eine Straße zum Fluss verlief und eine Karawanserei lag. „HALIL! JAMAL! Aljamal Wabunduqiati, sarie, sarie“, rief er laut, aus dem Han kam ein Beduine mit dem dampfhydraulischen Pfeilgewehr und dem schweren, extrem großkalibrigen Jagdgewehr Carls, ein weiterer kam mit vier gesattelten Kamelen.

Hier, Effendi!“ der Beduine warf Maerz sein Gewehre zu, der sie geschickt fing.

Ich hoffe, du kannst nicht nur Pferde reiten“, rief er Maria zu, die Kamele wurden zum knien gebracht, Maerz sprang in einen Sattel.

Ich schaff’s” Die Erzherzogin sprang auf ein zweites und Slatin, der seiner Prinzessin nie von der Seite wich, nahm ein drittes. Die Kamele erhoben sich mit den ihnen eigenen Bewegungen, nach vorne, hinten hoch, dann die Vorderbeine gestreckt.

Vorwärts!“ Die drei stürmten los, ungeachtet der Gefahr. Die in Assiut stationierten Asaker liefen noch zu ihren Tieren und Fahrzeugen, da stürmten die drei Kamele bereits über den Dünenkamm und immer weiter den leicht zu erkennenden Spuren nach in die Wüste hinein.

=◇=

Die Hufe der Kamele warfen den Sand hinter sich, die Beduinen in den dunkelblauen Kaftans und den Turbanen mit Gesichtsschleiern feuerten einander zu immer größerer Geschwindigkeit an. Einer hatte die zappelnde und kreischende Henrietta Jones vor sich und hielt sie mit harter Hand fest.

Tamlmal faqat, Fatat“ rief er, dann vorsichtshalber in gebrochenem Englisch. „Nicht wehren, bist gute Beute! Iilaa al’amam!“

Iilaa al’amam“, antworteten die anderen schreiend und trillernd! „Vorwärts, Vorwärts!“ Henrietta kam es endlos vor, dass sie von den rauen Männerhänden umklammert und durch die Wüste verschleppt wurde. Weiter, immer weiter, die Angst der Amerobritin stieg. Was stand ihr wohl bevor? Nun, eigentlich erwartete sie nur noch eines, denn warum sollten Beduinen, Halbwilde, eine weiße, rothaarige Frau entführen, wenn nicht, um sie zu vergewaltigen. Einen nach dem anderen sah sie bereits über sich kommen, während sie von den anderen festgehalten wurde. Warum sonst sollte man sie lebend mitnehmen, denn hohes Lösegeld war für sie doch nicht zu erwarten. Nein, es war nur eine Antwort möglich, mehr und mehr ergriff die Panik von ihr Besitz. Dann galoppierten sie auf eine Gruppe von drei Personen zu, welche abgestiegen im Schatten eines offenen Zeltes offensichtlich auf die Horde warteten. Der Entführer Henriettas ritt vor das Zelt und ließ sie in den Sand fallen. Sie hob den Kopf und sah in ein lächelndes Gesicht, das sich gleich darauf zornig verzerrte.

Ayuha al’ahmaq, hadha hu alkhata“, tobte der Mann. „Wer ist das, du hirnloser Hund?“

Du hast gesagt, die Frau mit dem roten Haar“, schrie der Reiter zurück. „Das war die einzige Rothaarige, die da war!“

Aber das ist nicht Marie Sophie min Alsnamsa! Für diese Frau werde ich nichts bezahlen“, schimpfte der Fremde vor dem Zelt.

Unser Stamm hat mehr als dreißig Männer verloren, keiner hat uns gesagt, dass dort zwei Männer sind, die schwer bewaffnet sind und scheinbar ewig schießen können. Wir haben trotzdem gekämpft und die Frau erobert! Sie ist für uns wertlos! Lösegeld ist zu riskant!“ Der Scheich war mehr als unzufrieden.

Dann biete sie auf dem Sklavenmarkt an. Ist sie wirklich eine echte Rothaarige oder ist sie eine mit Henna gefärbte?“

Keine Ahnung!“ brummte der Scheich und schwang sich aus dem Sattel. „Kontrollieren wir es doch einmal.“ Er ging auf Henrietta zu, die vor Angst bebend zurückwich. Der Anführer der Männer im Zelt packte sie bei den Armen, der Scheich hob ihren Rock. ‚Jetzt geschieht es’, dachte Henrietta, die kein Wort verstanden hatte, und schloss die Augen. Sie wollte schreien, doch ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie wollte kämpfen, doch sie war wie gelähmt. Der Mann zog aber nur ihre Unterwäsche beiseite und sah genau hin.

Die Haarfarbe ist echt”, konstatierte er und ließ das Kleid wieder fallen. „Nun ja, im Süden kann so eine Frau schon ein wenig bringen. Auch wenn sie keine Jungfrau mehr ist!“

Dann bring sie am Besten den Nil hinunter nach Dahschur. Dort erzielen solche Weiber den besten Preis. Aber wo ist diese Alsnamsa? Die brauche ich wirklich!“

Das Stirn des Scheichs der Beduinen, die Assiut angegriffen bildete mit Kimme und Korn des Karabiners einer Prinzessin aus dem Haus Österreich eine perfekte Linie, der Zeigefinger Maria Sofias krümmte sich langsam, der Hahn schlug auf den Schlagbolzen, der die Pulverladung entzündete und das Projektil genau zwischen die Augen des Scheichs trieben, der sich plötzlich keine Gedanken mehr über einen eventuellen Gewinn aus einem Verkauf Henriettas mehr machen musste. Er machte sich überhaupt keine Gedanken mehr, ebenso einige seiner Kumpane, als von der Höhe der Düne die Schüsse aus den Gewehren der beiden Österreicher und die Flechettes des Deutschen ihre Opfer suchten und fanden. Auch wenn die Wüstensöhne sofort ihre Waffen ergriffen, nach einem Ziel suchten und ihrerseits das Feuer eröffneten, die Verfolger hatten sich gut aufgeteilt und schossen abwechselnd. Nach nur wenigen Minuten war nur noch jener Mann im Zelt am Leben, welcher Henrietta immer noch festhielt. Maria Sophia und Slatin Pascha erhoben sich und schritten langsam die Düne hinab.

Ach, der Scheich hat dich in den Hosen wohl nicht als Frau erkannt, Hoheit“ rief er ihnen entgegen. „Bleib stehen, oder diese Frau, die mir der Scheich an deiner Statt gebracht hat, stirbt.“ Maria senkte ihren Karabiner und stützte die rechte Hand in ihre Hüfte.

Und wie soll es weiter gehen, wer auch immer du bist“, fragte sie.

Du hast recht, kleine Prinzessin. Es gibt keine befriedigende Lösung mehr, nur noch eine endgültige! Möge Gott dem goldenen Frühling den Sieg und mir die ewige Seligkeit schenken!“ Er hob seinen Revolver und zielte auch Maria Sophia, drei winzige Löcher entstanden in schneller Folge in seiner Stirn. Sein Gesicht nahm einen ungläubigen Ausdruck an, die Waffe wurde zu schwer für seine Hand, die Mündung senkte sich und der Mann brach zusammen.

Von dem erfahren wir jetzt auch nichts mehr“, knurrte Maria Sofia ärgerlich und betrachtete den Mann genau, doch außer einem für diese Gegend unauffälligem Aussehen konnte sie weder bei ihm noch seinen Begleitern etwas besonderes feststellen.

In welche Bredouille bist du denn schon wieder geschlittert, Mary?“, fragte Carl Friedrich Maerz. Er war mittlerweile seine Düne mit dem Dampfgewehr über die Schulter gelegt herunter gekommen. Slatin öffnete bereits den Mund zu einer Strafpredigt, doch Maria Sophia hob die Hand.

Es ist in Ordnung“, beruhigte die Erzherzogin den Oberstleutnant. „Der Mann ist ein wirklich guter Freund und Kamerad, und es würd‘ mich freuen, wenn wir in Zukunft auf das Hoheits-Gerede verzichten könnt‘n. Rudolph, das ist Scharly, Carl Friedrich Maerz, Scharly, das ist Rudolph. Rudolph Carl Freiherr von Slatin. Ich bin Mary, solange wir in Africa oder sonst wie in der Wildnis sind. In manchen Fällen kann eine Silbe mehr, die man rufen muss, ein Todesurteil sein, also keine langen Fisimatenten mehr. Reiten wir jetzt zurück!“ Sie wechselte vom Deutschen ins Englische. „Kommen Sie, Henrietta. Wir reiten zurück zu ihrem Mann und ihrem Sohn!“ Aufschluchzend legte die Amerikanerin ihren Kopf an Maria Sophias Brust. „Schon gut, Henrietta. Weinen Sie nur. Sch-sch! Alles wird gut, nichts ist passiert. Alles wird gut“, tröstete die Erzherzogin die Frau des Abenteurers Orville Jones, ehe sie wieder nach Assiut zurück kehrten.

Als sie nach der Befreiung Henriettas aus den Händen einiger Beduinen nach Assiut zurückkehrte, sah sich Maria Sophia gezwungen, Carl Friedrich Maerz und die erwachsenen Mitglieder der Familie Jones zumindest teilweise in ihr Vertrauen zu ziehen und ein wenig über die Hintergründe ihrer Reise und wahrscheinlich auch des Überfalls aufzuklären. Henrietta überlegte nicht lange.

Orville ist nicht nur ein Abenteurer, Majestät, er ist auch Historiker und Völkerkundler, und im Britischen Empire sogar ein recht bekannter! Wenn er ihnen helfen kann…“

Orville nickte. „Ich werde meinem Auftraggeber telegraphieren, dass sich die Expedition aus begreiflichen Gründen noch verzögert, zumindest sind die Gründe aus meiner Sicht verständlich.“ Maria Sophia legte den Finger auf einen notwendigen Punkt.

Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Finanzen, Orville. Ein wenig Geld hat die Prinzessin von Österreich doch noch zur Verfügung! Sie werden also keinen finanziellen Schaden davon tragen. Aber die Reise wird vielleicht gefährlicher als ihr Trip in die Wüste, um dort nach alten Artefakten zu suchen, Henrietta.“ Frau Jones winkte ab.

Aber ich habe auch die besten Aufpasser, die man sich vorstellen kann!“ kicherte sie plötzlich los. „Old Skullbreaker persönlich, und den Mann mit dem flammenden Haar! Auch, wenn der plötzlich zu einer hochadligen Frau geworden ist. Und wer kennt denn nicht den Slatin Pascha, sogar bei uns drüben in den Kolonien ist er für seine mutigen Raids bekannt!“

Der Freiherr zuckte mit keiner Wimper. „Dann hat man ihnen meine Beichte nicht berichtet?“

Doch, hat man“, nickte Henrietta eifrig. „Umso mehr bin ich froh über ihre Begleitung.“ Orville war ebenfalls schon mehr als nur halb überzeugt.

Für ihr großzügiges Angebot danke ich euer Hoheit, aber ich – nun, das Abenteuer an sich reizt mich doch schon sehr.“

Dann nehmen Sie die Gulden schon – kaufen Sie doch Henrietta ein Reit- und Reisekleid damit. Möglicherweise in Dendera. Was meinst, Lisi, deine Franziska könnte von der Größe halbwegs hinkommen, dass sie ein Gewand für die Henrietta anprobieren könnte? Und im Abändern ist sie doch auch ganz gut. Da hat dann die Henrietta ein hübsches Gewand, wenn wir weiter fahren!“ Henrietta sah an sich herab.

Was ist mit meinem Kleid denn nicht in Ordnung?“

Zu viel schwere Wolle, zu wenig leichte Baumwolle, und entschuldige, aber ordentlich bewegen kannst du dich darin auch nicht. Zu eng, zu wenig Spielraum. Das Kleid ist vielleicht für die Stadt noch halbwegs brauchbar, aber sicher nicht dort, wo wir hingehen. Und es ist, mit Verlaub, hässlich! Farblos! Völlig aus der Mode! Einmal schauen, grün würde zu deiner blassen Haut und der knallroten Haarfarbe passen. Vielleicht ein paar Ziernähte in Rot und Schwarz hier und da, vorne noch so etwas wie eine Verschnürung und dann sollten wir schauen, dass das Gewand am Hals nicht zu eng und zu hoch ist, damit man auch eine Kleinigkeit von dir zu sehen bekommt. Und, nachdem wir in Africa sind, auch noch ein sandfarbenes Reisekostüm, mit einem breiten, hellbraunen Ledergürtel, in der gleichen Farbe hübsche, nicht ganz kniehohe Stiefelchen – solche Leinenstiefeln zum schnüren vielleicht – und natürlich für den Fall der Fälle ein paar Tüllhandschuhe.“

Aber…“

Vertrau einfach auf die Franziska. Später werden wir dir auch noch ordentliche Hosen besorg‘n“, winkte Maria alle Einwände beiseite.

Besitzen Sie eigentlich irgendwelche Waffen, Orville”, warf Maerz plötzlich ins Gespräch.

Nun, ja, besitze ich natürlich. Ein Repetiergewehr Marke Winchester 44/40 mit Vorderschaftrepetierung und einen vom Kaliber dazu passenden Revolver Modell 3 von Smith and Wesson. Den mit dem abkippbaren Lauf!“

Und wo waren die vorher?“, fragte Slatin und hob eine Augenbraue.

Noch in meinem Gepäck verstaut. Ich dachte doch, Assiut wäre sicher!“

Derzeit ist für uns leider nichts sicher, Orville, tut mir leid“, insistierte der Freiherr von Slatin. „Tragen Sie ihren Revolver ständig bei sich, wenn Sie nicht an Bord sind. Und auch an Bord schadet es nicht. Wenn Sie mit Henrietta in ihrer Kabine sind, dürfen Sie ihn ablegen, aber lassen Sie ihn griffbereit liegen. Wir wissen nicht viel über unseren Gegner, nur, dass er scheinbar ‚Goldener Frühling‘ heißt.“

Vielleicht sollen wir das aber auch nur denken”, überlegte Maria Sophia. „Egal, wir nennen ihn für das Erste einfach so. Ob Saloumne dazu gehört oder zu einer Konkurrenz, das müssen wir noch herausfinden. Aber jetzt gehen Sie telegraphieren, Orville. Ich besorge in der Zwischenzeit ihre Tickets! Beherrschen Sie eigentlich die deutsche Sprache?“

Meine Mutter war eine Deutsche, aus dem Schwabeländle!“, wechselte Henrietta in den deutschen Dialekt. „Und meim Orville, dem hab‘ ich unser schöne Sprach auch so ei bissle beibracht. Wir schaffe es aber auch fast hochdeutsch.“

Sehr gut. Also, Orville, drahten‘s nach Haus, an ihren Auftraggeber, wir besorgen ihnen inzwischen eine Kabine. Henrietta, können‘s eigentlich mit einer Waff‘n umgeh‘n?“ Die Amerikanerin machte große Augen.

Wer, ich? Schon, natürlich, mit einem leichten Jagdgewehr. Und auch mit einem Revolver, wenn er nicht zu schwer ist.“

Na gut. Oberst von Inzersmarkt wird mit ihnen ein wenig treffen trainieren“, bestimmte Maria Sophia.

Ich glaub’, ich hab’ sogar die richtige Puff’n für die junge Dame mit. Von Skoda in Pilsen für unsere zivilen Kieberer entwickelt, hat zwar nur vier Komma acht Millimeter im Kaliber, aber eine respektable Kraft hinter’m Geschoss. Mannstoppend, bis auf sechzig Meter noch halbwegs zielgenau. Klein und handlich!“ Der Oberst zog eine kleine halbautomatische Pistole unter der Jacke hervor. „Lasst sich ganz unauffällig trag’n und hat doch ganze zwanz’g Schuss im Magazin. Das wiederum steckt da im Griff, nehmen’s das Ding, junge Frau, ich hab’ noch eine zweite in Reserve!“

Danke, Herr Graf. Vielen herzlichen Dank!“ Henrietta stellte sich auf die Zehenspitzen und gab Inzersdorf einen dicken Kuss auf die rechte Backe! „Na, wenn’st jetzt noch Busserl auf die linke gibst, dann ist die Krach’n für mich mehr als gut bezahlt, Madl“, grinste der alte Oberst, und Henrietta nahm sich für den zweiten Kuss etwas mehr Zeit! „Genug, Madl”, brummte der alte Oberst gerührt und schob sie schließlich zurück. „Sonst wird ja dein Mann vielleicht noch eifersüchtig auf mich!“ „Und, Henrietta, Sie sollt‘n sich von der Lisi noch zeigen lass’n, wie man einem Mannsbild, das einem zu nah‘ kommt, mit bloßen Händ’ und Füß’ so richtig weh tun kann“, schlug Maria Sophia abschließend vor.

=◇=

Die MALIKAT MISR hatte Assiut hinter sich gelassen und dampfte weiter gemütlich stromaufwärts nach Süden, ihr nächstes Ziel war Denderea, einer der berühmtesten Tempel mit wunderschönen Hieroglyphen und Wandmalereien. Jener Tempel, in welchem nach Meinung einiger Historiker eine Art Göbellampe abgebildet sein sollte, woher Ägypter allerdings den Strom genommen hatten – man diskutierte noch darüber. Maria Sophia war es im Grunde völlig egal, ob die Ägypter mit Öllampen, Göbel- oder Teslabirnen Licht erzeugt hatten, von ihr aus hätte auch einer der Priester eine leuchtende Scheibe aus Ektoplasma beschwören dürfen, um die Erschaffung der prächtigen Malereien an den Wänden zu ermöglichen! Jetzt saß die Gruppe gemütlich in der Kabine der Prinzessin von Kakanien zusammen und besprach wieder einmal die vorhandenen Informationen.

Feuer aus den Rohren von Flugschiffen, Goldener Frühling, Toussidé, Awlad Alrabi, Paradies, Messias in Jerusalem, Gonder, es hätte so schön…! Das hat mir die junge Lichtenbach zugeflüstert“, rekapitulierte Maria Sophia und trank einen Schluck Sodawasser, Maerz und die Jones hatten die Worte bisher noch nicht gehört.

Wir haben uns immer gefragt, wo die Zusammenhänge sind”, fuhr Slatin fort. „Ich meine, warum sollten Flugschiffe des Goldenen Frühling Jerusalem beschießen, und wo wollen sie diese Schiffe überhaupt her nehmen? Und was hat das Paradies damit zu tun. Und wie passt Gonder mit Jerusalem und dem Rest zusammen. Gonder ist doch eine absolut unwichtig gewordene Provinz in Abessinien!“

Unwichtig? Für uns vielleicht schon, aber für die Äthiopier wahrscheinlich nicht. Und es gibt da schon eine Verbindung zwischen Gonder und Jerusalem!“ Orville Jones hob seinen Zeigefinger an seine Nase. „Moment – mir fällt es gleich ein!“ Er schnippte mit den Fingern. „Ja, genau, die Falaschen!“

Maria Sophia zündete sich einen Cohiba-Zigarillo mit der Holzspitze an. „Und wer oder was sind diese Falaschen?“

Ein africanischer Volksstamm, der von sich behauptet, von den Juden Israels abzustammen“, referierte Orville. „Sie haben Rabbiner, halten sich an die jüdischen Gesetze und Gebote, verehren den Talmud und ehren alle alten Feiertage. Sie sagen, sie wären der geflohene Stamm Dan.“

Wirklich?“ Carl Friedrich Maerz war nur mäßig überzeugt. „Na ja, behaupten kann man viel, und glauben alles!“

Möglich wäre es scho, Scharly“, bekräftigte Henrietta. „Sie habe nicht wenige Schrifte aufbewahrt, zwar in ihre eigene Schriftle, aber das Amharische, das in ganz Abessinien gesproche wird, ist mit dem Aramäischen, der altjüdische Sprache sehr eng verwandt.“

Was sagen denn die Rabbis dazu“, fragte Oberst Inzersmarkt.

Was schon, genau das, was in so an Fall’ alle Pfaff’n von jeder Religion sag’n würd’n“, Lisi von Oberwinden versuchte sich im jiddeln. „Werden wer holt klären, wos is die Wohrheit, und donn werden wer klären, ob se in der Thora und dem Talmud steht und zum Schluss, ob wer se werden anerkennen!“ Ihre Parodie wurde mit einigem Gelächter aufgenommen, doch rasch war man wieder ernst und kam zurück auf das Thema.

Interessant sind aber auch die in der Nähe liegenden Kirchen von Lalibela!” Orville nippte an seiner heißen Schokolade mit Rum. „Statt in die Höhe zu bauen, haben sie ganze Kathedralen aus dem Boden gegraben. Man sieht sie erst, wenn man knapp davor steht, und von der Größe müssen sie sich vor so mancher europäischen großen Kirche nicht verstecken. Sie haben sehr, sehr tief gegraben, es sind keine niedrigen romanischen Gotteshäuser, die Räume sind verdammt hoch!“

Ach geh’, wie soll‘n ein paar Bloßfüßige denn das g’schafft haben?“, näselte der Oberst.

So wie die Pyramiden, Wilhelm“, antwortete Elisabeth von Oberwinden. „Wir wissen auch nicht wie und wer’s hing’stellt hat, aber sie steh‘n da. Logischerweis‘ müssen’s baut worden sein, weil der Herrgott wird’s ja net fixfertig vom Himmel g’worfen haben.“

Ein Punkt für sie, Lisi. Aber es wundert einen halt!“

Wolle sie noch etwas interessantes wisse?“ Auch Henrietta Jones hatte sich mit fremden Kulturen beschäftigt, aus reiner Neugier. „In de Äthiopisch-orthodoxe Kirchle, die sie Tewahedo nenne, ist der Judas Ischariot ein verehrte Heilige, und zwar als jener Apostel, der Jesus bei der Erfüllung seiner Aufgabe g‘holfe hat!“

Judas? Bist sicher?“ Für die Anderen war das kaum zu glauben, Lisi gab dem Ausdruck.

Wenn de Professor Neil Holeman kein komplette Narr war, dann könne wir davon ausgehe, dass es stimmt.“

Es gibt da noch etwas, das nicht nur der Oberst nicht glauben wird!“ Orville grinste in die Runde.

Sie mach’n uns neugierig, Orville. Raus mit der Sprach‘!“

Wie kaiserlich-königliche Hoheit befehlen“, verbeugte sich Orville. „Hat jemand schon etwas vom Bundesring gehört?“

Ist das auch so ein Mythos wie die Bundeslade oder der heilige Gral?“ Sogar Lisi sah skeptisch aus der Wäsche.

Der Sage nach gab Jehova dem Stamme Daniel einen Gegenstand zur Aufbewahrung, der die Feinde des Volkes Israel davon abhalten sollte, das auserwählte Volk Gottes zu vernichten“, erzählte der Wissenschaftler.

Hat ja hervorragend g’klappt“, warf die Erzherzogin ein. „Das Volk wurd‘ doch net nur einmal vertrieb’n, besiegt und in alle Welt verschleppt.“

Nun, es steht geschrieben ‚Der Herr gibt und der Herr nimmt, geheiligt sei der Name des Herrn, sein Wille geschehe, nicht jener des Menschen‘. Und damit kann man dann alles entschuldigen und erklären!“ Orville entzündete eine Zigarre und paffte zufrieden. „Ich habe ja gesagt, es wird mir niemand glauben. Ich wollte es nur der Vollständigkeit halber erwähnt haben!“

In Ordnung“, klopfte Maria Sofia mit den Knöcheln auf den Tisch. „Danke, Orville! Weiter! Die Wab’n hat g’sagt, ich hab’ alles in Kairo erfahr’n, was ich wiss’n muss. Für Jerusalem hätt’s mich nicht nach Kairo und dann den Nil aufwärts schicken müssen, also schau’n wir uns zuerst in Abessinien um. Zuerst in Gonder bei den schwarzen Juden, und dann in Laladings…“

Lalibela!“

Genau! Toussidé behalten wir im Hinterkopf, aber ich glaub irgendwie nicht wirklich, dass unser nächstes Ziel irgendein ein abgelegener Schichtvulkan im Tschad sein soll. Ist klarer Weise ein Risiko, aber mit einem Arsch auf zwei Kirtag zugleich kann halt auch eine Prinzessin nicht sein. Pack’n wir‘s. Nächste Station ist Dendera, und danach kommt Luxor, da gibt’s schon eine Telegrammstation. Und sicher ein paar Kameltreiber, die uns zu einem bestimmten Punkt am Nil bringen können. Lieber Rudolf, Sie werden doch sicher vom Kapitän Einblick in die Karten bekommen, bestimmen Sie einen guten Koordinatensatz, an dem wir uns unauffällig abholen lassen können. Und jetzt, jetzt gehen wir noch ein bisserl Tontauben schießen.“

=◇=

Am Heck der MALIKAT MISR, über dem Schaufelrad, war ein gesicherter, nur nach hinten offener Schießstand eingerichtet, beiderseits mit Werfern für die Tonscheiben ausgestattet, welche es üblicherweise mit Schrotflinten zu treffen galt. Es waren für wenig Entgelt an Bord solche Waffen auch zu mieten, und Munition dafür war genügend vorhanden. Für diese Übung hatte Oberst Inzersmarkt aber einige alte, wieder verschlossene Flaschen und andere zerbrechliche Schwimmkörper besorgt, welche hinter das Schiff ins Wasser katapultiert wurden.

Also, Mädel! So eine Skoda ist was anderes als ein Revolver. Lass dir Zeit, zerlegt und zusammenbaut hast sie ja schon einmal. Magazin in den Griff, bis einrast’, Verschluss bis zum Anschlag zurückziehen, loslassen. Jetzt legst die rechte Hand mit der Waff’n in die Linke, Kimme, Korn und Ziel in einer Linie, langsam den Zeigefi…“ WAMM! Der Schuss brach für Henrietta völlig überraschend, eine kleine Fontäne im Wasser zeigte den Einschlag der Kugel zwischen zwei Flaschen. „Langsam hab’ ich g’sagt! Beide Augen offen, und immer nur auf ein Ziel konzentrieren – net auf zwei gleichzeitig zielen! Noch einmal. Zielen – langsam drücken…“ WAMM! „Fast! Schon viel besser. Das wird schon, wenn’st genug übst. Noch einmal! Und wenn’s ernst wird, dann denk immer daran: auf die Mitt’n vom Oberkörper ziel’n.“

Auf der anderen Seite des Standes hatte Maerz seine überdimensionale Jagdflinte zur Hand genommen, eine Springfield Rifle Modell 1866.

Ich wette, das ist die letzte 66er Version, die es noch gibt”, bemerkte Maria Sophia mit einem Seitenblick auf die monströse Waffe. „Wo bekommst du eigentlich die .50-70 Munition her? Es gibt doch gar kein anderes Gewehr im 12,73 Millimeter Kaliber mehr.“

Der Autor und Jäger grinste. „Spezialanfertigung eurer Mannlicher-Kraus-Werke. Alter Hülsenaufbau von den Ausmaßen, aber modernes Pulver und Material. Teuer, aber manchmal lohnend, wenn das Ziel weiter als einen Kilometer entfernt ist.“

Ich bin beeindruckt, Scharly!” Maria Sophia nahm eine Coiba aus der Packung und riss ein Streichholz an. „Treffsicher auf einen Kilometer ist auch mit aufg‘legter Waff’n schon eine reife Leistung!“ Maerz ließ sich auf ein Knie nieder und stützte die schwere Waffe ab.

Heute bekommen die Bewohner des Dorfes da oben ihren Flusspferdspeck ohne Gefahr und große Anstrengung.“ Das Donnern der schweren Waffe war ohrenbetäubend, das anvisierte Flusspferd brach, exakt in den Kopf getroffen, tot zusammen.

Respekt!“ Maria Sophia lehnte sich an die Reling, während Maerz den Scharnierverschluss hochklappte und sein Gewehr nachlud. „Es ist schon irgendwie ein bisserl seltsam, dass wir uns nach so langer Zeit grad hier in Africa wieder über’n Weg laufen!“ Maria nahm einen tiefen Zug aus ihrem Zigarillo.

Nicht so sehr, Mary.“ Maerz fummelte am Visier seiner Büchse herum. „Ich bin doch immer in der Welt unterwegs, um neuen Stoff für meine Bücher zu sammeln. Es war wohl Gottes Fügung!“

Wirklich?“ Sie nahm sein Gesicht in die Hand, drehte es zu sich und sah ihm tief in die Augen. „Ich glaub’ net so richtig an göttliche Fügungen. Ich glaub’ eher, du hast Sehnsucht nach mir g’habt? Aber woher hättest du wissen können, dass – nein! Nein, ich glaub’ doch eher, es war meine Frau Mama, die dir einen Brief und ein paar Billetts nach Deutschland g’schickt hat, damit der große Jäger ein Aug‘ auf das missratene Töchterl hat! Ha! Ich hab’s doch g’wusst! Du hast grad mit dem Aug’ zwinkert. Ich hab‘ dich ertappt!“

Ich bekenne mich schuldig“, gestand Maerz. „Aber das Abenteuer konnte ich mir doch nicht entgehen lassen, mit dir durch Africa zu reisen und diesen Schuft zu finden.“

Und dann machst wieder einen Mann aus mir, wenn’st das Büchel niederschreibst“, Maria drohte Carl schelmisch mit dem Finger. „Aber heut’ bin ich kein liebeskranker Backfisch mehr, sondern eine erwachsene Frau!“

Das ist mir nicht entgangen“, schluckte Maerz mit trockenem Mund. „Aber du bist immer noch Prinzessin, und ich immer noch ein einfacher Bürgerlicher!“

Na und? Glaubst, ich hab’ in die letzten zehn Jahr’ noch keinen bürgerlichen Hengst g’ritten? Und heirat‘n will ich dich ja schließlich eh net! Aber red’n wir später d’rüber. Zuerst…“ sie legte den Zigarillo in den Aschenbecher, nahm Maerz das schwere Gewehr aus der Hand und kniete damit hin. „Schau’n wir einmal, ob ich die Flasche da hinten mit deinem Mörser treff’n kann!“ Wieder dröhnte das Geräusch des schweren Gewehres über den Fluss, und etwa 800 Meter hinter dem Schiff zerbarst eine Flasche beim Aufprall der schweren Kugel in kleine Scherben. „Geht ja!“ Maria Sophia reichte Maerz die Springfield zurück und nahm ihren Zigarillo wieder auf.

Darf ich auch einmal?“, fragte Elisabeth von Oberwinden nach vor tretend.

Natürlich!“ Carl Friedrich reichte ihr das Gewehr, aber die Baronesse winkte ab.

Ich hab’ doch nicht dieses Feldgeschütz g’meint. Das bricht mir ja mein zartes Schulterl. Ich will nur wiss‘n, wie die Winchester vom Orville ist. Und ihm vielleicht ein paar Tricks zeig’n. Wenn‘s ihr ein bisserl zur Seit’n geh’n könntet?“ Maria Sophia und Carl Friedrich traten ein wenig zur Seite, und Elisabeth nach vor. Auf ihren Ruf wurden wieder einige Ziele in die Luft geschleudert, und die Baronesse riss Orvilles Gewehr hoch. Drei, vier, fünfmal bellte die Waffe auf, fünf Ziele zerbrachen noch in der Luft, ehe das sechste im Wasser des Nils landete.

Der Lademechanismus ist ein wengerl schwergängig. Das kostet Zeit beim Durchladen. Ich denk’, dass der Schlitten am Vorderschaft oder der Verschluss nicht ganz exakt eing’schliffen ist. Einmal schau’n, vielleicht hat der Maschinist eine feine Feile. Aber jetzt komm her, Orville. Du musst beim Zielen mit alle zwei Augen schau’n, nicht das linke zukneifen. Die linke Hand so weit wie möglich nach hint‘n – das ist einer von den Gründen, warum ich die Vorderschaftrepetierer nicht wirklich mag. Man hat die Linke zu weit vorn – notgedrungen. Und weil das Durchladen im Liegen nicht so einfach ist. Man muss sich immer herumrollen, damit der linke Arm frei zu bewegen wird. Aber gut, weiter. Den linken Oberarm an den Oberkörper pressen, den Kolben ganz fest an die Schulter pressen. Tief durchatmen, entspannen und Schuss! Na gut! Für einen Infanteristen würd’s reichen, aber ein Scharfschütz’ wirst du wohl nicht mehr werden. Noch einmal, beide Augen, fest anpressen…“

=◇=

Dendera, oder Tantarer, wie die Stadt am linken, westlichen Nilufer in der ägyptischen Sprache auch genannt wurde, war einer der Höhepunkte jeder Nilkreuzfahrt. Kaum ein Passagier versäumte es, den großen Tempel der Hathor, welcher im 19. Jahrhundert etwa zwei Kilometer vom Flussufer entfernt am Rande des fruchtbaren Streifen Landes lag, mit den spektakulären Wandmalereien oder das kleinere Heiligtum der Isis zu besuchen.

Willkommen im Tempel der Hathor, dessen Bau vermutlich auf Pharao Cheops…“, begann der Führer mit dem Rundgang.

Ist das der mit den Pyramiden?“ Lady Hortense Fowlingbull, eine ältliche Engländerin, welche in Begleitung einer jungen bezahlten Sekretärin reiste, unterbrach den Vortrag des Führers, welcher die Touristen von der MALIKAT MISR durch die Anlage führte, schon nach wenigen Worten.

Einer Pyramide, gnädige Frau. Ja, auch die große Pyramide von Gizeh geht auf diesen Herrscher zurück. Unter Pepi I wurde dieser Tempel hier hinter uns dann angeblich erstmals renoviert. Wahrscheinlich, denn so genau weiß es leider niemand. Im Inneren der Vorhalle des Tempels ist an der Decke noch ein Astrologischer Zodiak erhalten, den zweiten haben die Franzosen unter dem Korsen Napoleon Bonaparte 1820 mitgenommen, seit 1822 wird er bis heute im Louvre ausgestellt. Es wird angenommen, dass der noch vorhandene Tierkreis und die Vorhalle in der Zeit des römischen Kaisers Tiberius, genauer wohl zwischen 32 und 37 nach Christus, errichtet wurde“, erzählte der Reiseführer weiter, während er seine Gruppe weiter in die Tempelanlage brachte. „Hier finden Sie auch jene Wandzeichnungen, welche von einigen Ägyptologen als Göbel- oder Teslabirnen gedeutet werden, mit einem dicken Kabel daran! Ich persönlich glaube jetzt nicht unbedingt daran, aber die Ähnlichkeit ist auch nicht komplett abzustreiten. Die Theorie ist also nicht ganz von der Hand zu weisen. Also, bitte, sehen Sie selber, hier ist doch eindeutig ein ‚wir können es nicht wirklich beweisen, aber auch nicht ganz ausschließen‘ angebracht. Das einzige, was mich persönlich davon abhält, an die elektrische Beleuchtung zu glauben, ist das Fehlen einer nachweisbaren Energiequelle. Aber wer weiß, immerhin ist ja auch der Herr Volta auf die richtige Idee gekommen, und unsere Vorfahren waren wohl auch nicht dümmer als wir heute. Und man hat in der Nähe Bagdads Gebilde gefunden, welche als Batterien funktionieren könnten.

Also waren es vielleicht doch elektrische Birnen! Wie hell die wohl waren?“ Oberst Ludwig von Sylditz aus Brandenburg sprach die englische Sprache zwar mit einem etwas harten Akzent, aber durchaus verständlich.

Colonel, diese Frage kann ich nicht beantworten“, bedauerte der Ägypter. „Soweit ich weiß, wurde es noch nie getestet. Bitte kommen Sie jetzt weiter, meine Damen und Herren, hier entlang! Diese Statue der Hathor ist sehr interessant, da sie in einem völlig anderen Stil als alle anderen Statuen aufweist. Wie Sie sehen, sind der Löwenkopf und der menschliche Körper der Göttin weit naturalistischer als in allen Dynastien üblich dargestellt. Sie wirkt, als würde sie sich jeden Moment erheben und aus dem Tempel schreiten wollen.“

Es wurde wirklich eine recht interessante Besichtigung, an deren Ende die Reisenden in einen Dampfbus mit überdimensionalen Rädern gebeten wurden, um auch noch die Nekropole im Westen zu besuchen. In dieser Totenstadt lagen zwischen den Gräbern aus den dynastischen und prädynastischen Epochen Ägyptens auch römische und griechische Begräbnisstätten, teilweise prunkvoll mit Malereien und Mosaiken ausgestattet. Der Bus besaß oben ein Deck mit Schanzkleid, auf welchem sechs Posten hinter Maxim-Gewehren unter einem Stoffdach sitzend Wache hielten und die Umgebung nicht aus den Augen ließen. Durch Schutzplatten, welche auf den Maschinengewehren befestigt waren, besaßen diese Leibwächter gute Deckung und hielten ständig Ausschau nach eventuellen Wüstenräubern.

Es gibt räuberische Beduinen, die Lösegeld fordern oder hellhäutige Frauen nach Süden in fürstliche Harems verkaufen. Echte Gold- oder Rothaarige bringen eine Menge Geld für diese Nomaden“, erklärte der Reiseführer. „Der Khedive versucht zwar schon seit längerem, dieser Verbrecher Herr zu werden, aber bisher leider mit nur geringem Erfolg. Der Sklavenhandel blüht, man muss es einfach gestehen, nach wie vor. Hellhäutige und -haarige Frauen werden in den Süden, schwarze Frauen nach Norden verschleppt, die Männer kaufen immer wieder exotische Gespielinnen, die sich nicht zur Wehr zu setzen wagen. Leider ist das immer noch ein Bombengeschäft, nur der Waffenschmuggel ist mit und nach dem Aufstand des Mahdi noch einträglicher als der Sklavenhandel geworden.“

Die Sudanesen woll’n halt keine Baumwolle mehr für die Londoner Bankiers anbau‘n, sondern was zum essen“, raunte die Prinzessin ihrer Freundin Lisi zu, welche ihr recht gab.

Und weil die Londoner nicht auf ihr’n Reibach verzichten woll’n, brauchen die Sudanesen Waff’n“ ergänzte die Baronesse. „Krieg‘n doch eh nur die veralteten Repetiersteinschleudern, die alle andern Armeen schon lang’ aus’gmustert haben. Grad’, dass keine Vorderlader mehr sind!“

Sehen Sie sich die beiden Revolver unseres Guide an!“ Maerz hatte von seinem Platz eine Reihe dahinter zugehört und lehnte sich nun zu den Damen vor. „Das sind zwei uralte Adams Perkussionsrevolver, keine Hinterlader. Diese alten Dinger sind hier immer also noch im Gebrauch.“

Vorderlader gegen moderne Selbstlader.“ Elisabeth schüttelte den Kopf. „Der Kitchener geht kein Risiko in der eigenen Kolonie ein, oder?“

Slatin zuckte mit den Schulter. „Ägypten ist doch keine britische Kolonie, Hoheit, sondern steht nur unter dem wohltätigen Schutz…“

Der Londoner Börse“, unterbrach Elisabeth. „Wiss’n wir eh. Was aber im Endeffekt auch auf’s gleiche rauskommt, die Engländer benehmen sich, als wären’s die Herren der ganz’n Welt.“

Auch die Prinzessin und ihre Begleiter hatten natürlich diesen Ausflug in die Nekropole gebucht, die von den Herren im Gefolge der Erzherzogin offen und griffbereit am Gürtel getragenen Faustfeuerwaffen hatten ein beifälliges Nicken der ansässigen Bevölkerung hervorgerufen. Die Bewaffnung der Damen war nicht so leicht zu sehen, aber durchaus vorhanden gewesen. Nach Assiut wollte wirklich niemand mehr ein unnötiges Risiko eingehen, Maria Sophia und Elisabeth von Oberwinden trugen die kleinen, leichten Flechettepistolen im Kreuz in den dafür verstärkten Rockbund ihrer Reisekostüme gesteckt, während Henrietta Jones ihre Skoda dort trug. Ohne diese verließ diese Frau noch nicht einmal mehr ihre Kabine. Die Lehren von Lisi Oberwinden und des Obersten hatten bereits ein wenig gefruchtet, und wenn Henrietta auch noch keine Meisterschützin war und wahrscheinlich auch nicht mehr werden würde, verteidigen konnte sie sich schon ganz gut. An diesem speziellen Tag ging jedoch die größte Gefahr für die Reisenden nur von den Souvenirhändlern am Hafen aus, welche für minderwertigen Ramsch höchste Preise verlangten – und bitter enttäuscht waren, wenn sie die gesamte zuerst genannte Summe auch tatsächlich erhielten. Ohne Feilschen machte ihnen das Handeln einfach kein richtiges Vergnügen, andererseits ermöglichte es den Leuten, ihr kärgliches Leben etwas besser zu gestalten. Maria Sophia und ihre Entourage fanden eine einfache Lösung. Sie handelten den Preis für eine Tabatiere aus blauem Glasfluss, welche einige Zigarillos fasste, einer kleinen Hathorstatue und einigen falschen Papyri mit aufgedruckten Bildern aus dem Tempel auf weniger als die Hälfte und gaben danach noch ein hübsches Bakschisch. Damit war der Tag für einige der Händler ein sehr guter Tag geworden, sie bekamen ihren Spaß und trotzdem mehr Geld.

=◇=

Während die Herrschaften den Tempel und die Nekropole besuchten, waren Josepha Müller, die Zofe der Prinzessin und Franziska Maurer, die Zofe der Baronesse Elisabeth von Oberwinden gemeinsam mit Horst Komarek als Bewachung und Helfer im Suq des Hafens einkaufen. Hatte man zur Zeit der Pharaonen die großen Städte noch aus Stein gebaut, so war das moslemische Dendera wie die meisten anderen kleineren Städte am Nil vorwiegend aus Lehmziegel erbaut. Auch die Stadtmauer. Innerhalb dieser Mauern waren die Straßen eng und verwinkelt, bunte, leichte Stoffe, welche von Haus zu Haus gespannt waren, schützten vor der heißen Sonne des Tages. Und auch ein wenig gegen die Kälte der Nacht. Auf Anraten der Schiffsbesatzung trugen die beiden Zofen einen leichten Mantel über ihrer Kleidung und hatten ihre Haare mit Schals bedeckt.

Also, das mit dem grün wird eine ungute G’schicht. Die Engländer steh’n ja so auf ihre farblosen G’wandeln – wo soll man da was finden? Und dann ist ja grün auch noch die Farb‘ von dem Prophet‘n von die Moslems, da werden wir nicht viele Kleid‘ln in Grün krieg’n. Nicht einmal einen – wart einmal, Pepi! Schau‘ dir das an! Die Farb‘ find ich gut, so ein richtiges sattes schönes dunkles Tannengrün. G’fallert mir noch besser wie des Prophetengrün!“ Franziska hielt einen Frauenkaftan aus leichter Baumwolle hoch.

Ja, schon, aber der Schnitt! Der ist ja extrem locker!“ mokierte sich Josepha.

Das krieg ich hin“, wiegelte Franziska ab.

Missis wollen Hauskleid kaufen”, radebrechte der Händler, welcher aus seinem Geschäft kam, in englischer Sprache. „Sir Mann von Missis?“

Nein, nein“, wehrte Horst Komarek automatischen ab, dann dachte er, dass die volle Wahrheit in diesem Falle vielleicht doch nicht ganz angebracht war. „Das ist meine Missis“, wies er auf Josepha, und das war, wie er fand, keine wirkliche Lüge. Nicht mehr, und er war darüber glücklich wie selten zuvor in seinem Leben. Und Josepha hatte scheinbar ganz und gar nichts gegen diese Bezeichnung einzuwenden, zumindest strahlte sie Horst erst einmal an, um sich dann dem Verkäufer mit gesenktem Blick zuzuwenden.

Meine Schwester möchte ihren Mann gerne überraschen und sucht etwas Hübsches dafür“, erklärte sie.

Gute Frau“, lobte der Ägypter. „Ist gut, wenn Frau Mann glücklich machen will! Bitte, hereinkommen, große Auswahl! Sehr große Auswahl. Haben Glück, beste Stoffe von ganz Masr bei Omar! Kommen, kommen. Setzen, Sir, Tee, während zwei Missis Ware ansehen?“

Noch ehe Horst ablehnen konnte, rief Omar laut „Aliii! Athnayn min alshay, sarie.“ Er wandte sich an Horst. „Tee kommen gleich, Sir.“ Dann klatschte er laut in die Hände und rief eine Treppe hinauf. „Khepri, tazhar lilnisa’ badayiuna“

Sa’akun hunak, Saydaa!“ Von oben kam ein zartes, schmächtiges Mädchen herab, das einen diesen Kaftans mit einem Kapuzenmantel darüber trug. „M’ladies?“

Franziska wandte das grüne Kleidungsstück immer noch hin und her. „Just a Moment, Miss!“ Dann legte sie den grünen Kaftan auf den Tisch. „Greifert sich doch gut auf der Haut an, ist auch net schwer. Pass auf, Pepi, und stell’s dir vor. Da auf der Seiten wird’s nach den Maßen der Frau Jones enger g’näht, und dass die paar Falterln dabei net so auffallen, leg‘ i noch eine grobe Ziernaht mit roten Bändern d‘rüber. Die Ärmel schneid’ i auf Ellenbogenköhe ab, so weit, wie die sind, verschwindt’ eh der ganze Arm im Rest und ist im Schatten. Am Ausschnitt schneid‘ ich in einem V runter bis in die Höhe vom Brustmittelpunkt, damit man die Krapferln noch ein wengerl sehen kann und säum das Ganze mit einer roten Bort‘n ein. Dazu den breit‘n rot‘n Gürtel dort, nach dem müss‘n wir dann den Rest vom Nahtmaterial und die Säum’ halt ausrichten. So ist’s gut.“ Sie nickte und sah sich noch einmal in Geschäft um, während Horst mit dem Besitzer Tee trank.

Dann wandte sie sich in englischer Sprache an das Mädchen. „Also, diesen Kaftan, haben Sie den auch in anderen Farben, Miss?“

Ja, natürlich, gnädige Frau! In welcher wünschen Sie ihn denn?“

In der Farbe der Wüste…“

Alles in allem wurde ein recht umfangreiches Paket vor Horst Komarek abgestellt, zwei Kaftane, Borten, Nahtmaterial in verschiedener Stärke und zwei beinahe 20 Zentimeter breite Ledergürtel, ein hellbrauner aus dickem und ein roter aus hauchdünn präpariertem Kamelleder.

Diese Qualsteln und Schnürln werden wir halt entfernen müssen“, überlegte Franziska. „Miss, wozu sind diese Schnüre da?“

Für – Ein.. Aus… Geschenke bei der Hochzeit, oder auch später. Hier werden – entsprechend geformte Münzen oder Ringe aus Gold oder Silber befestigt, gnädige Frau“, erklärte Kephri. „Es ist der – der – ich weiß nicht – eine Art Notgroschen, damit die Frau etwas zum Leben hat, wenn ihr Mann sich von ihr scheiden lässt. So, wie auch an diesem Kopfschmuck, oder diesem Halsgehänge! Diese Sachen gehören nicht nur nach dem Gesetz des Khedive, sondern auch dem des Korans ganz allein und ausschließlich der Frau, wenn der Mann seine Hand daran legt, kann er schwer bestraft werden.“

Das heißt, wenn ein Mann seine Frau schlecht behandelt und Pleite geht, kann sie ihn verhungern lassen, indem sie ihm die Mittel von dem Schmuck vorenthält?“

Die Frau lächelte still. „Aber ja.“

Dann sollten Männer ihre Frauen besser gut behandeln, sonst könnten sie eines Tages ganz tief fallen“, bemerkte Franziska.

Allah ist groß und er sieht alles, Sayidati“, bestätigte Kephri. „Und er ist gerecht!“

Unterdessen hatten Omar, der Besitzer der Ladens, und Horst Komarek den Einkauf inspiziert und Omar seine erste Forderung gestellt. Eine exorbitante, völlig illusorische Summe, wie ihm Horst sofort mitteilte. Eine solche Summe würde man nicht einmal der Hofschneiderin in Wien für ein gesamtes Kleid mit Bluse und Jacke aus bester chinesischer Seide bezahlen! Er sei doch nicht nach Masr gekommen, um Räuber reich zu machen. Ein Zehntel! Eine schiere Beleidigung für Omar, der Ausländer könne sich doch hier auf dem Markt umsehen, er werde keine bessere Ware um diesen Preis bekommen, die Baumwolle sei die allerfeinste und am besten gewebte in dieser Gegend, und er wisse nicht, warum er den Mann mit seinen zwei Frauen nicht gleich zur Tür hinaus warf. 90 Prozent, keinen Piaster weniger. Während sich die Herren um den Preis stritten, brachte Khepri eine Kanne Tee und drei Gläser auf einem kleinen Silbertablett und raunte Ali, dem Knaben etwas ins Ohr, der sofort den Laden verließ und schnell davon lief.

Bei diesen Beträgen kann es ein wenig dauern, wenn euer Mann gut ist. Ich habe dem Kapitän der MALIKAT MISR Bescheid geben lassen, wenn er zum Zeitpunkt des Ablegens seine Passagiere vermisst, so sind sie noch hier! Und er wird den Männern frischen Tee besorgen.“

Aber warum gießen wir ihnen nicht einfach von unserer Kanne hier ein“, wunderte sich Josepha.

Weil bei uns nur Männer andere Männer beim Feilschen stören dürfen. Frauen sind darüber erhaben, oder besser, haben darüber erhaben zu sein. Wahrscheinlich, weil die Männer Angst haben, dass wir schneller reden und besser rechnen könnten. Und ich sage euch etwas, sie haben diese Angst völlig zu recht!“

Amen, meine Schwester, Amen”, nickte Franziska. „Nichts gegen deinen Horst, Pepi, und ich will auch nichts gegen – na, unwichtig, was ich sagen wollte, die Universitäten in den Donaumonarchien und auch in Deutschland und der Schweiz zeigen, dass Frauen ziemlich oft schneller als ihre männlichen Kommilitonen sind, oder besser.“

Ach was.“ Josepha winkte ab. „Ich finde, Männer und Frauen können beide etwas besser und sie sollten nicht versuchen, an zwei Enden eines Seiles, sondern gemeinsam an einem zu ziehen!“

Wo bleibt denn da der Spaß, Pepi?“

Bei dem, das zu zweit schon immer sehr viel lustiger war, als allein.“

Oh! Na gut, ja klar“, gab Franziska nach. „Das möchte ich jetzt nicht ganz abstreiten.“

Mit reicher Beute beladen kehrte das Trio endlich auf die MALIKAT MISR zurück, und Josepha eilte sofort zur Kabine der Prinzessin, um ihr den Erfolg der Einkaufstour zu melden.

Klingt fesch, Josepha, das hat Sie wirklich gut g‘macht. Aber dass der Horst so gut handeln kann, hätt‘ ich mir nicht dacht“, lobte Maria Sophia.

Ich hab’ halt ein bisserl mit ihm trainiert, Hoheit. Weil, wie ich die ersten Orientbüchl vom Herrn Maerz gelesen hab‘, wo’s ihn wegen sein Flechetteg’wehr Hams Almawt g’nannt haben, da hab‘ ich mir dacht, im Orient muss man handeln können. Und d’rum… na ja, hab’n wir halt ein bisserl g’übt. Handeln und so, damit’s net fad wird auf der Fahrt.“

Freut mich, dass Ihr auch Euern Spaß habt’s“, bekundete Maria. „Gibt’s auch ordentliche Schuh’ in Dendera?“

Fesche schon, aber die Qualität – in die Wüste möchte ich damit nicht geh’n. Da sind die Knopferlstiefeletten der Frau Jones noch besser geeignet.“

Ja, da kann man halt nichts machen. Dann sagt Sie jetzt noch Frau Jones Bescheid und macht dann Schluss für Heut‘. Gute Nacht!“

Danke, kaiserliche Hoheit!“ Josepha knickste noch einmal und verließ das Zimmer.

Das da soll i anziehe?“ Ungläubig sah sich Henrietta in dem großen Spiegel an. „Das isch ja so kurz und so bunt! Und obwohls so – so weit gschnidde ist, zeichnet sich alles darunte ab! Da kommet man sich ja ganz nackicht vor!“

Frau Jones sind nackt unter‘m Kleid“, erinnerte Franziska. „Eigentlich ja unter jeder Panier – entschuldigen Sie, unter jedem Kleid, die Frage ist halt immer nur, wie viele Schichten es darüber sind.“

Ja, scho! Aber dem Kittel sechet mas holt au an“, jammerte die Germanobritin. „Wenn isch damit in London oder in Amerika uf de Schtraß geh, würd misch de näschte Bobby ins Gfängnis schmeiße.“

Wenn ich fertig bin, wird man es nicht mehr so stark sehen, Frau Jones“, beruhigte Franziska. „Und Sie können ja noch ein Unterkleid tragen. So, fertig für Heute, bitte kommen’s doch morgen Abend wieder!“

So schnell“, wunderte sich Henrietta.

Na ja, pass‘n sollt‘ es morgen.“ Franziska half ihrem Besuch aus dem Kleid. „Wenn das ordentlich sitzt, können übermorg‘n die Accessoires dran. Ich denke mir, ich nehme mir zuerst das sandfarbene vor, das werden Sie wohl früher brauch’n als wie das grüne Kleid.“

=◇=

Am Roten Meer

Selbstverständlich hatten Deutschland und Kakanien nicht das absolute Monopol auf den Flugverkehr leichter als Luft, sie besaßen nur einen deutlichen Vorsprung, was die Metallurgie des Kristall-Leichtstahls und der PS-Stärke der Motoren anging. Es verkehrten im britischen Empire durchaus auch eigene kommerzielle Luftschiffe, doch in erster Linie bauten die Briten militärische Zeppeline, leichte, schnelle Aviso-Schiffe mit einem Rumpf aus dünnem Balsaholz mit Segeltuchbespannung, um Gewicht zu sparen und dennoch wenig Luftwiderstand zu generieren, große Truppentransporter und dickbäuchige Versorgungsschiffe für die Army, der Transport von Waren und Personen spielte sich jedoch weiterhin zum größten Teil auf dem Wasser ab. Nun, Britannia rules the waves, das Meer hat Old England groß gemacht, es wird die Größe Englands auch erhalten. So hörte man es in den Clubs und Kneipen, den Häusern und den Straßen. Nichts davon stimmte. Zwar hatte der große Horatio Nelson der Flotte des kleinen Korsen im Mittelmeer eine empfindliche Niederlage abringen können, aber im Atlantik hatten die modernen, gepanzerten Dampfschiffe aus Metall, welche die Franzosen vom heiligen deutschen Reich kauften, die auf Wind angewiesenen Holzschiffe mit den riesigen Masten und Segeln der Briten besiegt und die französischen Kolonien in Canada wieder hergestellt. Nur in den amerikanischen Kolonien südlich der großen Seenplatte waren es noch die Briten, welche das Ruder weiterhin in der Hand hielten. In den unendlichen Weiten der Great Plains zwischen den Appalachen im Osten und Rocky Mountains im Westen hatten die recht selbständig agierenden Kolonisten einige Anlegestellen gebaut und betrieben auch einige Verkehrslinien mit eigenen, zum Teil recht abenteuerlichen Konstruktionen. Selbst mit gezielt abgefeuerten Böllern als Antrieb hatte man eine Zeitlang experimentiert, der Erfolg war im Prinzip durchaus nicht so übel gewesen. Wenn man drei Viertel des vorhandenen Platzes mit Schießpulver füllen wollte und eine Automatik erfand, welche regelmäßige Pulvereinbringung in die Sprengkammer garantierte, wurde ein funktionierender Antrieb daraus. Und wenn man bereit war, ein Vermögen auszugeben. In Europa und Africa jedoch war das zivile Luftfahrtgeschäft ziemlich fest in den Händen der deutschsprachigen Länder, der österreichischen ÖDLAG und der deutschen Flughanse. Beide Gesellschaften waren eben dabei, auch den asiatischen Luftraum mit einzubeziehen, die ÖDLAG eher im Süden, während die Hanse stark nach Russland expandierte und als großes Ziel vorderhand einmal Wladiwostok anvisierte. Für diese Expansionen waren aber natürlich entsprechende Versorgungsstationen und Lufthäfen nötig. Bis jetzt war es erst einmal von Berlin Richtung Nordost bis ins 1.300 km entfernte Sankt Petersburg, von dort 600 km nach Südost, nach Moskau und über Kiew, das auch von der ÖDLAG angefahren wurde, zurück nach Berlin. Von Moskau aus, das bereits an das europäische Schienennetz angeschlossen war, hatte der Zar den gleichzeitigen Ausbau eines Schienennetzes ausverhandelt, im Gegenzug ging alles Land in der Entfernung von 500 Metern um die Zeppelinhäfen in den Besitz des Deutschen Reiches über. Und so verkehrten auch bereits sowohl Züge als auch Luftschiffe von Moskau über Nischni Nowgorod und Kasan nach Jekaterinburg.

Für ihren geplanten Ausbau ihrer Luftfahrtrouten im Süden über Africa und Arabien nach Bombay und Kalkutta, danach via Birma nach Bangkok, und von dort über Singapur, Jakarta und Timor nach Germania Australia hatten daher im Jahre des Herrn 1881 die Vereinigten Donaumonarchien vom ägyptischen Khedive die Bucht Zula mit einem fünf Kilometer breiten Streifen Landes und die Halbinsel Buri im Osten der Bucht gekauft. An der Westküste des Festlandes der Bucht, an der Mündung des Flusses Alighede, hatte dann die halb staatliche ÖDLAG einen Versorgungsstützpunkt für ihre Luftschifflinie eingerichtet, welche von Al-Chartūm alnimsawia oder Kairo kommend von der Bucht Zula aus zuerst Dschidda und Riad ansteuerte und derzeit von dort noch nach Bahrein führte. Kakanien hatte dort im Osten der arabischen Halbinsel die etwa 20 Quadratmeter große Insel Umm Nasan von den Briten gekauft und bereiteten eben den dauerhaften Betrieb einer Linie über den persischen Golf nach Bombay in Indien vor. Dort, im Norden der Stadt, sollte nach den österreichischen Plänen zwischen den Flüssen Vasai und Vaitarna ein moderner großer Lufthafen, ein Knotenpunkt verschiedener Luftschifflinien mit direkter Anbindung an das britisch-indische Schienennetz entstehen. Die Verhandlungen über den Verkauf der Landfläche waren bereits in vollem Gange. Premierminister Robert Gascoyne-Cecil, dritter Marquess of Salisbury, zeigte sich auch prinzipiell einem Verkauf nicht abgeneigt, bestand jedoch darauf, dass dem britischen Militär volle polizeiliche Rechte auf dem Areal zugestanden wurden, während Österreich lieber zivile Kräfte und eine geteilte Hoheit gehabt hätte. Aber das waren Details, wie immer würde jede Seite ein wenig nachgeben und den Vertragsabschluss zu Hause als Erfolg den großen Sieg über den anderen propagieren.

An der Flussmündung des Alighede in den Golf von Zula hatten die ÖDLAG und die österreichische Regierung jedenfalls neben dem Stützpunkt auch einen Seehafen und eine recht formidable Stadt gebaut, ähnlich jener auf Gezira, nur ein wenig größer, die Bauherren hatten selbstverständlich auch hier auf heimische Architekturformen zurückgegriffen. Auf dicke Mauern und winzige Fenster zur Straße hin, welche die Hitze draußen halten sollten, auf grüne, schattige Innenhöfe und sprudelnde Brunnen zur Abkühlung. Und sie hatten eine entsprechend starke Garnison an die Flussmündung gebaut. Am Meeresufer waren dünne Folien aus reißfestem K-Leichtstahl, zusammengeschweißte Reste aus dem Luftschiffbau, über gigantische flache Meerwasserbassins gespannt und leiteten das verdunstende Wasser in die große Zisternen von Port Erzherzogin Helene. Das getrocknete Salz wurde zusammengetragen und brachte, nach Qualität sortiert, der Gesellschaft durch den Verkauf auch noch ein kleines Zubrot. Das so gewonnene Wasser wurde teilweise gespeichert, um im Notfall den Dampftank eines Luft- oder Flugschiffes füllen zu können, teilweise auf die umliegenden Felder der über Nacht zu kakanischen Untertanen gewordenen Bauern geleitet. Auch der Fluss speiste ein Bewässerungssystem, das nach alten, ägyptischen Vorlagen und von den Ingenieuren der Luftfahrtgesellschaft optimiert und mit besten Materialien gebaut worden war. Dieses System machte den Hafen, was Lebensmittel anging, ziemlich autark. Nun ja – zumindest überlebensfähig, denn Käse oder auch Joghurt aus Ziegenmilch ist zwar durchaus köstlich, Kuchen aus Schaf- oder Ziegenmilch jedoch zumindest gewöhnungsbedürftig, Ziegenmilch in den Kaffee aber blieb eine kulinarische Katastrophe!

Im Jahr 1889 war Konteradmiral Hermann Fürst von Kaltenfels der Garnisonskommandant des Hafens Port Erzherzogin Helene. Eine kleine Flotte unterstütze die achtzehn schweren Festungsbatterien mit ihren 48 Zentimeter Zwillingsgeschützen und den kleineren 10,5 Zentimeter Feldartilleriestellungen bei ihrer Aufgabe, Bucht und Stadt zu verteidigen. Sie bestand aus drei älteren, schweren Schlachtschiffen und acht ebenso alten Panzerkreuzern, die Bewaffnung der schweren Schiffe war auf den neuesten Stand gebracht, die Motoren jedoch stammten noch aus der Zeit, ehe Werner die wirklich starke Dampfturbine erfunden hatte. Es waren reine Wasserfahrzeuge, langsam und behäbig, aber nutzlos waren die alten Schiffe noch lange nicht. Bei gleicher Größe konnten die Wasserschiffe mehr und stärkere Bewaffnung tragen, stärkere Panzerung und mehr Munition bunkern. Auch war die effektive Reichweite und Treffsicherheit der Kanonen aufgrund der Möglichkeit, längere Rohre zu benutzen, weit höher. Das alten Schlachtschiffe waren mit 321 Metern jetzt nicht wesentlich größer als ein schnellerer, flugfähiger Schlachtkreuzer, aber bei weitem schwerer. Ihre Rümpfe waren noch aus normalem Stahl, während die neueren Modelle aus dem Ulmer Leichstahl von Kortwitz gebaut wurden. Im Vergleich zu den modernen Schiffen besaßen die alten Stahlmonster einen wesentlich größeren Innenraum, denn die Röhren mit den Hubschrauben und jene für den Vortrieb im Inneren der Flugschiffe nahmen eben doch sehr viel Platz in Anspruch.

Zu diesen rein maritimen Schiffen kamen noch acht bereits mit Werner-Turbinen ausgestattete und flugfähige Fregatten mit Dampfantrieb und drei Dutzend Torpedo- und Kanonenboote mit Thornycroft-Wernerantrieb. Schnell, wendig und ziemlich bissig. Sie führten eine Kanone Kaliber 14 Zentimeter, zwei 7,62 Maxim-Gewehre und vier Torpedorohre. Aber das modernste hier stationierte Fahrzeug war zweifellos die FELDMARSCHALL RADETZKY, ein schneller Kreuzer, bei dem die Dampfmaschinen ihre Kraft nicht mehr rein mechanisch in Bewegung umsetzten und dadurch immer wieder Wasser verloren. Die RADETZKY war eines jener vaporelektrischen Fahrzeuge mit einem komplett geschlossenen System, welches elektrische Energie für den eigentlichen Antrieb produzierte – eine Technik, welche vor allem die Reichweite enorm erhöhte. Vom scharfen Bug bis zum spitzen Heck waren es 206,3 Meter, die breiteste Stelle des Decks maß 24,2 Meter. In den vier gepanzerten Drehtürmen lauerten je zwei Schnellfeuerkanonen vom Kaliber 29,6 Zentimeter, die beinahe dreißig Schüsse in einer Minute schafften. Dazu in kleineren Kasematten außenbords zehn Kanonen im Kaliber 10,5 Zentimeter, welche auch abwärts gerichtet werden konnten, und 12 Revolverkanonen. Kanonen, welche es schafften, in einer Minute 250 Spreng- oder Panzergranaten mit einem Durchmesser von zwei Zentimetern abzufeuern. Rundum und auf den Kommandoaufbauten standen noch einige Maxim-Gewehre bereit, je 600 Schüsse im Kaliber 7,62 Millimeter in der Minute abzugeben. Als Bewaffnung nach unten vier im Rumpf versenkbare Kielgeschütze, 15,5 Zentimeter – und alle Geschütze mit Ausnahme der Revolverkanonen durch spezielle Lafetten mit langem, hydraulischem Rücklauf wirklich rückstoßfrei und mit einer halbautomatischen Ladevorrichtung. In der Luft konnte die RADETZKY in forcierter Fahrt 185 Kilometer in der Stunde schaffen, im Wasser unter Ausnützung aller Reserven 95. Ein riskantes Unterfangen, aber für kurze Zeit durchaus vertretbar.

Port Helene war ein gemütlicher Posten für einen altgedienten Veteranen wie Hermann Fürst von Kaltenfels, der sich längst damit abgefunden hatte, dass in der modernen Marine das Können mehr zählte als der Adel. Höher als zum Konteradmiral würde er nie steigen, aber der Posten hier in der Bucht von Zula hatte durchaus seine Meriten. Er war nicht oft zu Hause, die Fürstin konnte in Wien eigentlich treiben, was immer sie wollte – und mit wem, solange sie nur diskret blieb! So, wie er es hier in Zula auch hielt. Und es geschah hier eigentlich nie etwas Besonderes. Das Leben lief in der Bucht von Zula ganz gemütlich nach der Uhr, der alltägliche Trott wurde kaum jemals unterbrochen. Der Konteradmiral hatte es sich daher wie jeden Tag in seinem bequemen Fauteuil bequem gemacht, die Beine auf einen Hocker gelegt und seine Zeitung entfaltet. Langsam war sodann der kahle Kopf auf die Brust und die Zeitung auf den beachtlichen Bauch des Konteradmirals gesunken, tiefe, regelmäßige Atemzüge verrieten, dass der Fürst eingeschlafen war, bis…

HERR ADMIRAL!“ Die Tür zu seinem Büro flog auf und knallte gegen die Wand, Oberstabsbootsmann Fritz Rosenblatt stürmte in das Büro.

Ja Himmelkrutzitürken verdammt nochmal! Rosenblatt! Ja, ist er auf einmal komplett deppert word’n? Was rennt er denn wie vom wild’n Aff’n bissen herum und brüllt wie einer aus Steinhof?“ Die Zeitung fiel zu Boden und es fehlte nicht viel, und der Fürst hätte dieses Schicksal geteilt!

Herr Admiral! Herr Admiral“, japste der Unteroffizier, der im Vorzimmer des Admirals als Garnisonsspieß seinen Dienst versah.

Ja, ich weiß eh, dass ich Admiral bin, du Rindviech! Jetzt red’ Er doch endlich oder scheiß‘ Er von mir aus Buchstaben! Was bringt’ Ihn denn so um den Verstand?“

Melde gehorsamst, Herr Admiral, eine verschlüsselte Meldung ist vom Telegraphenbureau eingetroffen!“ Der Oberstabsbootsmann nahm Grundstellung ein und salutierte.

Ja, was steht denn da d’rin, dass Er gar so aus dem Häus’l ist?“, fragte der Konteradmiral.

Melde Herrn Admiral gehorsamst, dass ich das nicht kann! Die Botschaft ist doch verschlüsselt!“ Der Unteroffizier salutierte zum wiederholten Male.

Na, dann ENTschlüsselt Er sie halt! Seit wann muss ich Ihm denn alles sag’n?“

Melde gehorsamst, ich hab’ dazu den Schlüssel nicht, Herr Admiral!“ Noch einmal fuhr die Hand Rosenblatts zur Schläfe.

Ja Himmel, Arsch und Wolkenbruch noch einmal, was soll denn das jetzt schon wieder heiß‘n? Ich hab’ Ihm doch alle Schlüssel bis auf…“ Der Admiral unterbrach sich, wurde blass, deutete zur Decke und Rosenblatt nickte eifrig.

Allergeheimster Schlüssel der Allerhöchsten kaiserlich-königlichen Familie, Herr Admiral. Nur von den Herren Stützpunktkommandanten, in Port Erzherzogin Helene, also nur von Herrn Admiral selbst und persönlich zu entschlüsseln, Herr Admiral! Also, quasi – eigenhändig, Herr Admiral. Möchten der Herr Admiral gnädigst entschuldigen!“

Jetzt hör’ Er doch schon mir dem ewigen Herr Admiral auf! Geb‘ Er mir schon den Wisch her, und dann bringt Er mir einen Cognac!“

Zu Befehl, He… sofort!“ Noch einmal salutierte Friedrich Rosenblatt, ehe er aus dem Zimmer schlich.

Einen großen, Rosenblatt! Hat er g’hört? Einen großen doppelt‘n Cognac! Und nehm’ er sich auch ein Schluckerl, damit er wieder ordentlich arbeiten kann!“

Melde gehorsamst, das ja! Einen großen doppelten Cognac für den Herrn Admiral“, schallte es aus dem Vorzimmer. „Und vielen Dank, Herr Admiral!“

Ja, so ein Schass mit Quasteln aber auch“, dachte der Fürst von Kaltenfels halblaut. „G’rad jetzt zu Mittag, wie man ein kleines Schlaferl machen hätt woll‘n, muss so eine g‘sch… – muss so eine geheime Meldung vom Herrscherhaus hereinschnei‘n!“ Der Konteradmiral holte einen kleinen Schlüssel aus der Brusttasche seiner marineblauen Uniformbluse und ging zur Wand mit einigen Regalen. Dort öffnete er einen Safe, dem er ein kleines Büchel entnahm und es sekundenlang sinnend in der Hand wog.

Nur kein Kriegsausbruch“, betete er. „Nur kein Kriegsausbruch oder gar Todesfall in der kaiserlichen Familie. Mit allem könnt‘n wir fertig wird‘n, aber, lieber Gott, wenn du Österreich und den Heinzi Kaltenfels nur ein klein bisserl gern hast, dann bitte keinen Krieg, keinen Tot‘n im Herrscherhaus!“ Er ging zum Schreibtisch zurück, setzte sich und holte aus seiner Schreibtischlade einen Bogen Papier. „Und keine Versetzung nach z’Haus, nicht g’rad jetzt, wo die putzige Emma endlich bei mir zum anbeißen anfangert.“ Er begann den Text ins Reine zu schreiben, dann kratzte er ausgiebig seine Glatze und seinen mächtigen aufgerollten Backenbart. Er räusperte sich und begann seine Arbeit noch einmal von vorne. Am Ergebnis änderte sich nichts, er hatte wirklich schon beim ersten Mal alles richtig übersetzt. Verstehen konnte er es nicht wirklich, aber – nun ja, allerhöchster Befehl war halt allerhöchster Befehl.

Linienkapitän zur See Chawa Liebermann war eine der ersten Frauen des mosaischen Glaubens, welche die Marineakademie in Fiume absolviert hatten, und das auf Anhieb als einer der Besten ihres Jahrganges. Dann hatte sie sich mit Fleiß und Können weiter nach oben gearbeitet, die neue Marine interessierte sich nach einigen Reformen Franz Karls ganz plötzlich nicht mehr für den Stand oder die Religion einer Person, nur noch für erbrachte Leistungen. Es war zu Beginn nicht leicht gewesen, aber nach einer radikalen Dezimierung des ohnehin viel zu groß gewordenen Admiralsstabes durch Versetzung in den Ruhestand und der Berufung neuer Kräfte nicht nur in das oberste Kommando der Marine hatte sich das Problem lösen lassen. Ebenso bei der Armee übrigens. Damals war der Kaiser Franz Karl noch ein beinahe absoluter Herrscher gewesen, und es wird ihm nach einem der vielen bedeutungslosen Grenzscharmützeln eine Ansprache an den Generalstab nachgesagt.

Ihr liefert’s mir da irgendwelche Verlustzahlen? Als ob’s stolz wärert’s, möglichst hohe Zahlen zu meld‘n, und dass es nur ein Bonus wär‘, dass der Feind sich z’rück zogen hätt! Ich scheiß‘ auf euren Stolz, dass ihr Leut’ verloren habt’s. Ich brauch‘ Leut’, die mir sagen, dass der Feind ohne große eigene Verluste z’rück g’schlagen word‘n ist. Ich brauch’ Offiziere, für welche die Soldaten nicht zum sinnlos‘n Verheiz‘n in unnötigen Schlacht‘n da sind, sondern die wiss‘n, dass die Leut’ auch am nächst‘n und übernächst‘n Tag noch braucht werden. Ich brauch’ gut ausgebildete Soldaten, und die haben sich gute Unteroffiziere und denkende Offiziere verdient, keine Ordensständer wie euch! Also schleichts euch in die Pension und lasst’s endlich Profis an die Arbeit geh’n! Wer in fünf Minuten noch im Zimmer ist, kriegt ein Krawattl aus bestem Hanf g’schenkt! Und wer von euch nächstes Monat nicht in der Rent’n ist, der auch.“

Als vor nicht ganz einem Jahr die RADETZKY vom Stapel lief, hatte man Chawa Liebermann vom Fregattenkapitän zum Linienkapitän befördert und ihr das Kommando über eines dieser hochmodernen, vaporelektrisch angetriebenen Schiffen mit den neuen, endlich wirklich komplett rückstoßfreien Lafetten und den überarbeiteten halbautomatischen 10.5 Zentimeter Schnellfeuerkanonen übertragen. An diesem Tag im März des Jahres 1889, an dem der Admiral das allerhöchste Telegramm entschlüsselte und sich über den Grund des Befehls den Kopf zerbrach, läutete an der Anlegestelle ihres Schiffes an der Mole des Hafens von Zula überraschend die Alarmglocke, sofort hatte sie mit der Signalpfeife das Signal ‚Vorbereiten zum Auslaufen‘ blasen lassen. Das mächtige Horn an der Anlegestelle hatte alle Landurlauber zurück gerufen, dann machte sich die Linienkapitän auf den Weg zum Admiral. Das Faktotum Fritz Rosenblatt öffnete der Offizier die Tür und meldete sie bei seinem Admiral an.

Nur herein mit der Kapitän“, rief Admiral von Kaltenfels. „Setzen’s ihnen, Kapitän. Ich hab’ einen allerhöchsten Befehl für Sie. Und zwar soll ich das schnellste Flugschiff, das ich hab’, sofort in Marsch setzen, damit es die Prinzessin Maria Sophia abholt. Am Nil. Die RADETZKY ist das bei weitem schnellste Schiff in weitem Umkreis, also werden Sie umgehend aufbrechen, nach Karthoum fliegen, nach Bedarf Wasser aufnehmen und dann den Nil hinab nach Norden steuern. Die Prinzessin und ihre Entourage möchte Sie in der Nähe von einem kleinen Nest namens Koptos treffen, genauer gesagt, bei den Koordinaten 26 Grad Null Minuten Nord und 32 Grad 49 Minuten Ost. Also, Kapitän, auf geht’s, machen’s mir bloß keine Schand’. Zum Glück haben wir ja die Überflugs- und Wasserfahrtsrechte in Ägypten auch mit den Briten ausg’handelt. Und noch eins, Kapitän. Zu niemand ein Wort, Ihre Besatzung bleibt bis auf Weiteres vollzählig an Bord. Kein Wort zu irgendwem, haben‘s mich verstanden, Kapitän?“

Zu Befehl, Herr Admiral können sich auf mich verlassen.“ Chawa Liebermann hatte sich erhoben und salutierte. „Herr Admiral, Linienkapitän Chawa Liebermann meldet mich zum Sondereinsatz ab!“

Ich weiß, Kapitän!“ Auch Kaltenfels hatte sich erhoben und legte die Hand an die Schläfe. „Viel Erfolg, Frau Kapitän. Wegtreten!“

Der Linienschiffleutnant Hartoszy Istvan, der erste Offizier der KKS RADETZKY, erwartete seinen Kapitän bereits auf der Brücke des Schiffes, von wo man einen hervorragenden Blick über das gesamte Schiff hatte. Nur das Peildeck lag noch eine Etage höher im Kommandoturm, sechs halbrunde Inseln umgaben etwas über der Befehlsstelle diesen Aufbau, auf jeder saß ein Mann windgeschützt vor einer optischen Apparatur, welche weit entfernte Objekte auf eine Mattscheibe spiegelte. Eine Art Teleskop, nur viel kräfteschonender zu betrachten. Mit Hilfe von eingespiegelten Kompasskreisen und Winkeln konnten sogar Kurs, Entfernung und Geschwindigkeit eines entdecken Schiffes genau trianguliert werden, sobald mehr als einer der Posten das Ziel erkannte.

Alle Mann auf Position, klar Schiff zum Auslaufen, Frau Kapitän“, meldete der gebürtige Ungar salutierend.

Dann bringen Sie uns in die Luft, Leutnant“, befahl Chawa.

Zu Befehl! Leinen los,“ rief der Leutnant, und ein Bootsmann wiederholte den Befehl laut rufend in ein Sprachrohr.

Leinen sind los und werden eingeholt!“ meldete er dann.

Flugpropeller halbe Kraft“, befahl der Erste. Ein Hebel an der Seite des Ruders wurde in Stellung gebracht.

Halbe Kraft, steigen“, meldete der Oberrudergänger.

Weitersteigen auf 5.000 Meter, Ruder Steuerbord, Kurs 280 Grad. Minimale Fahrt voraus“, lautete das nächste Kommando Hartoszys.

Minimale Fahrt voraus!“ Der Oberrudergänger schob einen großen Hebel ein kleines Stück nach vor und arretierte ihn in dieser Stellung. „Kurs West 280 liegt an, steigen noch, Schiff ist frei!“

Große Fahrt voraus!“ Damit war die RADETZKY unterwegs nach Karthoum.

=◇=

An den Ufern des Nils

Neben Luxor, dem alten, ägyptischen Theben am rechten, südöstlichen Ufer des Nils, war zuerst ein typisches, ägyptisches Nilstädtchen aus Lehmziegeln entstanden. Teilweise mit dem außerhalb der Suq liegenden Teil verschmelzend hatte sich auch eine moderne Stadt des ausgehenden 19. Jahrhunderts entwickelt. In vielen Teilen sogar schon kräftig anglisiert, besonders was den Bereich rund um den modernen Flusshafen anging. Ein wenig Stromauf war noch ein altes arabisch-ägyptisches Fischerdorf mit der Anlegestelle für die kleinen Feluken zu finden, während noch weiter Stromaufwärts die antiken Ruinen der ägyptischen Königsstadt lagen. Auf der gegenüberliegenden Flussseite fand man noch das so genannte Tal der Könige und jenes der Königinnen, obgleich nicht nur Herrscher und ihre Gemahlinnen hier beerdigt lagen. Slatin Pascha und Maerz waren in den arabischen Teil Luxors gegangen, während Maria Sophia das Telegraphenbüro der ÖDLAG aufsuchte und dort jene verschlüsselte Depesche senden ließ, welche Konteradmiral von Kaltenfels und seinen Garnisonsspieß derart aus der Ruhe gebracht hatte. Auch wenn hier kein Luftschiffhafen war, so unterhielt die Luftfahrtgesellschaft doch entlang des Nils einige Telegraphenstationen. Mit Erlaubnis der Briten, welche nur Vorrang von eigenen wichtigen militärischen Depeschen dafür verlangt hatten. Dann hatte sich die nun vierzehnköpfige Reisegruppe nur mit dem allernötigsten Gepäck und ihren Waffen ausgestattet im Han des alten Dorfes getroffen.

Wir haben Glück, Scheich Mohammed hat Waren hierher gebracht, möchte heute noch nach Hause reiten und ist bereit, uns mit seinen Kamelen bis Koptos mitzunehmen“, rapportierte Slatin Pascha. „Er wird dann nach Osten weiterreisen und uns nie gesehen haben!“

Maria Sophia nickte. „Das soll mir schon ein paar Guld‘n wert sein, meine Freunde. Mach‘n wir uns auf den Weg!“

Maria Theresienthaler wären besser, Mary“, warf Maerz ein. „Die werden hier irgendwie immer noch am liebsten genommen. Seltsamerweise noch viel lieber als goldene Sovereign.“

Soll so sein. Ein paar Dutzend von den silbernen Münzen hab’n wir ja dank unserem Slatin Pascha eh vorsichtshalber eing’steckt. Präg’frisch, ganz neu!“

Der Beduine und seine beiden Begleiter waren mehr als erstaunt, als sie Maria Sophia und Elisabeth von Oberwinden in ihren Hosen und Uniformblusen sahen, die schweren Pistolen offen am Gürtel tragend. Immerhin hatten beide an ihren Tropenhelmen Tücher befestigt, welche sich hervorragend als Schleier benutzen ließen und auch den Oberkörper teilweise bedeckten, und sowohl Henrietta Jones als auch die beiden Zofen hatten ebenfalls ihre Gesichter unter den Kapuzen ihrer langen Wüstenmäntel verborgen. Nicht nur, weil es hier so Sitte war, sondern weil sich so eine Reise durch eine Sandwüste einfach leichter ertragen ließ. Bei einem solchen Ritt nahmen auch die Männer einen Schleier vor Mund und Nase, völlig freiwillig. Des allgegenwärtigen Sandes wegen.

Der Scheich ging zu Slatin, als die Österreicher ihre Taschen an den Kamelen verstauten. „Pascha, ich möchte dich etwas fragen.“

Nur zu, Scheik! Frage nur.“

Warum tragen diese beiden Frauen Hosen und Waffen?“

Slatin hob eine Augenbraue. „Warum sollten sie es nicht tun?“

Weil – nun, weil – Allah, es sind eben Frauen!“

Der Freiherr drehte sich um und sah zu Maria Sophia und Elisabeth. „Ja. Ja, das sind sie wirklich, Scheik. Und was für welche!“

Und du erlaubst es ihnen“, staunte Scheik Mohammed mit großen Augen.

Scheik Mohammed, bei uns haben Frauen das Recht, Waffen und Hosen zu tragen. Und ganz ehrlich – es wäre wirklich nicht leicht, speziell diese Beiden davon zu trennen, wenn sie es nicht wollen. Sowohl von den Hosen als auch den Waffen.“

Was soll daran schwer sein?“ Mohammed war noch erstaunter. „Man nimmt ihr diese Pistole aus der Hand, und wenn sie sich wehrt, bekommt sie eben die Hosen ausgezogen und den Hintern vollgehauen, damit sie sich merkt, wer der Herr ist.“

Das könnte dir schlecht bekommen, Scheich. Im Alter von sechzehn Jahren hat die Prinzessin…“, er wies auf Maria Sophia, „…im Zweikampf mit gleichen Waffen einen drei Jahre älteren Attentäter mit dem Säbel getötet. Drei Jahre später dann hat sie einem der berüchtigtsten Piraten der Adria mit einem Revolver den Kopf weggeschossen und den Rudergänger seines Schiffes außer Gefecht gesetzt. Beide Male eigenhändig. Aber nur zu, versuche dein Glück, Scheich. Vielleicht gefällst du ihr ja und sie lässt sie dich zumindest am Leben!“

Ach, mir kann es ja völlig egal sein. Es hat mich nur gewundert, dass deine Frau…“

Sie ist nicht meine Frau, Scheich. Sie ist die Schwester meines Herrschers, und es ist meine Pflicht, sie zu beschützen und ihr auch zu dienen!“

Das verstehe ich jetzt, Pascha. Es ist immer eine ehrenhafte Aufgabe, seinem Herrscher zu dienen.“ Mohammed verschränkte seine Arme und verneigte sich kurz, eine Geste, welche Slatin entgegnete. „Können wir jetzt aufbrechen, Sayid?“

Slatin klatschte in die Hände. „Alles fertig? Der Scheik möchte losziehen!“

Der Oberstleutnant und Maerz halfen den Unerfahrenen aus der Gruppe zuerst beim Aufsteigen, und dann schritten die Kamele den Zügeln gehorchend gemächlich nach Osten, um später in einem Viertelkreis nach Norden zu gehen. Der Anblick einer Karawane im Lichte der tiefer sinkenden Sonne weist eine gewisse Eleganz und eine ganz eigenartige Schönheit auf. Der langsame, stetige Schritt der Kamele, kaum schneller, als ein Mensch zu gehen vermag, das Wiegen der Körper auf den Sätteln, die jeden Schritt ausgleichen müssen. Wenn man es aber einmal geschafft hat, während des Aufstehens der Kamele nicht abgeworfen zu werden, ist es auch für ungeübte Personen nicht allzu schwer sich auf dem Sattel zu halten. Man gewöhnt sich auch recht schnell an das stetige Wiegen wie in einem Boot, hervorgerufen durch den Passgang der Tiere. Der stetige Wüstenwind verweht den aufgewirbelten Sand in langen, einmal dichteren, dann wieder feineren Bahnen und lässt die Tücher, welche die Reiter gegen diese stetige Plage vor das Gesicht genommen haben, wie Flaggen wehen. Selbst im ausgehenden 19. Jahrhundert, dem Zeitalter des Dampfes und der Luftschiffe, war das Kamel immer noch eines der zuverlässigsten Transportmittel in der Sahara. Sie fühlen rechtzeitig, wenn der Sand nicht richtig ist und weichen den gefährlichen tiefen Treibsandstellen oft genug selbständig aus. Ein dampfbetriebenes Fahrzeug mag schneller sein und größere Lasten transportieren können, doch die Beine eines Kamels erreichen auch Stellen, wo die Räder eines Wagens schon längst nicht mehr weiter können. Den Weg von Luxor nach Koptos wäre für einen Wagen allerdings kein Problem gewesen, aber die Reisegruppe hatte es nicht sonderlich eilig, der Flugkreuzer konnte vor Ablauf von etwa zwölf, dreizehn Stunden ohnehin nicht an den angegebenen Koordinaten sein. Außerdem wollte Maria Sophia ihre Abreise mit einem Kriegsschiff nicht unbedingt an die große Glocke hängen. Saloumne oder ein anderer Bote würde mit dem Gegengift am richtigen Ort bereits auf sie warten, oder doch zeitnah eintreffen. An der Erzherzogin lag es jetzt, diese Stelle zum richtigen Zeitpunkt zu finden, und an diesem Ort würde jener Bote mit dem Mittel zu ihr kommen. Und die Prinzessin war fest davon überzeugt, dass es am 18. April in der abessinischen Stadt Gonder sein würde. Vorher wollte sie sich noch dieses Lalibela mit den in den Boden gegrabenen Kirchen ansehen. Von der Zeit her war es praktischer gewesen, den Reiseplan etwas umzustellen. Irgendwie schien ihr alles miteinander in Verbindung zu stehen, und je schneller sie Informationen fand, desto schneller würde sie vom Haken kommen und vielleicht gar diesen al Masr, al Massur oder wie auch immer er heißen mochte endlich finden können. Also ritten sie auf dem Kamelen des Scheich Mohammed langsam und gemütlich Richtung Nordwest, wo Koptos lag.

Die Sonne näherte sich riesig und blutrot aussehend dem streckenweise steil abfallenden Höhenzug hinter dem Tal der Könige auf der anderen Flussseite und warf bereits lange Schatten über den Nil. Wie in diesen Breiten häufig, gab es nur eine kurze Dämmerung, praktisch sofort nach dem Sonnenuntergang wurde der Wind aus der Wüste schnell kalt. Der Sand konnte die Sonnenhitze nicht lange speichern und kühlte daher rasch ab, der Wind trug diese Kälte mit sich zu den Reisenden. Zuerst war für diese die Kühle ein wahres Labsal nach der großen Hitze des Tages, doch bald hüllten sich die Reiter dichter in ihre Burnusse, um dem scharfen Luftzug zu entgehen. So richtig dunkel wurde es in dieser Nacht allerdings nicht, denn der beinahe volle Mond beschien die Wüste und den Weg der Reisenden mit seinem silbernen Licht. Besonders der Nil zeigte sich als hellsilbernes Band vom erhöhten Aussichtspunkt auf dem Sattel der Kamelreiter, immer wieder glitzerte es noch heller auf, wenn ein Fisch die Oberfläche durchbrach. Oder es entstand ein dunkler Fleck am Ufer, wenn ein Flusspferd an Land trottete. Eine kleine Feluke trieb mit der Strömung unter einem dreieckigen geblähten Segel nach Norden. Ein Fischer? Ein Händler? Oder war es gar ein Schmuggler? Die Sterne funkelten vom wolkenlosen Himmel und zeigten sich in ihrer vollen Pracht, die Bewegung der Kamele hatte eine beinahe hypnotische Wirkung auf die Menschen. Die Gedanken schweiften ab, bis ein Löwe nicht weit entfernt aus der Richtung des Niles sein Brüllen ertönen ließ. Eine zweite Großkatze antwortete beinahe sofort von einer anderen Stelle, noch näher der Karawane gelegen. Sofort legten Maria Sophia und Elisabeth ihre Hände auf die Kolben ihrer Pistolen, während die Männer ihre Gewehre bereit hielten. Das nächste Gebrüll zeigte den Reisenden jedoch, dass die Tiere mehr aneinander Interesse hatten als an Beute. Zwei um ein Revier streitende Männchen? Ein Weibchen, abseits ihres Rudels auf der Suche nach einem Galan? Oder nach Anschluss an ein neues Rudel? Die Nacht war voller Geräusche, mehr noch als in der brütenden Hitze des Tage waren in der Abend- und Nachtkühle die verschiedensten Tiere unterwegs.

Der Morgen begann schon zu grauen, als Scheik Mohammed sein Kamel zügelte. „Hier ist die Stelle, Pascha!“ Slatin brachte sein Tier nach dem neunstündigen Ritt zum niederknien, stieg von seinem Kamel und ging zu Elisabeth von Oberwinden, um ihr zu helfen, während Oberst Inzersmarkt als erstes Henrietta dabei half, ihr Kamel in die Knie zu bringen. Die Prinzessin von Österreich Maria Sophia nahm die Hilfe von Carl Maerz gerne an, und als er seine Arme zu ihr ausstreckte, ließ sie sich lächelnd hineingleiten. Nur kurz, aber um so intensiver fühlte sie seine starken Hände an ihren Hüften, so wie damals, in New Mexiko, als er sie gepackt und vor einem durchgehenden Pferd gerettet hatte. Und enttäuschender Weise noch immer genau so unpersönlich wie in jener Zeit. Danach holten sie Orville, die Beduinen hatte den Bediensteten und dem Burschen des Oberst beim Absteigen geholfen. Janosch Pospischil, der Pfeifendeckel des Slatin Pascha hatte bereits Erfahrung mit Kamelen gesammelt und stieg souverän selber ab.

Befehlen Herr Oberstleitnant abkochen?“, böhmakelte er salutierend.

Keine schlechte Idee, Janosch. Zumindest eine Kanne Kaffee und ein wenig Zwieback würden uns schon gut tun! Leg er auch noch ein paar Datteln und ein wenig von der Dauerwurst dazu.“ Er wechselte wieder ins Arabische. „Möchtest du uns Gesellschaft leisten, Scheik, und an unserem kargen, aber mit Freuden geteiltem Frühstück teilzunehmen?“

Ich danke dir für deine Gastfreundschaft. Sie erhellt selbst die dunkelste Nacht!“ Ohne Umstände setzten sich die Männer zusammen, während sich die Damen hinter ein schnell gespanntes Tuch zurückzogen.

Wo willst’n hin, Henrietta?“, fragte Maria Sophia, während sie einige Streckübungen machte.

Mit dem Spate e Loch grabe und mich drüber hocke, wenn Sie mich schon so frasche tun. Ich muss einfach mal.“

Nicht ohne bewaffnete Eskorte“, bestimmte die Erzherzogin. „Lisi, komm!“

Henrietta bekam große Augen. „Wolle Sie etwa danebe stehe, wenn ich mal…“

Ja, g’wöhn dich besser dran“ nickte Maria und griff nach ihrem Gewehr. „Hier draußen geht man nicht allein und unbewaffnet irgendwohin. Noch nicht einmal scheiß‘n, mit Verlaub g’sagt. Aber wir werd‘n uns umdreh‘n, wir müss‘n ja sowieso die Umgebung sichern und hab’n gar nicht die Zeit, dass wir dir zuschauen. Und dann kannst du uns sichern helfen, wir werd’n die Gelegenheit klarer Weise auch gleich nutz‘n. Josepha, geb’ Sie mir bitte die Papierrolle aus meiner Tasche. Und Franziska, nehm‘ Sie doch bitte auch noch den Stoffparavent mit.“ Sie grinste Henrietta an. „Eine stofferne Wand mit ein paar Stecken ist halt besser wie gar nichts, und wenigstens sieht man dein’ Vollmond nicht bis Timbuktu leuchten. Nach vorn musst halt selber auch mit aufpassen. Am Besten, du nimmst deine Pistol’n gleich zur Hand.“

Lisi musterte Henrietta, die ihren Mantel ausgezogen hatte. „Steht dir gut, das kurze Sandfarbene! Also, den vorderen und den hinteren Zipfel steckst dir am besten ordentlich in den Gürtel, die Franzi hat mir da immer zwei Knöpf innen am Saum ang’näht und untern Gürtel die Laschen, dass der Stoff net rausrutscht und dann dreckert wird.“

Jetzt bin ich aber scho beruhigt”, versetzte die Amerikanerin. „Ich mein, so ein paar Sache möcht man doch scho au privat und ohne Zuseher verrichte.“

Schon richtig“, zeigte Elisabeth Verständnis für den Neuling. „Aber hier ist‘s nun mal nicht sicher, ob nicht zwei- oder vierbeiniges Raubzeug um die Eck‘n schaut. Denk nur an Assiut!“

Henrietta schüttelte sich. „Das vergess‘ ich mei Lebe lang nicht. Als mir der Kerl mein Rock g‘hobe hat, hab ich schon geglaubt, jetzt fällt er glei über mich her. Aber er hat dann nur e Blick unter mei Wäsch geworfe. Wenn ich nur wisse tät, warum.“

Lisi zuckte mit der Schulter. „Der wird halt bei dein Buscherl nachg’schaut haben, ob die roten Haare auch wirklich echt sind. Im Süden bringen die Rotschöpfe den höchsten Preis, danach kommen die Blonden. Hat uns der Führer in Dendera erzählt.“

Die Reisegruppe blickte dem Scheich mit seinen Kamelen nach, als er nach Nordosten verschwand. Vorher hatte Mohammed Slatin noch gewarnt.

Hier treiben sich gerne Banden herum, Pascha. Zumeist Schmuggler, aber natürlich auch Sklavenhändler. Die Briten und der Khedive bestrafen sie zwar hart, aber der Handel blüht im Verborgenen wie eh und je. Die fünf Frauen in deiner Begleitung sind alle hübsch genug, um weiter im Süden, im Sudan und noch südlicher sehr hohe Preise zu erzielen. Da könnte sogar mancher Mudir schwach werden. Bleibe bitte wachsam!“

Danke, Scheich! Auch für deine gut gemeinte Warnung.“

Ich habe euer Silber genommen und euer Brot gegessen, wir scheiden als Freunde. Der Friede Gottes sei mit dir auf deinen Wegen, Pascha.“ Der Beduine faltete die Hände vor der Brust und neigte das Haupt, Slatin und die anderen erwiderten die Geste.

Auch mit dir sei Gottes Frieden, deine Schritte sollen gesegnet sein!“ Danach waren die Beduinen auf ihre Kamele gestiegen und fort geritten.

Er hat recht, wir dürfen nicht nachlässig sein. Dort ist nach den Karten der MALIKAT MISR eine der wenigen guten Stellen in der Gegend, um mit Kamelen bis an das Flussufer zu kommen, wahrscheinlich auch für eine Überquerung. Weiter unten die Insel sieht nicht schlecht zum Verstecken eines kleinen Nilbootes aus, wir sollten also nicht so auf dem Präsentierteller sitzen bleiben.“ Maerz hatte sich nach den Worten des Scheichs rasch umgesehen. „Wenn Scheich Mohammed recht hat, und nichts spricht dagegen, dann glaubt er, dass der Mudir von Koptos in den Schmuggel verwickelt ist. Vielleicht… dort drüben, am anderen Flussufer!“ Carl Friedrich wies in die entsprechende Richtung. „Wenn man vom Teufel spricht! So wird der Sand nur von einer Karawane aufgewirbelt. Rasch, nehmt unser Gepäck, und dann dort, in das Palmenwäldchen hinein. Duckt euch ins Unterholz, bereitet die Waffen vor und bewegt euch möglichst wenig!“

Ihr habt’s den Mann g’hört, also los!“ Maria Sophia schnappte ihre Tasche und ihren Karabiner, ehe sie ganz undamenhaft mit langen Schritten loslief, gefolgt von den Anderen.

Wirklich näherte sich aus dem Norden den Nil entlang kommend eine kleine Karawane dem jenseitigen Flussufer, eilig wurden die Feldstecher zur Hand genommen.

Schau an, das sind französische Munitionskisten auf den Kamelen“, stellte Oberst von Inzersmarkt fest. „Kaliber 7,62 Millimeter, neh’m ich fast an, weil die anderen Kisten dort schau’n genau so aus wie verpackte Maxim-Gewehre.“

Vier moderne Maschineng’wehr und ein paar tausend Schuss Munition? Ob die in den Sudan sollen“, spekulierte Maria Sophia.

Ich kann mir nicht wirklich etwas anderes vorstellen“, pflichtete Slatin bei.

Da wird sich der Sirdar aber freuen“, murmelte Lisi. „Mir tun nur die ägyptischen Soldaten leid, die er bei seinem Angriff verheizen wird!“

Ja, der Kitchener wird wie immer seinen Arsch in Sicherheit haben und Massen von Soldaten vorschicken, und er wird als der große Held und Befreier des Sudan gefeiert werden“, bemerkte Maerz bitter.

Da ist er aber in guter G‘sellschaft”, warf Maria Sophia ein. „Glaubt‘s ihr denn, der Wellington, der Radetzky, der Moltke oder irgend einer von die bekannten Feldherrn haben‘s anders g’macht? Es sind doch immer die armen Frontschweine, die für die Taktik der Oberen den Schädel hinhalt’n müssen. Wie war denn das, der Cäsar hat Alesia eing’nommen? Hat er denn nicht einmal einen Koch mitg’habt?“

Allah `akbar! Yamut alkufaar!“ Hinter den Beobachtern klang Geraschel und der laute Schrei nach dem Tod der Ungläubigen, eine Pistole knallte einmal, zweimal, dreimal!

Hab’ ich euch, ihr muselmanischen Katzelmacher, ihr muselmanischen“ tönte die Stimme von Horst Komarek. „Zwei G’fraster, aber da werd’n ganz bestimmt noch mehr sein.“ Beim ersten Geräusch hatten alle nach ihren Waffen gegriffen und sahen sich jetzt aufmerksam um. Dort bewegte sich noch etwas, ein Schuss bellte, der Tropenhelm des Oberst Inzersmarkt flog davon.

Marandanna, das war knapp! Fast hätt’ mich der depperte Wappler derschossen. Wart’ nur!“ Wilhelm erwiderte das Feuer, traf aber nur noch den Baum.

Maerz legte seine schwere Büchse für alle Fälle schon einmal bereit, griff aber vorderhand noch zum Pfeilgewehr und linste immer wieder an das andere Ufer auf die Karawane. „Da kommt eine Dahabije von der Ortschaft und hält auf die Karawane zu“, rief er.

Die leichte Pistole Henriettas bellte hinter ihm in kurzen Abständen zwei Mal auf. „Du verkaufst keine Rothaarige mehr nach Süde, so viel steht eimal fest“, rief sie triumphierend, bis über beide Ohren voll mit Adrenalin, als ihr Angreifer mit einer Kugel in der Brust und einer knapp darunter zu Boden ging. „Henry, hiergeblieben, an meiner Seite!“ Orville neben ihr schoss konzentriert mit seiner Winchester, wenn sich ein Ziel bot, und erzielte einige Treffer. Die Beduinen, welche sie angriffen, verfeuerten ständig ihre Kugeln auf die Stellung der Reisegruppe um Maria Sophia und zwangen sie so ständig in Deckung. Es mussten eine ganze Menge Leute sein, die hier angriffen, und eine Menge Geschosse schlugen in das leichte Gepäck.

Sie verladen die Gewehre und Munitionskisten auf das Boot“, berichtete Maerz, der zwischen den Schüssen aus seinem Flechettegewehr immer wieder das andere Ufer im Auge behielt. Vor der in der Deckung eines Baumes knienden Elisabeth von Oberwinden wuchs plötzlich eine Gestalt empor, einer Angreifer war unbemerkt ganz nahe gekommen und stürzte sich auf sie, wohl in Absicht, sie als Schild für seinen weiteren Angriff zu benutzen. Das war allerdings eine ganz schlechte Idee, denn sie ließ sich einfach rücklings fallen, hob die Rechte und der Mann sprang genau auf die Mündung ihrer Pistole, die Lisi zögerte keine Sekunde, den Abzug zu betätigen.

Kräul‘ abe von mir, du Drecksau!“ Sie stieß die Leiche beiseite und nahm ihre Stellung wieder ein. „Total blutig bin ich, des G’wand kann ich wegschmeißen, des kriegt keiner mehr sauber!“

Ich schenk‘ dir ein Neues“, rief die Prinzessin ihr zu. „Wenn wir wieder in Wien sind!“

Warum?“ Elisabeth schoss erfolgreich auf einen weiteren Angreifer und trieb den Verletzten mit weiteren Kugeln in Deckung. „Gibt’s in Port Helene `leicht keine Maßschneider für Uniformen?“

Keine schlechte Idee!“ Eine Kugel aus der schweren Pistole der Prinzessin riss einen Beduinen von den Beinen. „Da können wir uns neu ausstatten und auch für Henrietta ordentliches G’wand besorgen. Aber auf Maß, das dauert wahrscheinlich z‘lang. Ob die G’frieser da mit den Waffenschmugglern unter einer Deck’n stecken oder eine eigene Bande sind?“

Die Dahabije legt ab und segelt stromauf nach Süden, hält sich aber stets am anderen Ufer!“ Carl Friedrich beobachtete das andere Ufer immer noch. „Die Kamelreiter von der Karawane da drüben verschwinden auch wieder!“

Auf unserer Seit’n auch!“ Oberstleutnant Slatin stand auf und blickte einer auf Pferden eilig davon reitenden Schar nach. „Da reiten sie, nach dem Gewand sind’s Mahdisten aus dem Su…“ In der Uniformjacke des Oberstleutnant Rudolf Carl Freiherr von Slatin war plötzlich auf der Brust ein Loch, das Geräusch des Schusses kam erst mit Verspätung an, die helle Uniform färbte sich schnell rot. „So ein verdammter Mist! Ich glaub’ fast, das…“ Die stämmige Gestalt des Freiherrn sank in sich zusammen, wie eine Marionette, der Schnüre durchgeschnitten wurden.

Herr Oberstleitnant, was ist mit ihnen!“ Schockiert lief sein Offiziersbursche Janosch Pospischil zu seinem Herrn. „Herr Oberstleitnant, Sie kennen mir doch nicht so einfach wegsterben. Was soll ich denn machen ohne den Herrn Oberstleitnant?“ Maerz ging auf ein Knie und legte seine Springfield Rifle an. WAMM! Wie ein Kanonenschuss krachte die schwere Waffe, einer der Reiter wurde nach vorne gestoßen und fiel vom Kamel, Maerz öffnete den Verschluss des Hinterladers, schob eine neue Patrone in die Waffe und klappte wieder zu. Wieder donnerte das Gewehr, erst Sekunden später zeigte sich, dass der Schuss des Deutschen abermals ein Treffer war. Noch bevor die zweite Kugel ihr Ziel traf, hatte der Autor und Abenteuer bereits den Blockverschluss hochgeklappt, während die zweite Kugel ihr Opfer traf, rastete der Verschlussdeckel ein, ein kurzes Zielen, und ein drittes Projektil machte sich auf den Weg und tötete einen der Flüchtigen Mahdisten. Maerz beeilte sich und schob mit fliegenden noch eine frische Patrone in die Kammer, aber ein Blick genügte um ihm zu zeigen, dass die Reiter jetzt bereits auch außerhalb seiner Schussweite waren.

Ist er wirklich…?“ Maria Sophia war zu Slatin getreten, Janosch sah sie mit weinenden Augen an und nickte.

Hoheit verzeihen, aber Herr Oberstleitnant ist wirklich ganz tot. Entschuldigen bitteschen, Majestet!“

Verdammt!“ Maria Sophia stampfte mit dem Fuß auf. „Verdammt, verdammt, verdammt!“ Sie wechselte mit zittrigen Fingern das Magazin ihrer Pistole. „Jetzt ist der arme Kerl tot, weil ein perverses Schwein sein deppert’s Spiel spielt und ich blöde Kuh auch noch d’rauf eing’stiegen bin! Wenn ich den Arsch mit Ohren derwisch’, kann er was erleben. Überleben glaub’ ich im Moment aber eher net!“ Die Prinzessin schämte sich nicht, als ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Du bist doch nicht schuld!“ Elisabeth von Oberwinden nahm ihre Freundin in den Arm. „Komm’ lass’ es raus, heul’ dich doch endlich einmal so richtig aus!“ Und in Maria Sophia brachen in Elisabeths Armen alle Dämme, ein Weinkrampf erschütterte den Körper der Erzherzogin, erleichterte aber ihre Seele ungemein, während alle anderen Wache hielten.

=◇=

Das seltsame, markante Singen eines modernen, vaporelektrisch betriebenen Flugkreuzers erfüllte die Luft über dem Nil, und ein großer Schatten glitt über das Wäldchen, als die RADETZKY zur Landung ansetzte. Maria Sophia trat ins Freie und winkte dem Schiff zu, das mit dem Signalwimpel antwortete und anschließend wasserte. Eine Gangway wurde rasch ausgebracht und zwei Waffenmatrosen bezogen schiffseitig daran Wache. Als sie sich dem Schiff näherte, hatte die Erzherzogin keinen Zweifel, dass auch hinter den Maxim-Gewehren und den Revolverkanonen die Schützen auf irgend etwas Verdächtiges lauerten, ganz nach allgemeiner Order Kapitel 2, Paragraph 3, Abschnitt 1. Es gab Regeln selbst für Fälle wie diesen, und der Kapitän überprüfte nicht nur die Identität der sich Nähernden, sondern achtete auch auf eventuelle unauffällige Handbewegungen als Warnung und Zeichen einer Gefahr. Dann erst setzte Kapitän Chawa Liebermann das Fernglas ab und ging zur Zugangsbrücke.

Erlaubnis, an Bord zu kommen, Linienkapitän?“, fragte Maria Sophia salutierend. Ein altes Ritual, aber es unterstrich die Sitte, dass ein Kapitän der unumschränkte Herr an Bord seines Schiffes war. Obwohl es bestimmt keinen Seeoffizier gegeben hätte, welcher einer Schwester seiner kaiserlichen und königlichen Majestät, Kronprinz Franz Rudolf von Habsburg-Lothringen das Besteigen eines österreichischen Schiffes ohne wirklich schwerwiegenden Grund verweigert hätte. So gab es für Kapitän Chawa Liebermann auch nur eine mögliche Antwort auf die Frage der Prinzessin.

Erlaubnis erteilt, Hoheit!“ Die Wache und der Offizier nahmen Haltung an, als Maria Sophia das Schiff betrat, die Kapitän legte die Hand an die Mütze. „Willkommen an Bord, kaiserliche und königliche Hoheit!“

Danke, Kapitän!“, akzeptierte Maria die Einladung. „Bitte, stehen Sie doch bequem. Hätten Sie die Güte, meine Begleitung ebenfalls an Bord zu nehmen, und bitte, stellen Sie noch zwei Matrosen ab. Unser Kamerad, der Oberstleutnant Rudolph Carl Freiherr von Slatin ist im Kampf gegen sudanesische Mahdisten ehrenhaft gefallen. Er hat sich eine Beerdigung in Port Helene mit allen militärischen Ehren und eine Eintragung an der Ehrentafel auf dem Hietzinger Friedhof bei Schönbrunn verdient!“

Selbstverständlich, Majestät. Bitte entschuldigen mich Hoheit, ich werde sofort alles in die Wege leiten. Oberbootsmann Kratochvil wird Hoheit und ihre Entourage zu ihren Gemächern begleiten. Leider es sind nur enge Kajüten und Kojen. Wir sind nicht mit übermäßig viel Platz an Bord gesegnet.“

Das ist schon in Ordnung, Kapitän. Ich bin dankbar, dass ich so schnell nach Abessinien komm’. Bitte, lass‘n Sie sich durch mich nicht stören und aufhalt‘n. Und das ständige Hoheit ist auch nicht nötig! Nur ein’s, eine Dusch’ würden wir halt alle gern‘ nehmen, und vielleicht ein frisches G’wand wär nach der Schießerei auch schön. Eine Uniform wäre völlig ausreichend, Kapitän.“

Der Zeugmeister hat sicher Uniformen und auch Unterwäsche für euch und eure Entourage, Prinzessin“, versprach Chawa. „Wenn das Unterzeugs auch eher – nun ja, Baumwolle und ohne Chic. Männerunterhosen halt, praktisch, aber nicht sehr schön.“

Passt schon, Kapitän“, nickte Maria Sophia. „Sauber ist uns allen im Moment wichtiger als modischer Schnitt, und zumindest mit Unterwäsch‘ sind wir gottlob noch versorgt.“ Maria Sophia zog eine Coiba aus der Tasche und die Kapitän beeilte sich, ihr Feuer zu reichen. „Vielen Dank für ihre Freundlichkeit, Linienkapitän Liebermann! Aber bitte, ich will Sie nicht länger aufhalten. Widmen Sie sich wieder ihren Pflichten!“

Chawa Liebermann salutierte. „Hoheit, melde mich zum Dienst ab!“

Von der Reling beobachtete Maria Sophia, wie ihre Begleitung die KKS RADETZKY bestieg und der Leichnam Slatin Paschas an Bord getragen wurde. Ein leises Rumpeln verriet ihr, dass sich die Abdeckungen der Hubröhren unter Wasser und die Lamellen über den Einsaugschlitzen in der Bordwand direkt unter dem Hauptdeck öffneten. Die Ventile zu den Druckrohren der mit Vaporid geheizten Dampfkessel wurden weiter geöffnet, der Dampf traf auf die Werner-Turbinen und brachten sie in überaus schnelle Rotation. Dadurch wurde mit starken Magneten jener elektrische Strom gewonnen, welcher dann die von Tesla optimierten Elektromotore speiste. Diese betrieben die gegengleich rotierenden Schrauben in Rohren innerhalb des Schiffskörpers, je eine im Bug und im Heck und vier an den beiden Seiten. In jedem Rohr drehten sich acht Propeller mit verstellbaren Schaufelblätter, sodass ein geschickter Steuermann das Schiff Millimeterweise heben, senken und schweben lassen konnte. Den Vortrieb besorgten drei mit je zehn Propeller ausgestattete Rohre, von denen eines durch den Einsatz von Strahlrudern die Antriebströmung an Bug und Heck auch zur seitwärtigen Bewegung nutzen konnte. So konnte die RADETZKY sogar seitwärts fahren oder auf der Stelle drehen – letzteres nicht einmal so langsam.

Eigentlich waren elektrische Motore so gut wie lautlos, doch der oben eingesaugte und unten wieder ausgestoßene Luftstrom der Hubröhren erzeugte das typische Singen der modernen vaporelektrischen Schiffe der Vereinigten Donaumonarchien. Das Wasser des Nils wallte hoch auf, als die nach unten gepresste Luft an den Bordwänden hochstieg. Doch schon schwebte das Schiff in die Höhe, drehte seinen Bug in jene Richtung, in welcher Port Helene lag und nahm rasch Fahrt auf. Nachdenklich sah Maria Sophia zurück, wo sich der Nil rasch entfernte. Bisher hatte sie in diesem Spiel nicht sehr gut abgeschnitten, und ein treuer Begleiter, ein Freund, hatte sein Leben lassen müssen. Weil sie dieses Mal nicht vorsichtig genug gewesen war. Sie als Erzherzogin und Generaloberst war verantwortlich, und sie schwor sich, in Zukunft noch mehr acht zu geben. Sie warf den Stummel ihres aufgerauchten Zigarillos beiläufig in den Aschenbecher und begab sich unter Deck.

=◇=

Wien

Die Baronesse Klederwald, geborene Josephine Hintwitz, war schon das, was man ein fesches Pupperl nennen konnte. Mittelgroß, schlank, eine beachtliche Oberweite und runde Hüften. Das herzförmige Gesicht mit dem koketten Näschen war eher hübsch als klassisch schön zu nennen, ihre Beine waren lang und gut geformt, die Hände elegant, schmal und gepflegt. So, wie sie sich nun auf ihren abendlichen Auftritt vorbereitete, hätte man ihr die Abkunft aus dem tiefsten Milieu der wiener Vororte überhaupt nicht mehr angesehen. Ihre Mutter war eine der billigen, weil bereits ziemlich verlebten und versoffenen Prostituierten gewesen, welche sich im Prater herumtrieben und auf willige Kunden warteten. Männer, die für billiges Geld kurzfristige Befriedigung zu finden hofften und es sich nicht leisten konnten, sonderlich wählerisch zu sein. Nur war ihr der echte Prater jenseits des Donaukanals zu Fuß viel zu weit gewesen, aber beim ‚Böhmischen Prater’ auf dem Laaerberg gab es auch genügend von dichtem, grünen Gebüsch versteckte Orte, wo Finis Frau Mama den eigenen Buschen vorzeigen und benutzen lassen konnte. Oder auch anderes, sie nahm es da nicht so genau, wenn der betreffende Mann nur zwei, drei Silbergulden zu ihr hinüberwachsen ließ. Das meiste ihrer ohnehin kargen Einnahmen hatte der Vater gemeinsam mit ihr zumeist gleich an Ort und Stelle in den Wirtschaften im böhmischen Prater versoffen und so hatte der Herr Papa auch seine Tochter schon früh zum Geld verdienen geschickt. Natürlich im gleichen Gewerbe wie die Mutter, aber als hübsches, frisches Mädel mit besser zahlendem Klientel, nicht hinter einem Gebüsch am ‚Monte Laa’. So schnell sie nur irgendwie konnte, hatte sich die Fini dann mit ihrem G’schäft selbstständig gemacht und ihr sauer verdientes Geld lieber selbst behalten, statt es zu Hause abzuliefern. Mittlerweile waren auch einige von den besser situierten Herren in der Vorstadt auf das hübsche Mädchen aufmerksam geworden, das auch ihre geheimen und geheimsten Wünsche erfüllte. Ganz diskret, natürlich. Einer von diesen Herren hatte ihr dann sogar im Gegenzug für ganz besondere Dienstleistungen eine eigene Wohnung weit weg von ihrem Elternhaus bezahlt. Monopolansprüche hatte er keine gestellt, aber wenn ihr Telephon klingelte, hatte sie eventuelle andere Kunden aus ihrem Bett und seiner Wohnung zu werfen.

Es war nicht immer leicht verdientes Geld gewesen, manche der Herren hatten schon wirklich seltsame und absonderliche Gelüste gehabt. So mancher hatte auch nicht nur ungewaschen gerochen, sondern war es auch wirklich. Besonders in der Hose. Aber die Pepi biss die Zähne zusammen – na ja, natürlich ging das in ihrem Gewerbe nicht immer wirklich, oder zumindest nur im übertragenen Sinn – und legte sich einige kleine Ersparnisse zusammen. Nicht berühmt, aber ein bisserl was war im Laufe weniger Jahre schon zusammen gekommen. Einer der Herren nahm sie eines Tages mit nach Paris, und dort hatte einer seiner Freunde den Freund und dessen G’spusi zu einer der in Paris berühmten Seancen von Madame Madelaine de Cartaille mitgenommen. Josephine Hintwitz war tief beeindruckt gewesen, wieviel die Madame wusste. Und noch viel mehr von der Art, wie sie ihr Wissen ihren Kunden verkaufte. Und Madelaine hatte in der kleinen Pepi Hintwitz sofort eine verwandte Seele entdeckt, besonders, als nach einigen spirituellen Sitzungen eine Einladung zum ‚Inneren Zirkel’ erfolgte und alle Hüllen fielen. Die Pariserin hatte die Wienerin dabei einfach einmal zur Seite genommen, und während sie den Anwesenden Herren ein veritables, sehr intimes Schauspiel boten, sondierte Madame de Cartaille, die recht gut deutsch sprach, flüsternd die Ansichten Josephines. Sowohl die Performance als auch das Gespräch wurden schnell intensiver, und der Galan der Pepi Hintwitz durfte allein nach Wien zurück kehren. Das störte ihn jedoch nicht besonders, er hatte ja doch bereits ein anderes Mädel im Visier gehabt und mit seiner Brieftasche letztendlich auch erobert.

Pepi Hintwitz blieb noch einige Zeit bei Madelaine de Cartaille. Es war zwar jetzt keine wirklich andere Arbeit, die sie zu verrichten hatte, aber sie wurde besser bezahlt als je zuvor. Außerdem wurde sie von einigen der extremeren Gelüsten so mancher Herren verschont, da Madame de Cartaille dafür besondere Angestellte hatte. Damals hatte nicht lange vorher ein Herr Leopold von Sacher-Masoch sein Werk ‚Venus im Pelz’ verfasst und jeder wollte es plötzlich auch versuchen. Nun machte es der Peperl auch nicht wirklich etwas aus, eine Reitgerte zu schwingen und einem Kunden damit den Hintern zu verdreschen, wenn der wirklich scharf darauf war. Sie zeigte sich aber verständlicherweise weit weniger davon begeistert, wenn der Kunde sich lieber am Marquis de Sade orientieren wollte und sie besagte Gerte auf ihrem eigenen hübschen Hinterteil fühlen sollte. Madelaine de Cartaille nahm die Jüngere Frau aus Simmering unter ihre Fittiche und in ihre Schule.

Du musst dir vorstellen, alles ist mit allem verbunden, hatte das Medium ihrer Schülerin erklärt. „Alles, jeder Gedanke, beeinflusst einen anderen Gedanken in deiner Nähe. Oder, wenn du wirklich stark bist, sogar diese winzigen Dinge, die von den Griechen Atomos genannt wurden. Damit kannst du zum Beispiel Kerzen anzünden oder löschen, und du spürst, was der andere für Begierden hat. Das sind nicht immer die, welche er selbst befriedigt haben will, weil er es gar nicht wagt, sich diese geheimen Gelüste selbst einzugestehen. Ich habe da einen Mann in der Runde, der es eigentlich mit einem anderen Mann treiben möchte. Aber das kann er nicht einmal sich selber eingestehen, also ist er jetzt ganz scharf auf große Brüste, die zusammengedrückt sein müssen und dann nach einem Hintern aussehen. Was aber nicht unbedingt bedeutet, das jeder, der auf große Busen oder Hintern steht, eigentlich auch auf Männer abfährt. Manchmal ist eine Zigarre nur eine Zigarre. Manchmal mehr. Du musst ein Gefühl dafür bekommen, was deine Kunden wirklich wollen, und die Männer werden dir aus der Hand fressen.“

Und die Pepi lernte und entwickelte auch ein ganz gutes Gefühl für die Wünsche der Männer und Frauen, welche den Zirkel der Madame Madelaine de Cartaille besuchten. Sie lernte auch den Trick mit den Kerzen, aber einige ganz wenige Menschen entzogen sich ihrem Gespür auch, manchen konnte sie beim besten Willen ihre Gedanken und Wünsche nicht ansehen.

Daran musst du dich gewöhnen, Schätzchen“, hatte Madelaine ihr erklärt. „Manche Menschen sind so stark, dass sie sich gegen Leute wie uns abschotten können, instinktiv oder gelernt, und andere bleiben einfach ohne erkennbaren Eindruck in diesem Magnetfeld, das uns umgibt. Keine Ahnung, warum, aber damit müssen wir eben leben. Aber die sind selten genug, und die wenigsten davon kommen zu so einem Zirkel, wie wir ihn führen.“ Sechs Jahre später war Josephine Hintwitz eine ausgebildete ‚Agent amoureuse‘ und kehrte mit neuer Haarfarbe, neuem Namen mitsamt dem dazu gehörenden Pass und einer nicht geringen Menge Bargeld nach Wien zurück. Die Baronesse Klederwald mietete sich in Simmering ein und begann ihre Arbeit für den ‚Goldenen Frühling’.

Wenn man einmal ganz ehrlich sein wollte, dann musste man sagen, dass die politischen und religiösen Ziele des Frühlings der Pepi eigentlich ziemlich Powidl, also mehr als nur egal waren. Aber sie war halt ein Geschäft eingegangen, um in Zukunft besser leben zu können, und wenn die Josephine Hintwitz einmal ein Wort gegeben hatte, dann konnte man sich auch darauf verlassen.

Eine Hure ist kein Politiker!“ hatte Madeleine du Cartaille immer wieder betont. „Eine Hure zieht ihren Arsch nicht zurück, sondern hält ihn auch hin, wenn sie sich einmal dafür bezahlen hat lassen!“ Also begann sie damit, interessante Leute an sich zu ziehen, sowohl mit ihren spiritistischen Sitzungen als auch mit dem wilden, hemmungs- und tabulosen Sex, den sie einer schnell größer werdenden Klientel zugänglich machte. Absolut diskret, selbstverständlich, aber in ihrem Salon konnte jeder Mann und jede Frau auf ihre Kosten kommen, die Baronesse konnte für jedes Töpfchen ein passendes Deckelchen besorgen. Und sie erfuhr von Dingen, die sie nie für möglich gehalten hätte, obwohl sie sich für abgebrüht gehalten hatte. Dieses Wissen beförderte sie dann mit Boten nach Paris oder Triest, letztendlich landete es ihres Wissens in Kairo. Nach und nach scharte sie auch einen Kreis von wahren, ja teilweise sogar fanatischen Gläubigen um sich, von denen sie einige als Pilger über Kairo nach Jerusalem sandte, um dort die Ankunft des neuen Messias vorzubereiten. Auch wenn die Pepi nicht sonderlich an einen neuen Erlöser glaubte, so glaubte sie an eine bessere Position im Leben für die Baronesse Klederwald, wenn ein neuer Herrscher über Europa seine frühen Anhänger und Unterstützer belohnen würde. Und das lohnte sich in ihren Augen doch weit eher, als die Aussicht auf ein eigenes Wolkerl, eine kleine Harfe und ein viel zu enger Heiligenschein im Jenseits. Und dazu vielleicht noch ein kratziges, schmuckloses Wollkleiderl. Abgesehen davon stand ihr weiße Kleidung überhaupt nicht gut, fand sie. Außerdem machte sie mit ihren Orgien einen ganz schönen Haufen Geld, das nicht zur Gänze den Zielen des Frühlings diente, sondern schon auch der Pepi einen ziemlich luxuriösen Lebensstil gestattete.

Noch ein letzter Blick in den Spiegel, und es gefiel ihr durchaus, was sie dort sah. Und sie wusste auch, dass sie nicht nur bei den Männern gut ankam, sondern dass durchaus auch Frauen ihrem Charme und Aussehen erlagen, auch darin war sie eine gelehrige Schülerin von Madame . Josephine zwinkerte sich noch selber zu, dann ging sie in den Salon und unterzog die professionellen Mädchen und Männer, die sich um die nicht ganz so begehrenswerten Gäste und diejenigen mit den Sonderwünschen des heutigen Tages kümmern sollten, vorher noch einer genauen Musterung.

Wetty, wo hast du denn um Himmels will‘n nur dieses Hemd‘l her? Das ist ja viel zu lang, du weißt doch, der Oberst will dein Popscherl gut als Ganzes sehen und draufklopf‘n können! Fridi, deine Brüstln hängen viel zu wenig aus dem G’wand, heut’ kommt der Brunnstein!“

Muss ich denn schon wieder den alt’n Ungust’l auf mich nehmen?“ raunzte die Fridi.

Du kannst auch mit der Wetty tauschen, wenn’st magst, und dem Oberst den Hintern hinhalten”, schlug die Hintwitz der Fridi mit einem süffisanten Lächeln vor. „Nein, doch net? Dann ist ja alles klar! Karli, Heinzi, ihr zwei kümmert’s euch um die Wolfenstein. Beide, die Frau Gräfin wünschen heute halt zwei Männer gleichzeitig, welche sie vorne und hinten bedienen! Und das, meine Herren, ist bitteschön wirklich wörtlich zu nehmen, habt’s ihr das verstanden? Also, noch Fragen? Heinzi, komm einmal her! Da hast, trink‘ das. So eine Schlappe in deinem G’mächt wie neulich können wir uns wirklich nimmer leisten. Ich weiß, ich weiß, die Muckensteidl miachtlt fürchterlich zehn Kilometer gegen den Wind, und fäult, als warats beim Schinder in der Kost und hätt’ noch nie an Badezuber g’seh’n. Aber du bist jetzt halt einmal dafür da, dass diese schiachen, aber reichen und einflussreichen Weiber auch einmal so richtig durchg’vögelt werden. Und ja, die Wolfenstein ist eine alte, viel zu fette Schasstrommel mit riesige gottgefälligen Brüstln. Aber sie sorgt mit ihrer Marie auch mit dafür, dass es uns allen so halbwegs gut geht, also, reiß dich g’fälligst zam und besorg’s ihr gemeinsam mit dem Karli so ordentlich, dass nachher z’fried’n is. Musst halt auf die Wetty oder die Fridi schau‘n, wenn’st was Appetitlicheres für d‘ Augen brauchst. Trink das jetzt, das wird dir dabei helfen!“

Wah! Des schmeckt aber scheußlich!“ Heinz schüttelte sich.

Aber es hilft! Und jetzt los, der Berg ruft nach dir, rauf auf ihn. Oder besser g’sagt, aufe auf den Arsch von der Wolfenstein mit dir! Oder ist dir unter ihr lieber?“

=◇=

Und Heinrich Navratil hielt wirklich lange genug durch, um gemeinsam mit dem Karli die Gräfin zufrieden zu stellen. Nicht nur, aber auch mit Hilfe dieses Getränks.

Die alte Gräfin von Wolfenstein“, zählte er an den Fingern am nächsten Tag noch etwas müde in der Kommission ab. „Die Tochter vom Grafen Ferdinand zu Perggreith, die Wilhelmine, dann noch Susanne, Baronin Leithfurt, der Oberst Ludwig Graf von Hinterhausen, der Baron Gottfried von Brunnstein, der Maximilian Ritter zu Wölbling, ein gewisser Julius Kolmitzky und ein Alexander Meister! Dazu natürlich noch die Klederwald-Hintwitz, die Barbara Pschistranek, die Elfriede Morak, der Karl Pepper und ich. Wie immer also dreizehn Leut’ gesamt. Keine Ahnung, warum die so darauf abfahrt.“

Also, dass du des mit der alten Bissgurn Wolfenstein wirklich g’schafft hast! Ich hätt’ mich ja an deiner Stell’ ang‘spieben!“ Der fesche Joschi Pospischil schüttelte sich. „Das nennt man vollen Einsatz für’s Vaterland. Wenn ich könnt, ich würd’ dich fürs Verdienstkreuz vorschlag’n!”

Die Wolfenstein ist doch gar nicht so arg schlimm“, wiegelte Navratil ab. „Die ist zwar eine ziemlich blade Wuchtel, aber sie ist auch ganz nett und was noch viel, viel wichtiger ist, sie ist immer sauber und frisch g’waschen, die stinkt nie. Und die Frau ist hinterher wirklich dankbar für den Spaß, den’s mit uns g’habt hat, und es ist ganz amüsant, mit ihr nachher noch zu plauschen. Wenn wir mit ihr unter Dusch’ sind, zum Beispiel, da redet’s noch ganz gern. Über Gott und die Welt, und manchmal auch was ganz was Interessant‘s. Da hat’s zum Beispiel dieses Mal erzählt, dass die Elisabeth von Lichtenbach gar nimmer kommt, obwohl die doch so narrisch auf die Rudelbumsabende vom Goldenen Frühling, aber auch auf die Gelegenheit war, dass man Jerusalem wieder von den Muselmanen befreit. Weil ja ein neuer Messias dort hin kommen soll, von dem ein goldenes Zeitalter eingeläutet wird. Die Wolfenstein glaubt das zwar überhaupt net, der geht’s nur um die Männer, die’s vernasch‘n kann, weil ihr Alter nimmer mit ihr nagel‘n will. Oder kann. Oder Beides! Aber sie hat die Lichtenberg ganz gern g’habt. Ja, und jetzt sind die Leithfurt, der Wölbling und der Meister auch schon ganz deppert drauf, die fahr’n voll auf den Schmäh mit’n neuen Messias in Jerusalem ab, richtig fanatisch. Der Wölbling red’t schon davon, dass er nach Jerusalem abe will, um alles für die Ankunft des neuen Messias vorzubereiten. Wie und was er da unten machen will, sagt er aber nicht. Ich glaub’ fast, da fehlt ihm noch selber a bisserl der Durchblick. Aber die Klederwald, die hat schon irgendwann etwas von einem Gebirge in Africa erzählt, wo die Blitze des Messias geschmiedet werden sollen!“

Na fesch, weil’s ja auch nur ein Gebirg’ in ganz Africa gibt! Weiß jemand, ob der Wölbling irgend eine Ausbildung hat, was der Meister hackelt und ob die Leithfurt was kann.“ Walter Brunner nahm die Mitschrift des Berichtes an sich und gab jedem eine Kopie. „Nein? Dann findet’s das heraus, meine Herren! Gemma, gemma, kalt is net! Und fragt’s doch noch einmal in Triest an, was die herausgefunden haben mit dem al Masr! Gibt’s doch nicht, dass wir so gar keine Antworten kriegen. Drohen’s diesmal ruhig mit dem Kriegsgericht, immerhin geht’s um einen Anschlag auf das Leben der Schwester unseres zukünftigen Kaisers! Auf geht’s!“

Ja Hergottsakra! Ist das eine verdammte, beschissene Schlamperei bei de Krowot’n!“ Unterkommissär Helmuth Kollomwetz betrat nur wenige Minuten später voller Inbrunst schimpfend wieder das Büro von Kommissär Walter Bauer. „Der arrogante, dekadente, völlig hirnrisse, grenzdebile Arsch von einem Polizeichef g’hört genau so wie sein Hornochs’ von Kommissär net nur entlassen, denen sollt’ einer den Arsch bis zum Hemdkrag‘n aufreiß‘n. Aufhängen sollt‘ ma de zwa, mit nasse Fetz’n derschlagen. Mit an rostigen Gurkerl derschießen! Gleich geht mir ja gleich der Fisch in der Tasch’n auf. Stellen’s ihnen vor, Herr Kommissär, der Aff’ hat unser Telegramm an den Piancetwicz weitergeb’n und dann – dann ist genau gar nichts passiert. Und statt dass der Wappler Bornthal einmal nachfragt, und seinem Mann Feuer unter’m Hintern macht, interessiert er sich plötzlich für sein inneres Selbst und für die Malerei! Szenen aus dem Hafen malt er jetzt, stundenlang sitzt er da und malt Schiffe! Aber seine Arbeit macht er nicht, und der Illyrer auch nicht! Explodieren könnt‘ ich!“

Die Faust des Kommissärs donnerte auf den Schreibtisch. „WAS! Zu was telegraphieren wir uns die Finger wund, wenn dann doch alles in der Rundablage landet? Wart’ nur, Bürscherl. Das soll dir noch leid tun! Freiherr hin, Baron her, wenn er seine Arbeit nicht macht, g’hört er weg!“ Aufgeregt griff er zum Telephon und wählte.

Herr Oberkommissär! Ich müsst’ einen ganz schlimmen Fall von Arbeitsverweigerung und Sabotage melden! Ja, es ist der Freiherr von Bornthal und sein spezieller Haberer Piancevicz, Chefkommissär und Kommissär in Triest! Ich mein’, Triest ist ja nicht irgendein blödes unwichtig’s Nest, des ist immerhin einer unserer wichtigsten Kriegshäfen. Und wenn dort der Polizeichef lieber irgendwelche Schinken pinselt statt seiner Profession nachzukommen, dann hapert’s aber gewaltig! Jawohl, Herr Oberkommissär! Ja, und die große Werft für die Teslaschiff’ ist auch dort. Vielleicht könnt‘ ja die Marine die Sicherung von der Werft bis auf weiteres übernehmen? Danke, Herr Oberkommissär. Ja! Ja! Hervorragend! Ihr Diener, Herr Oberkommissär.“ Er warf den Hörer auf die Gabel. „Er ruft gleich den k.u.k. Polizeigeneralkommissär, Hugo Adolph Fürst von und zu Oderburg an, in spätestens einer Stunde ist der Bornthal in Triest Geschichte, und ein neuer Polizeichef wird ernannt. In der Zwischenzeit arbeitet ein Kommissär Hektor Čipron an dem Fall und als interimistischer Leiter der Kommission von Triest. Und die Marine übernimmt die Posten an der Werft. Eine solche Sauerei aber auch. WAS IST DENN?“ Die Tür zu seinem Büro war mit lauten Krach gegen die Wand geschlagen, als der fesche Joschi ganz aufgeregt in den Raum gerannt kam.

Herr Kommissär mögen entschuldigen, aber der Ritter von Wölbling, also der Friedrich, der Vater von dem Max, der hat die neuen panzerbrechenden Granaten für die zwei Zentimeter Revolverkanonen erfunden“ stotterte Joschi aufgeregt. „Wenn der Bub das Geheimnis kennt und verscherbelt, dann gute Nacht, schöne Großmutter!“

Scheiße”, machte Helmuth Kollomwetz seinem Schrecken Luft.

Schön sprechen, ganze Sätze bilden”, mahnte Brunner.

Zu Befehl, Herr Kommissär!“ Kollomwetz salutierte. „Das ist eine verdammte Scheiße!“

Na bitte, geht doch”, brummte der Kommissär Brunner. „Aber wir können ihn ja schlecht aus dem Verkehr zieh’n, nur weil er in so ein komisches Puff geht und saublöd daherred’t! Oder hat einer von denen vielleicht subversive Reden gegen die Donaumonarchien oder unser Herrscherhaus g‘halten? Na also!“

Wir könnten’s bei der Strich-Kommission vernadern“, schlug Helmuth Kollomwetz nach einiger Überlegung vor, aber Brunner winkte ab.

Wenn die hör’n, wer dort zum nageln hinkommt, dann geht denen der Arsch derart auf Grundeis, dass unter’m Teppich Fahrrad‘l fahr’n können. Mitsamt‘n Zylinder!“

Was soll’s”, lehnte sich der fesche Joschi ganz entspannt zurück. „Wir haben ja noch den standfesten Heinzi, der wird uns schon weiter berichten, was da vor sich geht.“

Hoppala!“ Heinz Navratil hatte gegen den Sessel Pospischils getreten, und der war mitsamt dem Unterkommissär umgefallen.

Wenn die Herren jetzt mit die Kindereien fertig sind?“ Der Kommissär betrachtete angelegentlich den Stadtplan an der Wand, an dem im Moment gar nichts wichtiges zu sehen war.

Aber…“ Ein Klopfen an der Tür unterbrach Joschi Pospischil.

Herein!“ Walter Brunner drehte sich um. „Ach, Köberl! Er hat die Sachen, um die ich ihn geschickt hab’?“ Bruno Köberl, der uniformierte Polizist, welcher die gleiche Statur und Größe wie Heinrich Navratil hatte, nickte.

Jawohl, Herr Kommissär. Einen warmen Mantel und eine neue Hos’n in der Größe vom Herrn Unterkommissär, wie aufgetragen!“

Heinrich Navratil nahm die Kleidungsstücke entgegen. „Den Mantel zieh’ ich gleich an, die Hos’n trag‘ ich in der Tasch’n. Danke, Köberl!“ Navratil schlüpfte in den Überzieher. „Da hat der Köberl gut einkauft. Der tragt sich wirklich fesch.“

Hast dir ja auch sauer verdient, das Gerst’l fürs Manterl“, stichelte Pospischil noch einmal.

Heinrich schlug den großen Pelzkragen hoch und setzte seinen Hut auf. „Da spricht doch der blanke Neid aus dem feschen Joschi, weil man den g‘schniegelt’n Herrn gleich als Kieberer erkannt und net auf an guten Rutsch eing’laden hat! Habe die Ehre!“

=◇=

Mit der Dampftram der Linie 71, die den 1874 eröffneten Zentralfriedhof, das k.u.k. Schloss Neugebäude und die an das Schloss grenzende Artilleriekaserne weit draußen in Simmering mit der Ringstraße verband, fuhr Heinrich Navratil wieder hinaus in den Vorort. Dort angekommen ging er zum Hintereingang des kleinen Lustschlösschens beim Herderpark, das die Pepi Hintwitz unter dem Namen Baronesse von Klederwald gemietet hatte!

Die Gnädichste will, dass‘d sofort chummst zu ihr“, informierte die Köchin Ruzena den Heinzi, als dieser an der Küche vorbei ging.

Ich geh’ gleich zur Chefin“, versprach der Navratil, über die Dienstbotentreppe ging er zuerst noch in das Zimmer, welches ihm zur Verfügung stand. Immerhin galt er hier als arbeits- und unterstandslos, ersteres mittlerweile sogar mit offiziellen Papieren. Diese hatte die Pepi Hintwitz bei einem unauffälligen Besuch in dieser Kammer auch schon auf dem Tisch liegen gesehen. Nachdem er seinen neuen Mantel und die Hose verstaut hatte, ging er in den herrschaftlichen Teil des Hauses und betrat nach einem obligatorischen Klopfen den kleinen Salon der Hintwitz.

Ich soll mich bei ihnen melden?“, fragte er.

Ja! Wo warst du denn so lange?“ Pepi räkelte sich auf einer Chaiselongue.

Na, ich hab’ mir halt einen warm‘n Mantel kauft, und eine neue Hos’n, weil die jetzige kann ich nicht mehr lang anzieh’n, erklärte Heinzi. „Nicht einmal, wenn ich’s gleich wieder ausziehen soll!“

G’scheit“, bekundete die Hintwitz. „Sorgst ein wengerl für die Zukunft vor. Seh’ ich sogar ein, bist halt nicht so gern’ a Strichbub. Aber so lang’ du für mich arbeit’st, möchte ich wissen, wann’st gehst und wann’st wiederkommen willst, ist des klar? Ich muss ja richtig disponieren können, hast mich? Gut, pass auch, heut‘ hast eine angenehmere Schicht, die Hannelore Krafczik ist jung und halbwegs fesch, aber du wirst es nicht glauben, die hat mir glatt anvertraut, sie würd‘ gern’ mit dir und der Wetty einen Dreier schieb’n, warum’s des will, ist mir ziemlich wurscht. Also, hau‘ dich jetzt in die Hapf’n, damit du ordentlich durchhaltest heut Abend. Die Krafczik ist für uns nicht so ganz unwichtig, und arm ist’s auch nicht g’rad!“

Nicht unwichtig, Chefin?“ Heinz Navratil hob eine Braue. „Wie soll ich das versteh‘n?“

Gar net, Heinzi. Du bist ja net zum denk’n oder zum plauschen da, sondern zum nageln. Und jetzt schleich dich in dei’ Hapfen.“

=◇=

In der Sahara

Sie hat klug gewirkt, Ahmad! Aber wird sie klug genug sein, all die Spuren zu finden und zu erkennen?“ Saloumne, die Wahib alhaya, saß mit Ahmad al Massud auf dem flachen Dach ihres Hauses in der Oase Bahariyya und genoss mit ihm die Kühle des Abends. „Du hast bei deinem Plan doch auch nicht einkalkuliert, dass dieses Mädchen aus Österreich erschossen wird, als du es befreit hast, oder?“

Nein, das habe ich nicht! Omar al Nasr hätte zu diesem Zeitpunkt nicht einmal in der Nähe von Kairo sein sollen, und auch die anderen Mitglieder von Yasmins Gefolge hatten anderswo zu tun. Es war alles eingefädelt, und dann kommt dieser Omar zu früh zurück und geht ausgerechnet dort herum, wo die Prinzessin auf ihrem Rückweg ins Hotel vorbeiging. Aber ich habe gehört, was das Mädchen der Prinzessin sagte, du wirst sehen, Maria Sophia wird rechtzeitig in Gonder eintreffen.“

Das arme Ding! Sie war noch so jung, und als sie in Kairo ankam, so voller Hoffnung und Hingabe. Wir wussten ja, das Yasmin eiskalt und berechnend ist, aber für so bösartig, das Kind noch derart zu quälen, hätte ich sie nicht eingeschätzt.“ „Nun, die grausamen waren Abdullah und Omar, die haben Yasmin gesagt, was sie mit dem Mädchen anstellen wollen und was sie dabei tun soll. Der Goldene Frühling, der Orden der Yegēt Lijochi, braucht nun einmal seinen bewaffneten Arm, und daher hat Abdullah viele Freiheiten. Zu viele, er ist eine Bestie in Menschengestalt. Gott wird ihn dereinst im Jenseits strafen, und ich hoffentlich bald im Diesseits!“

Lange Zeit schwiegen die Beiden, während sie ihre Shisha rauchten, dann sprach Saloumne leise weiter. „Ist es nicht auch grausam von uns, die Prinzessin so zu quälen. Sie hat Todesangst, sie glaubt, elend sterben zu müssen. Auch das ist doch grausam.“

Das ist es, Bhajm! Ich bin bereit, dafür zu büßen, aber sie musste nach Africa kommen. Wir mussten verhindern, dass der Plan Atrás aufgeht, denn die Prinzessin wiese den Sohn des französischen Kaisers mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit zurück. Und ein Krieg wäre dann nur noch sehr schwer zu vermeiden. Oder, falls sie sich doch bereit erklärte, bräche der Krieg zwischen Britannien und Frankreich wieder aus. Auf welcher Seite Deutschland, Russland und die anderen europäischen Mächte dann stünden, lässt sich nicht voraussagen. Aber Atrá und die Yegēt Lijochi, die Awlad Alrabi, wären am Ende die einzigen Herren der Welt, und wehe allen Menschen, die anderen Glaubens als sie und ihre Gefolgschaft sind! Die Inquisition der Christen wäre im Vergleich dazu wie ein lauer Wind im Verhältnis zu einem mächtigen Samum. Und wir wären noch nicht bereit, abgesehen davon, dass wir die Prinzessin wegen der Suche nach den Reliquien auch noch benötigen. Und es ist auch wichtig für die Auserwählte, dem Tod ins Angesicht zu blicken. Sehr wichtig.“

Wieder rauchten sie schweigend, dann seufzte Saloumne. „Nun gut, das Schicksal vieler hängt an dieser Prinzessin, aber was macht das aus uns? Grausame, eiskalte Pragmatiker? Wir werden später einen hohen Preis für unser Engagement zu bezahlen haben, möge Gott uns dann gnädiger sein, als wir es jetzt sein dürfen!“

Ich weiß! Und ich bin bereit zu büßen, und wenn der Preis mein Leben und meine unsterbliche Seele sind!“

=◇=

Triest

Der Kommissär Graf Hektor Čipron war der Spross einer uralten Adelsfamilie, aber er hatte sich damit abgefunden, besser gesagt abfinden müssen, dass seiner Familie das Geld ausgegangen war. Sein Vater hatte ihm empirisch bewiesen, dass Spielkarten und Alkohol ganz schlecht zusammen passten, im Suff hatte er das Vermögen der Čiprons zum größten Teil verspielt. Und da auch ein Adeliger Geld benötigte, um zu essen, von der Erhaltung des Palais Čipron ganz zu schweigen, hatte er sich eben bei der Polizei beworben. Seine Frau hatte Hektor auch überredet, zumindest die untere Etage des Palastes zu vermieten, die Räumlichkeiten des oberen Geschosses mit der riesigen Terrasse reiche für die Familie des Kommissärs mit zwei Kindern doch völlig aus. So wurde das Erdgeschoss eben in zwei Wohnungen aufgeteilt, und der Graf war froh, zwei ruhige Familien als Mieter gefunden zu haben. Natürlich war im Zuge der Innenarbeiten auch ein Anschluss an die allgemeine Triester Dampfleitung für Heizung und Warmwasser vorgenommen worden, und ein dickes Kabel brachte Strom für das Licht und die Herde. Ganz modern, der neueste Schrei aus Wien. Theresa ersparte sich des Morgens das langwierige Einheizen des Herdes mit Papier, Spänen und Holz. Sie stellte einfach die eiserne Kaffeekanne gut gefüllt mit Wasser und Kaffeemehl auf die Platte, drehte einen Knopf, nur kurze Zeit später drang der Wasserdampf aus dem Gefäß unten durch den Kaffee im Sieb in den oberen Behälter und kondensierte dort als italienischer Espresso. Der beste Kaffee dieser Welt. Und die einzig wahre Methode, ihn zu kochen, fand der Kommissär.

Derzeit war der etwas dunkelhäutige, gepflegte Mann mit dem schmalen Oberlippenbärtchen im Büro der ÖDLAG in Triest. „Entschuldigen Sie, ich weiß, es ist schon mehr als ein Monat her, aber erinnert sich eine von den Damen oder Herren vielleicht an einen Herrn al Masr? Oder an einen Herrn, der so oder doch sehr ähnlich ausgesehen hat?“ Hektor hatte im Posteingangskorb seines ehemaligen Vorgesetzten das Phantombild des Flüchtigen gefunden.

Al Masr – da haben wir ihn schon!“ Fräulein Josepha Solottič hatte sich in den angrenzenden riesigen Saal zu einem der Aktenschränke begeben, auf dem groß MAS bis MAT stand. „Ein Glück, dass wir jeden Zettel aufheben sollen. Da haben wir es, ja, das kurze Signalement stimmt mit der Beschreibung und dem Bild überein. Also, das wird er schon gewesen sein.“

Steht da etwas von seinen weiteren Aktivitäten, Fräulein?“

Nur, dass er am Tag danach einen Flug nach Konstantinopel gebucht und ihn am 25. Februar auch wirklich angetreten hat.“ Solottič studierte den Akt. „Moment, die Ankunft wurde von Wachtmeister Morovitz abgewickelt, das Formular zeigt hier seine Paraphe. Er müsste jetzt eben Dienst haben, aber bis die Passagiere von der GRAZ den Kontrollschalter und die Gepäckausgabe erreichen, dauert es doch noch etwas. Er wird also ohnehin noch in der Cafeteria sitzen. Kommen Sie bitte mit, Herr Kommissär!“

Der Wachtmeister war groß! Wirklich groß, und dazu noch mehr als bullig gebaut. Er war auf dem Land aufgewachsen, hatte kaum seinen Namen lesen und schon gar nicht schreiben können. Aber Moro ging als Fabrikarbeiter in die Stadt. Nach Triest, es war die Nächstgelegene mit halbwegs gut bezahlten Stellungen. Dort hatte er als Hilfsarbeiter auf einer der Werften begonnen und allmählich die wichtigsten von den Schildern zu entziffern gelernt. Dann war er eines Tages von der Arbeit nach Hause gefahren und hatte ein Plakat im gelb-schwarz der Habsburger, aber auch der ÖDLAG gesehen. Es hatte lange gedauert, bis der Hilfsarbeiter es endlich geschafft hatte, die Worte zu lesen und sinnvoll zusammen zu stellen, aber dann hatte er sich am angegebenen Ort gemeldet. Bei der österreichischen Dampfluftschifffahrtsgesellschaft. Zuerst als Gepäckträger, in seiner Freizeit hatte er die von der Gesellschaft angebotene Möglichkeit wahrgenommen, nicht nur lesen und schreiben zu lernen, sondern auch deutsch. Dann kam französisch, danach englisch. Da saß Moro bereits an der Gepäckausgabe, später wurde er Sicherheitskraft und letztendlich Wachtmeister. Aber nicht nur sein Körper erinnerte an einen Elefanten, auch sein Gedächtnis. Es war einfach phänomenal, woran er sich erinnern konnte, und das noch lange nachdem es geschehen war.

Der Wachtmeister warf nur einen Blick auf das Bild und schloss kurz die Augen. „Der Mann war unter den letzten, die von Bord gegangen sind. Dann ist er in der Toilette dort drüben verschwunden, genau für – äh – 11 Minuten und 36 Sekunden nach der großen Uhr dort drüben in der Halle. Dann ist er zu meinem Schalter gekommen und hat Billett und Pass vorgezeigt. Er hat leicht nach Seife gerochen, und an seinem linken Ohr hing auch noch ein winziger Rest Seifenschaum. Er hatte einen ganz normalen Gehrock in dunklem Bordeauxrot, eine weiße Weste über weißem Hemd und schwarzen Hosen an. Elegante, italienische Stiefeletten, auch schwarz. Sehr kultivierte Sprache. Er hat mich nach einem guten Hotel gefragt, da habe ich ihm das Kaiserin Maria Theresia und das Triest empfohlen. Dann hat der Herr den Dienstmann Nummer drei acht eins angesprochen und ihm seinen Gepäckschein gegeben.“

Čipron war verblüfft. So viel Glück hatte er sich gar nicht erwartet, wenn der Mann in einem der Hotels abgestiegen war, konnten vielleicht auch dort noch schriftliche Aufzeichnungen existieren. Leider hatte er mit dem Dienstmann weniger Glück, der konnte sich an diesen Gast überhaupt nicht erinnern. Der Kommissär konnte auch ganz gut riechen, woher sowohl die Gedächtnislücke als auch die rote Nase des Mannes kamen. Von reinstem Sliwowitz nämlich. Der Kommissär verließ das Gebäude der ÖDLAG wieder und überlegte kurz. Das Maria Theresia lag näher, höchstens zehn Minuten zu Fuß, und es ging ohnehin gerade gegen Mittag. Warum also nicht das angenehme mit dem nützlichen verbinden und gleich eine Kleinigkeit zu sich nehmen? Also drückte der Graf seinen Hut auf seinen Scheitel, wirbelte seinen Gehstock einmal durch die Luft und spazierte gemächlich durch die Straßen von Triest. Seine Gedanken wanderten…

Gestern erst war es gewesen, als ein Leutnant zur See, ein Waffenmaat und sechs Waffenmatrosen, wie die Marineinfanteristen der kaiserlich-königlichen Streitkräfte im offiziellen Sprachgebrauch genannt wurden, mit den neuen kurzen halbautomatischen Karabinern über der Schulter zu ihm in das Büro gekommen waren.

Kommissär Hektor Graf Čipron?“, hatte der Leutnant gefragt und den Titel und den Namen dabei nach österreichischer Art umgestellt, doch der Illyrer war daran schon lange gewöhnt und störte sich nicht daran.

Ja, Herr Leutnant”, hatte er in fragendem Unterton geantwortet, nicht sicher, was der Auftritt zu bedeuten hatte.

Ich bin Leutnant zur See Casim Donjakovič. Bitte heben Sie die rechte Hand, Herr Graf. Schwören Sie, als amtsführender Vertreter des Chefkommissär alles zu tun, um Schaden von den Donaumonarchien abzuwenden und der kaiserlich-königlichen Familie die Treue in ihrem vorübergehenden Amt als Leiter dieser Behörde?“

Selbstverständlich schwöre ich es, bei meiner Ehre und der heiligen Bibel!“

Dann gratuliere ich, Herr Kommissär.“ Der Leutnant reichte dem Graf die Hand. „Das wäre der angenehme Teil meiner Aufgabe. Jetzt muss ich noch den ehemaligen Polizeichef Bornthal und den ehemaligen Kommissär Piancetwicz verhaften. Waffenmaat Dvořak, Sie und drei Waffenmatrosen kümmern sich um den Piancetwicz. Seien Sie vorsichtig, Maat, der Mann ist bewaffnet und unter Umständen auch gefährlich!“

Zu Befehl, Herr Leitnant.“, salutierte Dvořak und wandte sich an die Matrosen. „Engel, Novtny, Bokor, mitkommään! Ohne Schritt, marsch!“ Die vier Männer in ihren blauen Uniformen verließen das Büro, um ihre Amtshandlung durchzuführen.

Ich denke, der Bornthal wird wieder einmal im Hafen sitzen und malen. Herr Kommissär, bitte entschuldigen Sie mich, ich habe heute noch eine Verhaftung vorzunehmen“, verabschiedete sich der Offizier und ließ einen fassungslosen Grafen zurück, der die Nachricht erst einmal verdauen musste.

Der stellvertretende Leiter der Polizei erreichte das Hotel und zwang seine Gedanken in die Gegenwart zurück. Das im modernen Stil in einer luftig-leichten Ansicht mit viel Glas und Leichtstahl erbaute Hotel, das nach der großen Kaiserin Maria Theresia benannt war, lag direkt am maritimen Hafen der Stadt. Die Terrasse des Speisesaales bot einen hervorragenden Blick über den Golf von Triest und das Mittelmeer und die Küche war berühmt für die Vermischung klassischer illyrischer mit französischer, italienischer und österreichischer Küche, man speiste hier wirklich hervorragend. Auch die strikte Diskretion des Personals war stadtbekannt, doch hatte der Besitzer nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass Polizeibeamte jederzeit Auskunft erhielten, wenn ein Verbrechen im Spiel war. Untreue Ehemänner und -Frauen durften sich in diesem Haus völlig sicher fühlen, dass keiner ihrer Seitensprünge ans Licht kam. Zuminest solange sie kein Gesetz übertraten. Graf Čipron nahm bei seinem Eintritt durch die große, gläserne Drehtür, welche ein Page für ihn in Bewegung setzte, den Hut ab und steuerte sofort den Tresen der Rezeption an.

Das Lächeln der jungen Dame hätte ohne weiteres einen Tesla-Scheinwerfer überstrahlt, als sie sich an den Neuankömmling wandte. „Was kann ich für Sie tun, mein Herr?“

Der Graf holte seinen Dienstausweis aus der Tasche und legte ihn auf den Tresen. „Kommissär Graf Hektor Čipron, k.u.k. Polizei Triest.“

Sie reichte den Ausweis zurück. „Ich bin Julia Arnottovic. Fräulein Julia Arnottovic. Bitte, wie kann ich der Polizei helfen?“

Haben Sie Aufzeichnungen über einen Mann namens al Masr? Achmed al Masr, Fräulein Arnottovic?“

Einen Moment, Herr Kommissär.“ Die junge Dame blätterte im dicken Gästebuch und holte dann fünf dünne Journale hervor. „Da haben wir ihn schon. 21. bis 25. Februar. Achmed al Masr.“ Ein kurzes Blättern in einem der dünnen Bücher. „Der Herr hat am 22. einen Tisch für zwei Personen bestellt, er hat dann mit Frau Sabine Baronin von Alpaach zu Abend gespeist. Die Dame ist pünktlich um 20 Uhr erschienen. Weder die Dame noch der Herr haben einen abgeschiedenen Tisch bestellt, und es ist nichts besonderes im Speisesaal vorgefallen. Er hat die Dame nach dem Dîner draußen zur Droschke, welche wir für ihn gerufen hatten, begleitet und ist dann noch kurz an die Bar gegangen, wo er ein Glas Sekt bestellte. Wollen Sie die Quittungen sehen?“ Ein Päckchen Papier landete auf dem Tresen.

Fräulein Arnottovic, dürfte ich mir das bitte ganz kurz ausborgen? Ich werde mich dort an diesem Tisch hin setzen und mir ein paar Notizen machen. Und vielleicht könnten Sie mir für danach noch einen Tisch im Speisesaal für heute Mittag geben?“

Aber selbstverständlich, Herr Kommissär! Beides ist ohne Probleme machbar!“

Innerlich fluchte Čipron. All diese Informationen hätte man bereits vor einem Monat sammeln können, und alles wäre noch frisch in den Erinnerungen der Personen gewesen. So konnte er nur hoffen, von der Gräfin Alpaach nach so langer Zeit noch brauchbare Informationen zu erhalten. Gleich morgen würde er versuchen, die Dame zu besuchen und so diskret wie nur irgend möglich mit ihr über diesen Abend zu sprechen. Jetzt aber erhob er sich, nachdem er die Daten von den Belegen des Hotels in sein Notizbuch übertragen hatte, und gab die Papiere an Fräulein Arnottovic zurück.

Danke, Fräulein. Sie haben mir meine Arbeit sehr viel angenehmer und leichter gemacht!“

Das freut mich!“ Wieder flammte das Gigawattlächeln der jungen Frau auf. „Ihr Tisch erwartet Sie, Herr Graf. Der Oberkellner weiß bereits Bescheid!“ Hektor verbeugte sich dankend und suchte den Raum auf. Es war noch nicht ganz zwölf Uhr, und der Speisesaal noch ziemlich leer, vor allem Deutsch-Österreicher hatten jetzt bereits Platz genommen. Die Südländer würden wie meistens erst um dreizehn Uhr oder gar noch später speisen, dafür aber um so länger und gemütlicher, mit einem guten Glas Wein oder mehreren. Danach noch eine kleine Siesta, bis 15, 16 Uhr, und erst dann wurde weiter gearbeitet. Die Bewohner der nördlichen Länder hielten die Südländer deshalb für faul, aber das war einfach nicht richtig – sie verlegten die Arbeit nur aus den warmen Stunden hinaus. Im Sommer eine absolute Notwendigkeit, und warum den Rhythmus dann im Winter aufgeben? Der Graf sah aus dem Fenster auf den Hafen mit den großen Frachtschiffen aus aller Welt zur rechten und den sehr viel kleineren Yachten zur linken Hand. Er entspannte sich etwas, nippte genussvoll an seinem Glas Malvasier. Schön gekühlt, wie ein Weißwein eben sein musste, mit fruchtig-herbem Geschmack. Es war Freitag, also entschloss sich der Graf für eine fleischlose Pasta zur Vorspeise. Al Salmone, eine Spezialität des Hauses, Penne, Lachs, Tomaten-Sahnesauce, elegant abgeschmeckt, hervorragend, der reinste Genuss. Als der gegrillte Fisch des Hauptganges mit den in Butter geschwenken Rosmarinkartöffelchen an den Tisch kam, atmete Hektor Čipron den würzigen Duft vorher noch genießerisch ein, ehe er zum Besteck griff und das zarte Fleisch gekonnt von den Gräten löste. Es schmeckte einfach himmlisch, und der Graf bestellte noch ein zweites Gläschen Wein zum Hauptgang. Und auch noch ein drittes zum Dessert, eine Auswahl an verschiedenen Käsen mit Weintrauben. Danach setzte er sich an die Bar im Foyer, bestellte einen Mokka mit Schuss, also einen Espresso mit einem kleinen Trebernem, und zog eine seiner dünnen Zigarren aus der Tasche. Er riss das Zündholz an, wartete, bis der Schwefel verbrannt war und entzündete damit den Tabak. Endgültig mit der Welt und sich zufrieden genoss er den starken, schwarzen Kaffee mit Alkohol und blätterte gemütlich durch eine Zeitung, ehe er seinen Mantel und Hut von der Garderobe holte und das Hotel wieder verließ. Ein Blick auf die Taschenuhr, es war knapp nach 15 Uhr. Er beschloss, jetzt zuerst einmal in die Kommission zurück zu kehren und die Kollegen in Wien vom bisherigen Fortschritt und seinem Plan für den nächsten Tag zu unterrichten, einen Bericht schreiben und sich danach vielleicht noch einige Akten vorzunehmen, ehe er zu seiner Gattin nach Hause ging und ihr von seiner temporären Beförderung zu erzählen. Theresa würde sich darüber sicher freuen.

=◇=

Gnädige Frau, ein Herr ist da und bittet um eine kurze Unterredung mit gnädiger Frau Baronin!“ Das Stubenmädchen knickste und hielt Sabine, Baronin von Alpaach das Silbertablett mit der Besuchskarte entgegen.

Graf Hektor Čipron! Nie gehört. Wie sieht er denn aus?“

Sehr elegant, Gnädige Frau.“

Na gut, Raffaela. Führ‘ Sie ihn in den Salon, ich wird‘ gleich kommen!“ Die Baronin mochte etwa vierzig Jahre alt sein, das blonde Haar trug sie modisch hochgesteckt, nur an den Schläfen ringelten sich neckisch ein paar Löckchen. Sabine war nicht hässlich, aber eine Schönheit konnte man sie auch nicht unbedingt nennen. Alles an ihr wirkte überaus durchschnittlich und eher langweilig bieder, doch sie war sehr intelligent, auch wenn sie es sogar vor ihren Bediensteten gekonnt verbarg. Eine Frau und klüger als ihr Mann, das durfte in der Öffentlichkeit nicht bekannt werden.

Mein lieber Herr Graf!“ Sie rauschte in ihrem langen Kleid in den Salon, wo Čipron rasch aufsprang. „Sie müssen mir verzeihen, lieber Herr Graf, aber ich habe keine Ahnung, woher wir uns kennen!“ Sie hielt ihm die Hand entgegen, welche der Illyrer galant küsste.

Wir sind uns auch noch nie begegnet, Frau Baronin. Aber die Donaumonarchien benötigen ihre Hilfe, und wir müssen dabei so diskret wie nur möglich vorgehen. Darum hat der Polizeichef mich gebeten, persönlich mit ihnen zu sprechen. So, auf Augenhöhe quasi! Nicht, dass Frau Baronin vielleicht mit einem Polizisten in Uniform sprechen müsste.“

Sabine kniff lächelnd die Augen zusammen. „Also besser mit einem Polizisten ohne Uniform? Nein, nein. Ich bin wirklich dankbar für die nette Geste. Aber bitte, Herr Graf, möchten sie nicht etwas trinken? Ich habe einen hervorragenden Pinot Noir im Haus! Oder Kaffee, es ist ja noch nicht so spät?“

Sie haben mich durchschaut, ja ich arbeite für die Polizei. Aber ich bin wirklich auch ein echter Graf. Kaffee wäre übrigens herrlich!“

Die Baronin klingelte, gab Raffaela den Auftrag, für eine Kanne Kaffee zu sorgen und wandte sich wieder an Hektor. „Also, Herr Kommissär, wie kann ich ihnen – oder wie Sie g‘sagt haben, den Donaumonarchien – denn helfen, um was geht‘s?“

Um ihr Abendessen mit Achmed al‘Masr!“

Ach! Dafür interessiert sich die Polizei?“ Sabine lachte entspannt auf. „Das ist doch schon so lang‘ her und war eigentlich auch gar nichts Besonderes. Mein Mann und ich haben den Herrn im Dezember vorigen Jahres kennen gelernt. Eigentlich hat er ja uns beide im Februar zum Essen eingeladen, aber mein Mann war an dem Tag leider verhindert.“

Können Sie mir vielleicht noch sagen, ob etwas zur Sprache kam, das nicht alltäglich ist?“

Die Baronin überlegte lange, dann seufzte sie. „Wenn ich jetzt nur wüsst‘, was Sie für nicht alltäglich halten. Wir haben über Kairo gesprochen, wie sich manche Engländer dort benehmen. Aber, was die dort machen, ist wahrscheinlich auch nicht viel schlimmer als das, was wir in manchen von unseren Gebieten anstellen. Oder die Franzosen. Über die Belgier woll‘n wir da erst gar nicht red‘n, da bekomm ich gleich einen dicken Hals. Entschuldigen Sie die Abschweifung, aber…, also weiter. Wir haben über meinen Mann geredet, und dass der an dem Abend schon eine Verabredung bei der Fürstin Sabatini g’habt hat. Er geht dort schon eine Zeitlang hin und hofft halt, etwas von seiner verstorbenen Mutter zu erfahr’n. Er glaubt ganz fest daran, also an Geister und dieses Spiridingsbums. Ich kenn‘ mich da ja nicht so aus, mein Mann ist der G‘scheite in der Familie. Ach, Raffaela, danke für den Kaffee! Sie kann dann wieder gehen, ich schenk‘ schon ein. Milch, Zucker, Herr Graf?“

Nur ein wenig Zucker, danke!“

Ja, was war denn noch? Oh, über unsere Kinder haben wir gesprochen, also die von meinem Mann und mir, der al‘Masr hat ja keine. Über irgendwelche neuen Schiffe, die wir, also die Donaumonarchien, angeblich hier in Triest bauen wollen. Aber mein Gott im Himmel, wo denn sonst, nirgends anders hat man so gute Möglichkeiten dazu. Und über das Essen im Maria Theresia, das war aber auch wirklich formidabel. Ach ja, er hat mir auch erzählt, dass er in Wien war, und wie die Leute auf der Straße auf den Geburtstag von unserer Prinzessin Maria Sophia angestoßen haben. Überall haben die Wiener gefeiert, und wie das große Feuerwerk angefangen hat, haben‘s alle Vivat Maria Sophia geschrien! Also, wir hier haben den Geburtstag von der Prinzessin ja auch gefeiert, aber bei weitem nicht so derart intensiv, mehr im kleinen Kreis. Das war es auch schon, mehr kann ich ihnen leider nicht mehr erzählen!“

Dann danke ich ihnen, Baronin. Ich kann jetzt noch nicht sagen, ob etwas Wichtiges dabei war, aber ich bin ihnen auf jeden Fall für den charmanten Empfang und die Gastfreundschaft dankbar!“

Gerne, Herr Graf. Kommen Sie doch wieder vorbei, wenn es nicht um einen Fall geht. Privat!“

Čipron erhob sich und küsste der Dame die Hand. „Das wäre mir eine große Ehre und ein Vergnügen, Gräfin Alpaach. Aber dann, bitte, stellen Sie ihr Licht nicht mehr so sehr unter den Scheffel. Ich erkenne eine kluge Frau, und Sie sind die Intelligente in der Familie. Stehen Sie dazu, wir leben nicht mehr im Mittelalter, sondern am Ende des 19. Jahrhunderts.“

Nachdenklich warf sich der Kommissär, nachdem er in sein Büro zurück gekehrt war, in seinen prächtigen, gepolsterten Drehsessel aus Bugholz von Thonet und las seine Notizen noch einmal durch.

Johannis!“ Durch die offene Bürotür hörte er eilige Schritte, dann kam Inspektor Johannis Gamtič durch die Tür.

Ja, bitte?“ fragte er dabei höflich, und Čipron winkte ihn herein.

Komm‘ herein! Setz dich“, wies der Graf auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Hast du nicht einmal erwähnt, dass deine Mutter irgend etwas von einer Wahrsagerin erzählt hat, die ungemein gut gewesen sein soll?“

Ja, da war etwas. Ist aber schon eine Weile her, irgend eine Ausländerin. Kairo, Tunis, so irgendwo aus Arabia!“

Hm, bitte frage sie doch, ob sie noch etwas Näheres weiß, und finde auch etwas über eine Fürstin Sabatini heraus. Und über den Baron Alpaach. Wenn‘s geht, gestern noch, und halt mich auf dem Laufenden!“

Johannis sprang auf und salutierte. „Gern, Herr Kommissär. Ich mache mich gleich daran!“ Der Graf machte sich über die Akten des Polizeichefs . Eine sprang ihm dabei besonders ins Auge, eine mit rotem Deckel. MUGGIA – KAISERIN MARIA JOSEPHA stand in großen Druckbuchstaben auf dem Deckel. Čipron öffnete den Ordner und begann den Inhalt zu studieren.

Triest

Guido Folmatini, der Vertraute der Gräfin Sabatini, hatte sich auf einem Hügel der Halbinsel von Muggia versteckt und beobachtete die kaiserlich-königliche Werft von Triest. Der kleine, seiner Herrin Mariamne absolut hörig gewordene Ingenieur Josip Tarkič hatte ihr berichtet, dass die KAISERIN MARIA JOSEPHA noch heute zu einem Probeflug starten sollte, und Guido wollte diesen Flug mit eigenen Augen sehen. Die große Montagehalle wurde jetzt geöffnet, er konnte genau sehen, wie sich die dicken Flügel zur Seite schoben. Dreißig Meter war jede Torhälfte breit, über Wasser beinahe fünfzig hoch und unter der Wasserlinie auch nicht kleiner. Und dann fuhr das Schiff majestätisch heraus, wunderschön und elegant, von der Bugspitze bis zum Flaggenmast am Heck 301,5 Meter messend, die Bordwand war eine durchgehende geschwungene Linie, mittschiffs die breiteste Stelle mit 41,8 Metern. Der Hauptrumpf war 39,6 Meter hoch, die vier Drehtürme der Hauptartillerie standen auf stufig erhöhten Decks und waren mit je drei Kanonen ausgerüstet. Zwischen dem Hauptdeck und der Wasserlinie ragten auf jeder Seite vier Inseln aus dem Rumpf, aus denen die Rohre je zweier 10,5 Zentimeter-Geschütze ragten. Die Formen der Deckaufbauten und des Ruder- und Kommandoturmes hatten geneigte Wände, die Kanten waren weich gerundet, nichts an dem Schiff war mehr kantig und eckig. Jetzt ertönte ein Signalhorn vom Land, die Signalflagge großen Mast über dem Peildeck der MARIA JOSEPHA wippte noch einmal unternehmungslustig und wurde dann eingeholt. Das Wasser rund um das Schiff schien mit einem Mal zu kochen, langsam, majestätisch, hob sich der schwere Körper aus dem Wasser, stieg dann schneller und immer schneller werdend in den Himmel, kaum konnte Guido mit dem Feldstecher der Bewegung folgen, und dann verlor er sie aus den Augen, der Kapitän musste auch auf Vortrieb gestellt haben. Da, mit bloßem Auge fand er das rasch kleiner werdende Schiff wieder, die Geschwindigkeit musste enorm sein. Dann war die MARIA JOSEPHA verschwunden, und Guido sah mit verträumten Augen über die Bucht von Triest. Was für Zähne des wahren Glaubens würde dieses Schiff abgeben. Blitzschnell an Ort und Stelle, und mit Blitzen ausgestattet, die Feinde des Ordens zu zerschmettern! Jetzt, die JOSEPHA kam zurück, in rasender Fahrt im Wasser, eine solche Bugwelle hatte Guido noch nie gesehen. Vor der Montagehalle stoppte die KAISERIN MARIA JOSEPHA und legte dann sanft am werfteigenen Pier an, die Montagehalle benötigte das neue Wunderwerk des Genies Teslas nun nicht mehr. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dieses Schiff war voll einsatzbereit.

=◇=

Mariamne kam ihrem Gast mit ausgebreiteten Armen entgegen. „„Mein lieber Herr Chefkommissär! Sie haben mich schon so lange nicht mehr besucht, mein Lieber! Haben Sie etwa ihr Gemälde von Muggia beendet? Darf ich es bitte sehen?“

Bornthal nickte glücklich. „Es ist fertig, und wie Sie es mir rieten, meine liebe Fürstin, es ist sehr detailliert geworden.“ Er küsste die gereichte Hand hingebungsvoll. „Es ist wahr, diese Beschäftigung mit den winzigen Kleinigkeiten hat meinem Bild eine ganz neue Tiefe gegeben, und mir auch über mich selbst die Augen geöffnet. Es war großartig! Sehen Sie nur, meine liebe Mariamne!“ Er stellte das große Bild auf eine Staffelei im Salon Mariamnes. Es war zwar vom künstlerischen nicht so toll, aber wirklich sehr detailgetreu. Das Bild erinnerte eher an eine militärische Lagezeichnung als an ein Kunstwerk, doch gerade dieser Umstand machte die Begeisterung der Gräfin um so überzeugender!

Grandios, mein lieber Franz! Genial! Bitte, Sie müssen es mir überlassen! Ich werde, wenn Sie dereinst ein berühmter Künstler sind, sagen können, ich besäße eines ihrer ersten Bilder! Ich bitte Sie!“

Franz Bornthal beugte sich noch einmal über ihre Hand. „Es gehört ihnen, teure Freundin. Werden Sie mir jetzt Modell sitzen, wie Sie es versprochen haben?“

Aber selbstverständlich, mein lieber Franz! Bitte, kommen Sie doch mit, wir wollen auf ihren Erfolg anstoßen! Kommen Sie! Wir müssen sprechen, darüber, was ich tragen soll. Perlen? Ein Diadem mit Smaragden und eine Kette mit Anhänger?“ Sie ging zur Anrichte und goss zwei Gläser Portwein ein.

Am liebsten, meine teuerste Freundin, mit ihrer Perlenkette um den Hals, einer ähnlichen um die Hüfte und ihren wundervollen Schuhen!“

Und sonst gar nichts? Sie sind aber ein ganz ein böser Junge! Meinen Sie etwa so?“ Sie warf ihre dünnen Schleiergewänder ab und stellte sich in Positur. „Salute, mein lieber Freund!“ Die Gläser klangen hell, und Bornthal war so intensiv in die Betrachtung ihrer Kurven vertieft, dass es ihm nicht auffiel, dass die Fürstin gar nicht trank, und als das Brennen in seiner Kehle begann, war es bereits viel zu spät. Die Fürstin Sabatini sah ungerührt zu, wie sich Bornthal sterbend in schweren Krämpfen wand und erstickte. Dann zog sie ihr Gewand wieder an und klingelte ihrem Vertrauten.

Schaff dieses Aas in den Kühlkeller, Guido, in ein paar Tagen schaffen wir dann ihn in den Hafen. Und dann nimm dieses Bild, instruiere deine Leute, übermorgen wird das Chaos nach dem Verschwinden von Bornthal am größten sein. Niemand wird sich groß darum kümmern, die Bewachung für die KAISERIN MARIA JOSEPHA zu verstärken, bis der neue Polizeichef ernannt ist, und dann ist es zu spät!“ Die Sabatini lachte vergnügt auf. „Die Österreicher haben dem Orden die besten Zähne auf und über dem Meer und dem Land gebaut, und wir werden damit kräftig zuzubeißen wissen!“

=◇=

Der Fußtritt des Waffenmatrosen Karol Novotny sprengte das Schloss, und krachend prallte die Tür gegen die Wand. Zwei Gewehrläufe ragten in den Raum, in welchem ein Mann zu seiner Kleidung sprang und eine nackte Frau kreischend hinter dem Bett Zuflucht suchte.

Im Namen ihrer kaiserlich-königlichen Majestät“, donnerte die befehlsgewohnte Stimme des Waffenmaates Johann Dvořak. „Raffael Piancetwicz, ich erkläre Sie für festgenommen. Wir sind berechtigt, im Falle einer Gegenwehr von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, heben Sie beide Hände und treten Sie von dem Stuhl zurück! Tummel dich ein bisserl, sonst blas‘ ich dir dein depperten Fetz’nschäd‘l von den Schultern. Mit Verrätern hab‘ ich kann Pardon!“

Verräter? Aber ich bin doch kein…“

Statt zu recherchieren, wie man dir‘s auftragen hat, bist zu deiner Freundin nageln `gangen. Wegen deiner Schlamperei hab‘n wir wertvolle Zeit verlor‘n, nach dem Attentäter zu fahnden, der die Prinzessin Maria Sophia umbringen will. Ich hoff‘, die Katz‘ war‘s zumindest wert, dass du jetzt in Häf‘n gehst. Und rech‘n net mit dein Polizeichef. Den such‘n wir auch schon.“ Der Waffenmaat untersuchte die Kleidung des ehemaligen Kommissärs und nahm dessen Pistole und Ausweistasche an sich. Dann warf er Piancetwicz die Hose zu. „Zieh‘ dir die Hosen an, Bub. Im Häfen werdn’s dir’s eh schnell genug wieder ausziehen. Verräter und Kieberer mag man dort nicht so gerne, und verräterische Kieberer no weniger! Nämlich genau gar net! Fräulein, das wird die letzte Zahlung von diesem Herrn sein, jetzt werden‘s einen neuen Gschamsterer brauchen, fürcht‘ ich!“ Er warf dem immer noch nackten Mädchen, das sich jetzt eine Decke vorhielt, ein paar Geldscheine aus der Tasche des Arretierten zu und salutierte flüchtig. „Habe die Ehre!“ Dann wandte er sich an seine Matrosen und deutete auf den Ex-Kommissär. „Abführen!“

=◇=

Es war an sich natürlich nichts Besonderes, dass der Markgraf von Buri, Andreas Malkevics aus Udine, in der Nähe des nur 52 Kilometer von seiner Heimatstadt entfernten Ortes Grado eine kleine Strandvilla erbauen ließ. Es fiel auch nicht weiter auf, dass er eine eigene Mole davor in das Meer betonieren ließ und so seinen eigenen, sogar ziemlich großen und sicheren Hafen besaß. In diesem lagen eine neue Dampfyacht mit Schraubenantrieb sowie einige moderne Sport- und Rennboote ebenso wie eine alte Yacht mit Segelmasten und Schaufelrad-Antrieb aus dem vorigen Jahrhundert, als man noch die Dampfkessel mit Kohle heizte, der originalgetreue Nachbau einer römischen Liburne, einer mittelalterlichen Karacke und einer venezianischen Galeasse. Falls jemand den kleinen Kutter zwischen all diesen Schiffen und Booten überhaupt gesehen hätte, was sollte man sich dabei schon denken? Der Markgraf war eben ein Sammler, vielleicht war es der Kutter eines berühmten Schiffes gewesen. Was wusste man schon, was im Gehirn eines solchen Mannes, eines Sammlers maritimer Fahrzeuge, so vorging? Man hätte unter Umständen noch die Achseln über dem neuen Boot gezuckt und wäre auf jeden Fall einfach weiter gegangen. Dieses spezielle Mal hätte man den Markgrafen allerdings bitter Unrecht getan, denn er hatte dieses unscheinbare Boot nie gesehen. Seit er die Villa im Oktober 1888 winterfest gemacht hatte, war er nur einmal kurz mit einer Dame, welche allerdings nicht die Markgräfin war, im November für einige wenige Tage hier gewesen. Doch selbst wenn der sonst so in die verschiedensten Wasserfahrzeuge vernarrte Markgraf sich damals von seinem Gast für kurze Zeit losgemacht und auch nach seinen Schiffen gesehen hätte, damals war dieses Boot noch gar nicht in seinem Hafen. Und vor Mitte Mai war die Familie Malkevics auf keinen Fall zurück in Grado zu erwarten, denn den Winter verbrachte sie auf den Gütern der Familie in der Bucht von Zula. Die Familie der Malkevics war mit dem Bau innovativer Dampfschiffe geradezu unverschämt reich geworden und war heute noch zu einem nicht unbeträchtlichen Teil an der kaiserlich-königlichen Werft zu Triest beteiligt. Als Gegenleistung für den Bau einer starken Verteidigungsanlage auf der Insel Dissei in der Einfahrt zum Golf von Zula zu einem vernünftigen Preis hatte ihn die Regentin zum Markgraf der Halbinsel Buri im Osten der Bucht ernannt. Andreas Malkevics nahm diese seine Stellung als Markgraf durchaus ernst, auch im Norden dieser zumeist flachen Halbinsel stand jetzt zur Verteidigung der Einfahrt in die Bucht eine tief in den Boden gegrabene kombinierte Langgeschütz- und Mörserstellung aus bestem Beton, der mit einigen Gittern aus Kortwitz-Leichtstahl verstärkt und an manchen Stellen meterdick war und selbst direkten Treffern der schwersten bekannten Schiffsgeschütze standhalten konnte. So hatte der Markgraf keine Ahnung, dass in seinem Hafen einige Zeit ein 13,5 Meter langer und 3,9 Meter breiter Kutter für 9 Riemenpaare, aber ohne Mast vertäut lag.

Die achtzehn Männer an den Riemen dieses ausgemusterten italienischen Marinekutters, der jetzt über die Bucht von Triest Richtung Muggia fuhr, trugen wie die anderen Männer an Bord warm gefütterte Jacken aus dichtem, wasserabweisendem Material, so genannte Friesennerze, denn Abends kühlte es auf dem Wasser immer noch ganz empfindlich ab. Guido Folmatini hatte einige wegen diverser Unregelmäßigkeiten aus dem Dienst in der kaiserlich-königlichen Marine ausgemusterte Matrosen aufgetrieben und angeheuert, damit sie im Falle eines Falles bereit stehen sollten. Auf vielen, ja, auf fast jedem Handelsschiff, welches hier oder in Venedig einlief, hatte er die eine oder andere gescheiterte Existenz gefunden. Zumeist Schläger und Stänkerer, einige hatten Material abgezweigt und verkauft. Von denen, die wegen Trunkenheit im Dienst geschasst wurden, hatte er vorsichtshalber die Finger gelassen, sie schienen ihm verständlicherweise viel zu Unzuverlässig. Dafür hatte er einen ehemaligen Rudermaat gefunden, der auf einem Flugkreuzer gedient hatte und wegen sexueller Belästigung eines einfachen Matrosen fünf Jahre im Marinegefängnis in Monfalcone gesessen hatte. Guido hatte auch den ausgemusterten Waffengast Willi Horaček gefunden, einen baumlangen Kerl, der in seinem Leben bisher schon mehr Arme und Beine gebrochen hatte als eine durchschnittliche Verbrecherbande in Wien. Wegen seiner Gewalttätigkeit Untergebenen gegenüber aus der Marine entlassen, hatte sich Horaček danach als Wächter und Geldeintreiber verdingt. Dafür war er auch schon mehr als einmal vor einem Gericht gestanden. Insgesamt war er aber nur wenige Wochen im Bau gewesen, denn nach jedem Mal war er einfach in eine andere Stadt gezogen und hatte dort neu begonnen. Und als vermeintlicher Ersttäter war die Strafe geringer als für Jemand, der eine Dauerkarte in den Kommissionen gelöst hatte. Für Guido war Willi der perfekte Mann, um die anderen zwielichtigen Kerle mit seinen Fäusten in Schach zu halten. Die letzten Tage hatten sie in der Villa des Markgrafen geschlafen und mit dem Kutter geübt, gleichzeitig aber auch begonnen, den Rumpf des alten Raddampfers neu zu lackieren und das Gehäuse über den Rädern vorsichtig abzutragen. ‚Renovierungsarbeiten‘ hatten sich die Fischer von Grado nur gedacht und waren weiter ihren Geschäften nachgegangen.

Nun näherte sich der mattschwarz gestrichene Kutter allmählich Muggia, und Guido am Bug des Bootes bedeutete Horaček, der am Ruder saß, das Tempo verringern zu lassen. Der Lichtschein des Leuchtturmes huschte am Bug vorbei, und die Ruderer legten sich unaufgefordert mächtig in die Riemen. Wenn der Strahl das nächste Mal an diese Stelle kam, wollten sie schon wieder unentdeckt aus dem Bereich sein. Das gelang auch mit der Leichtigkeit stundenlagen trainierens, und nun ließen sie das Boot wieder langsamer werden. Sie hatten alles Dutzende von Malen immer und immer wieder durchgekaut, die letzten Male sogar mit einem Bild. Jetzt musste jeden Moment das Patrouillenboot der Küstenwache vorbei kommen, und pünktlich auf die Minute fuhr die Kanonenbarkasse P–355 HAMMERAXT in der vorherberechneten Entfernung an dem Kutter vorbei. Die zumeist aus dem italienischen oder illyrischen Teil der Monarchien stammenden Männer grinsten stumm vor sich hin. Diese dumme Pünktlichkeit der Tedesci, diesmal sollten sie lernen, dass man alles übertreiben konnte, auch Disziplin und Pünktlichkeit.

Weiter“, zischte Guido, und der Kutter näherte sich langsam dem silbergrauen Schatten, der an der Mole der Werft vertäut war.

Herr Bootsmann!“ In dem ruhigen Raum des Küstenbunkers trug selbst das gehauchte Flüstern des Waffenmatrosen erster Klasse Johann Woitila einige Meter weit. Waffenbootsmann Jiri Vitašil sah sich um und den Waffenmatrosen winken, mit wenigen großen Schritten war er am Horchposten des Matrosen.

Was gibt es?“

Rhythmisches Plätschern, Herr Bootsmann. Moment, jetzt ist’s still.“ Er sah auf seine Uhr. „Die Kanonenbarkasse KKB HAMMERAXT müsste jetzt gleich in den Sektor komm‘n. Ah ja, genau! Bitte um Geduld, Herr Bootsmann.“

Schon gut, Woitila. Ist das Rohr noch auf die letzte Position ihrer Ortung gerichtet?“

Melde gehorsamst, das ja, Herr Bootsmann!“

Lassen’s mich einmal d’ran!“ Der Bootsmann winkte den Matrosen weg, verlängerte das Schallrohr des großen Schalltrichters unter Wasser und presste sein Ohr dagegen.

Woitila behielt den Zeiger seiner Uhr im Auge. „Jetzt sollt’…“

Still“, zischte der Bootsmann. „Richtig g’hört, Woitila, gut g’macht. Was schätzen’s?“

Vierzehn bis achtzehn Riemen, also ein Kutter, würd’ ich sagen!“

Ich auch! Weitermachen!“ Sofort klebte das Ohr Woitilas wieder am Schallrohr, das er für seine Größe wieder verkürzte. Der Waffenbootsmann aber verließ so leise wie möglich den Raum und griff draußen nach dem Fernsprecher.

Herr Wachkommandant? Meldung!“

Am Bug des Kutters hob Guido Folmatini eine altertümlich wirkende Armbrust und zielte steil aufwärts. Die ausgelöste Sehne riss die mit Stoff umwickelte Enterdregge nach vorne, sie machte kaum ein Geräusch, als sie auf das Deck der KAISERIN MARIA JOSEPHA fiel. Als das Tau eingeholt wurde, verhakte sich einer der Arme fest am Schanzkleid. Guido gab dem schmächtigen Fassadenkletterer, einem der wenigen Landratten an Bord, einen leichten Stups.

Los, Fredi!“ Der grinste und begann geschickt mit dem Aufstieg, eine Strickleiter hinter sich her ziehend. Oben angekommen lugte er vorsichtig über den Rand der Schanze, ehe er sich darüber schwang. Rasch befestigte er die Strickleiter an der verhakten Dregge und lehnte sich kurz hinaus, um nach unten zu winken.

Also, Leute, zuerst die Nahkämpfer, dann die Nautiker!“ flüsterte Guido überflüssigerweise, und das Entern der MARIA JOSEPHA begann.

Der Balasz Andraš, ein Waffenmatrose zweiter Klasse, lag unter einer Persenning auf dem Deck, seinen Karabiner schussbereit vor sich. Es klapperte leise, dann folgte ab und zu ein leises Knirschen. Danach war Ruhe, nervenzerreißende Stille, ein Flüstern, unverständlich für den Andraš, dessen Adrenalinspiegel mehr und mehr stieg. Weiteres Flüstern, dann flutete grelles Licht von den Scheinwerfern des Peildecks ganz oben über das Hauptdeck, dreißig Waffenmatrosen der k. u. k. Marine sprangen aus ihren Verstecken und richteten ihre Waffen auf die völlig überrumpelten Piraten. Ein Leutnant zur See beugte sich über die Schanzung.

Ihr könnt’s ruhig alle `rauf kommen. Den Maxim-Gewehren werdet’s sowieso nicht entkommen. Also, G’fängnis oder Kugel, entscheidet’s euch schnell, ihr Haderlumpen. Mir ist’s gleich!“ Guido ließ die Schultern und den Kopf hängen. Gescheitert. Ein Glück nur, dass er zu den Treffen mit seinen Leuten immer mit Perücke und Bart erschienen war, eine genaue Beschreibung durch seine Helfer war so nicht möglich.

Also, wer will, steigt hinauf. Ich halte euch nicht.“ Er setzte sich in das Heck und beobachtete seine Kumpane beim Aufstieg. Dann holte er eine Bombe aus seiner Tasche, riss den Zünder ab und hielt sich die Höllenmaschine an den Kopf. Die Explosion hinterließ nicht genug, um Guido identifizieren zu können, zumindest seine Vorgesetzte und der Orden waren für den Moment gerettet.

=◇=

Herr Kommissär, Sie werden nicht glauben, was letzte Nacht geschehen ist!“ Inspektor Gamtič sprang von seinem Stuhl auf, als Graf Čipron die Kriminalkommission betrat.

Dann erzähle es mir erst gar nicht, Johannis. Wenn ich es ja sowieso nicht glauben werde!“ Der interimistische Polizeichef stellte seinen Stock in den dafür vorgesehenen Halter und legte den Mantel ab, den der Inspektor sofort in den Kleiderschrank hing.

Die Werft haben einige Verbrecher überfallen! Die wollten die MARIA JOSEPHA stehlen!“

Na, dann ist es ja gut, dass die Seesoldaten der Marine seit zwei Tagen die Sicherung und Bewachung in Muggia übernommen haben. Ich hätte gar nicht gewusst, wo ich welche Leute hinstellen soll und worauf die aufpassen sollten!“ Der Kommissär blätterte rasch durch die offizielle Post. „Geh, sei so gut, gehe zu den Alpaachs, ich lasse dem Baron Alpaach ausrichten, ich würde ihn gerne sprechen. Heute noch, sei höflich, aber lass dich nicht vertrösten.“

Ein schlanker, großer Mann mit einem Monokel im rechten Auge betrat das Büro des Kommissärs. „Ich bin Viktor, Baron Alpaach. Sie hab‘n ein paar Frag‘n an mich, Kommissär?“ Die Stimme des Nordländers klang knapp und unwirsch. „Wenn wir‘s kurz machen können, ich hab‘ wenig Zeit!“

Danke für ihr Kommen, Alpaach!“ Hektor Čipron wies auf einen Stuhl. „Bitte, nehmen Sie doch Platz.“

Der Baron hob eine Braue. „Herr Baron Alpaach, wenn’s recht ist. So viel Zeit muss sein, Kommissär.“

Herr Graf von Čipron, wenn es genehm ist! So viel Zeit muss schon sein! Können wir diese dummen Spielchen jetzt lassen? Wie Sie es auch drehen und wenden, mit einer hohen Nase kommen Sie bei mir nicht weiter!“ Čipron schlug mit der Faust auf den Tisch. „Also, steigen Sie von ihrem hohen Ross, Alpaach, und erzählen Sie mir etwas von Achmed al‘Masr und wie es dazu gekommen ist, dass Sie bei dem Dîner ihrer Gattin mit dem Ägypter nicht anwesend waren! Und keine Fisimatenten mehr, Alpaach. Es geht um einen Mordanschlag an unserer Prinzessin Maria Sophia!“

Na, ja, also der al‘Masr hat mich nicht interessiert, also hab‘ ich g‘sagt, ich geh‘ wieder zu einer von den Seancen, wo meine Frau auch schon einmal mit war. Weil ich `was von meiner Mutter selig erfahren wollt‘. Das war aber net ganz wahr, eigentlich war ich zum, na Sie wissen schon…“ Der Baron wies auf seine Leibesmitte. „Die Sabatini hat da ein paar Mäderln, also, Herrgott, ich bin halt ein Mann, und des sind fesche Pupperln. Sie war‘n bei meiner Frau, die ist so langweilig, und bei der Sabatini ist‘s halt so viel aufregender! Die Weiber liegen net einfach nur gelangweilt und langweilig herum und warten, bis man fertig ist! Die geben richtig contra, so aus der Hüft‘n!“ Der Baron hatte sich in Feuer geredet.

Alpaach, es ist mir völlig gleichgültig, wo Sie sich ihren Spaß holen! Aber wenn der al‘Masr seine Hände oder Fragen im Spiel hat, dann halte ich das für wichtig. Wer war denn noch dort?“

Das weiß ich doch nicht!“ Der Baron holte eine Zigarette aus seiner Tasche, entzündete sie und inhalierte tief. „Bei der Sabatini tragt jeder so eine Halbmaske, wie auf einem Maskenball, und ich hab nun wirklich keine Ahnung, wer der Mann mit den Muttermalen am Hinterteil oder die Dame mit den tollen Brüsten war. Außerhalb der Spaßrunden bei der Sabatini seh‘ ich die Leute ja nicht nackert, und dort seh‘ ich des G‘sicht nicht. Und dunkle Flecken irgendwo, mein Gott, die sind schnell aufg‘malt. Ich hab‘ meinen Beitrag bezahlt, der nicht zu knapp war, hab‘ mich auszog‘n, mir eine Maske g‘nommen und meinen Spaß g‘habt. Net mehr und net weniger! Und net zum ersten, aber sicher auch net zum letzten Mal! Darf i jetzt geh‘n?“

Meinetwegen, ihre sexuellen Verfehlungen gehen mich nichts an. Aber wenn Sie sagen, ihre Frau liege nur langweilig und gelangweilt unter ihnen, dann liegt das sehr wahrscheinlich an ihnen. Vielleicht sollten Sie mit ihrer Frau einmal darüber sprechen, was sie gerne hätte. Dann ist sie dabei auch nicht mehr gelangweilt. Aber, Alpaach, es ist ihre Sache, mich geht es nichts an! Auf Wiedersehen.“

Habe die Ehre!“ Der Baron ergriff mit zornrotem Gesicht seinen Hut und stürmte hinaus.

=◇=

So ein bleder Krowot“, schimpfte der Baron noch beim Heimkommen. „Jetzt stell’ dir vor, ich soll mit dir über unser Liebesleben red’n. Eine solche Impertinenz! Raffaela, bringen’s Stock und Hut weg! Ich mein’, das ist doch nichts, worüber man mit einer wohlerzogenen und ehrbaren Frau reden kann! Das ist beleidigend!“

Du redest schon mit mir darüber, Viktor. Nur falls es dir entgangen sein sollte“ gab die Baronin contra. „Und warum sollen wir nicht darüber reden? Vielleicht, weil es sich für eine ehrbare Frau nicht schickt, d‘ran zu denk‘n und vielleicht auch noch Lust zu empfinden, wenn der Herr Gemahl sich gnädiger weis‘ herablässt, einen Erben zeugen zu woll‘n? Jetzt platzt mir aber endgültig die Hutschnur! Na klar ist mir fad, wenn du nur so herumrutscht und herumpfuschst und nichts zambringst! Da ist mir wirklich viel lieber, du gehst zu deine Katzen bei der Sabatini und lasst mich ganz in Ruh’.“ Die Baronin hatte in der typisch weiblichen Geste die Hände in die Hüften gestemmt, ihre Wangen hatten sich gerötet und bei einer schnellen Kopfbewegung hatte sich eine Strähne ihres Haares aus dem Knoten gelöst und hing ihr ins Gesicht.

Aber Sabine…“

Nichts mit ‚aber Sabine“, wehrte sie mittels einer beidhändigen Geste mit weit gespreizten Fingern ab. „Da hast du überhaupt keine Ahnung davon, wie man eine Frau zufrieden stellt, aber groß reden und zu den Banern hobeln geh’n, des kannst. Und jetzt sag’ ich dir was“, sie stach mit dem manikürten Zeigefinger nach seiner Brust. „Das, was du kannst, kann ich noch viel besser. Weil ich weiß von deine Weiber, von deine Hur’n und auch von der Sabatini, aber du hast keine Ahnung dass, wo und mit wem ich’s treib‘. Na gut, dass ich’s tu’, das weißt jetzt, das hab’ ich dir ja grad’ selber g’sagt, aber den Rest wirst du nie erfahren. Nie! Weil ich’s g’scheiter als du anstell! Und es ist ein Mann, der net nur mit der Gosch’n g’schickt ist und sonst eigentlich gar nichts zu stand’ bringt, einer, der mich dort hin bringt, wo ich hin will und der dafür sorgt, dass ich auf meine Kost’n komm‘!“

Aber Sabine, so, so kenn‘ ich dich…“

Du hast mich doch noch nie `kannt. Du hast mich ja die letzt’n Jahr seit der Geburt vom Joschi net einmal mehr richtig angeschaut, du schaust nur mehr in deine Zeitungen und dann gehst!“

Was soll ich denn jetzt mach’n, Sabine, ich…“

Du könntest ja vielleicht einmal damit anfangen, dass mich angreifst. Zart, genau da.“ Sie drückte ihn auf einen Stuhl, setzte einen Fuß auf seinen Oberschenkel und führte seine Hand an ihre Waden. „Und jetzt arbeitest du dich langsam nach oben vor. Langsamer und zarter, du patscherter grober Lackl. Ja, so ist’s recht, jetzt bist endlich auf der richtigen Spur. Ein bisserl weiter, ja! Da, oh ja, genau richtig! Und jetzt darfst ein klein wenig fester hin greif’n, aber trotzdem mit G’fühl! Du hast noch nie g’sehen, wie eine Frau dort ausschaut, oder?“ Sie setzte sich auf die Tischkante. „Jetzt schau’s dir an, und ich erklär’s dir … Ja, Viktor, ja … oh, Mariandjoseph, ich mag das G’fühl von an Backenbart zwischen meine Schenkerl!“

Der Baron hob den Kopf und strich sich über die glatten Wangen. „Meinst, mir würd‘ so einer steh’n?“

Im Moment genügen noch die Koteletten, aber später… Und jetzt – viens ici et agis comme un Homme!“

Du kannst französisch, Sabine?“

Nur, wenn du vorher unter die Dusch’ gehst und dich ordentlich waschst. Überall. Und mit einer Menge Seife!“

Viktor von Alpaach schluckte trocken. „Echt jetzt? Das tätest’ du wirklich tun? Und gr…“

Niemals! Vergiss es gleich wieder!“

Aber so von…“

Jederzeit, Viktor. Natürlich! Komm schon!“

=◇=

Lange bevor es an der Tür klopfte wusste Graf Čipron bereits, dass der Bürobote eine Depesche für ihn hatte. Niemand außer dem jungen Bogumir hatte diesen harten, metallischen Schritt. Und nur sein Erscheinen wurde von einer Reihe von Flüchen angekündigt, wenn der kleine, wieselflinke Mann wieder einmal unterwegs war. Einerseits wünschte sich der Graf eine moderne, mit Dampfdruck betriebene Rohrpostanlage, andererseits waren da Bogumir und andere, die ähnlich arm daran waren und als Boten noch ihr Essen verdienen konnten. Und irgendwie – eine dampfbetriebene Postverteilung hatte er in der Person von Bogumir und seinen Beinprothesen ja ohnehin schon. Ein Gefecht mit Banditen in der gebirgigen Grenzregion zwischen Bosnien und Serbien hatte Bogumir seine Beine gekostet. Ein Scharmützel, unwichtig, bedeutungslos, der Bericht war wahrscheinlich in den übergeordneten Stellen abgelegt worden, wenn er Wien überhaupt je erreicht hatte. Aber Bogumir war seither ein Krüppel, eine Kugel hatte seine linke Kniescheibe zertrümmert, andere seine Kameraden getötet. Seine Arme konnte der illyrische Soldat aber noch benutzen, und Bogumir erwiderte das Feuer. Gezielt und effektiv. Er blieb der letzte Überlebende des Kampfes und kämpfte sich durch den tiefen Schnee den Berg hinunter. Er überlebte, aber seine Beine waren erfroren und mussten amputiert werden. Das Militär hatte ihm eine Blechscheibe an die Brust geheftet und ihn ehrenhaft entlassen, die k. u. k. Soldatenversicherung hatte seine neuen Beine bezahlt und ihm nach seiner Heilung einen Posten besorgt. Bei der Polizei von Triest.

Eine Depesche aus Wien, Herr Polizeichef Oberkommissär“, meldete Bogumir salutierend.

Ich bin weder der Polizeichef von Triest noch Oberkommissär“, berichtigte Hektor den Boten.

Dann hat der Josip was falsches gesagt, wie er die Depesche niedergeschrieben hat, Herr Oberkommissär. ‚Endlich wird einer von uns Chef in Triest’, hat er gesagt.“

Hat er? Und du hast es ganz zufällig gehört?“

Jawo… nein, Herr Oberkommissär. Mit voller Absicht“, gestand Bogumir grinsend. Čipron lächelte amüsiert zurück und öffnete die Depesche.

Stimmt! Der k.u.k. Polizeigeneralkommissär Fürst von und zu Oderburg ernennt mich zum Oberkommissär und zum Chefkommissär von Triest. Muggia fällt weiter unter die Zuständigkeit der Militärpolizei und der Waffensoldaten. Gott sei es gedankt, mir ist das ganz recht, da kann ich in Ruhe weiter an der Causa al’Masr arbeiten. Außerdem soll ein neuer Kommissär aus Wien auf eigenen Wunsch nach Triest versetzt werden und der Johannis Gamtič wird Unterkommissär. Johannis, komm her! Ich gratuliere dir zum Unterkommissär, und jetzt besorgt uns der Bogumir ein paar Fläschchen Sekt zum Einstand, den trinken wir dann nach Dienstschluss mit den Kollegen. Was hast du heraus bekommen mit der Wahrsagerin und der Sabatini?“

Dass die Hexe von meiner Mutter eine Serbin mit falschem arabischen Akzent war, und das noch schlecht imitiert. Und auch sonst war die Alte eine richtige Schwindlerin. Es gibt keine echten Hellseher, Chefkommissär.“

Bist du sicher, Johannis?“ Čipron lehnte sich zurück, bot seinem neuen Unterkommissär eine Zigarre an und nahm auch selbst eine. „Ich nicht. Ja, von tausend Zigeunerinnen, Wahrsagerinnen, Orakel, Hexen und Orientalinnen sind wahrscheinlich neunhundertneunundneunzig gefälscht. Aber die eine, die echte, die schaut wahrscheinlich aus wie meine Frau oder eine von den Touristinnen, die im Sommer nach Triest kommen. Und sie redet auch nicht viel anders. Unter den Damen, denen man überhaupt nichts ansieht, unter all den Frauen auf der Welt gibt es wahrscheinlich eine Menge echter Medien. So, wie es ja auch echte Vampire und Werwölfe gibt.“

Vampire ganz sicher, Herr Chefkommissär. Die arbeiten wahrscheinlich alle für die Finanzämter. Oder als Anwälte.“

Čipron verdrehte die Augen. „Wirklich witzig, Johannis. Sehr witzig. Und die Sabatini? Was hast du gehört?“

Nur Gerüchte. Reiche Frau aus Alexandria, die sich einen Fürsten Sabatini gekauft hat, der jetzt irgendwo in Ägypten weggeschlossen ist, während sie ihren Spaß als Fürstin hat“, referierte der frischgebackene Unterkommissär aus dem Kopf. „Eine Circe, welche den Fürsten Sabatini geheiratet und dann entweder mit ihren Hexenkräften oder ihrer unersättlichen Leidenschaft in sein Grab gebracht hat. Ich wünschte mir für ihn, es war letzteres. Zumindest wär’s doch ein schöner Tod! Wie auch immer – es gibt nichts Handfestes, alles nur Gerede und Getratsche. Interessant ist auf jeden Fall, dass es im italienischen Adelsverzeichnis eine Familie Sabatini gibt, die den Titel Conte, also Graf, und eine Familie Sobati, welche den Titel Principe, also Fürst tragen darf. Also entweder ist sie keine Sabatini, oder keine Principessa!“

Sauber“, lobte der Polizieichef. „Noch eine Fälschung. Wie bist du an eine italienische Adelsliste gekommen?“

Unterkommissär Johannis Gamtič nahm Haltung an. „Melde gehorsamst, aus der öffentlichen Bibliothek, Herr Oberkommissär!“

Čipron schloss die Augen und seufzte. „Dass ich gar nicht daran gedacht habe! Sehr gut gemacht, Johannis. Wirklich sehr gut. Dann werden wir der Dame einmal einen Besuch abstatten. Aber lass die Hose zu, Unterkommissär! Sie soll sehr verführerisch sein.“

Ach, an mir wird sie überhaupt nicht interessiert sein“, lachte Gamtič auf. „Ich bin doch weder Ober- noch Chefkommissär, und Graf bin ich auch keiner. Ich werde für sie gar nicht da sein, sie wird alle Aufmerksamkeit auf Sie richten!“

Der frischgebackene Chefkommissär nahm rasch noch einige private Besuchskarten aus der Tasche und fügte dem ‚Graf Hektor Čipron‘ noch handschriftlich ein ‚Chefkommissär von Triest’ hinzu.

So, und jetzt können wir gehen“, befand er, als die Tinte getrocknet und steckte seine neuen Karten ein. Es war ein sonniger Märztag in Triest, und die erste Ahnung von Frühling hing hier im Süden bereits in der Luft, als die Herren mit der Dienstdampfdroschke durch die Straßen Triests zur Villa der falschen Fürstin Sabatini fuhren.

Komisch, dass bis jetzt niemand von ihren Besuchern nachgeschaut hat, ob die Sabatini und ihr Titel echt sind“, wunderte sich Hektor Čipron.

Naja, wer hat denn das letzte Mal im Gotha den Namen Čipron gesucht?“, fragte Gamtič achselzuckend. „Man nimmt schon an, dass ein Ausweis echt ist.“

Čipron schüttelte den Kopf. „Da hast du auch wieder recht, Johannis, aber die Gutgläubigkeit der Menschen, wenn jemand einen Titel benützt – das ist schon erschreckend!“

=◇=

Ein Kammerdiener öffnete die Tür des Palais Tridor. „Guten Tag, meine Herren. Willkommen bei der Fürstin Sabatini!“ Der Lakai führte die beiden Polizeibeamten weiter und ließ sie in den Salon.

Sie sind etwas zu früh, meine Herren, aber ich werde der Fürstin ihr Eintreffen selbstverständlich sofort melden.“ Er nahm ihre Mäntel und Hüte entgegen, dann legten die Polizisten ihre Besuchskarten auf das dafür bereit gestellte Tablett, welches der Diener sofort gegen ein neues auswechselte und jenes mit den Karten mit nahm.

Ziemlich geschmackvoll!“ Johannis bewunderte die wenigen, aber guten Gemälde an der Wand. „Diese Bilder sind derart erotisch, dass einem die Hose platzen möchte und trotzdem könnte man sie in jeder Kirche aufhängen, weil eigentlich gar nichts Anstößiges zu sehen ist. Der Künstler war wirklich gut!“

Das ist aber nett“, erklang hinter den Polizisten eine sehr feminine Stimme auf. „Der Polizeichef von Triest beehrt mein Haus mit seinem Besuch! Ich wusste gar nicht, dass Sie an einer Seance interessiert sind, mein lieber Herr Chefkommissär!“

Der Graf deutete eine Verbeugung an. „Ich muss einen delikaten Fall aufklären, Fürstin. Und ich erhoffe mir hier einige Informationen!“

Oh, aber natürlich werde ich der Polizei nach Kräften helfen“, säuselte Mariamne süß. „Wer ist denn der oder die Tote, welche ich befragen soll? Bitte, nehmen Sie doch Platz! Tee oder Kaffee?“

Danke, nein“, wehrte Čipron ab. „Das Opfer lebt glücklicherweise noch. Aber Sie könnten mir erzählen, was es mit dem Goldenen Frühling auf sich hat, und wie ihre Verbindung zum Goldenen Frühling in Wien aussieht!“ Mariamne hob mit erstauntem Gesichtsausdruck eine Augenbraue.

Sehen Sie, wir wissen, dass Sie hier wie dort spiritistische Sitzungen abhalten und ebenso, dass Sie hier wie dort ein exklusives, wenn auch ein wenig seltsames Bordell betreiben“, warf Unterkommissär Gamtič ein.

Aber so ist das doch gar nicht!“ Mariamne lächelte sanft. „Wir sind hier ein spiritistischer Zirkel, der Antworten aus dem Jenseits sucht, bei den Toten. Daran ist doch nichts Verwerfliches, Herr Chefkommissär, oder? Und wir stehen für eine freiere Art der Liebe und der Lust, auch sexuell! Das mag in den Augen so mancher Menschen unmoralisch sein, aber ist es verboten? Vom Gesetz untersagt? Wenn ich richtig informiert bin, ist vor sieben Jahren sogar das Gesetz gegen Homosexualität abgeschafft worden. Solange die Beziehung freiwillig ist, selbstverständlich. Auch das mag vom Standpunkt der römischen Kirche unmoralisch sein, in Kakanien aber nicht mehr gegen das Gesetz!“

Unterkommissär Gamtič verzog das Gesicht zu einem aggressiven Grinsen. „Es ist auch legal, ein Puff zu betreiben und reiche, alte Säcke mit volljährigen, aber eigentlich noch immer zu jungen Mädchen zu versorgen!“ Čipron wand sich äußerlich, ganz der Graf, der mit einem ordinären, vorlauten Untergebenen gestraft war, dessen Ausdrucksweise ihm zuwider zu sein schien.

Sabatini winkte etwas blasiert ab. „Sie sagen es, Unterkommissär, auch das wäre legal, selbst wenn dieses Haus ein Bordell wäre! Was es aber nicht ist. Wir wollen nur, dass unsere begüterten Mitglieder die weniger mit Wohlstand gesegneten unterstützen. Das ist alles!“

Ist das in Wien auch so?“, erkundigte sich Graf čipron zurückhaltend.

Das kann ich ihnen nicht sagen, Herr Oberkommissär. Der Name ist ja nicht irgendwie geschützt oder so. Jeder darf ihn benützen. Bei uns steht der Name für das Erwachen einer spirituellen und auch sexuellen Freiheit! Mehr wollen wir nicht, und da es für die breite Masse sicher ein Problem wäre, halten wir uns lieber noch bedeckt. Bitte, Herr Oberkommissär, kommen Sie doch einmal zu einem unserer Abende. Dann werden Sie sehen, dass bei uns alles in Ordnung ist!“

Der Unterkommissär mischte sich wieder in das Gespräch. „Sagt ihnen der Satz respektive der Name alrgye aldhahabiu etwas?“

Nein, warum?“ Mariamne machte ein erstauntes Gesicht. „Sollte er das denn?“

Gamtič lehnte sich vor und drang noch einmal aggressiv in den privaten Freiraum Sabatinis vor. „Weiß ich nicht. Nur – so heißt Goldener Frühling auf arabisch!“

Und?“ Mariamne blieb ruhig sitzen und lächelte sparsam. „Es tut mir leid, aber ich spreche kein Arabisch.“

Und einer von denen, die diesen Namen in Ägypten nutzen, wollte unsere Prinzessin entführen. Die Maria Sophia! Was sagen Sie dazu?“

Mariamne Sabatini machte ein entsetztes Gesicht und wandte sich wieder an Čipron. „Das ist ja schrecklich! Ich hoffe doch sehr, ihre Hoheit ist wohlauf!“

Schon! Sie gestatten?“ Čipron holte während seiner Worte eine Zigarre aus der Tasche, und die Fürstin machte eine zustimmende Handbewegung.

Bitte, Herr Graf!“

Hector paffte an der Zigarre, während er weiter sprach. „Leider hat sich aber der Mann umgebracht, bevor wir ihn verhören konnten!“

Das ist aber schade“, bedauerte Mariamne. „Ich kann natürlich versuchen, seinen Geist zu suchen und zu befragen. Wenn ich etwas erfahre, melde ich mich nur allzu gerne bei ihnen, Herr Polizeichef. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

Gamtič zückte seinen Block und seinen Füller. „Ihren echten Namen hätte ich gerne gehört. Für unsere Akten.“

Meinen echten…“

Also bitte, Gnädigste. Wir wissen, dass es keine Principessa Sabatini geben kann. Also, wie heißt du wirklich?“ Der Füller stach in Mariamnes Richtung. „Jetzt rede schon!“

Also gut, Mariamne Sabatini ist wirklich mein Künstlername“, gestand das Medium. „In Wirklichkeit heiße ich Marianne Sabič und komme aus Agram. Weil, wer horcht schon auf eine Sabič, aber eine Fürstin Sabatini ist halt exotischer, da kommen die Leute Rudelweise.“

Dann danke, das wäre es vorderhand“, nickte Čipron und erhob sich. „Wenn sich noch Fragen ergeben, wir wissen ja, wo wir Sie finden, Frau Sabič. Auf Wiedersehen!“

Gamtič tippte sich auf das rechte Auge und wies dann auf die Sabič. ‚Ich behalte dich im Auge’ sollte diese Geste bedeuten, und Marianne Sabič wusste es genau. Ihre Beherrschung hielt gerade so lange, bis sich die Türe hinter ihrem Besuch geschlossen hatte, dann fluchte sie lauthals und ordinär los. Auf Kroatisch.

Vor dem Palais Tridor blieben die Herren noch kurz stehen. „Es ist ein schöner Tag, lass uns zu Fuß zur Kommission zurück gehen“, schlug Čipron vor.

Gamtič hielt sein Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen und nickte. „Die Sonne wird uns gut tun, und die frische Luft auch. Haben Sie gesehen, wie ihr Gesichtsausdruck ganz kurz entgleist ist, wie ich den arabischen Satz gesagt habe, und die winzige Erleichterung, als Sie ihr dann gesagt haben, er hat sich umgebracht? Die Puffmutter weiß mehr, als sie zugeben will!“

Das auf jeden Fall“, pflichtete Čipron seinem Untergebenen bei. „Johannis, wir haben doch diesen jungen Inspektor, dem man den Polizisten sogar in Zivil ansieht. Pass auf, ich möchte, dass er das Tridor überwacht. Ständig. Aber so, dass die Sabič es bemerkt.“

Gamtič nickte begeistert. „Geht in Ordnung, Herr Chefkommissär.“

=◇=

Berlin

Die Hauptstadt des deutschen Kaisers hatte in den Bezirken Charlottenburg und Tiergarten viele schöne Straßen aufzuweisen, welche selbstverständlich auch schon elektrisch beleuchtet waren. Immerhin war die Erfindung von Johann Heinrich Christoph Göbel kein Geheimnis geblieben, und dass man mit Magneten und Drehung ein wenig Strom erzeugen konnte, wusste man auch in Berlin schon lange. Das Geheimnis von Tesla war, wie er genug Starkstrom für die Flugschiffe erzeugen konnte und die kräftigen Motore, die das Gewicht der gepanzerten Schiffe heben konnten, ohne Dampf zu verschwenden. Für Glühbirnen stand aber auch in Berlin schon mehr als genug elektrischer Strom zur Verfügung. Ein Umstand, welchen der Kaiser mit einem lachenden und einem weinenden Auge sah. Lachend, weil auch sein Schloss natürlich davon profitierte und illuminiert wurde, mit einem weinenden, weil die Umsetzung der elektrischen Energie in Fortbewegung noch immer nicht für seine geliebten Schiffe ausreichend war. Seine Schiffe, die sich immer noch mit üblichen Flugreichweiten von 500 Kilometern herumschlagen mussten.

Die Hauptstraßen Berlins wie der Kurfürstendamm, Unter den Linden und der Alexanderplatz erstrahlten also bereits im Licht hunderter Göbellampen, und auch die dortigen Häuser waren bereits ebenso an ein Stromnetz angeschlossen wie an ein zentrales Dampfnetz. Die dort Lebenden konnten sich diesen Luxus leisten, und es war nicht mehr nur der Adel. Es war auch ein immer größer werdender Teil von Industriellen und Handelsherren, die mit dem Fernhandel ganz gute Geschäfte und ein Vermögen machten. Produkte ‚Made in Germany’ hatten weltweit einen guten Ruf bekommen, oft innovativ, gut verarbeitet, aus hervorragendem Material. Erwirtschaftet wurde dieser Reichtum einiger weniger Personen natürlich wieder einmal auf dem Rücken der vielen Lohnsklaven und Taglöhner, welche kaum genug zum Überleben ihrer Familien verdienten. Trotzdem zog die Stadt nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Russland und Polen jede Menge Menschen an. Menschen, denen es in den Gebieten, in welchen sie geboren waren, oft sogar noch wesentlich schlechter ging als in Berlin. Diese Stadt bot zumindest noch die Hoffnung auf eine Stellung, so gering die Chancen auch sein mochten.

Seit 1739 das Forschungsschiff HRRS SÜDLAND, ein mit Dampf betriebener Raddampfer, aus dem Pazifik zurückgekehrt war und die von dieser Expedition entdeckte große Landmasse mit dem Namen Germania Australia unter den deutschen Fürsten aufgeteilt wurde, verurteilten die Gerichte auch immer wieder Menschen wegen kleinerer Vergehen wie etwa dem herumlungern in verschiedenen Straßen, betteln und streunen zum Exil in den Kolonien. Preußen hatte damals bei der Verteilung der Gebiete auf der pazifischen Landmasse ein recht schönes, fruchtbares Stück Land im Südosten erhalten, am größten Fluss des Kontinents, der nach der Lieblingsschwester des Königs Riviére Amelié benannt wurde. An der Mündung des Flusses in den Otto-Golf gründeten die Siedler als Verwaltungszentrum die Stadt Friedrichsburg. Von all den Exilierungen und Aussiedelungen bemerkte man allerdings in den besseren Wohngebieten nicht sehr viel. Deren Bewohner wurden ja nicht deportiert, sondern gingen wenn, dann freiwillig in die Kolonien. Als Herren, als hohe Beamte oder Leiter eines Unternehmens. Vielleicht auch als Großgrundbesitzer. Wie es eben überall und zu allen Zeiten geschah.

In diese strahlende Welt der Reichen und Erfolgreichen verirrten sich die ausgemergelten Arbeiter nur selten. Und wenn sie doch aus irgendeinem Grund diese Straßen frequentieren mussten, dann wurden sie von den hier zum Schutz der Bevölkerung häufiger als anderswo in Berlin patrouillierenden Schutzmännern stets misstrauisch beobachtet. Die höheren Herrschaften ignorierten die Arbeiter, auf die sie eigentlich angewiesen waren und blieben zumeist unter sich. Eine Zwischenschicht bildeten die Ladenbesitzer und Handwerker, denen es leidlich gut ging, und welche sich selbstverständlich in beiden Welten bewegten. Man erkannte sie leicht, sie waren nicht so gut gekleidet wie die Oberschicht, aber es fehlte ihnen der stets hungrige, ausgezehrte Blick der Unterschicht.

In diesen besseren Bezirken lagen auch die besten Kabaretts und Revuetheater des deutschen Reiches, moderne Tanzlokale, in denen schon nicht mehr der verzopfte, alte Walzer gespielt wurde, sondern rasante Melodien wie Offenbachs Cancan oder ähnliches. Manchmal mischten sich unter diese Melodien in besonders mutigen Lokalen auch schon wildere, heißere Rhythmen einer halb africanischen, halb europäischen Musikform und wurden vom verwöhnten Publikum gerne angenommen. Das Leben war ein Fest für diese Bürger, man speiste mit der Ehefrau gemütlich in den besten Lokalen und besuchte danach ohne die Gattin auch schon einmal ein Lokal, in dem die Mädchen halb- oder manches Mal sogar ganz nackt auf der Bühne zotige Lieder sangen und dazu tanzten. Nun ja, sich zumindest bewegten. Vielleicht noch ein Abstecher hinter die Bühne, hier ein kleines Trinkgeld, dort ein größeres, ein kurzes Abenteuer in einer Garderobe. Und warum denn auch nicht, man konnte es sich doch gönnen! Jeder konnte heute reich und berühmt werden, er musste nur eine entsprechende Marktlücke finden, man hatte da keinerlei Ressentiments. Altes Geld, neues Geld, Hauptsache reich. So mancher Graf oder Baron war sowieso ärmer als diese Nutznießer der industriellen Revolution.

Der März im Jahre 1889 war in Berlin bisher ungewöhnlich kalt gewesen, der Schnee wollte dieses Jahr überhaupt nicht schmelzen. Im Gegenteil, eben fiel wieder eine frische, weiße und saubere Schicht auf den festgetretenen, schmutzigen Altschnee. Der kalte Nordwind machte das Wetter noch unangenehmer, und die beiden Schutzmänner auf der Friedrichstraße hatten sich in die dicken Mäntel ihrer Uniform gehüllt, mit den Schals den Tschako noch extra fest gebunden und so auch die Ohren geschützt.

Mensch, Kalle, dit is`n Wetta, da schickste keen Hund uff de Straße, und wir jehen Streife. Wat denkt sich der olle Inspektör eijentlich, wat jetzt bei dem Sauwetter jeschehen soll?“, grummelte der Eine.

Der Andere war auch alles andere als mit seinem Los zufrieden. „Tja, Fritze, dat Verbrechen schläft nich, und wir folglich ooch nich. Die Bürger von die Stadt haben een Recht uf Schutz, und wir müssen ihnen den jeben.“

Mensch! Jetzt kieck dir dit an!“, stieß Friedrich seinen Kollegen plötzlich an. „Den Hintern kenn’ ick och unterm dicksten Mantel. Wenn dit nich die Brauross-Anne ist. Wo woll’n wa so eilig hin, Anne?“

Nich jetzt, Fritze“, wehrte die Frau ab. „Icke hab‘ da `nen janz spendablen Herrn, den icke besuchen soll! Der soll janz dolle uf meene zwee Prachtstücke und dit dazwischen abfahr’n!“ Sie klopfte demonstrativ auf ihre Hinterbacken. „Hallo, Kalle! Kommt doch morjen uf eenen Sprung oder zwee zu mir. Ich wart’ so um viere herum uf euch, vasprochen, Jungs!“

Dit is’n Wort, Anne“, bemerkte Kalle erfreut. „Wir bringen och `n bischen Muckefuk mit, dit et jemütlicher wird! Pass’ nur schön uf uf dir!“

Mach icke, Kalle! Bist’n dufter Kumpel. Bis morjen, Jungs!“

Die Brauross-Anne!“, lächelte Karl trotz des kalten Wetters. „Da ham wa ja wat for morjen, uf dit wir uns freu’n könn’n.“

=◇=

Die Wohnung der Brauross-Anne, der Johanna Ziegler, lag gleich an der Hochbahn im südlichen Scheunenviertel, aber die beiden Polizisten sollten in dieser Wohnung leider keinen gemütlichen Nachmittag mehr verbringen dürfen.

Kalle! Fritze!“ Der Major, der das Revier Scheunenviertel Süd – Dorotheenstadt Nord an der Waidendammer Brücke leitete, rief die beiden Schutzmänner in sein Büro. „Da hat jemand eine Leiche entdeckt, in der Bahnstraße 51, im Hinterhof. Eine Professionelle, die…“

Die Brauross-Anne“, rief Fritze. „Die ham wa jestern noch jesehen, in der Nähe von die Friedrichstraße, da hat se jesacht, sie hat nen janz Spendablen. Sojar `nen Hausbesuch wollt‘ se machen.“

Ihr kennt die Frau?“, fragte der Major überrascht.

Die hat jeda jekannt im Scheunenviertel, Herr Major“, erlärte Kalle. „Der ihr Ah – Hinterteil wär dit rechte Wappenschild für’n Bezirk jewesen!“

Also gut, wenn ihr euch so gut auskennt, dann schaut einmal dort in der Wohnung nach“, befahl der Major und wandte sich wieder seinen Papieren zu. „Die Bestatter schicke ich dann nach!“

Kalle und Fritze salutierten. „Jut, Chef, wa sind dann mal wech!“ In der großen Gemeinschaftsgarderobe der Wache schlüpften sie in ihre dicken Wollmäntel, schnallten die Koppel mit den Dienstrevolvern um und banden ihre Tschakos mit den Schals fest, ehe sie auf die Straße und in die Kälte traten.

In der Mitte der Chausee Straße durch das Scheunenviertel hatte man auf Stehern aus Leichtstahl eine Schienenbahn in der Höhe der dritten Etage gebaut, auf der Straßenebene wäre für eine Stadteisenbahn zusätzlich zu Dampf- und Pferdedroschken viel zu wenig Platz gewesen. Auch auf der Friedrichstraße in der Dorotheenstadt bis Charlottenburg lag dieses Verkehrsmittel weit über Straßenniveau, allerdings war die Trasse dort hinter undurchsichtigen Schallschutzwänden verborgen, damit die Bewohner keine Störung erfuhren. Außen waren diese Wände streckenweise mit wahren Kunstwerken verziert, dort hatte sich ein Geldgeber gefunden, der nicht nur auf eine nackte Stahlwand sehen wollte.

Die Nummer 51 der Chausee Straße war ein bereits älterer, etwas heruntergekommener Bau aus der Gründerzeit, der früher einmal ganz schön gewesen war, jetzt aber bereits schmuddelig und ein wenig baufällig wirkte. Fritze und Kalle waren von dem Polizeirevier zwei Stationen mit der Hochbahn gefahren und hatten die Wohnung mit einem ganz flauen Gefühl in der Magengrube betreten. Im Leben war die Brauross-Anne keine hässliche Frau gewesen, vielleicht ein wenig zu mollig und mit einem etwas zu ausladendem Hinterteil. Einem Hintern, dem sie auch ihren Namen verdankte und welchen sie als Kapital einzusetzen gelernt hatte. So, wie sie jetzt aber tot und beinahe nackt auf dem Bauch in ihrem Bett lag, wirkte sie nur noch erbarmungswürdig. Alles straffe, lebendige war aus ihr gewichen und hatte nur eine schlaffe Masse Fleisch hinterlassen.

Arme Anne! Dit hat sich keener vadient“, schniefte Fritze vernehmlich. „Verdammte Kälte.“

Stimmt jenau!“ Auch Kalle zog vernehmlich auf. „Sieh mal Fritze, dit sieht aus, hätt’ ihr eener von hinten die Hände um’n Hals jelegt und zujedrückt!“

Friedrich Brauwitz beugte sich vor. „Hilf mich mal, dit Anne umzudreh’n, Kalle!“ Bei dieser Aktion rutschte das Hemd der Toten noch weiter nach oben, und Kalle nahm rasch einen Schal von einer Kommode und bedeckte die Körpermitte der Toten.

Ick glob, dat de recht hast, Kalle! Schau mal, dit sind sieben Abdrücke, hier vier und hier fehlt ener. Ick denk’, der Kerl hat en Finger weniger, links der Ringfinger, tippe ick mal!“

Dunnersaxen! Fritze, wenn dit stimmt, denn könnt’n wa dit Mordsvieh sojar kennen! Det miese Aas von Schmissbacke-Bobo hat doch bei eener Stecherei mal eenen Finger an der linke Hand verlor’n.“

Friedrich nahm den Tschako ab und strich sich durch die Haare. „Nicht so hastig, Kalle. Wenn wa dit Bobo jetzt gleich hops nehm’n, dann erfahren wa nie, für wen er dit Anne erwürgt hat. Und dit, Kalle, dit möchte ick nur zu jerne wissen!“

Wenn dit mit der Friedrichstraße in Charlottenburg zusammen hängt, Fritze, wenn da eener von de Jeldsäcke mit drinne hängt, da kannste nix machen, Fritze, jar nüscht! Die kannste nich verhaften, und wenn, dann sind se schneller raus als rin! Die Bonzen haben alle janz jerissene Rdchtsverdreher.“

Friedrich klopfte auf seine Revolvertasche. „Ick hab’ nischt von Verhaften jesacht, Kalle!“

Karl Fischer prallte zurück. „Fritze! Mach’ dir nich unglücklich! Det kannste nich machen!“

Ne, aber träumen kann ick davor. Ah, die Bestatter sind auch schon hier. Na, dann woll’n wa mal schauen, ob wa in dem Zimmerchen noch wat finden!“

=◇=

Im ganzen Scheunenviertel und dem Wedding war Robert Rolkonsky, genannt Schmissbacke-Bobo, als ein skrupelloser Schläger und Mörder bekannt, der für wenige Märker die Drecksarbeit für andere erledigte. Zumindest, solange es mit Gewalt zu tun hatte. Seinen Namen verdankte er einer Messernarbe im Gesicht, die ihn beinahe wie ein Mitglied einer schlagenden Studentenverbindung aussehen ließ, zumindest in der Visage. Wenig überraschend hatte er aber kaum je eine Schule von Innen gesehen, seine Lese- und Schreibfähigkeiten hielten sich in engen Grenzen. In den engsten nur vorstellbaren Grenzen, er war praktisch Analphabet. Man wusste im Miljöh, dass Bobo vor überhaupt nichts zurück schreckte, wenn man ihm nur ein wenig Geld unter die Nase hielt. Dazu kam noch, dass er ein riesiger, breitschultriger Kerl war, mit dem man sicher besser nicht anlegte, und trotz seiner Masse auch noch verteufelt schnell mit dem Messer. Am liebsten aber brachte er seine Opfer mit den eigenen Händen um die Ecke. Männer, Frauen – ihm war es völlig egal, die Hauptsache war, dass er seinen Opfern bei ihrem Sterben zusehen konnte. Sie beobachten, wie sie verzweifelt um einen letzten Atemzug kämpften. Manchmal ließ Schmissbacke sogar zwischendurch mit seinem Griff noch etwas nach, ehe er wieder zudrückte. Damit verlängerte er den Todeskampf und sein perverses Vergnügen. Bobo war eben nicht nur ein gemeiner Mörder, sondern auch noch ein ganz übler Sadist. Die Brauross-Anne hatte ihn noch selber in ihre Wohnung gelassen, im Glauben, einen Kunden vor sich zu haben. Dann hatte sie sich umgedreht, aber es hätte auch keinen Unterschied für ihn gemacht, wenn sie es unterlassen hätte. Nun, das waren für ihn jedenfalls leicht verdiente fufzehn Mark gewesen, und Robert Rolkonsky ging vergnügt pfeifend durch das Schneegestöber zu seiner Lieblingskneipe. Den zart gebauten Mann, der ihm mit einer tief ins Gesicht gezogenen Kappe entgegen kam und ein wenig zur Seite wich, beachtete er zuerst überhaupt nicht. Bis sie beide beinahe gleichauf waren. Plötzlich durchfuhr den Riesen ein brennender Schmerz im unteren Brustbereich, und er bemerkte, wie es warm über seinen Bauch rieselte.

Wat, wat is dit?“ Er sah auf das schmächtige Bürschchen, bemerkte eine kleine, druckbetriebene Pfeilpistole in der schmalen Hand. „Warum denn?“ Das Kerlchen zog jetzt die Mütze kurz aus dem Gesicht, enthüllte ein engelsgleich anmutendes Frauengesicht.

Dat du mir nich mehr bei die Bullen verpfeifen kannst, Bobo“, flüsterte ihm die Frau noch ins Ohr, dann verschwand sie im Schneegestöber, während Robert zusammensackte.

Verdamm mich, die Kosaken-Kathi”, stöhnte er noch leise in den Schnee, von ganz weit weg hörte er leise das Schrillen einer Pfeife, wie sie von den Schutzmännern benützt wurde, dann war der Mörder Schmissbacke-Bobo selbst ermordet.

=◇=

Zu uns kommt frieh um sechse – der jute Kohlemann, – der bringt uns frieh um sechse – zwee Zentner Kohlen ran. Wenn unser Vaddern Friehschicht hätt’ – denn is er janz besonders nett – und bringt die Kohle huckepack – in senem alte schwarz’n Sack – zu Muddern in dit Bett!“ Von Ferne tönten die Worte des alten Gassenhauers an die Ohren der Schutzleute.

Stimmt, dit is dat Schmissbacke-Bobo. Dank’ dir, Atze!“

Immer wieda jern‘, Kalle! Wa mach‘n denn ma wieda die Flieje!“ Atze Friedmann und Manfred Jankowsky, welche den Bobo gefunden und sofort einen Stepke auf die Suche nach Kalle und Fritze geschickt hatten, wandten sich ab.

Grüß mal deine Alte un meene Jören, Manni”, zog Fritze den erst seit kurzem Verlobten Manfred auf.

Wat, allet dree sin deene, Fritze?“, wandte sich Manfred mit todernstem Gesicht wieder um. „Ihr habt dit doch alle jehört, Jungens? Der Fritze hat’s zujegeben! Also rück’ nu ma dit Alimentationsjeld rüber, dit du meener Jrete schuldich bist!“ Er hielt die Hand auf.

Na Fritze, nu is dich dit eigene Jroßmaul uf de Birne jeknallt!“, lachend hieb Kalle dem Freund auf den Rücken. „Tschüss, Manni! Dank dir noch eenmal!“

Beide bückten sich und betrachteten die Leiche, zogen die Reste des dicken Mantels vom Magen des Opfers.

Uhh!“ Kalle wandte sich würgend ab, als sein Abendessen den Magen wieder verlassen wollte. Selbst für einen erfahrenen und abgebrühten Schutzmann war dieser Anblick eine starke Herausforderung.

Da wollt eener janz sicher jeh’n“, konstatierte Fritze. „Dit war ne Dingens, ne Fleschettepistole, dit sach ick dir! Nobel, nobel, so’n Ding is jar nich billich!“

Kalle blieb mit dem Rücken zu Bobos Leiche stehen. „Kannste ooch sajen, warum eener erst den Auftrach jibt, det Anne umzubringen und dann Haschee aus den Einjeweiden vom Mörder macht? Warum hat dit Sau die Anne nich gleech selber erledicht, sondern den Bobo jeschickt?“ Fritze deckte die Wunde wieder zu.

Und wenn et zwee war’n“, überlegte Fritze kopfkratzend.

Globste selber nich, Fritze! Ne, ne, dit hängt zusammen! Da kann ooch der kriminale Rat sachen, wat er will!“

Der Kriminalrat sacht, dat er ooch an nen Zusammenhang gloobt!“ klang hinter den Beiden noch eine Stimme auf, sie fuhren herum und sahen den zivilen Kriminalrat Kaltenegger. „Juter Bericht, Leute. Armes Anne!“

BILD S124-17

Armes Anne“, bestätigte Fritze. „Stellt sich die Frache, wo hat dit Anne wen wie warum jesehen, Herr Kriminalrat!“

Wie? Nackich, würd‘ ick sachen. Warum? Weil er ihr Spezialanjebot in Anspruch nehm’n wollte! Wen? Een hohet Viech, mecht ick denken, und wo? In det Nähe von die Friedrichstraße“, zählte Kaltenegger an den Fingern ab.

Siehste Fritze! Jenau dit hab’ ick dir ooch jesacht! Aber mir gloobste ja nich!“

Sachte, Kalle!“ Fritz hob beschwichtigend die Hände. „Ick wollt’ mir doch nur noch nich festlechen. Glooben heißt nix wissen!“

Kaltenegger wies von einem zum anderen. „Ihr jehört für diesen Fall mir! Kommt mal mit, Jungens, zeicht mir mal, wo ihr dit Anne jetroffen habt!“

In der Friedrichstraße, die sich durch einige Bezirke Berlins zog, war in einem der nobleren Viertel das Haus einer Frau zu finden, die eine Marktlücke entdeckt und bedient hatte. Also, genau genommen war Katharina Kostrowski auch nicht von selbst auf den Dreh gekommen. Sie war zwar bildhübsch und gut proportioniert, aber doch nur eine der unzähligen ganz normalen Prostituierten Berlins gewesen, wurde aber von einem reisenden Paar entdeckt und nach eingehender Ausbildung angeworben. Katharina legte sich einen russischen Akzent zu, gab sich geheimnisvoll, was ihre Abstammung anging und bot den Damen und Herren der sogenannten besseren Gesellschaft Ablenkung. Zuerst nur mit spiritistischen Einzel- und Gruppensitzungen. Ihre Informationen waren durchaus gefragt, denn sie traf oft genug genau ins Schwarze. Ein Kreis besonders treuer Personen bildete sich heraus, Männer und Frauen, welche ihr und ihren Aussagen blind vertrauten. Als sie dann davon zu sprechen begann, Jerusalem wieder zu Hauptstadt eines neuen Reich Gottes auf Erden zu machen, waren diese Personen Katharina bereits hörig und glaubten auch das. Dazu gehörte der Polizeipräfekt des Bezirks, in dem ihr Haus lag, ein Mann, der eine kleine Gießerei für Alltagsgegenstände aus Stahl besaß, die Frau eines Generalinspektors der Armee und sogar eine Hofdame der Kaiserin. Und der Krake wollte seine Arme noch weiter nach oben ausstrecken. Katharina Kostrowski weitete ihr Geschäft wieder mehr auf ihren ursprünglichen Beruf aus, um einige ihrer Anhänger noch enger an sich zu binden, und sie befriedigte die seltsamsten Gelüste eines dekadenten Adels und eines nach Ausschweifung und Abwechslung gierenden Geldadels. Einer Schicht, welcher der ‚normale’ Sex plötzlich zu gewöhnlich und zu langweilig wurde. Sie sammelte auch auf diesem Weg einiges an wertvollen Informationen, welche sie zum größten Teil weiter gab. Nach Kairo. Und sie achtete auf strikteste Geheimhaltung.

Vor wenigen Tagen hatte sie einen Fehler begangen, sie wusste, dass der Markgraf Ludovsky eine Vorliebe für eine eigene sexuelle Praktik hatte, eine Spezialität, welche in den besseren Bezirken nur von einigen wenigen Prostituierten befriedigt wurde. In den ärmeren Gegenden gab es mehr von jenen Professionellen Frauen im ältesten Gewerbe, unter anderem die Brauross-Anne. Diese Frauen aus den unteren sozialen Schichten konnten eben nicht so wählerisch sein, wenn sie ein paar Mark mehr mit ihrem Körper verdienen wollten. Und dann hatte die Anne den Markgrafen erkannt, als Katharina sie kommen ließ. Trotz der Maske. Dass jemand erfuhr, dass Ludovsky auf Hinterteile abfuhr, war der Kosaken-Kathi völlig egal. Aber dass er bei ihr verkehrte und ihre Spieleabende besuchte, das durfte nun wirklich niemand erfahren. Unter gar keinen Umständen. Denn der Markgraf hatte einen ganz direkten Draht zum Beschaffungsamt der Marine, und er hatte der Kathi schon so einiges besorgt. Von Papieren über die Formel für besseres Pulver für Gewehre und Pistolen bis hin zu Informationen über die neue SPREEWALD. Ludovsky war zu wichtig für sie, und so hatte sie eben Schmissbacke beauftragt, die Anne umzubringen und ihn danach eigenhändig aus dem Weg geräumt. Mit einer gewissen Befriedigung, es hatte da eine private Rechnung aus der Vergangenheit gegeben, welche noch offen gewesen war. Aus der Zeit, ehe sie in die Friedrichstraße gezogen war.

Jenau hier haben wa jestanden, und dit Anne hat uns von hinten überholt, Herr Rat“, berichtete Kalle und wies mit den Händen.

Da vorne is sie dann ieber dit Straße jeloofen, und dann war da een Laster, da ham wa se aus die Oojen valor’n“, ergänzte Fritze. „Wa ham ja nich jewußt, dat wa dit Anne zum letzten Mal…“ Fritze schluckte trocken, dann winkte er ab. „Jeht schon wieda, Herr Rat. Uf alle Fälle ist sie dort rüber jegangen.“

Denn woll’n wa dit ooch machen“, nickte Kriminalrat Kaltenegger und überquerte mit den beiden Uniformierten die Friedrichstraße.

Ick gloobe, wenn wa hier wen frajen, wechen dit Anne, da kriechen wa keene Antwort. So hoch, wie die jucken, da hat keener so’n armes Luder wie dit Anne jesehen, und wenn er in sie hinein jeloofen wär!“ Fritze holte sein Taschentuch hervor und blies kräftig hinein.

Wir kriechen es heraus, Fritze. Dit schaffen wa!“ Kalle knuffte dabei den Freund gegen die Schulter, dann wandte er sich wieder an seinen Vorgesetzten. „Wat machen wa jetzt, Herr Rat?“

Ihr zwee schreibt mal uf, wer hier in die Häuser uf dieser Seite loschiert!“

Wat, die janze Friedrichstraße? Det dauert, Herr Rat. Det dauert“, beschied Friedrich Brauwitz.

Ne, ne, Jungens, nur bis – sachen wa mal, bis zum Trapistenplatz.“

Aber wieso…“

Mensch, Fritze! Wenn se in ne Bude hinterm Trapi wollte, dann wär dit Anne mit det Dampftram ne Schtatsiong weiter jefahren. Dann hätten wa se jar nich jesehen! Det sind vier Straßen, dit ham wa gleech, Herr Rat!“

Na, dit hoffe ick ooch mal“, bestätigte Kaltenegger. „Kennt ihr dat Brauhaus neben det Morgue in der Louisenstraße? Ick geh jetzt mal zum Leichenschneider, mal schaun, wat der alte Eisenbart jefunden hat!“

Seit einiger Zeit wurden die Todesopfer von Gewaltverbrechen in der Charité von dem bekannten Professor Doktor Rudolf Virchov untersucht, zumeist im Beisein seiner Studenten.

Man muss das nützliche mit dem nützlichen verbinden“, predigte der berühmte Chirurg und Anatom. Bei dem Kriminalrat Kaltenegger hatte er seinen Spitznamen weg, auch wenn niemand es wagte, ihn vor dem Doktor zu gebrauchen.

Ach, der Kriminalrat Kaltenegger“, begrüßte Virchov den Polizisten. „Sie kommen wegen der beiden Leichen, die man mir heute gebracht hat? Ja, glauben Sie denn, ich kann zaubern?“

Selbstverständlich nich, Herr Professor. Aber ick hätt jehofft, dabei zukieken zu dürfen!“

Dürfen Sie, junger Mann, dürfen Sie. Aber nichts angreifen, außer Sie werden dazu ausdrücklich aufgefordert.“

Danke, Herr Professor.“ Der Kriminalrat verneigte sich knapp.

Na, dann kommen Sie einmal mit, Kriminalrat.“

Der Obduktionsraum war ein großer Saal mit Rängen ähnlich dem Kolosseum in Rom, nur natürlich wesentlich kleiner. Unten standen zwei Rollbahren, die Körper darauf mit Leinentüchern bedeckt. Etwa vierzig Studenten hatten sich auf den Zuseherrängen eingefunden und warteten gespannt auf die Vorlesung über Anatomie, mit einem kleinen Abstecher zur damals noch ziemlich neuen Forensik.

Guten Tag, Kolleginnen und Kollegen“, begann Virchov seine Vorlesung. „Sie haben sicher schon gesehen, dass Sie seit heute zwei Kommilitoninnen haben. Die beiden Damen haben ihre Vorbereitungsexamina bestanden, also ist jede Herabwürdigung ihrer Personen auf Grund ihres Geschlechts völlig unangebracht und wird unangenehme Flogen haben. Für Sie unangenehm, meine Herren. Der Genuss von zu viel Bier und eine Verletzung in der Visage, erworben durch eine gewisse Ungeschicklichkeit im Umgang mit einem Schläger, reichen wirklich nicht aus, um ein guter Student zu sein oder Arzt zu werden.“ Er entfernte beinahe sanft das Tuch von der Leiche der Brauross-Anne. „Wie Sie unschwer sehen können, handelt es sich um den Körper einer Frau. Sie da, mit der Stoppelfrisur und dem Schmiss, der gerade seinem Nachbarn etwas scheinbar ganz Wichtiges zu sagen hat!“ Virchov zeigte auf einen der Studenten mit dem Abzeichen einer schlagenden Verbindung. „Kommen Sie hier herunter und schätzen Sie das Alter.“

Herr Professor, diese Frau ist dreiundvierzig Jahre und etwa drei Monate alt!“

Respekt, so eine genaue Schätzung. Woran machen Sie das fest, junger Mann?“

Ich kenne – kannte die Frau, Herr Professor“, erklärte der Student. „Sie – sie war eine Dame der horizontalen Zunft, und ich glaube, die meisten von uns haben die eine oder andere Erfahrung bei ihr machen dürfen. Uns den ersten Bast vom Horn fegen lassen, oder die Hörner abstoßen, wie mein alter Herr es nannte, Herr Professor.“

Na gut“, akzeptierte Virchow die Erklärung. „Also, die Todesursache ist wohl ziemlich leicht ersichtlich. Sie da, was denken Sie?“

Das sind Würgemale, Herr Professor.“

Richtig. Wie zu erkennen ist, hatte der Mörder den linken Ringfinger weggestreckt oder er hat keinen. Versuchen Sie einmal, wie schwierig es ist, gerade mit dem Ringfinger überhaupt keine Spuren zu hinterlassen. Die Wahrscheinlichkeit eines fehlenden Gliedes ist wohl als größer einzustufen. Sie dort oben, kommen Sie einmal herunter.“ Wieder wies der gefürchtete Zeigefinger auf einen Studenten. „Wie groß mag der Mörder wohl gewesen sein?“

Aus den oberen Reihen meldete sich eine zarte, feminine Stimme. „Herr Professor?“

Ja, junge Dame?“

Ist die Frau wirklich an mangelnder Sauerstoffversorgung durch das Würgen gestorben oder gehörte das zu einem bizarren Sexualspiel, und sie wurde beispielsweise danach von einem anderen Mann vergiftet? Oder auch von einer Frau, vielleicht von einer Konkurrentin.“

Virchov hob ganz erstaunt eine Augenbraue. „Fräulein, das ist wirklich eine Kardinalfrage. Meine Hochachtung. Kommen Sie bitte herunter. Nun kommen Sie schon, nur Mut. Schauen Sie sich die Leiche ganz genau an.“ Der Professor wartete ab, bis die junge Dame die Bahre erreicht hatte. „Die Einblutungen in den Augen sind ein recht deutliches Indiz für Strangulation, aber Sie haben Recht, das könnte auch prämortal, also früher als zum Zeitpunkt des Todeseintritts geschehen sein“, dozierte Virchow und wies mit einem dünnen Stöckchen auf die bezeichneten Stellen, ohne sie zu berühren. „Natürlich werden wir erst durch eine gründliche Obduktion herausfinden, was wirklich geschehen ist, und ob das offensichtliche wirklich richtig ist. Hier bitte, Fräulein, Sie haben sich ihren ersten Schnitt verdient!“ Der berühmte Anatom reichte Annabelle Reicherth das Skalpell. „Sie waren noch nie bei einer Obduktion anwesend?“

Nein, Herr Professor! Ich kenne eine Leichenöffnung bisher nur aus der Theorie.“ Die Studentin band sich schon einmal die Haare hoch.

Nehmen Sie sich dort drüben einen von den Mänteln und eine von den Schürzen. Krempeln Sie die Ärmel ihrer Bluse hoch und ich rate zu diesen neuen Handschuhen aus Gummi.“ Virchov wartete geduldig, während sich die Studentin adjustierte und diktierte einem Gerichtsschreiber in dieser Zeit schon einmal Größe, Alter, geschätztes Gewicht und andere körperliche Merkmale der Brauross-Anne. Dann kam die junge Frau wieder an den Tisch. Sie wirkte schon ein wenig blass um die Nase, zeigte aber den eisernen Willen, sich der neuen Herausforderung zu stellen.

Tief durchatmen, Fräulein. Erst einmal sammeln. Also, Sie setzen das Messer hier an der Schulter an und schneiden diese Linie bis zum Brustbein, dann auf der anderen Seite das Gleiche. Gut gemacht. Jetzt kommt das ganz Spannende. Sie ziehen jetzt den Schnitt gerade nach unten in Richtung Scham, einen kleinen Schwenk um den Bauchnabel herum, ja, gut so. Gute Arbeit. Nein, bleiben Sie doch bitte hier, assistieren Sie mir weiter. Wir beginnen mit der Beschau der inneren Organe. Zuerst entfernen wir den Brustkorb, dazu zerschneiden wir mit dieser Knochenschere die Rippen. Und zwar genau hier….“ Annabelle arbeitete sich unter der Anleitung des Professors durch ihre allererste Sektion, entfernte ein Organ nach dem anderen. „Wir können also davon ausgehen, dass die Frau tatsächlich an der Strangulation gestorben ist. Sie haben ihre Sache sehr gut gemacht, Fräulein. Bitte nehmen Sie doch wieder Platz, dort drüben können Sie sich waschen.“

Das Laken wurde wieder über die ausgeweidete Leiche der Brauross-Anne gebreitet, sobald alle Organe wieder in den geöffneten Körper zurück gelegt worden waren. Dann fuhren Institutsarbeiter die Rollbahre hinaus und brachten das, was von der Johanna Ziegler noch übrig war, in die Kühlkammer der Prosektur zurück. Irgendwann würden die Bestatter kommen und den Körper in das Krematorium des St. Hedwigfriedhofes in Reinickendorf bringen. Ihre Asche würde man dann mit der vieler anderer armer und mittelloser Verstorbener in einem Massengrab im dortigen Friedhof beisetzen. Wenn sich nicht noch ein Verwandter einstellte, der für eine eigene Grabstelle aufkam, was aber sehr unwahrscheinlich war. Immerhin war Wohnraum in Berlin und Umgebung überaus teuer, selbst auf einem Friedhof.

Widmen wir uns nun der zweiten Leiche!“ Wieder entfernte Professor Virchov das Tuch, ein Raunen ging durch die Studenten, als sie der Leiche ansichtig wurden. „Das, meine Damen und Herren, ist das Werk einer Flechettewaffe durch einige Lagen festen Stoffes. Es werden wohl zwischen fünf bis acht Pfeile gewesen sein, denn die Beschädigung der inneren Organe ist enorm. Der Mörder wollte wohl ganz sicher sein, andererseits kann man bei dieser Tat auch von einer gewissen Grausamkeit ausgehen. Hätte der Mörder nur ein klein wenig höher gezielt, wäre der Tod ebenso sicher, aber bei weitem schmerzloser eingetreten. Wir können den Grund für diese an sich unnötige Grausamkeit natürlich erst herausfinden, wenn wir den Täter verhören. Aber vielleicht werden Neurologen, welche sich wie der Wiener Sigmund Freud eingehend mit der Psyche des Menschen beschäftigen, irgendwann herausfinden, was solche Männer antreibt. Dann werden sie unter Umständen der Polizei Ratschläge geben können, wonach die Ermittler Ausschau halten sollen. Aber jetzt zurück zu Schmissbacke hier. Das war wirklich sein Spitzname auf der Straße, wie Sie sehen, erinnert diese Narbe tatsächlich an eine solche Verwundung eines Schlägers mit scharfer Spitze. Machen wir weiter…“ Schnell und routiniert präparierte, maß und wog Virchov, was von den inneren Organen noch übrig war. „Wie Sie sehen, haben wir tatsächlich sechs Miniaturpfeile gefunden. Die Todesursache ist also ziemlich eindeutig. Leider kann man diese Pfeile keiner Waffe zuordnen… Ja, Fräulein?“

Mein Vater stellt solche Pfeile her, Herr Professor. Vielleicht kann er sie zumindest einem Hersteller zuordnen. Und dieser unter Umständen die Lieferung bis zum Einzelhändler verfolgen. Entschuldigung, Herr Professor.“

Nein, nein, der Gedanke ist wirklich gut! Hier, Herr Kriminalrat. Nehmen Sie die Pfeile mit und lassen Sie sich die Adresse des Vaters von der jungen Dame selbst geben. Wie heißen Sie, junge Dame?“

Annabelle Reicherth, Herr Professor.“

Ein Name, den man sich merken sollte! Sie denken nicht nur mit, sondern haben auch den Mut, ihre Gedanken auszusprechen. Ich freue mich, Sie unter meinen Studenten zu haben. Schuberth, kommen Sie doch einmal herunter!“ Einer der Studenten mit anderen Verbindungsfarben trat zum Professor, der ihm die zerfetzte Leber entgegen hielt. „Was fällt ihnen hier auf, Schuberth?“

Dass der Mann 1890 wahrscheinlich nicht mehr erlebt hätte, auch ohne den Mord, Herr Professor. Ich denke, zu viel Alkohol.“

Da stimme ich zu. Das meine Damen und Herren, macht regelmäßiger unmäßiger Schnapsmissbrauch mit ihrem Körper. Und was sehen Sie hier?“

=◇=

Man konnte wohl mit Fug und Recht behaupten, dass Ernst August Ritter von Reicherth einen Platz ganz oben an der Nahrungskette erreicht hatte. 1861 hatte der gelernte Waffenschmied im Alter von 21 Jahren begonnen, ein durch Dampfdruck betriebenes Gewehr zu konstruieren, einen Vorläufer der Flechettegewehre. Obwohl anfangs noch etwas klobig, fand die neue Technologie bald Anklang beim Militär. Die Armeen des norddeutschen Bundes rüstete einige Aufklärungskompanien mit der beinahe lautlosen Waffe aus. Das Material für die Druckpatronen wurde besser, die ganze Waffe kleiner, winzige Pfeile ersetzten die schweren Kugeln, die effektive Einsatzschussweite erreichte bald die 250 – Metermarke. Nicht ganz so groß wie jene der mit Schießpulver arbeitenden Karabiner, aber dafür mit weit höherer Kadenz. 1866 genehmigte die Königliche Reichsbank Berlin dem Waffenschmied und Erfinder Ernst August Reicherth einen Kredit zum Aufbau einer Waffenfabrik, und 1886 verlieh ihm der Kaiser die erbliche Ritterwürde. Mittlerweile stellte der kaiserliche Hoflieferant und Armeeaustatter mehrere verschiedene Modelle her, von einer kleinen, fünfschüssigen Stabwaffe, welche sogar von Damen zur Selbstverteidigung leicht mitgeführt werden konnte bis hin zu großen Harpunen für Marinetaucher. Er hatte also durchaus Gründe, stolz zu sein. Sein allergrößter Erfolg, sein Meisterstück in seinen Augen war aber seine Tochter Annabelle. In seinen Augen so schön wie ihre Mutter und noch intelligenter als beide Eltern zusammen. Fast wären die Knöpfe von seiner Hemdbrust gesprungen, als er vernahm, dass sie die Vorbereitungsexamen mit Auszeichnung bestanden hatte, so sehr hatte der Stolz auf sein Fleisch und Blut seine Brust geschwellt. Als aber Fräulein Hermine, seine ältliche, aber überaus fähige Sekretärin, die Tür zu seinem Büro öffnete und das Fräulein Tochter ankündigte, war sein Erstaunen über ihr Erscheinen ebenso groß wie sein Stolz. Annabelle sollte doch in einer Vorlesung sein!

Cher Papa!“ Annabelle kam wie ein Wirbelwind in das Büro gefegt und fiel ihrem Vater um den Hals. „Ich möchte dir den Kriminalrat Kaltenegger vorstellen. Weißt du, Papa, heute in der Vorlesung war ein Mordopfer, stell’ dir das doch einmal vor. Und der Mann ist mit Flechettes erschossen worden. Und da habe ich mich gemeldet und gesagt, er, also der Kriminalrat, soll einmal dich fragen, wer die hergestellt hat. Damit er herausfinden kann, an welchen Einzelhändler die gegangen sind. Und dann habe ich mir gedacht, ich bringe ihn besser gleich selber her. Das ist er! Herr Kriminalrat, das ist Ernst August Ritter von Reicherth, mein Vater. Jetzt zeigen Sie ihm die Flechettes doch schon.“

Kommen se nur her, junger Mann. Ick beiße nich. Kla helfen wa dit Polizee, wenn wa können. Zeechen se ma die Dinger! Nobel, nobel. Da brooch ick nich lang kiecken, dat sin janz moderne, hundsjemeine Dinger, die ham wa extra für den jeheimen Dienst seiner preußischen Majestät erfunden. Jehen mit det richtigen Pistole durch janz dicken Stoff, die haben nen extra schweren Kern. Perfekt auf kurze Distanz. Ick schätze, da unser jeheemer Dienst nen Schpion jeschnappt! Dat die den aber so liejen lassen? Nu, Fakt ist, die Pistolen und die Flechettes aus dit Serie sind an det Militär jegangen. Allesamt, und die nächste Scharsche an Munition wird wieder an dit Heer jehen. Sonst jibst et keene Kanone, wo die Dinger reinpassen!“

An dit Militär? Oh Jott, dit wird wat“, stöhnte Kaltenegger. „Nützt nix, da werde ick wohl durch müssen!“

Sie schaffen das schon, Herr Kriminalrat“, lächelte Annabelle. „Nur Courage! Besuchen Sie mich doch bitte einmal, wenn es konveniert, und erzählen Sie mir von ihren Erfolgen!“

Wenn gnädiges Fräulein es wünschen und der Herr Vater es erlauben, jerne, Fräulein Annabelle. Ick darf mir jetzt empfehlen, Fräulein, Herr Ritter von Reicherth!“

Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, erlaubte sich der Ritter eine Bemerkung. „Jefällt der Polizist dir vielleicht, Bella?“

Oh ja, cher Papa. Sogar sehr!“

=◇=

Vor dem Hause der Reicherths warteten die beiden Schutzmänner, welche der Polizeirat noch aus dem Bierlokal Louisenbräu geholt hatte, ehe er mit Fräulein Annabelle zu deren Vater aufgebrochen war. Ein resolutes und hübsches Frauenzimmer, und gescheit noch dazu. Aber die Nachricht, dass der Mord mit einer Waffe des Preußischen Geheimen Dienstes begangen wurde, machte ihm sehr zu schaffen.

Juter Jott, Herr Rat, wie kieken Sie denn aus dem Anzuch?“ Fritze Brauwitz erschrak, als er seinen Vorgesetzten sah. „Sind se `nem Jespenst bejechnet?“

Wenn et nur dit wär! Wa müssen janz nach oben jeh’n, Jungs, dit Ding is jerade eben zu jroß für uns jeworden.“

Sie meenen, wa müssen zum Polizeibezirkshauptmann for’n janzen Wedding oder zum Polizeimajor for janz Balin?“

Ne, Fritze, noch eene janze Etage höher!“

Dat wär’ dit Oberst Herzog von Donnermark! Herr Rat, dit is nich lustich, da kann keener von uns lachen.“

Ick ooch nich, aba die Knarren und die Munition sind komplett an dit Heer jegangen. An dit jeheime Bureau!“

Chef, dit is nich jut”, jammerte Kalle. „Dit is janz und jar nich jut!“

Es wurde wirklich beinahe so unangenehm, wie die Polizisten gedacht hatten. Der Kriminalrat rapportierte dem Polizeioberst August Jakob Maria Herzog von Donnermark, der stützte die Hände auf seinen Schreibtisch und erhob sich.

Wissen Sie, was Sie hier andeuten, Kaltenegger?“ Sein Tonfall war leise, kalt und schneidend.

Jawohl, Herr Oberst!“ Polizeirat Kaltenegger atmete tief durch, ehe er weitersprach. „Wenn Herr Oberst jestatten, sollte ick mir irren, bin ick jerne bereit, meine Kündijung einzureichen. Und ick wär erfreut, das tun zu müssen, wenn dit bedeutet, dat dit deutsche Reich keenen Verräter im Jeheimen Bureau der Armee hat.“

Donnermark schüttelte den Kopf. „Keene Schangse, junger Mann. Könnte ihnen so passen, einfach die Flieche machen. Ne! Dit Reich braucht ooch mal Leite, die sojar dit Undenkbare denken können. Also! Ick rede mit dit Minister, und dit mit dem Heeresminister. Und dann kieke ma weiter. Es stimmt, die Kanone is ja nicht vom Himmel jefalle, die muss jemandem jehören. Machen se weiter, Kaltenegger. Denken se dit Undenkbare.“

Darauf gab es für Kaltenegger nur eine Antwort. „Jawohl, Herr Oberst!“

=◇=

In der Sahara

Das Volk der Söldner ist ein wüster Hauf’, sie kennen keyn Sang und keyn Lyb, sy betreybet nur Spyllerey, Saufferey und Hurerey, sy fluchen unentwegt, das Leyben giltet ihnen nix, sy tun morthen und nehmet sych die Weyber der Städt und Weyler auf unserm Weg mit Gwalt unt schleppe dys arm Weybzeug noch Meylen mit sych, manch eyn kurz Leyben lang, sy habet kein Respekt vor irgent was.

An diesen bekannt gewordenen Brief eines jungen Kornett aus dem Dreißigjährigen Krieg, den der junge Österreicher damals aus Wallensteins Lager nach Hause an seine Eltern geschrieben hatte, musste Hanns Joachim Landau denken, als er mit den anderen Angeworbenen der Beni Yasue zwischen ihren Führern auf dem Rücken von Kamelen nach Westen ritt, sie alle eingehüllt in einheitliche, hellblau gefärbte Burnusse. Es war zum größten Teil ein wirklich wilder Haufen, eine gemischte Truppe aus Österreichern, Schweizern und Deutschen. Zwei waren dabei, die sich deutlich abhoben. Ein schmächtiger, nicht sehr alter Mann, der sich meist in der Nähe der Beduinen, welche sie zu ihrem Ziel bringen sollten, oder in seiner, Landaus, Gesellschaft aufhielt, die anderen Söldner mied und in den Marschpausen seine Papiere studierte. Der zweite war ein großer, bärenstarker Mann, der allerdings nicht sehr klug zu sein schien und welcher dem schmächtigen kaum von der Seite wich. So unglaublich es auch scheinen mochte, Andreas und Franz Fischer waren Brüder, die stets für einander einstanden. Und Andreas benötigte den Schutz seines Bruders mehr denn je, denn der Rest der Gruppe hätte sicher große Freude am Quälen des Schwachen gehabt. Wie es bei solch rohen Burschen üblich war, und wer konnte sagen, ob es bei Schubsen und verbalen, üblen Scherzen geblieben wäre.

Derzeit war Landau über sich selbst am meisten schockiert, er hatte eine völlig neue Seite an sich selbst kennen gelernt. Gestern erst hatte einer der Söldner völlig durchgedreht, hatte etwas von Teufeln, Dämonen und Heiligen Stimmen gebrüllt und sich mit einem großen Messer auf Landau gestürzt. Der hatte seinen Revolver gezogen und den Mann einfach erschossen, ohne zu überlegen oder zu zögern. Ein eindeutiger Fall von Notwehr, aber irgend etwas in Landau hatte Freude, hatte Lust am Töten empfunden, er hatte wie von Sinnen alle sechs Kugeln in den bereits liegenden, noch zuckenden Körper geschossen. Es war wir ein innerer Zwang gewesen, immer und immer wieder den Abzug durchzuziehen, obwohl der Hahn schon längst auf leere Hülsen schlug. Er war wie im Rausch gewesen, und jetzt hatte er Angst vor sich selbst und fragte sich, ob es nicht eines total kranken Geistes bedurfte, um eine solche Reaktion zu erleben. Und ob er nicht mehr als nur ein wenig verrückt war und eigentlich in eine Anstalt gehörte. Ein Glück für ihn, dass die Kamele trotz Reiters die Gewohnheit hatten, der Herde zu folgen und zusammen zu bleiben, denn seine Gedanken gingen immer wieder zu seinen Schüssen zurück, und er empfand immer wieder die gleiche Lust an der Macht, Herr über Leben und vor allem Tod zu sein, die ihn überfallen hatte, und gleich darauf verging er wieder beinahe vor Scham darüber.

Er hatte sich vor vielen Wochen in einer leichten, orientalischen Bluse über den europäischen Hosen und Stiefeln durch die Straßen der Stadt Kairo treiben lassen. Hanns Joachim Landau war ehemaliger Oberleutnant der österreichischen Armee und hatte vorzeitig auf seinen eigenen Wunsch den Abschied bekommen. Eine Unregelmäßigkeit in der Kompaniekasse, munkelten die einen, eine Beziehung zu einer falschen Frau, vielleicht gar zu der eines vorgesetzten Offiziers, flüsterten die anderen. Allgemein bekannt in der Kaserne war jedenfalls, dass Hanns ganz gerne zu Karten griff und eine Schwäche für dralle Mädchen hatte. Jetzt war er hier in Kairo und hatte versucht, als Offizier in englische Dienste treten zu können, denn mehr als Soldat und Offizier hatte er doch nie gelernt. Allerdings war sein Ruf ihm bereits vorangeeilt, und so wurde es nichts aus dem begehrten Posten bei der Royal Egypt Army. Er benötigte jetzt ganz dringend etwas anderes, ehe ihm das Geld ausging, vielleicht als Karawanen- oder Leibwächter hier in Ägypten. Natürlich blieb immer noch die Légion étrangère, die nahmen ohne Ausnahme jeden, ohne Fragen, ohne Vorbehalte. Die Vergangenheit existierte für die Fremdenlegion Frankreichs einfach nicht mehr, aber er müsste dort zumindest am Anfang als einfacher Legionär dienen. Bei der Egypt Army hatte er doch zumindest auf einen höheren Unteroffiziersrang gehofft. Umsonst! Er beschloss, noch rasch einen von den kleinen, türkischen Kaffees zu trinken, ehe er weiterging. Ob er jetzt oder in einer Viertelstunde ziellos durch die Stadt wanderte, war eigentlich völlig gleichgültig. Er setzte sich also unter ein Sonnensegel und bestellte einen Mokka, er erhielt wie hier üblich einen im kupfernen Kännchen drei Mal aufgekochten und mit Sud servierten Kaffee. Ein Ägypter trat zu ihm an das Tischchen, an welchem er saß und neigte leicht den Kopf.

Salaam Aleikum! Darf ich mich zu dir setzen?“

Landau schrak aus seinen Gedanken. „Aleikum Salaam. Bitte, nimm Platz und ruhe dich aus.“ Er hatte in den letzten Tagen dazu gelernt und bediente sich der englischen Sprache in der etwas blumigen, orientalischen Ausdrucksweise, wie es hier in Kairo üblich war. Umso überraschter war er, als sich der Mann nun das Englische in nüchterner, direkter Form benützte.

Sie hatten kein Glück bei den Briten, Oberleutnant Landau?“

Woher wissen Sie…“

Der Mann hob die Hand. „Wir wissen, das reicht. Sie benötigen einen Posten? Mein Herr könnte vielleicht einen Mann wie Sie brauchen. Kommen Sie zu dieser Adresse und fragen Sie nach Abdullah, dann sehen wir weiter.“ Der Mann trank seinen Kaffee mit einem Schluck aus und ging rasch davon, Landau sah ihm erstaunt nach. Er blieb sitzen, orderte noch einen weiteren Kaffee und überlegte. Das könnte der Ausweg aus seiner misslichen Lage sein, denn es klang ganz nach einer Art Auftrag. Er fuhr mit den Händen über das unrasierte Gesicht. Hier in Kairo war in den billigen Kaschemmen, welche seinem derzeitigem Geldbeutel angemessen waren, noch nicht überall fließendes warmes Wasser zu erhalten. Und außerdem – was machte es schon aus, er war ja doch kein Offizier mehr.

Landau hatte sich im schweren Dragonerregiment Nummer 9, Erzherzog Albrechts Kürassiere, hochgedient. Und bis er Brigitte kennengelernt hatte, war seine Karriere auch fast wie aus einem Bilderbuch verlaufen. Er war nie das gewesen, das man einen schönen und begehrten Mann nennen konnte, und so war er der Frau mit Haut und Haaren verfallen, die sofort auf seine schüchternen Avancen reagierte und ihn in ihr Bett ließ. Doch Brigitte war eine Frau gewesen, deren Ansprüche bald sein Salär überstiegen. Es gelang ihm nie, alle ihre Wünsche nach Luxus zu befriedigten, so hatte er eben begonnen, seinen Sold etwas aufzubessern. Nur ganz wenig, zu Beginn. Dann, später, immer mehr, denn Brigittes Ansprüche stiegen und stiegen und stiegen noch mehr. Eine kleine Zwei-Zimmerwohnung war zu wenig, Kleider, Schmuck, er griff zu den Karten und versuchte, das Glück zu zwingen – umsonst. Natürlich platzte die Blase irgendwann, er bekam gerade noch die Chance auf einen freiwilligen Abschied ohne Gerichtsverhandlung, und Brigitte suchte sich selbstverständlich sofort einen neuen Galan. Nicht lange nach seinen Abschied von der Armee hatte er sie Arm in Arm mit einem Major seines ehemaligen Regiments gesehen. Sie war aber auch ein so verdammt scharfes Luder gewesen, nun, vielleicht schaffte es ja der Major, sie zufrieden zu stellen. Zumindest finanziell, und das war für Brigitte sowieso immer das Wichtigere gewesen. Nein, eigentlich das einzig Wichtige. Ernüchtert hatte er beschlossen, die Donaumonarchien ganz zu verlassen und irgendwo ganz neu anzufangen. Der ehemalige Offizier hatte seine Ersparnisse zusammen gekratzt, ein Bahnbillett nach Triest gekauft und sich dort für eine Fahrt nach Kairo für Kost, Logis und kargen Lohn als Hilfskraft auf einen Frachtdampfer anheuern lassen. Hier nun die Enttäuschung, die Gerüchte über sein Fehlverhalten waren früher als er selbst bis nach Kairo zur Armeeführung gelangt. Und jetzt, war das etwa der berühmte Silberstreif am Horizont? Er hatte eigentlich nie einen Posten als Söldner – und um einen solchen handelte es sich ganz offensichtlich – in Erwägung gezogen, aber warum denn eigentlich nicht? War nicht auch ein Angehöriger einer Karwanenschutztruppe genau genommen ein Söldner? Er beschloss, diese Adresse aufzusuchen, was hatte er denn jetzt noch zu verlieren.

Das Haus war anhand der beigefügten Skizze nicht schwer zu finden gewesen, und der große, dürre Exoffizier betätigte den Klopfer in Form einer Faust, die den schweren Ring mit einer Kugel hielt. Es knarrte, als der Türflügel endlich zurück schwang, und ein kleiner, aber breit gebauter Mann in weißer Dschellaba und einem blauen Fez in der Öffnung erschien.

Abdullah“, fragte er hoffnungsvoll, der Mann winkte ihn schweigend herein, schloss die Tür und winkte Landau, ihm weiter zu folgen. Er brachte ihn in ein Zimmer, welches mit martialischen Gegenständen wie alten, langen Vorderladermusketen, Lanzen, Krummsäbeln und Schilden geschmückt war. Dort holte er eine Wasserpfeife aus einem Schränkchen, kramte aus einer Schachtel ein einfaches Mundstück und stellte die Pfeife in der Mitte eines Teppichs. Dann lud er Landau mit einer Bewegung zum Sitzen ein.

Verzeihen Sie Achmed, er spricht kein Englisch!“ Ein athletischer Mann mit großem Turban und osmanischer Tracht war in den Raum gekommen. „Aber er weiß, was zu tun ist, wenn jemand nach mir fragt. Ich bin Abdullah, und Sie sind der ehemalige Oberleutnant des Dragonerregiments 9 der Donaumonarchien Hanns Joachim Landau, ist das soweit richtig?“

Das kann ich nicht leugnen, Mister Abdullah.“ Landau senkte den Kopf.

Keine Scham, Oberleutnant. Sie sind nicht der erste Mann, den eine Frau derart zu Fall gebracht hat, und Sie werden nicht der letzte sein. Ihre Dienstakte ist mit dieser einen Ausnahme makellos, jetzt frage ich Sie aber eines. Würden Sie für Geld alles tun?“

Landau fuhr auf. „Selbstverständlich nicht! Ich mag ein verdammter Idiot gewesen sein, ich habe die Konsequenzen getragen und meinen Abschied genommen! Trotzdem gibt es Dinge, die ich nicht machen würde. Ich begehe keine Morde und entführe niemanden für Geld, nur um zwei Beispiele zu nennen!“

Warum sind Sie Soldat geworden, wenn Sie nicht töten wollen? Etwas Kaffee?“ Eine junge, verschleierte Frau in kurzem Jäckchen und seidigen Pluderhosen brachte ein Kännchen Kaffee und sah Landau ins Gesicht.

Gerne, danke. Mister Abdullah, ich bin bereit zu töten, in einem ehrlichen Zweikampf genau so wie in einer Schlacht. Wenn mir ein Bewaffneter gegenüberstehen sollte, ich zögerte keine Sekunde. Aber Unbewaffnete, Unschuldige, Frauen oder Kinder – nein, das wäre Mord, und das mache ich nicht. Ich bin auch kein Henker, wenn sich jemand ergibt, dann töte ich ihn nicht. Und wenn ein Gericht hundertmal eine Person zum Tode verurteilt, ich vollstrecke es nicht!“

Ich verstehe!“ Abdullah nahm einen Zug aus der Wasserpfeife und bot Landau den zweiten Schlauch mit dem einfachen Mundstück an. „Bitte, seien Sie nicht beleidigt, dass ich ihnen kein schöneres Mundstück anbiete, aber einer ihrer Doktoren aus Budaapischt hat gesagt, dass man die nie wieder richtig sauber bekommt, und jetzt bekommt eben jeder Gast sein eigenes, das nur einmal benützt wird. Bitte, rauchen Sie mit mir!“

Ich… danke, Mister Abdullah.“

Herr Landau, sind Sie bereit, dabei zu helfen, eine Armee auszubilden? Wir haben Männer, aber keine Ausbildung. sie kämpfen noch immer wie vor hundert Jahren, ehrenvoll vom Rücken ihrer Kamele, aber unser Feind, der unser Gebiet möchte, hat moderne Waffen aus Europa, aus Iitalia, um genau zu sein.“

Und wer seid ihr?“

Wir sind Beni Yasue, und wir möchten unsere Heimat für unsere Frauen und Kinder in unserer Hand wissen!“ Wieder trat eine Zeitlang schweigen ein, dann seufzte Landau.

Gut! Ich bin dabei! Ich mache es, aber wie gesagt, kein Mord, keine Entführung. Ich habe immer noch meinen Ehrenkodex.“

Kein Problem!“ Abdullah reichte Landau seine Hand. „Willkommen, Commandant Landau! Ich bitte Sie, die nächsten Tage mein Gast zu sein, bis wir mit einigen Freiwilligen, die unsere Sache ebenfalls unterstützen, aufbrechen. Benötigen Sie irgend etwas? Kleidung, Rasierzeug und ähnliches wird von ihrem Hotel geholt und auf ihr Zimmer gebracht, Suleika zeigt es ihnen sofort. Fühlen Sie sich wie zu Hause, in allen Belangen.“

Und jetzt waren sie hier, inmitten eines riesigen Sandmeeres. Zuerst waren sie mit dickbauchigen, schwerfälligen Raddampfern Nilaufwärts gefahren worden, bis Abū Simbal, wo riesige Köpfe von Kolossalstatuen aus dem Sand ragten, dort waren sie auf Kamele umgestiegen und nach Westen aufgebrochen, immer weiter nach Sonnenuntergang in die durchglühte Sand-, Staub- und Geröllwüste. Wie lange sie bereits unterwegs waren, er wusste es nicht. Nicht mehr. Der stets gleiche, langsame Trott der Kamele, die kurzen Rasten in der kühleren Nacht, die längeren im gleißenden Licht und der extremen Hitze des Tages zu Mittag – ein Tag ging absolut gleichförmig in den nächsten über, es gab kaum Abwechslung, die Sinne stumpften ab. Waren es zehn oder zwölf Wasserstellen gewesen, die sie passiert hatten? Er wusste es nicht, er wusste nur, dass die grobe Richtung ihres Rittes nach Sonnenuntergang, also Westen führte. Weiter und immer weiter. Den Weg zurück zum Nil hätte er natürlich gefunden, vorausgesetzt er verfügte über genügend Wasser. Und hier begann das Problem, er hätte niemals die Stellen gefunden, wo er sich satt trinken könnte. Wenige Dutzend Meter davon entfernt hätte er danach Ausschau halten können, und die minimalen Anhaltspunkte für das Vorhanden sein des wertvollen Nasses wären ihm entgangen. Ohne Führer wäre er bereits nach wenigen Tagen verloren, sein Begräbnis würde der ewige Wind übernehmen, der seit undenkbaren Zeiten die Sanddünen von Westen nach Osten trieb, tagaus, tagein. Wenn der Wind tatsächlich einmal einschlief, wurde es beinahe noch schlimmer. Die Hitze stand und sammelte sich wie eine zähe Flüssigkeit zwischen den Dünen, man vermeinte beinahe, auf dem Sand seinen Tee kochen zu können. Der Sonnenschein auf den Kämmen der Dünen brannte dicke Blasen auf die ungeschützten Stellen der Haut, wenn man unvorsichtig wurde und der Burnus einmal verrutschen sollte. Dieser Ritt war bar jeder Romantik, das Gewand scheuerte, wenn sich der Sand einmal mit dem Schweiß auf der Haut verbacken hatte, und es gab nicht genug Wasser, um sich zu waschen. Immerhin war selbst Trinkwasser knapp, der Gaumen fühlte sich stets trocken an. Nachts konnte man mit einem Tuch die schlimmsten Schichten des Schweiß- und Sandgemisches vom Körper reiben, doch die nächste Schicht ließ nach Sonnenaufgang nicht lange auf sich warten. Weder der Schweiß noch der Sand ließen sich wirklich verhindern, die Europäer hatten noch viel Flüssigkeit im Körper gespeichert. Von außen war nichts von dem Ungemach zu sehen, denn der feine Sand haftete nicht auf dem Stoff. Jene Partikel aber, die es unter das Gewand schafften, bereiteten nicht wenig Qual. Und das waren nicht wenige.

Doch langsam gewöhnte man sich auch daran und ertrug es, oder man wurde eben wahnsinnig, hörte Stimmen und wurde dann erschossen. Oder man stand auf, mitten am Tag, und ging in die Wüste. So wie es August gemacht hatte. Niemand suchte nach ihm. Es wäre völlig sinnlos gewesen, denn der ewige Wind hatte seine Spuren schon lange verweht, als man das Fehlen des Leipzigers bemerkte. Auch Unachtsamkeit konnte in der Wüste ganz schnell tödlich enden, es gab überraschenderweise hier Leben, so weit abseits jeder sichtbaren Fruchtbarkeit. Skorpione, Schlangen, selbst der Boden unter den Füßen konnte dem unvorsichtigen Reisenden ganz schnell das Leben kosten. Es war still in der Karawane, alles war längst gesagt, niemand hatte mehr die Kraft oder die Lust für überflüssige Worte. Die Zunge lag trocken am rissigen Gaumen, der Durst war ein ständiger Begleiter, Tag für Tag, Nacht für Nacht.

Langsam dämmerte es Landau, dass es kein Zurück mehr geben konnte. Nicht nur, was diesen Ritt anging, sondern auch geistig. Er war nicht mehr der ehrenwerte Offizier eines Dragonerregiments, er war ein Söldner, endgültig. Und von seiner Soldatenehre war auch nichts mehr übrig geblieben, aber Landau stellte fest, dass es ihm durchaus gefiel. Er streifte den letzten Rest von Zivilisation ganz bewusst von sich ab. Die Welt hatte ihn zähmen wollen, die Zähne ziehen – aber er, Hanns Joachim Landau, er war ein Raubtier! Immer gewesen, und das wollte jetzt endlich frei gelassen werden und rüttelte immer stärker an den Gitterstäben der Zivilisation. Das raue Lachen drängte er ihn seine Kehle zurück, Energieverschwendung. Aber kein Mann und keine Frau würden sich mehr über ihn lustig machen, nicht über den neuen Landau, nicht mehr über… Der Schlag eines Metrek, eines Stabes zum Antreiben der Kamele, weckte ihn aus seinen tiefen Gedanken.

Nicht schlafen ein“, rief ihm einer der Führer zu. „Einschlafen in el Sahar tödlich! Ganz tödlich!“

Danke“, nickte Landau dem Beduinen zu. „Ich werde mich bemühen!“ Der Berber nickte nur und lenkte sein Kamel weiter. Man würde sehen, ob der Neue wirklich das Zeug zum Offizier hatte. Aber zumindest ganz hoffnungslos schien Tarek dieser Fall nicht zu sein.

=◇=

Am roten Meer

Bis zum Kinn in heißem Wasser mit viel Schaumbad liegend genoss Henrietta Jones die Annehmlichkeiten der Zivilisation, die Reisegruppe um die Prinzessin von Österreich war im besten Hotel der Stadt, dem Stattman, abgestiegen. Unbegrenzt heißes Wasser zum Baden und eiskaltes zum Trinken, breite, bequeme Betten und eine geräumige Zimmerflucht mit großem Balkon zum begrünten Innenhof. Der Balkon war allerdings eher ein kleines Zimmer mit einer Wand aus grünen Blättern und roten Blüten zu nennen, die Stechmücken wurden durch ein feines, beinahe unsichtbares Netz abgehalten. In den Zimmern drehten sich große Ventilatoren beinahe lautlos unter der Decke und sorgten so für angenehme Luftzirkulation und ein wenig Kühle.

Das nenne ich Leben“, seufzte sie wohlig, als Orville das Badezimmer betrat.

Gewöhne dich nur nicht zu sehr daran”, warnte ihr Mann. „Unser Abenteuer wird nicht ewig dauern, und mit meinem üblichen Einkommen…!“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich fürchte, du hast den falschen Mann geheiratet!“ Henrietta hob träge eine Hand und spritzte ein wenig Wasser nach Orville.

Ach, Unsinn, ich habe genau den Mann, den ich will“, beschied sie. „Sonst hätte ich ja Georges Lorrimer heiraten können. Dumm, aber reich – mir war der kluge Habenichts trotzdem lieber!“

Er lächelte sie an. „Ich habe mich schon immer gewundert…“

Weil ich mich in deine Art zu reden verliebt habe, wie du manchmal total in deiner Arbeit aufgehst und du kräftig zupacken kannst!“

Oh!“ Orville hob die blaue Matrosenuniform auf, welche Henrietta einfach zu Boden geworfen hatte, nur um irgend etwas zu tun, weil er im Moment keine kluge Antwort wusste.

Ich werde den Anzug behalten“, kicherte sie. „Ich habe bemerkt, dass du meinen Hintern in der Hose kaum aus den Augen gelassen hast!“

Orville wurde rot im Gesicht. „Du hast es gesehen?“

Ja, klar hab ich das! Du musst doch nicht rot werden, Orville. Wir sind verheiratet, ich habe dir einen Sohn geboren – der übrigens derzeit bei Josepha ist.“ Sie erhob sich aus dem Schaumbad und trat in die Duschkabine. „Warum also solltest du mein Heck nicht ausgiebig bewundern sollen?“, wackelte sie kokett damit, während sie sich den Schaum abspülte. „Genier dich nicht, schau ruhig genau hin. Wäscht du mir vielleicht den Rücken, Schatz?“

Natürlich, mein Liebes.“

Aber zieh vorher deinen Schlafrock aus“, verlangte Henrietta. „Und die Hose auch!“

=◇=

Die Prinzessin Maria Sophia hatte sich im Stattman als Maria, Gräfin Taranaki eingetragen, und selbstverständlich auch die richtigen Papiere vorgelegt. Man konnte in diesem speziellen Fall noch nicht einmal von Urkundenfälschung sprechen, Maria Sophia war wirklich die Gräfin dieses Landstrichs auf den Pazifischen Maui-Inseln. Bei dem regelmäßigen Kommen und Gehen in der Stadt war die Gruppe gar nicht wirklich aufgefallen, nur die Uniformen hatten ein paar verwunderte Blicke auf sich gezogen. Lisi Oberwinden hatte etwas von einem Unfall mit ihrer Yacht gemurmelt, und von der Rettung durch die heldenhafte österreichische Flotte. Dazu ein paar Gulden, und nichts machte besser unsichtbar als die eine oder andere Goldmünze. Auch sie hatte zuerst lange und genussvoll gebadet und dann nach einer Schneiderin geschickt. Jetzt saßen Maria und Lisi in ihren Sesseln und sahen zu, wie die Handwerkerin Henrietta Jones vermaß und die Ergebnisse in einer Tabelle eintrug.

Bitte breiten Sie die Arme aus, gnädige Frau!“ Fingerspitze zu Fingerspitze, Handgelenk zu Handgelenk. „Sie haben sehr schlanke Handgelenke, Frau Jones. Sehr elegant. Wollen Sie vielleicht eine Manschette mit zwei Knopfreihen, damit Sie die enger und weiter tragen können?“

Ja, mach‘ Sie’s so“, mischte sich Mafia Sophia ein. „Wir nehmen das Beste!“

Gerne, euer Wohlgeboren. Wir haben hier vor Ort die feinste eritreische oder abessinische Baumwolle. Sie ist von der Pflanze her gleich der ägyptischen, aber um einiges feiner gesponnen und gewebt. Ich habe einige Stoffmuster mit, wenn Frau Gräfin schon einmal wählen wollen?“

Das ist ja beinahe wie Seide!“ Verblüfft ließ die Erzherzogin eine Stoffbahn durch ihre Finger gleiten. „Kühl, weich und anschmiegsam, das ist ja eine Überraschung. Aber für eine Strapazkleidung braucht’s mehr Körper, da ist der Stoff da besser! Aber aus dem ganz zarten macht Sie für jeden von uns zehn Sets Unterwäsch’, fünf leichte Hemderln mit Kragen und flachen Knöpf’ mit kurzen und fünf mit langen Ärmeln für unter der Uniformblus’n zum tragen. Und je zwei Uniformen für uns Damen.“

Aber…“

Sei ruhig, Henny! Jetzt red’ ich. Sag’ Sie ihrem Kollegen, der g’rad‘ den Mann der Dame bearbeitet, er kriegt dasselbe, und der Bub auch. Auf meine Rechnung. Also Lisi, auf geht’s, du bist dran, lass dich schön kartographieren!“ Elisabeth von Oberwinden hatte schon öfter mit einer Maßschneiderin zu tun gehabt, und stellte sich in Positur. Es hatte sich glücklicherweise herausgestellt, dass die Schneiderin über genügend Personal verfügte, um die Wünsche der Reisegruppe in drei Tagen fertig zu stellen. Es war zwar nicht gerade billig, aber dennoch lohnend.

=◇=

Das ist doch alles unbrauchbar!“ Nach der Schneiderin war die Modistin mit einer Auswahl an Sonnenhüten gekommen, doch Maria Sophia schleuderte mit einer Handbewegung die zur Begutachtung vorgelegten Hüte vom Tisch. „Was hat man ihr denn gesagt, was gebraucht wird?“

Die Hutmacherin wich zurück. „Gnädige Frau Gräfin, man hat mir gesagt, dass drei Damen einige Hüte als Sonnenschutz benötigen!“

Aber das ist doch alles ein Schmarrn! In zwei, drei Tag’ haben wir nur noch Fetzen und traurige Rest’ln am Schädel, kriegen an Sonnenstich und an Sonnenbrand im G’sicht! Obendrein sind wir halb blind! Das da ist nur was für ein Anziehpupperl, das grad einmal für drei Stund‘n auf die Rennbahn geht und das Ding dann wieder vergisst. Weil beim nächst‘n Renntag muss es ja eh wieder ein neuer Hut sein! Krutzitürken, ich hab’ doch extra g’sagt, Strapazhüte. Leder, Filz oder dickes Leinen, so wie’s auf die Pazifikinseln trag‘n werd’n.“

Aber Frau Gräfin, wie soll ich den da die Perlen oder die Federn…“

Gar nicht, des Zeug braucht dort, wo wir hingeh’n, eh kein Mensch! Lisi, Henny, wir geh’n jetzt schau’n, ob wir bei die Männer was brauchbares finden!“ Maria Sophia schritt zur Tür.

Wollen Frau Gräfin denn wirklich einen ganz schmucklosen Herrenhut tragen?“ Die schiere Verzweiflung stand der Modistin ins Gesicht geschrieben.

Ja“, rief Maria, Gräfin von Taranaki und schritt, gefolgt von ihren Begleiterinnen, durch die Tür und ging zur Suite der Familie Jones, wo Orville eben einen breitkrempigen Cowboyhut aus sandfarbenem Filz aufsetzte.

Ja sagt sie!“ räsonierte die Modistin, welche Mühe hatte, mit den Damen Schritt zu halten. „Und derart rennen, das ist aber gar kein damenhaftes Verhalten. Seit wann muss ein Damenhut zu etwas gut sein, außer dass er gut ausschaut. Damen sind doch keine Soldaten. Und wenn alle Strick’ reiß‘n gibt’s ja immer noch den Schirm! Immer diese Leut‘ aus den Kolonien, keine Kultur hab’n die da unten!“

Na also, das schaut doch gleich viel besser aus!“ Lisi ergriff einen hellen Stetson in amerikanischem Stil und drückte ihn auf den Kopf. „Wie schau‘ ich aus, Mitzi?“

Zum Anbeißen, Lisi. Ha, da ist ja auch ein leichter Australianer. Mit Löchern in der Krone, da kann Luft zur Birn’, aber wenn’ regnet bleibt die Frisur trotzdem trocken. Sogar mit einer Sturmschnur daran! Den will ich, nur zwei Nummern kleiner, aber die Krempe genau so breit!“

Aber Frau Gräfin…“

Keine Diskussion. Lisi, Henny?“

Elisabeth nickte. „Gutes Modell. Leicht, luftig und schützt. Aber die Kremp’n muss ordentlich g’macht sein, nicht dass nach drei Tag einfach abehängt!“

Richtig“, stimmte die Prinzessin zu. „Also, drei Mal, für jede von uns einen. Ende der Debatte!“

Aber… jawohl. Darf ich den Kopfumfang der Damen messen?“

Geb‘ Sie das Band’l schon her. Wo glaubt Sie denn, dass ich einen Hut trag’? Im G’nack, dass mir die Sonn‘ genau in die Augen brennt? So, das schreibt Sie jetzt auf, Henny, komm her, schau’n wir mal, wie groß dein Bluzer ist!“ Carl Friedrich Maerz ging schmunzelnd auf den Balkon und zündete sich dort eine seiner Zigarren an. Er bedauerte nur, diese Szene nicht in seinen Büchern verwenden zu können. Eine echte Prinzessin vermaß eigenhändig den Kopf einer Bürgerlichen. Das würde ihm kein Redakteur durchgehen lassen, und schon gar kein Leser glauben.

=◇=

Im Bureau des Konteradmirals Hermann Fürst von Kaltenfels herrschte derzeit mehr Trubel und Aufregung als in den ganzen Jahren seit seiner Errichtung. Und der Admiral konnte diesem Wortgefecht nicht einmal ausweichen, wie gerne er sich auch in ein Mauseloch verkrochen hätte.

Ich brauche doch nur einen Husaren, da passen wir alle ganz leicht hinein! Josepha kann fahren, und so eine Kanon’ zu bedienen trau’ ich mir schon zu. Außerdem war der Horst Komarek bei der Marine auch eine Zeitlang Artillerist. Ich brauch’ keine Kindermadeln mehr!“ Maria Sofia schlug mit den Handschuhen in ihrer Hand erregt gegen ihre Schenkel in der Uniformhose. „Weil, ich bin schon erwachs’n, wenn’s ihnen bis jetzt entgangen sein sollt’, Inzersmarkt!“

Sie müss‘n mich nicht d’ran erinnern, Hoheit. Das seh’ ich.“ Oberst von Inzersmarkt versuchte ruhig und respektvoll zu bleiben. „Aber hör’n tu ich’s nicht. Es ist unvernünftig, so quasi allein da hinaus zu geh’n, wo doch dort jemand herumrennt, der schon einmal versucht hat, Hoheit umzubringen.“

Wenn der Arsch mit Ohren mich hätt‘ abstechen woll‘n, hätt‘ er’s leichter g’habt. Er müsst nur mehr genau gar nichts machen.“ Die Prinzessin warf sich in einen Stuhl, dessen Holz bedenklich knackte, stützte den Ellenbogen auf die Armlehne und das Kinn auf ihre Hand. Schon waren ihre Vorsätze vergessen, in Zukunft vorsichtiger sein zu wollen.

Und die Araber, die Hoheit entführen wollten? Haben Hoheit die schon vergessen?“

Hören’s doch schon endlich mit dem depperten Hoheit da und Hoheit dort auf, Oberst“, gestikulierte die Prinzessin heftig. „Die sollten wir doch los g’worden sein, wie wir mit der RADETZKY losg’flogen sind!“

Dürfte ich vorschlagen…“, versuchte Kaltenfels etwas zu sagen, doch Inzersmarkt unterbrach den Fürsten.

Sind’s sicher, Prinzessin? Wir wissen genau gar nichts über die G’frastsackeln. Das ist unser Problem. Ich bleib’ dabei, sieben Fahrzeuge und sechzig Dragoner!“

Vielleicht…“, versuchte der Admiral es noch einmal, doch Maria Sofia winkte ab.

Das kommt ja gar nicht in Frage! Ich kann doch nicht mit einer ganzen Kompanie lospledern. Und was soll’n die Abessinier denken? Dass wir eine Invasion mach’n?“

OBERST!“ brüllte der Admiral jetzt wie ein Stier.

Was denn, Herr Admiral?“ Der Stimme des Oberst merkte man den Unwillen an, aber immerhin war der Garnisonskommandant der Ranghöhere.

Wenn ich einmal vorschlagen dürfte, so als Kompromiss quasi. Vier Fahrzeuge, dreißig Mann plus die Besatzung“, sagte der Admiral mit weit ruhigerer Stimme. Maria Sophia fuhr auf, aber Kaltenfels hob die abwehrend Hand. „Hoheit, bitte, ich bestehe darauf. Sie können mir befehlen, Ihnen ein Fahrzeug zur Verfügung zu stellen, aber drei weitere werden Ihnen auf Ihrem Weg folgen, ganz egal, wo Sie hingehen. Und der Kommandant der Truppe wird sich nicht davon abhalten lassen, nicht einmal durch einen schriftlichen Befehl Ihrerseits. Diese Männer wissen, was sie den Donaumonarchien und dem allerhöchsten Haus schuldig sind. Ich garantiere Ihnen, sie werden hinter Ihnen bleiben und sich nicht von Ihrer Spur abbringen lassen.“

Also gut!“ Maria Sophia wusste, wann ihre Macht zu Ende war. Sie erhob sich und hob die Hand. „Drei Husaren, zwanzig Dragoner und die Besatzungen. Nicht mehr, Admiral. Das ist schon mehr als genug!“

Wenn ich noch vorschlag’n dürft, Hoheit?“ Der Admiral faltete die Hände. „Nehmen Sie noch einen Windhund mit!“

Einen Windhund“, überlegte Maria Sophia laut. „Ja, warum denn nicht? Welche Frau kann bei einem putzigen Windhund schon nein sagen?“

Sehr gut, kaiserliche Hoheit. In vier Tagen, am Freitag in der Frühe werden die Husaren und die Mannschaften bereit sein. Heute noch wird nach Addis Abeba telegraphiert, um eine Erlaubnis für die Durchfahrt zu erwirken. Reine Formsache, unser Verhältnis zum Negus Negest ist sehr gut.“ Kaltenfels hatte sich gleichzeitig mit der Prinzessin erhoben. Es wäre doch sehr unschicklich gewesen, hätte ein Konteradmiral gesessen und ein Mitglied der kaiserlichen Familie gestanden. Mehr als unschicklich, ein echter Fauxpas.

Na gut. Dann sind wir uns ja einig“, nickte Maria Sophia. „Und jetzt wird’s aber Zeit. Unser Kamerad hat sich einen ehrenvoll‘n letzt‘n Zapfenstreich redlich verdient. Ich wollt’, der Slatin Pascha wär’ noch da unter uns!“

Ich auch, Hoheit, das können Sie mir glauben. Er war einer von meinen best‘n Freund’.“ Der Oberst setzte den zur Uniform gehörenden Tropenhelm auf. „Aber er hätt’ zu mir g’sagt, Willi, hätt’ er g’sagt, platz jetzt nicht so herum. Da vorn ist die Zukunft, an die musst‘ denken! Die Tot’n haben’s leichter, nur wir plärren da herum, weil wir ganz plötzlich was verlor‘n haben. Reiner Egoismus!“ Wilhelm Graf von Inzersmarkt wischte eine Träne von der Backe und schnäuzte sich geräuschvoll. „So hat er’s g’sagt, wie seine Lotte g’storb’n ist, so hat er auch g’redt, wie meine erste Tochter vom Pferd g’fallen und nimmer aufg’standen ist. Und trotzdem sind ihm immer selber auch die Tränen über’s G’sicht g’ronnen, aber dann hat er sich zusammen g’rissen und weiter seine Pflicht `tan. Und das tun wir jetzt auch, mit eurer Erlaubnis, Hoheit.“

Wie immer, Oberst.“ Sie strich mit ihrem Daumen eine weitere Träne vom Gesicht des Oberst. „Was wären denn die Vereinigten Donaumonarchien ohne Männer wie Sie, dem Admiral oder dem Pascha? Und den Millionen unbekannt‘n Menschen, die Tag für Tag ihr’ Pflicht tun, ohne je erwähnt zu werd’n.“

=◇=

Die Sonne beschien den großen Innenhof der Garnisonskaserne von Port Erzherzogin Helene. Die drei Kompanien Waffenmatrosen in den dunkelblauen Uniformen und die Soldaten der motorisierten Dragoner in den sandfarbenen Monturen der Garnison Zulas waren bis auf die üblichen Wachposten geschlossen angetreten. Jede Kompanie bestand aus vier Zügen, die wiederum aus vier Gruppen von je acht Mann bestanden. Diese Kompanien waren nach ihren Zügen sortiert aufgestellt und bildeten drei Seiten eines Vierecks, die vierte Seite bildeten die beiden Gardezüge in ihrer makellosen weißen Dienstbekleidung, mit kurzen Karabinern bewaffnet und die Kapelle. In der Mitte stand auf einer Kanonenlafette der Sarg des posthum zum Oberst beförderten Rudolf Carl Freiherr von Slatin, darauf lag ein goldgelb-schwarzes Kissen, auf welchem die neuen Schulterstücke und die Orden Slatin Paschas befestigt waren. Vor dem Sarg standen der Konteradmiral von Kaltenfels, der Garnisonsspieß Rosenblatt, die Gruppe der Prinzessin und zehn Mann Ehrengarde ‚in voller Panier‘. Das bedeutete mit hellblauem gewebten Koppeltragegestell für das Sturmgepäck über der weißen Galauniform, zu welcher auch eine weiße Matrosenmütze mit blauem Band gehörte. Auf diesem Band war üblicherweise der Schiffsname gestickt, zu dessen Besatzung der Träger gehörte. Zu dieser Uniform wurden auch noch hellblaue Gamaschen und weiße Handschuhe getragen. An den Oberarmen der Ehrengarde waren breite, schwarze Stoffbinden zum Zeichen der Trauer befestigt.

Die ganze Garnison auf mein Kommando! Unteroffiziere und Offiziere bitte eintreten!“ Die befehlsgewohnte Stimme des Dienstführenden Unteroffiziers, hallte über den großen Paradeplatz der Kaserne. Der DFUO wurde in der Umgangssprache immer noch ‚Spieß‘ genannt, obgleich das Rangabzeichen schon lange nicht mehr aus dieser Waffe sondern aus einem silbernen Winkel auf dem Uniformärmel bestand. Die Unteroffiziere der Truppe stellten sich rechts von ihren Kampfgruppen auf, die Zugskommandanten rechts der ersten Gruppe, ihre Stellvertreter eine Reihe dahinter, neben der zweiten. Die Kompaniekommandanten hatten ihren Platz vor ihren Einheiten, links neben sich ihren Stab. Es ging schnell, und als jeder auf seinem Platz stand, brüllte der Spieß das Kommando.

Haaabt acht!“ Mehr als 900 Männer nahmen gleichzeitig lautstark Haltung an. „Kapelle, die Hymne der Donaumonarchien!“ Langsam und getragen klang die Melodie des alten ‚Gott erhalte‘ von Joseph Haydn, die Hände der Offiziere fuhren an die Schläfe, die Zivilisten nahmen die Kopfbedeckungen ab und senkten das Haupt.

Als der letzte Ton verklungen war, trat der Kommandant der Ehrengarde vor und hob den Säbel. „Ehrengarde – legt an!“ Die zehn Männer hoben synchron ihre mit Platzpatronen geladenen Karabiner und zielten in einem exakten 45-Grad Winkel in die Luft.

Gebt Feuer!“ Zehn Mal krachte eine ‚blinde’ Salve, also ohne Projektile, aus den zehn Gewehren der Ehrengarde über den Sarg, dann spielte die kleine Trommel einen Wirbel. Der Fahrer der Lafette setzte mit dem Dampfhebel das Fahrzeug langsam in Bewegung, und die Basstrommel schlug jetzt einen langsamen Marschrhythmus an. Die Ehrengarde begleitete den Sarg im gemessenen Gleichschritt zu beiden Seiten, die beiden Gardezüge folgten und hinter ihnen die Kompanien in der Reihenfolge ihrer Nummern. Während der Sarg am offenen Grab wartete, defilierten die Dragoner und die Waffenmatrosen daran vorbei und erwiesen dem toten Kameraden die letzte Ehre. Erst, als der letzte Waffenmatrose abgezogen war, wurde das Kissen auf eine bereitstehende Säule gelegt, um später nach Wien seiner Familie übersandt zu werden, und der Sarg von einem Dampfelefanten, einem vierbeinigen Bergepanzer, der Erde übergeben. Auf dem Stein stand später zu lesen: EIN HERVORRAGENDER OFFIZIER UND TREUER FREUND. Unter dem obligatorischen Kreuz ein Doppeladler, und wer genau hinsah, bemerkte über den Köpfen des Wappentieres statt den Kronen der Vereinten Donaumonarchien das Diadem einer Prinzessin eingemeißelt, in seinen Klauen hielt er je eine Rose und – eine Tulpe. Die Lieblingsblumen der Erzherzogin Maria Sophia.

=◇=

Die dicken Reifen mit den tiefen Profilen der drei dampfelektrisch betriebenen gepanzerten Fahrzeuge der Dragoner der Vereinigten Donaumonarchien walzten durch den Sand und bewegten die schweren Körper der Husaren nach Norden, auf die Stadt Massaua zu. Dort sollte der Kurs nach Osten geändert werden, zum Bett des Flusses Barka, danach diesen entlang die steilen Berghänge hinauf bis Asmara und dann wieder nach Süden durch die Schluchten des zerklüfteten Hochlands nach Lalibela. 700 Kilometer, durch unwegsames Gebiet, die durchschnittliche Geschwindigkeit hatten sie auf fünfundzwanzig bis dreißig Stundenkilometer geschätzt. Bei etwa acht Stunden täglich sollte die Karawane in vier Tagen, am 30. März, Lalilibela erreichen können. Da gäbe es noch genug Zeit, Informationen einzuholen und ein wenig zu rasten, ehe die Fahrt in die Stadt Gonder weiterführen sollte. Ungefähr 350 Kilometer noch, das sollte mit einmal Übernachten dazwischen zu schaffen sein. Wenn Maria Sophia und ihre Entourage am 14. April aufbrechen wollten, wären sie sicher noch rechtzeitig vor Ort. In der Hauptstadt jenes Gebietes Äthiopiens, dessen Bewohner von sich selber sagten, sie wären der verlorene hebräische Stamm vom Blute Daniels.

Eigentlich sollt’n wir ja die Henny und ihren Sohn da lass’n“, hatte Maria Sophia bei der Vorbereitung der Expedition laut überlegt.

Ach, die soll in Luxus schwelgen und in aller Ruhe da bleib‘n dürfen, aber mich willst mit in die Wildnis schleif’n“, frotzelte Elisabeth von Oberwinden. „Und so was nennt sich jetzt eine Freundin!“

Ja, sicher“, antwortete Maria darauf schelmisch lächelnd. „Und weilst meine Freundin bist, kann ich dir das Mitkommen eh net ausred’n!“

Ich komme ganz bestimmt mit!“ Henry hatte offensichtlich von beiden Elternteilen den Sturkopf mitbekommen. „Ma, sag es doch! Wir lassen uns doch nicht ganz einfach auf ein Abstellgleis schieben!“

Bis Lalibela oder Gonder sind ja wirklich keine G’fahren zu erwarten, mit denen unsere Dragoner nicht fertig werden könnten, euer Hoheit“, vermittelte Oberst Wilhelm Graf von Inzersmarkt. „Dafür hab‘n wir‘s ja mit, das wir sicherer sind. Danach könnten wir das Kind und die unerfahrenen Leut‘ mit zumindest einem von den Wagen immer noch zurück schick‘n, wir sollt‘n doch einen weiteren mitnehmen.“

Maria Sophia machte eine abwehrende Geste. „Nein, keine Verstärkung vorderhand. Also gut, wir nehmen die Henny mit. Sie könnt‘ vielleicht doch ganz hilfreich sein, ich mein, dass ich g‘hört hab‘, dass sie dieses Amharisch recht gut lesen und sprechen kann.“

Ja, ich hab‘ für mei Männle scho einige Übersetzunge angefertigt!“ Henrietta wurde verlegen. „Orville ist ein kluge Kopf, der ganz schnell Zusammenhänge und so erkennt. Aber Sprache sind nun einmal seine Schwäche. Außer Deutsch und Französisch spricht und liest er eigentlich nur Altgriechisch, Latein, Sumerisch-Akkadisch und die Hieroglyphe. Bei die hebräische Sprache…“

Nur?“ Inzersmarkt schüttelte den Kopf. „Vier tote und zwei lebendige, und die Frau sagt nur! Wir haben ein Genie unter uns!“

Manche reden viele Zungen, und haben doch nichts zu sagen!“ deklamierte Orville.

Gut, gut, wir werden später in die Kirch‘n geh‘n und ein bisserl Weihrauch zu unserer eigenen Lobpreisung verbrennen lassen.“ Maria Sophia breitete ihre Unterarme zur Seite aus, die Handflächen nach oben, und hob den Blick zur Decke. „Wir beugen uns unserem gottgewollten Genius und beschließen hiermit folgende Proklamation. Henny kommet mit uns, und somit auch Henry. Gelobet und gepriesen sei unser Name in den nächsten drei Minuten!“

Halleluja und Hosianna, des muss jetzt aber dann reichen für die nächst‘n Tag!“ Elisabeth schlug ein flüchtiges Kreuz in der Luft. „Sonst g‘wöhnst dich am End‘ noch dran und verlangst es öfters!“

Ketzerin“, näselte der Oberst pikiert. „Da ist wohl wer vom recht’n Glaub’n abg‘fall‘n.“ Er strich sich den Oberlippenbart an den Mundwinkeln nach oben. „Aber das g‘fallt mir schon sehr!“

Trotzdem, die Josepha und der Horst‘l wird‘n als Diener für uns reichen müssen. Lisi, du wirst dir deine eigene Zof‘n und den Kammerdiener schenken müssen und die zwei heimschicken. Oberst, ihr Pfeifendeck’l wird unser’n Bediensteten ein wenig zur Hand geh’n müssen. Drei Dienstboten werden für unser Grupp‘n reichen müss’n“ Oberst von Inzersmarkt verbeugte sich im Sitzen. „Selbstverständlich, Hoheit, wie ihr wünscht!“

=◇=

Als sie zu ihren Fahrzeugen kamen, erwartete sie dort der ehemalige Pfeifendeckel des Slatin Pascha, Janosch Pospischil. Der Mann hob grüßend die Hand an die Schläfe.

Kaiserlich-kenigliche Hoheit, ich mechte mich ganz schen bedanken bei Hoheit. Se haben gemacht aus einem kleinen Korporal gleich einen Wachtmeister, haben mich beferdert vom Chargen zum Unteroffizier! Und ich derf geh‘n, oder besser fahren, mit ihnen mit den Husaren! Melde gehorsamst, dass ich wird‘ ihnen dienen bis zum Tod, und wenn es mich zerreißen mecht!“

Schon recht, Wachtmeister! Ist er der Kommandant von diesem Husaren?“ Maria Sofia ging um das in verschiedenen Sandtönen bemalte Fahrzeug herum. „Fesch, fesch!“, klopfte sie gegen die Flanke aus Ulmer Leichtstahl. „Was sagst, Henny“, wandte sich Maria Sophia an Henrietta Jones. „Dein Mann, Du, der Henry, die Lisi, der Oberst, Carl Maerz und ich, das sind sieben für den Husar zwei, dazu noch drei Dragoner. Die Josepha und der Horst nehmen mit dem Marco Babic vom Oberst den Husar eins, der fahrt vorne weg mit dem Wachtmeister Schwejk als Kommandanten und sieben Soldaten, der Stabswachtmeister Smetana fährt in Husar drei mit zehn Männern.“

Wie groß ist das das Gerät eigentlich?“ Orville war um das Gefährt herum gegangen.

Ist sich Länge zehnerhalb Meter, vier – finfazwanz‘g breit und in die Hähe geht der Rumpf zwei Meter finfzehn. Dazu der Turm mit der drei Zentimeter Schnellfeierkanon, die was hat ein 50-Schuss Trommelmagazin. Der Turm selber ist eins finfafufz‘g hoch! Mit der Bod‘nfreiheit von nicht ganz ein Meter mit die Rad’ln, die was einen Durchmesser ein Meter neunzig haben, ist sich also hoch ganzes Vehikel vom Boden aus vier Meter fufzig. Auf den vier Achs’n sitzen insgesamt 16 Radel, auf jeder Seiten zwei mal vier. Im Kärper unten von dem Vehikel sind noch vier Maxim-Gewehre, die Bedienung von letztere ist bitteschän Aufgabe für die Infanteristen, von denen normalerweis zehn mitfahr’n! Die Besatzung selber sind nur drei Mann. Der Kommandant, der was ich die Ehre habe zu sein. Der Richtschitze fir die drei Zentimeter, des ist sich der Binder Sepp, das bitte, wenn eier Hoheit und der Herr Professor erlauben, ist der da mit die großen Ohrwascheln, der sich ist in die Schultern mehr breit wie hoch. Und dann noch der Fahrer, mit Erlaubnis, heißt sich Wopraschalek Frantischek, ist sich der kleine schmalpickte mit das Stricherl iber de Papp‘n, des was er selber Bart nennt. Und bitte, melde Herrn Professor gehorsamst, ist sich auch eine Kiehl- und Heizanlage eingebaut. Und eine Toilett’n.“

Eine Kiehl…?“ Ratlos sah sich Orville um.

Kühlanlage, Schatz“, flüsterte Henny in sein Ohr, die Augenbrauen des Amerobriten rutschten in die Höhe.

Ach so. Schön! Und das dort?“

Das, mein lieber Orville, ist unser Windhund!“ Maria Sophia rieb sich die Hände. „Mit dem wird‘ ich auch ein paar mal fahr‘n! Immerhin bin ich Generaloberst, da kann ich mir das leisten. Kommt alle mit, ich zeig’ euch das Prachtstück einmal.“

Das Prachtstück war ein kleinerer Radpanzer, nur etwa 6 Meter lang und knapp über 3 breit. Das ganze Gerät ragte nicht ganz 3 Meter in die Höhe. Mit der Bewaffnung.

Ein kleiner, leichter Hans Dampf in allen Gass’n“, erklärte die technikaffine Prinzessin. „Macht gute 120 Stundenkilometer auf der Straß’n. Der Rumpf ist absolut wasserdicht, der Windhund ist also schwimmfähig. Die äußere Bodenplatt’n kann abg’senkt werden und bildet so eine recht gute Gleitkuf’n für’n Schnee oder Sand. Die Hinterrad’ln können zum Antrieb im Wasser oder Schnee Schaufeln ausfahr’n. Falls das Gelände ganz schwierig wird, können vier Beine zur Unterstützung aus dem Rumpf g’schoben werden, damit kann das Ding auch noch formidabel klettern. Ein kleiner Geniestreich, den die Ingenieure von der Simmeringer Dampfwag’n G’sellschaft da austüftelt haben!“

Maerz blickte nickend zu den am Dach montierten Rohre empor. „Vier Hale-Raketenwerfer auf dem Dach? Das macht schon ordentlich was her!“

Mhm“, bestätigte die Erzherzogin. „Im Heck ist ein Maxim einbaut, und dort oben das Ding mit den Schutzblechen, das ist ein 12,5 Millimeter üsMG. Gurtzuführung, 110 Schuss in der Minut‘n. Gar nicht so schlecht für so einen Zwerg.“

Und die Panzerung?“

35 bis 50 Millimeter Verbundstoff mit Leichtstahl“, mischte sich der Kommandant des Windhundes ein. „Das ist auch ganz nett für ein leichtes Spähfahrzeug. Die Besatzung besteht üblicherweise aus vier Mann. Fahrer, Kommandant, Heck-MG-Schütze und üsMG-Schütze. Manchmal kann auch noch ein spezieller Beobachter an Bord sein. Platz dafür ist genug.“

Fesch, stimmt’s? Eine gute Idee vom Admiral. Gut, das wär’s dann.“ Maria Sophia sah noch einmal in die Runde, dann ging sie zurück zum Husaren Nummer zwei. „Wachtmeister, lassen Sie aufsitzen!“

Jawohl, Hoheit, aufsitzen lassen!“ Pospischil salutierte und wandte sich an die Soldaten und Besatzungen. „Alles auf mein Kommando! Besatzungen an Bord! Gruppenkommandanten übernehmen, aufsitzen lassen!“

=◇=

Und so bewegten sich nun die stark gepanzerten und leicht bewaffneten Fahrzeuge durch die Wüste, die Federung schluckte einstweilen noch alle hier in der sandbedeckten Ebene noch selten auftretenden Stöße mit Bravour ab, in den Bergen würde die Fahrt dann sicher nicht mehr so angenehm verlaufen. Die Insassen hatten die dicken, metallenen Schutzblenden vor den doppelt verglasten Aussichtsfenstern des Innenraumes geöffnet, um die Umgebung betrachten zu können. Auch wenn es hier nicht wirklich viel zu sehen gab. Rechts begann das endlos scheinende Meer, während links ein Gebirge die Aussicht einschränkte. Die Zufuhr der frischen Luft, welche über ein Filtersystem gereinigt und etwas abgekühlt wurde, sorgte für halbwegs erträgliche Verhältnisse im wärmeisolierten Rumpf. Zumindest weit angenehmeren als in den klassischen gepanzerten Fahrzeugen, welche ausschließlich mit Fahrtwind gekühlt werden konnten. Bei ungünstigen Bodenverhältnissen, wenn die Mobile nur langsam voran kamen, gab es da nicht all zu viel Abkühlung. Die Klimatisierung über eine Temperaturpumpe ähnlich einem Kühlschrank hatte sich jedenfalls bewährt, denn die aufgesessenen Dragoner der österreichischen Armee blieben auf diese Art weit länger einsatzbereit, im Sommer wie im Winter, wenn geheizt werden musste. Im Husaren Nummer eins fuhren die Kammerzofe und der Diener der Prinzessin sowie der Pfeifendeckel des Oberst Inzersmarkt mit.

Z’haus hab’n wir manchmal um diese Zeit noch Schnee und frier’n uns den Arsch ab, und da herunt’ in dem Land brauch’n wir am Tag ein klimatisiertes Fahrzeug, weil’s sonst zu heiß wird,“ räsonierte Josepha Müller, das Kammerkätzchen. „Dabei ist’s sogar mit Kühlung noch ganz schön warm, so mit zehn Leut’ auf einen so engen Raum. Also, nicht dass man so aufeinander pickt, dass man sich nicht rühren kann, ist für einen Militärtransporter eh recht gemütlich. Sogar mit polsterte Bänk’. Aber lüft’n kann man halt a net wirklich, weil’s dann wieder zu heiß wird. Also stinkt des ganze Vehikel nach Schweiß, weil wir alle fäul’n wie die Itis, und da nehm’ i mich bittschön gar net aus. Net beleidigt sein, bitte, kein Vorwurf an die Herren, kann ja keiner was dafür.“ Sie hob den Arm, schnupperte kurz unter die Achsel und verzog angeekelt das Gesicht. „Heut‘ früh hab’ i mi no gründlich auweduscht, und jetzt schweiß’l i schon wieder zehn Kilometer gegen den Wind! Wie haltets ihr sowas aus, wenn’s ihr im Einsatz manchmal tagelang net aus der Panier‘ kommts“, wandte sie sich an die Soldaten.

Man lärrnt, dåmit zu läbän, Freilein!“ sagte einer, und ein zweiter strich sich über die Bartstoppeln.

Da kann man halt nix mach’n, Freilein. Miss’n wir leben damit.“

Zum Glick ham wir jetzt leichtere Uniformen aus Bamwoll‘. Die alten aus Schafwoll’, da sind wir erst ausg’ronnen.“

Da ham wir manchmal ausziehen dirfen die Blus‘n und fahr’n im Unterleiberl, Gnädigste.“

Und jetzt nimmer?“ Josepha hob ihre Augenbraue.

Wär‘ sich ganz und gar unschicklich. Ist doch Freilein an Bord!“ antwortete der Fahrzeugkommandant Wachtmeister Schwejk.

Erlauben Sie‘s den Männern ruhig, Wachtmeister. Wegen meiner soll‘n die Männer doch net leid‘n.“ Josepha begann die Knöpfe ihrer Uniformbluse zu öffnen, die sie wie Hose und Schnürstiefel für diese Fahrt erhalten hatte. „Schaun’s, ich werd’ auch im Leiberl fahr’n, und der Horst auch.“

Zu gitig, gnädig’s Freilein. Ihr habt’s gehert des Freilein, Marscherleichterung! Und sagt’s schen danke dem Freilein, ihr Stoffel!“ Ein Chor von ‚danke schöns‘ in allen Dialekten der Vereinigten Donaumonarchien erklang, als sich die Männer der Blusen entledigten, und auch Horst und Marco Babic schälten sich aus dem langärmeligen Kleidungsstück. Die Blicke der Soldaten wurden unweigerlich von der silbern glänzende Metallprothese Horst Komareks angezogen, dem das schon lange nicht mehr peinlich war. Er hatte sich an die Blicke gewöhnt, und die Musterungen dauerten nie lange.

Im Einsatz gegen die Piraten von den Katzelmachern“, erklärte er lapidar, und die Männer nickten. Immerhin konnte es durchaus sein, dass auch einer von ihnen früher oder später ein solches Gerät angepasst bekam.

Janosch Pospischil, der im Husar II den Sitz neben dem Fahrer eingenommen hatte, wandte sich nun um.

Melde gehorsamst, Hoheit, Massaua liegt sich voraus! Wir biegen jetzt nach links ab, also nach Westen. Nach Asmara und dort nach Süden.“

Mach er das, Wachtmeister. Nur immer weiter auf’s Ziel zu. Ein Glück, dass wir grad Frieden hab‘n. Auch zwisch‘n dem osmanisch‘n Reich, in dem seiner Provinz wir rechtlich g‘sehen sind, Großbritannien, in dem seiner Kolonie wir uns faktisch befind‘n und unser‘m Ziel Abessinien. Wir sollt‘n also ohne Probleme über die Grenz‘ kommen!“ Mit derzeit guten 55 Stundenkilometern bewegten sich die Husaren weiter über den Sand. Erst in den Vorbergen musste die Geschwindigkeit ein wenig gedrosselt werden, aber noch kamen die Räder der Fahrzeuge besser mit dem Gelände zurecht, als sie es bei der Planung berechnet hatten. Noch! Aber niemand konnte wissen, wie es weiter sein würde.

=◇=

Somalia

Die ROMA ETERNA war wohl das gigantischste Schiffe, das jemals über die sieben Weltmeere gefahren war und der größte Stolz der königlichen italienischen Marine. Ihre Kiellänge betrug über 380 Meter, ihre größte Deckbreite 48. Die sechs Drehtürme ihrer Hauptartillerie auf je drei stufig ansteigenden Decksaufbauten vor und hinter dem stark gepanzerten Kommandoturm trugen insgesamt 18 Kanonen mit einem Kaliber von 37 Zentimetern, welche ihre Granaten bis zu fünf Kilometer weit zu schleudern vermochten. Dazu kamen noch 30 auf außenbords liegenden Inseln kleine Türme mit 14 Zentimeter-Schnellfeuerkanonen und selbstverständlich eine Menge Maxim-Gewehre. Die ROMA ETERNA war eine schwimmende Festung mit schier unüberwindlich wirkender Panzerung, welche sich hier mit beinahe fünfzig Stundenkilometern durch den Ozean arbeitete.

Natürlich operierte ein solches Schiff nie allein, sondern stets im Verein mit einem ganzen Flottenverband. Fünf große Schlachtschiffe der Napoli-Klasse mit ihren 34 Zentimeter-Geschützen in je vier Zwillingstürmen und eine Unzahl von Kreuzern verschiedener Gewichtsklassen begleiteten die ROMA ETERNA ebenso wie viele Truppentransporter, auf denen 86.000 Männer auf die Landung in Eritrea nahe der Stadt Baylul warteten. Sie wussten, dass bei Mogadischu, der Hauptstadt des Africa Orientale Italiana, des italienischen Gebietes in Somalia, bereits sechs Divisionen aller Waffengattungen aufgebrochen waren, um Äthiopien von Süden entlang des Flusses Shabelle marschierend anzugreifen.

Diese sechs Divisionen waren eine enorme Armee, allein die 600 großen, gepanzerten Landkreuzer besaßen eine beeindruckende Feuerkraft. 120 Jupiter-Landkreuzer der Firma FAMAVU, der Fabbriche di Motori a Vapore Uniti, bildeten auf ihren beiden jeweils einen halben Meter breiten Ketten fahrend gleich hinter den schnellen Tricicli di Vapore, den Dampfdreirädern der Aufklärungseinheiten, die Spitze der Armee. Die Jupiter waren riesige Monster, mit modernster Technik ausgerüstet. Giganten, welche mit ihren etwa 800 Tonnen Gewicht, ihren 35,3 Metern Länge, ihren 15,41 Metern Breite und 11,46 Metern Höhe selbst die legendären britischen Rhino-Kettenfahrzeuge weit übertrafen. Der schwenkbare Bugturm war mit einer 28 Zentimeter Schnellfeuerkanone ausgestattet, welche mit gut eingespielter Geschützbesatzung bis zu 6 Schüsse in der Minute abgeben konnte, die im Dreieck angeordneten Hecktürme trugen je zwei der international sehr verbreiteten Zehn-fünfer, dazu kamen noch acht Maxim-Gewehre. Mit Maschinisten und Kommandanten betrug die Besatzung eines einzelnen Jupiter ganze 30 Mann, vier waren allein für das große Hauptgeschütz nötig und je drei für die Zehn-Fünfer! In einer Reihe hintereinander fahrend mahlten die Ketten über den Staub und die Felsen, diese Giganten waren von den italienischen Militärkonstrukteuren extra für Africa und die Wüste entworfen und in Mogadischu gefertigt worden. In den Alpen, in den Dolomiten, im Apennin, selbst in den dichten Wäldern Nordeuropas wären diese Riesen beinahe völlig unbrauchbar gewesen. Erst hätte ein Trupp Pioniere den Weg erkunden und in feuchteren Gegenden unter Umständen sogar eine Art Straße bauen müssen. Eine sehr gute Straße.

Hier in Somalia hielten sich die Fahrer durchwegs an unfruchtbares, sandiges Terrain. Gleich neben Fluss zu fahren und so halbwegs fruchtbares Ackerland zu verwüsten kam nicht in Frage, dafür waren die italienischen Soldaten nun doch schon zu lange in diesem Land stationiert gewesen. Sie hatten die Heiligkeit und den Respekt vor jeder Art Boden gelernt, der auch nur drei Grashälmchen hervor bringen konnte. Und so wälzte sich der Heerwurm einige Kilometer lang durch Somalia, den Fluss stets in Blickweite, aber den Boden schonend zur Grenze nach Abessinien. Dort fächerte die Armee nach links und rechts auf und bildete eine breite Front, welche noch vor der Grenze stoppte und ein letztes Mal vor dem geplanten Angriff von einigen Luftschiffen mit dem nötigen Vaporid und Wasser versorgt wurde, ehe sie am 27. März des Jahres 1889 die Grenze überschritt. Italien hatte Abessinien ohne Kriegserklärung und von den europäischen Mächten bislang noch unbemerkt überfallen.

Jenseits der Grenze, in Abessinien, schob sich eine felsige Erhöhung von Norden kommend etwa 300 Meter hoch zur Grenze nach Somali vor. Ein von der Hauptmasse getrennter Hügel, vielleicht 100 Meter höher, war diesem Rücken vorgelagert, darunter lag eine kleine, unbedeutende Siedlung, welche die Bewohner Buur Cukur nannten. In hellen Sonnenlicht beinahe unbemerkt strebte vom Gipfel der Anhöhe ein mattgraues Seil, welches aus dünnen Kristall-Leichtstahl-Drähten geflochten war, in den Himmel, und drei Kilometer über dem Fluss Shabelle hing ein Fesselballon der Abessinischen Armee, dessen Besatzung telephonisch mit dem Boden verbunden war. Bereits seit einigen Tagen hatten Staub- und Sandwolken den Aufmarsch des italienischen Heeres an die Spähern Abessiniens in diesem Ballon verraten, und Äthiopien hatte einige Vorbereitungen getroffen. Manche dieser Vorbereitungen waren bereits vor Jahrzehnten in die Wege geleitet worden, als die europäischen Mächte und das osmanische Reich damit begannen, ringsum die africanischen Länder zu unterwerfen. Als nun die Jupiter-Landkreuzer die Grenze tatsächlich überquerten und somit endgültig und unzweifelhaft der Kriegszustand herrschte, schoben sich einige Verteidigungsstellungen mit schweren 42 Zentimeter Langrohrgeschützen aus den Berghängen. Auch in der Wüste bewegte sich der Sand, floss wie Wasser von den Kuppeln der unterirdisch angelegten Grenzforts, deren schwer gepanzerte und armierte Geschütztürme aus dicken, deutschen Kortwitz-Stahlplatten jetzt von mächtigen dampfbetriebenen Kolben an die Oberfläche gehoben wurden. Einige Kilometer weiter im Hinterland öffneten sich die schweren, getarnten Klappen über den Stellungen der 60 Zentimeter Granatwerfer und der anderen weitreichenden Steilfeuergeschütze. Mit den Beobachtern im vorgelagerten Hügel telephonisch verbunden, hatten die erfahrenen Kanoniere ihre Waffen bereits genau ausgerichtet, die Tabelle mit den Gradangaben für Überhöhung und Richtung eines jeden Planquadrates in der Umgebung lag seit Jahren bereit. Mit Einberechnung der Winddrift. Jetzt leuchtete ein Signallicht in den Geschützständen auf, die Hände der Richtschützen zogen den Abzugshebel nach unten, die dicken, federbetriebenen Schlagbolzen schlugen auf die Zündladungen, die Treibladungen explodierten und schleuderten die Geschosse auf den Feind, der es gewagt hatte, die Demarkationslinie zu überschreiten. Abessinien war kein wehrloses Land, sondern hatte sich modernste Verteidigungsanlagen gegen italienisch Somalia geleistet.

Mit einem Male erfüllte markerschütterndes, lautes Pfeifen die Luft über den italienischen Jupiter-Landkreuzern, und etwa 30 schwere und schwerste Mörsergranaten schlugen in und um die Panzern ein. Von den drei Kreuzern, welche einen direkten Treffer abbekommen hatten, blieb trotz der erheblichen Panzerung von teilweise 20 Zentimetern außer einigen Metallstücken nichts mehr übrig, acht weitere fielen fahruntüchtig zurück. Der Rest, obgleich teilweise bereits schwer beschädigt, rückte so schnell wie möglich weiter vor, gefolgt von 480 der rund ein Drittel kleineren Scudi-Korvetten. Die Infanterie war weiter zurück wieder in stabile Deckungen gelaufen, denn wenn die mächtigsten Geschütze spielten, war jede Uniform der denkbar schlechteste Schutz. Jetzt eröffneten auch die Zweiundvierziger der Hügel- und Wüstenforts das direkte Feuer auf die vorrückenden Landkreuzer, und wenn es den geübten Mannschaften auch gelang, in der Minute drei Schüsse aus den gewaltigen Kanonen abzugeben, die schiere Masse der angreifenden Maschinen brachte die Landkreuzer und -Korvetten endlich nahe genug heran, um das Feuer entgegnen zu können. Es begann ein Höllenkonzert, als hunderte Schnellfeuerkanonen mit dem Beschuss der schweren Festungen begannen, die hoch oben montierten überschweren Geschütze waren jetzt durch den toten Winkel unterhalb ihrer Stellungen nutzlos geworden und beschossen nur noch die Nachzügler. Die Steilfeuermörser und Granatwerfer hielten jedoch immer noch grausame Ernte unter den Stahlkolossen der Italiener. Trotzdem wurde das Gefecht immer mehr zum Duell der mittleren und leichten Kanonen mit hoher Feuerrate, welche einander mit Explosiv- und panzerbrechenden Granaten überschütteten. 5 Schüsse in der Minute schafften die 28 Zentimeter-Kanonen der Jupiter, 25 die 10,5er. Es gab nur ein Problem, mit dem allerdings beide Seiten gleichermaßen zu kämpfen hatten. Nach einiger Zeit kam es immer wieder zu erzwungenen Feuerpausen, in welchen die Rohre der Geschütze wieder abkühlen mussten, hier kam auch der beste Stahl irgendwann an seine Grenzen. Nicht, dass sich das Material verformt hätte, aber die Hitze, welche das Metall auf die Lafette, den Verschluss und durch den Rücklauf des Rohres auch auf die Luft im Inneren der Panzertürme übertragen wurde, machte eine Bedienung der Kanonen durch die Artilleristen irgendwann trotz asbestbeschichteter Kleidung unmöglich.

Tenente Luigi Gamaroni kommandierte den Kreuzer Nummer vier der fünften Kompanie der ersten Division. Bisher hatte sein Fahrzeug noch keinen wirklich schlimmen Treffer hinnehmen müssen, ein paar Beulen, aber nichts wirklich dramatisches. Seit einer gefühlten Ewigkeit zermürbten jedoch die ständigen Erschütterungen, das Donnern der Kanonen, das Flackern der explodierenden Granaten, auch jene des eigenen Feuers, die Nerven der Besatzung.

Accidenti di Merda”, fluchte Luigi lauthals. „Quegli idioti Stronzi! Unsere unfähige Guarda Segreta hat nichts davon erfahren, dass hier schwere und schwerste Strutture d Difesa gebaut wurden? Cretini! Stronzi!“ Italienische Agenten vor Ort hatten zwar die Bautätigkeit in der Wüste beobachtet und auch getreulich nach Rom gemeldet, dort hatte man das ganze jedoch als Anlage eines großen Bewässerungssystems gehalten und sich schon darauf gefreut, es selbst einmal benützen zu können. Die Stellungen auf dem Bergrücken hatte man natürlich als militärisch bedeutsame Bauwerke eingestuft, die wirkliche Stärke und Reichweite jedoch trotzdem massiv unterschätzt. Wieder sah er eine Scudi in einer Dampfwolke explodieren, eine Granate hatte wohl direkt den Dampfkessel getroffen, in dem Wasser mit Vaporid den Druck für die Arbeitsleistung erzeugte. Die Leichtstahllegierung der Hülle hatte darauf wie ein vollgepumpter Luftballon auf eine Nadel reagiert.

Trotzdem, langsam wurde das Feuer der mittleren Batterien im Berg schwächer, eine Verteidigungsstellung nach der anderen schwieg. Der Sieg der italienischen Landkreuzer schien bereits zum Greifen nahe, als aus dem Norden ein neuer Feind der Italiener erschien. Abessinien hatte von den Engländern einige moderne Ornithopter gekauft, welche sich jetzt auf die Luftschiffe der italienischen Flotte stürzten. Ausgerüstet mit überarbeiteten und einem von Thomas Hale entwickelten Leitschaufelsystem zur Stabilisierung der Flugbahn ausgestatteten Raketen unter dem Rumpf brachten sie bereits aus größerer Entfernung die Luftschiffe in arge Bedrängnis. Die Köpfe der Raketen detonierten nicht nur bei ihrem Aufschlag, sondern waren mit einer tief eingeschnittenen Metallhülle um den Kopf versehen, um maximale Splitterwirkung zu erzielen. Sie rissen nicht nur große Löcher in die äußere Haut, die Splitter beschädigten die Gastanks darunter schwer genug, um die Kapitäne endlich zum Abdrehen zu bewegen. Sie wollten noch sicheres Terrain in der Nähe Mogadischus erreichen und ihre Schiffe reparieren lassen, ehe sie weit draußen in der Wüste niedergehen mussten. Weit weg von jeder Hilfe zur Bergung der kaputten Gastanks. Hinter den geflügelten Flugmaschinen kamen die fünf Luftschiffe Abessiniens, bis an die Grenze ihrer Tragfähigkeit mit Sprengkörpern beladen, welche sie nun auf die Panzerfahrzeuge und die wartenden Infanteristen abwarfen. Die ständigen Einschläge der Mörser und das Bombardement aus der Luft reichten nun doch sogar der so selbst- und siegessicher angetretenen italienischen Armee, welcher allmählich auch noch die Munition ausging. Die Armee zog sich kämpfend langsam in sichere Stellungen zurück und begann dort mit Reparaturarbeiten und der Lieferung von Nachschub. Auch auf Abessinischer Seite wurde von schweren Transportfahrzeugen neue Munition für die Berg- und Wüstenforts heran gebracht und eiligst die Stellungen der Schnellfeuerkanonen repariert, Ersatzmannschaften zogen wo nötig in die verwaisten Stellungen. Es war wohl nur die erste Schlacht eines noch länger dauernden Krieges gewesen.

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London

Nachdem immer mehr Bahnlinien die Strecken weit in die Stadt London getrieben und ihre Kopfbahnhöfe möglichst nahe an das Stadtzentrum getrieben hatten und die Stadt mit der ersten industriellen Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts förmlich explodierte und leider auch immer schmutziger und grauer wurde, kam es zu einer immer schneller werdenden Segregation der wohlhabenden Bevölkerung. Immer mehr Adelige zogen entweder in die Vorstädte, wo sie alte Gutshäuser mit ausgedehnten Grünanlagen renovierten und ausbauten oder verließen London ganz und unterhielten nur noch kleine Häuser in der Stadt, falls ihre Geschäfte sie für längere Zeit nach London führten. Diese waren dann zumeist in Kensington oder im Westend, beides Viertel der City of Westminster, zu finden. Die einzigen wirklichen Paläste, welche nahe des Zentrums in London noch zu finden waren, befanden sich im königlichen Besitz. So wie der Kensington Palace, der derzeitige Wohnsitz von Charlotte, der Duchess of Moorbay. Sie wohnte hier immer noch in der Nähe ihrer königlichen Mutter, Queen Victoria, und doch nicht im Buckingham Palast, dem Zentrum der royalen Macht.

Um als Diener in den königlichen Dienst übernommen zu werden, war es unumgänglich, dass man der königlichen Familie absolut treu ergeben war. Die Bediensteten mussten zwar jeden kleinsten Fingerzeig sofort bemerken und danach handeln, aber sie mussten gleichzeitig blind sein und durften natürlich niemals zu Außenstehenden über die Vorkommnisse im Palast sprechen. Die Dienstboten des Kensington Palast waren ihrer Herrin gegenüber entsprechend loyal und verachteten den grobschlächtigen, stets ein wenig nach Schweiß und Bier riechenden Ehemann Charlottes, Sir William, den Duke of Moorbay. Sie verstanden einfach nicht, warum eine so feine Frau einen derartigen Mann überhaupt in Erwägung gezogen hatte. Dazu kam noch, dass der Duke, falls er sich einmal längere Zeit in London aufhielt, nicht den weiblichen Dienstboten nachstieg, sondern mehr Interesse an den gut gebauten männlichen zeigte. Natürlich ohne diesem Interesse auch nachhaltig Ausdruck zu verleihen. Es nimmt also nicht Wunder, dass die Dienerschaft des Kensington Palast eher der Duchess als dem Duke zugewandt war und der Duke von niemandem über die regelmäßig stattfindenden Besuche des Sir Aidan Allistair, dem achten Marchess of Saussage bei der im Jahre 1889 erst 29 Jahre alten Duchess informiert wurde. Ob es den Duke überhaupt interessiert hätte, muss allerdings in Frage gestellt werden.

Besagte Charlotte, das letzte Geschenk des bereits todkranken Prinzen Albert an seine geliebte Victoria, war eine hübsche, junge Frau, der man ihre beinahe dreißig Jahre nicht ansah. Wie alle Windsors hatte sie einen etwas vorspringenden Gesichtsschädel, allerdings gingen bei ihr die ein wenig flacheren Gesichtszüge der Sachsen-Coburg eine durchaus aparte Mischung mit den Windsorzügen ein. Die Duchess war für eine Frau ihrer Zeit mit fünf Fuß und neun Zoll recht groß gewachsen und hielt sich mit Gymnastik und dem Reitsport fit, elastisch und schlank. Sowohl Busen als auch Hinterteil waren nicht eben üppig, aber hübsch geformt, man fragte sich im ganzen Empire, warum diese Frau einen Mann wie Sir William heiraten konnte. Die Antwort lag natürlich in der Politik, die Familie der aus Bognor in der Nähe von Chichester an der Südküste von Westsussex gelegenen Moorbays war einer der größten Luftschiffhersteller im Empire, und die Armee forderte einige der für lange Flugstrecken erforderlichen Zigarren. Einige kleine, schnelle Aviso-Schiffe für den sicheren Nachrichtenverkehr mit den transatlantischen Kolonien, denn das 1866 verlegte Kabel durch den Atlantik blieb eine unsichere Sache, nur geeignet für kurze Telegramme. Und natürlich wollte die Royal Army große Truppentransporter und Ornithopterträger. Die kleinen Avisokreuzer und die Truppentransporter waren kein wirkliches Problem, die Trägerluftschiffe benötigten jedoch eine ganze Menge an Neukonstruktionen. Starten – kein Problem. Luke auf, hinaus hopsen, in sicherer Entfernung die Flügel ausbreiten und der Flug war unterwegs. Aber das Landen, ohne die halben Tragzellen zu zerfetzen, hier begannen die Sorgen. William Moorbay begann sofort mit der Projektierung, denn technisches Genie konnten ihm auch seine schärfsten Kritiker nicht absprechen. Für seine ersten Entwürfe einer katamaranähnlichen Konstruktion erhielt William den vererbbaren Titel eines Duke of Moorbay und die Hand Charlottes – eine Verbindung, welche er einfach nicht ausschlagen konnte. Auch wenn eine Frau für ihn etwa ebenso viel erotische Anziehungskraft besaß wie ein alter Reitstiefel. Aber – Homosexualität war Ende des 19. Jahrhunderts in Britannien nicht nur eine Schande und Sünde, sondern auch ein Verbrechen vor dem Gesetz und sie wurde noch immer recht hart bestraft, manchmal sogar mit Zuchthaus. Was natürlich nur dazu führte, dass die Betroffenen darüber schwiegen und sich irgendwie arrangieren mussten.

Auch Charlotte hatte sich arrangiert. Sie wusste, was ihren Mann umtrieb und schwieg dazu, ihretwegen konnte es William mit der gesamten Marine des Empires treiben, bei welcher die Homosexualität seltsamerweise geduldet wurde. Sie verlangte nur regelmäßige Besuche bei einem Arzt und eine gründliche Dusche ihres Mannes, ehe er sich mit ihr auch nur im gleichen Zimmer aufhalten durfte. Beide Bedingungen erfüllte der Duke auf das Genaueste, und die Eheleute kamen nicht so schlecht miteinander aus. Allerdings behielt sich Lady Charlotte selbstverständlich vor, ebenfalls Herrenbesuch in ihrem Boudoir zu empfangen. Seit einigen Monaten war dieser Besuch ziemlich regelmäßig Sir Aidan Allistair, 8th Marchess of Saussage. Dieser Herr räkelte sich gemütlich im Bett der Lady, welche nach einem Blick auf die Uhr das Bett verließ und sich in das neben dem Schlafzimmer liegende Bad begab. Geräusche fallenden Wassers verrieten, dass der Kensington Palast mit einer modernen Warmwasseranlage ausgestattet war. Lady Charlotte hatte bei der Modernisierung des Palastes auf einer Dusche zusätzlich zu einer Wanne bestanden.

Du solltest dich ebenfalls waschen und ankleiden, mein geliebter Aidan“, rief sie aus dem Badezimmer. „Du weißt doch, heute ist Mittwoch. Pünktlich um vier Uhr wird der Duke aus Bognor eintreffen, um den wöchentlichen Versuch zu unternehmen, mich zu schwängern.“

Ach, die Bahn ist doch nie pünktlich“, gab Aidan zurück. „Wir haben noch jede Menge Zeit! Und ich noch einige les Bijoux in der Tasche!“

Charlotte lachte. „Die South-Western-Railway mag wie alle Bahnen unpünktlich sein, aber Sir William niemals. Punkt vier Uhr wird die Türe unten aufgehen, der Duke wird eintreten, sein ärztliches Attest an Ginger übergeben, die es mir bringen wird. Dann wird er seine Räumlichkeiten aufsuchen, sich entkleiden und zwanzig Minuten unter der Dusche stehen. Exakt eine halbe Stunde nach vier wird diese Tür aufgehen, und mein Ehemann dieses Zimmer hier betreten. Pünktlich wie seine Uhr, die er selbst konstruiert hat. Wie bereits seit fünf Jahren, Woche für Woche. Und es wird Woche wie Woche das gleiche Ritual sein. Er wird fragen…“ Charlottes Stimme imitierte den polternden Bass des Dukes recht gelungen. „…‚Sind Madame bereit?‘ Ich werde antworten: ‚Aber selbstverständlich, Sir!‘ Dann er wieder ‚bitte legen Sie ihren Oberkörper über ihren Tisch und machen Sie sich frei!‘ Danach wird er hinter mich treten, den Akt vollenden und den Raum wieder verlassen, sobald er seinen Samen abgegeben hat. Nachher werde ich ihn erst wieder am folgenden Mittwoch zu Gesicht bekommen, wenn nicht eine wichtige Besprechung anfällt. Dann würde er sich aber mit einem Billett vorher ankündigen und mich nach Möglichkeit nicht belästigen. Kein sehr romantischer Umgang, fürchte ich, aber zumindest höflich. Ich gestehe, für meinen Gatten tiefstes Mitleid zu empfinden, denn geht er seiner Passion nach, läuft er Gefahr, auch noch im Kerker zu landen, zumindest aber geschäftlich ruiniert zu sein. Trotz seines Genies, und selbst wenn es im gegenseitigen Einvernehmen und freiwillig geschieht. Da bin ich doch wirklich weit besser dran. Für meine kleinen Bedürfnisse ab und zu habe ich dich, meinen kleinen Ritter auf dem kohlschwarzen Rappen. Wenn dieses Verhältnis einmal aufkommen sollte, zerreißen sich die Zeitungen und die Damen und Herren der Gesellschaft vielleicht einige Wochen lang die Mäuler, dann folgt der nächste Skandal und mein Fehltritt ist wieder vergessen! So wie es damals, als wir uns kennen lernten, bei Sir Leslie und Lady Hellen der Fall war.“

Oh ja, das war im Herbst, als ich euer Ladyschaft bei Lady Heamstead kennen gelernt und zu einem Ausritt eingeladen habe“, erinnerte sich Sir Aidan. „Ich hatte damals eben meinen Hector gekauft und wollte mit diesem englischen Vollbluthengst ein klein wenig prahlen!“

Und, wurde es denn nicht wirklich ein recht befriedigender Ritt”, kicherte Charlotte. „Und danach habe ich doch auch noch deinen hübschen Rappen gebührend bewundert, oder etwa nicht?“ Sie entzog sich seinen Händen. „Nicht jetzt, mein Schatz. Komm morgen wieder, ja?“

Natürlich!“ Aidan schlüpfte in seine Kleidung. „Denkst du, die Königin wird noch einmal einer Sitzung von Lady Abigail hier im Palast beiwohnen?“

Ich fürchte, nein, mein kleiner Schatz.“ Charlotte begann ihre Haare aufzustecken. „Ihre Majestät hat sich ganz klar gegen einen neuen Besuch ausgesprochen.“

Wie klar“, hauchte Aidan auf den Nacken der Duchess, die wohlig erschauerte.

Wenn ich mich recht entsinne, und ich erinnere mich daran recht gut, hat sie gesagt: ‚Lass mich in Zukunft mit dieser Idiotie in Ruhe, oder, das schwöre ich bei Gott und Albert, ich erinnere mich an einige sehr unangenehme Strafen, was das Belästigen eines Monarchen angeht!‘ Das nenne ich schon recht deutlich!“

Ich auch”, knabberte Aidan an ihrem Ohrläppchen. „Aber das stört uns doch nicht, oder? Ich meine, wir werden doch weiterhin…“

Das hoffe ich stark, Aidan. Sehr stark! Du machst mich derzeit glücklich! Und jetzt verschwinde, mein Liebster!“

Es war ein sehr zufriedener Aidan Allistair, welcher Lady Charlotte jetzt verließ, sich nach links wandte, bis er die Kensington Road erreichte, wo er sich wieder zur linken Hand hielt und am Kensington Garden vorbei schritt, welcher dann zum Hydepark wurde, so wie die Kensington High Street zur Kensington Gore und nachher zur Knightsbridge Road, welche schließlich am Ende des Parks Piccadilly genannt wurde. Hier residierte in der Old Park Lane Lady Abigail Chesterton in einem unauffälligen Hause im einfachen gregorianischen Stil aus rotem Backstein mit weißem Ziergiebel über dem Portal. Der Marchess klopfte mit seinem Gehstock einen raschen Rhythmus, und der Butler Samuel öffnete ihm die Tür.

Willkommen Sir. Ihre Ladyschaft ist oben im kleinen Salon.“

Danke Sam!“ Aidan nahm den hohen Hut ab und reichte ihn dem Butler ebenso wie den Gehstock und schritt die Treppe hinauf.

Aidan! Wie schön, dass du gekommen bist!“ Lady Abigail hielt ihm die Hand entgegen, und der Marchess of Saussage küsste diese mit einer gewissen Inbrunst.

Auch mir ist es immer wieder eine Freude, meine teure Freundin!“

Wie geht es denn Lady Charlotte?“ Abigail ließ sich auf einem Sofa nieder und lud Aidan zum Sitzen ein. „Tee, mein Bester?“

Sehr gerne”, nahm Aidan die Einladung an und setzte sich. „Milch und zwei Stück Zucker. Danke, Milly! Lady Charlotte geht es sehr gut, Abigail. Sie ist immer noch der Meinung, dass unser Zusammentreffen zufällig stattfand und sie mich statt ich sie verführt habe.“

Das ist überaus erfreulich, Aidan. Ich hatte noch nie einen Schüler, der so schnell und sicher die Manipulation von Menschen gelernt hat. Selbst meine beste Schülerin müsste vor Neid erblassen, und Frauen sind auf diesem Gebiet meist talentierter und auch besser bewandert.“

Aidan grinste Abigail an. „Das nehme ich jetzt als großes Kompliment, meine liebe Freundin!“ Er lümmelte sich gemütlich in seinen Sessel. „Es hat großen Spaß gemacht, diese verklemmte Frau zu einer Jüngerin des Eros, der beinahe ungezügelten Lust zu erwecken. Unter der ganzen anerzogenen Prüderie schlummerte bei dieser Lady ein heißer Vulkan, der nun beinahe völlig ausgebrochen ist. Ein heißes und glühendes Lavafeld, an welchem sogar das Empire verbrennen könnte. Und die Reise der Lady Charlotte zum absoluten Hedonismus und der völligen Hingabe an das andere Geschlecht hat gerade einmal begonnen!“

Das wird die Mutter des neuen Messias freuen, Aidan. Sogar sehr!“

Messias! Pah“, rief Aidan aus. „Teuerste, dein Messias interessiert mich genau null! Überhaupt nicht. Mir macht es einfach Vergnügen, diese Gesellschaft mit ihrer Doppelmoral und ihrer Scheinheiligkeit, der Unterordnung der Menschlichkeit unter den Gewinn, den schnellen Profit mit der von ihnen selbst geschaffenen Waffe zu vernichten. Eine der höchsten Adeligen des Landes bricht aus, geistig wie körperlich! Das wird ein Vergnügen für mich, wenn ich dabei zusehe, wie dieses stockkonservative verklemmte England einem neuen, einem besseren Britannien Platz machen muss.“

Du bist ja noch eifriger als ich, Aidan!“ Lady Abigail trank einen Schluck von ihrem Tee. „Nun, einstweilen gehen unsere Wege in dieselbe Richtung, wenn das einmal… Ja, Sam?“

Eure Ladyschaft, DS Frederik Brown ist eingetroffen!“

Oh, schon? Na schön, Aidan, bitte nimm deine Teetasse und ziehe dich dort hinter den Vorhang zurück. Es ist nicht nötig, dass der Sergeant dich zu Gesicht bekommt. Du kannst aber gerne zuhören! Bring bitte den DS herauf, Sam!“

Der kleine Salon Lady Abigail Chestertons war gemütlich eingerichtet, und die wenigsten wussten, dass die Vorhänge aus feinster Seide, welche zwar leicht und luftig, aber vollkommen blickdicht waren, einen recht großen Erker verbargen. In diesem fanden ein bequemer Sessel und ein kleines Beistelltischchen Platz, Lady Abigail zog sich gerne hierher zurück, wenn sie lesen wollte. Oder einfach meditieren. Aidan stellte seine Tasse auf dem Tischchen ab und setzte sich in den bequemen Fauteuil. Kurz hatte er noch bemerkt, wie Lady Abigail ihr Kleid zurecht zog, um dem Polizisten einen besseren Ausblick auf ihren Busen zu gewähren. Der Marchess of Saussage wusste, dass Bestechung nicht immer aus Geld bestehen musste, auch wenn eine gewisse Summe beinahe immer im Spiel war. Manches mal allerdings waren solch kleine Gratifikationen wie ein tiefer Ausschnitt weit wichtiger, besonders für jemanden wie ihn. Er hatte Geld genug für weitere drei Generationen, daher bekämpfte er seine lähmende Langeweile mit Laster und Hedonismus. Natürlich wollte er außerdem auch, dass andere seinem lasterhaften und ausschweifenden Weg folgten.

Frederik!“ In der Stimme der Lady schien echte Freude mit zu schwingen, als sie den Beamten von Scotland Yard begrüßte. „Welchem glücklichen Umstand verdanke ich ihren Besuch um diese Zeit?“

Leider einem dienstlichen, Lady Abigail. Leider! Ein DI Ponder hat auf der Straße in der Nähe des Yard sechs Schüsse abgefeuert, und er hat von einer ‚Hexe in der Old Park Lane‘ gesprochen. Und My Lady mögen verzeihen, aber der Commissioner hat befohlen, alle Häuser in der Old Park Lane aufzusuchen und Erkundigungen nach DI Joseph Ponder einzuholen. Haben Sie denn den Namen schon einmal gehört, My Lady?“ Abigail lächelte. Sie hatte diese Frage der Polizei schon länger erwartet und sich die Antwort bereitgelegt, dieser regelmäßige Besucher ihres Hauses konnte sie sicher in den Akten vermerken.

Aber natürlich“, bekannte sie daher freimütig. „Er war am Nachmittag – warten Sie, war es – nein, entschuldigen Sie, ich müsste nachsehen, welcher Tag es war. Es ist schon einige Zeit her, ein Herr hatte seine Teilnahme an einer Seance abgesagt, aber der DI wünschte eine Sitzung zu besuchen. Also lud ihn mein Sekretär gleich für den gleichen Abend ein, wo er mir offen seinen Namen und seinen Dienstgrad nannte. Irgend etwas hat ihn dann aber ganz fürchterlich erregt, er ist völlig aufgelöst zur Tür hinaus gelaufen. Ich habe ihm natürlich sogleich einen meiner Dienstboten nachgesandt, der ihn aber nach dem Piccadilly verloren hatte. Mehr weiß ich leider auch nicht. Was ist denn mit dem Mann, Sergeant? Ich hoffe, er befindet sich wieder wohl?“

Leider nein. Er befindet sich noch in Bedlam, eure Ladyschaft. Niemand wird aus den wirren Äußerungen dieses Mannes wirklich schlau!“

Der Arme“, schlug Abigail mit großen Augen ihre Hände vor den Mund. „Dann hoffe ich doch sehr, er wird wieder gesund?“

Das hoffen wir alle, Lady Abigail!“ Der DS küsste noch einmal Abigails Hand. „Ich darf mich entschuldigen, Lady Abigail. Mit ihrer Erlaubnis werde ich nächste Woche wieder zu den üblichen Zeiten anwesend sein!“

Aber mit dem größten Vergnügen, Frederik! Sie wissen doch, dass Sie mir stets willkommen sind!“

Herzlich lächelnd sah Lady Abigail Chesterton dem DS Brown nach, bis dieser die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann wurde ihre Miene nachdenklich.

Mathibrahm”, fragte Aidan kurz, als er hinter dem Vorhang hervortrat, und Abigail nickte.

Natürlich! Der DI hat geglaubt, den PCI von Mayfair unter meinen Gästen zu sehen, obwohl von dieser Stelle noch nie jemand bei mit war. Die Greifer von Mayfair sind fast alle knochentrocken und allesamt erschreckend ehrlich. Aber eine zarte Anspielung zur rechten Zeit am richtigen Ort wirkt oft Wunder, und so hat der DI eben eine Illusion für bare Münze genommen.“

Und warum hast du ihn nicht einfach auflaufen lassen, wie alle anderen Peeler? Oder bei einer deiner anderen Sitzungen umgedreht?“ Der Marchess klopfte mit seiner Zigarette auf das Etui, ehe er sie entzündete.

Weil der Kerl total überkonservativ und verklemmt war, dazu noch absolut ehrlich und unbestechlich. Eine hässliche Kombination, Aidan, eine sehr hässliche für unsereins. Mit solchen Leuten kann man einfach nicht diskutieren. Man kann sie nur aus dem Weg räumen.“

Das hat doch Napoleon über englische adelige Offiziere gesagt, oder?“

Und er hatte doch recht damit, Aidan“, lachte Abigail heiser. „Es ist ja ein kleines Wunder, dass der DI noch lebt, aber zumindest seine Glaubwürdigkeit ist ziemlich sicher dahin!“

Ägypten

Die AIGLE der Henri Giffardwerke war das modernste Starrluftschiff des Empire Français und die offizielle Staatsyacht der Bonapartes. Ihr Auftriebskörper war mehr als 210 Meter lang und hatte an der breitesten Stelle einen Durchmesser von 20. Die acht Papin-Motore konnten das Luftschiff mit einer Höchstgeschwindigkeit von beinahe 140 Stundenkilometern in einer Höhe von bis zu 3.000 Metern über den Himmel jagen. Doch an diesem Tage war die AIGLE weit davon entfernt, mit Höchstgeschwindigkeit in großer Höhe über den wolkenlosen Himmel Africas zu hetzen. In der Steuerkanzel betrachtete Capitaine Louis Phillipe de Rougeville das Flusstal des Nils unter dem Luftschiff mit seinem Feldstecher.

Höhe halten, dem Flussverlauf weiter folgen!“ befahl Louis Phillipe dem Rudergänger.

Oui, mon Capitaine!“ der Rudergänger bewegte das große Steuerrad mit sparsamen Bewegungen. Neben dem Kommandanten des Luftschiffes in seiner napoleonischen Marineuniform mit scharlachroter Hose und Weste unter einer dunkelblauen Jacke mit zwei Knopfreihen stand ein Mann von etwa 26 Jahren in der Uniform des Colonels der Pariser Gardekavallerie. Mittelblau mit rotem Revers und Ärmelaufschlägen, reich mit Goldschnüren bestickt, an der Hose eine dünne rote Borte zwischen zwei breiten goldenen. Auch er wandte seinen Blick nicht von dem Flusslauf.

Immer noch nichts zu sehen!“ knurrte Franz Ludwig Johann Napoleon Bonaparte. „Warum muss diese Frau auch mit einem Schiff auf dem Nil spazieren fahren?“

Dort, mon Dauphin! Die MALIKAT MISR!“ Der Capitaine aus der französischen Kolonie Quebec in Kanada wies nach vorne, wo wirklich das Flussschiff vor Anker lag. „Sie sind bereits bis Abu Simbel gekommen.“

Endlich, Capitaine. Es wird ja auch Zeit, endlich einmal ein erstes Gespräch mit der zukünftigen Braut zu führen. Die Regentin von Österreich besteht auf einem persönlichen Kennenlernen! Merde! Aber was nimmt man nicht alles für Frankreichs Glorie auf sich! Gehen Sie hinunter, damit ich aussteigen kann.“

Selbstverständlich, kaiserliche Hoheit. Rudergänger, Motore zwanzig Grad abwärts!“

Zwanzig Grad abwärts liegen an!“ Die acht drehbar gelagerten Papin-Dampfmaschinen wurden geschwenkt und zogen den Körper der AIGLE nach unten und auf den Fluss zu, bis der doppelte Boden der Steuerkanzel und der mächtigen Heckflosse ins Wasser tauchten und geflutet werden konnten. Sofort füllten starke Pumpen nicht nur die Ballasttanks, sondern ergänzten auch die Vorräte der Dampfmaschinen. Ein kleines Boot aus Leichtmetall wurde ausgesetzt und zwei Matrosen ruderten den Adjutanten des Prinzen, Major Conte Richard de Milfort, an Land, wo er sich zur MALIKAT MISR begab. Und schon nach kurzer Zeit wieder an Bord der AIGLE zurück kehrte und dem Dauphin rapportierte.

Was soll das heißen, nicht mehr an Bord?“, rief François Louis erstaunt und blickte böse auf den Major.

Die Prinzessin von Österreich hat die MALIKAT MISR in Luxor verlassen und einen Karawanenführer nach Koptos anheuern lassen, Hoheit!“

Dann gehen Sie noch einmal an Land und telegraphieren Sie dorthin, dass wir unterwegs sind. Sobald Sie wieder an Bord sind, werden wir aufbrechen. Kapitän, wenn der Major wieder an Bord ist, nehmen sie Kurs auf Koptos! Ich werde mich ein wenig zurück ziehen und wünsche erst in Koptos wieder gestört zu werden.“

In seiner Suite warf sich der Dauphin des Französischen Kaiserreiches auf einen Diwan.

Merde“, fluchte er laut.

Gibt es ein Problem, mon Coer?“ fragte Atrá Troudeaut mit leiser Stimme, öffnete seine Jacke und massierte seine Schläfen.

Sie ist nicht da! Diese Boche ist in Luxor ausgestiegen und macht einen Wüstenritt nach so einem verdammten Nest namens Koptos! Verdammt, dieses verrückte Weib hat wirklich viel zu viele Hummeln im Arsch!“

Dann musst du ihr diese Flausen eben austreiben. Einem so starken Mann wie dir wird doch da sicher etwas einfallen!“ Sie zog ihm Jacke und Hemd aus, massierte seine Schultern.

Das sagt meine Mutter auch. Sie empfiehlt eine Peitsche!“ „

So?“ Atrá bint Selina griff über die Schultern des Prinzen, strich über seine Brustmuskeln und drückte ihre Formen an seinen Rücken. „Nun, wenn diese Österreicherin es braucht, um handzahm zu sein!“ Ihre Hand wanderte tiefer. „Ihr wisst, mein Prinz, ich gehorche euch auch ohne Rute, bedingungslos.“

Das weiß ich doch Atrá.“ Er zog sie vor sich hin und legte ihr die Hände auf die Schultern, drückte sie nach unten. Ohne Wiederstand kniete sie sich vor ihn und öffnete seine Hose, doch ihre Gedanken waren nicht so ganz bei der Sache, auch wenn François Louis davon nichts bemerkte. Maria Sophia hatte es also bist Luxor geschafft, irgend etwas war in Assiut also ganz gehörig schief gegangen. Und was wollte diese blöde Kuh denn jetzt unbedingt in Koptos? Dort gab es doch nicht das Geringste! Nun ja, eine Karawanserei, einen kleinen Fischerhafen, an dem die Touristendampfer nie hielten, und die Österreicher hatten, nachdem das Kabel nun schon einmal verlegt war, auf die Bitte des Mudir eine kleine Telegraphenstation eingerichtet. Zwei angelernte Beduinenfrauen, welche so ein klein wenig Luxus für ihre Familien und damit auch für das Dorf dazu verdienen konnten. Keine Soldaten, kein offizielles Gebäude, noch nicht einmal eine Fahne.

Die AIGLE war mit voller Kraft wieder nach Norden gestürmt, als der Major berichtet hatte, dass die Prinzessin nie in Koptos angekommen war. Starke Gläser waren auf den Boden gerichtet, um vielleicht irgendwelche Spuren zu finden, auch wenn natürlich bereits einige Tage vergangen waren. In dieser Zeit hatte der ständige Wind bereits die meisten Spuren verweht.

Mon Capitaine, dort, bei dem Wäldchen!“ Ein Matrose zeigte etwas nach Steuerbord. „Da liegen ein Haufen toter Kamele und dort drüben, das sieht aus wie ein relativ frisches Massengrab. Aber es stimmt damit etwas nicht“

Stop“, rief der Kapitän. „Wir landen! Motoren dreißig Grad abwärts, wie müssen uns an den Bäumen verankern und Leitern ausbringen. Und, Mavelin? Was ist das Seltsame?“

Das Grab haben entweder keine Moslems ausgehoben, oder es liegen keine darin! Oder beides. Die Leute liegen auf gar keinen Fall in Richtung Mekka gebettet!“

Gut. Conte de Milfort, würden Sie bitte seine kaiserliche Hoheit verständigen, dass wir landen!“ Die Matrosen Thierry Marvelin und Jaques Simenon kletterten die Strickleiter zum Boden hinab, vertäuten das Luftschiff und untersuchten danach den Boden.

Wahnsinn! Schau dir das einmal an!“ Jaques hielt eine Patronenhülse hoch. „Das sind beinahe anderthalb Zentimeter! Das nenne ich fast schon eine Kanone!“

Hier liegen überall Hülsen herum! Dort drüben irgendwelche ganz kleinen, vier, fünf Millimeter, aber die meisten hier tragen den k.u.k. – Heeresstempel von Mannlicher. Übliche Karabinermunition. Sacre bleu! Das war ein hartes Gefecht! Leider ist bis auf die Hülsen nichts mehr sonst zu erkennen. Komm, Jaques, schauen wir nach, wer in den Gräbern liegt!“

Es waren Sudanesen, mon Capitaine“, rapportierten Thierry schließlich an Bord der AIGLE. „Der Kleidung nach Anhänger des Mahdi.“

Es lagen zumindest keine europäischen Leichname in den Gräbern“, setzte Jaques fort. „Aber dort drüben, am anderen Ufer, hat man Steine für eine behelfsmäßige Anlegestelle zusammen gelegt, aus der Luft ist es gut zu erkennen. Und hier auf unserer Seite hat auch ein ziemlich großes Schiff Spuren hinterlassen. Eine Dhau, unter Umständen, aber es muss schon eine sehr große gewesen sein! Aber noch größere Schiffe – nun ja, vielleicht noch ein Flussdampfer, aber der wäre hier doch aufgefallen. Die englischen Schiffe kennt schon jeder Beduine, und eigene haben die Ägypter ja noch nicht.“

Es ist uns ja auch außer der MALIKAT MISR kein anderer Dampfer begegnet. Vielleicht sind sie hier von ein paar Schmugglern überfallen worden. Allen Versuchen der ägyptischen Armee ihn zu unterbinden zum Trotz gibt es immer noch einen schwungvollen Handel mit Sklaven, und weiße Sklaven, ganz besonders Frauen, bringen im Sudan und noch weiter südlich ziemlich hohe Preise. Sehr hohe Preise, auch wenn sie keine – also, na ja, keine Mädchen mehr sind“, spekulierte Thierry.

Und die Prinzessin hat doch dunkelrote Haare, und solche werden noch teurer als schwarzhaarige gehandelt.“

Danke, Leute. Gute Arbeit“, nahm Capitaine de Rougeville die Meldungen entgegen. „Eure Befehle, kaiserliche Hoheit?“

Wir suchen diese Dhau! Sofort starten”, befahl der Prinz des französischen Kaiserreichs, François Louis. „Wir werden die Prinzessin von Österreich retten, dann muss sie dankbar sein und ihre Reiselust ist danach vielleicht etwas leichter zu zügeln.“

Zu Befehl! Leinen los!“ Majestätisch glitt die AIGLE wieder höher und wandte sich Strom aufwärts.

Ich bewundere Eure Ritterlichkeit, mon Dauphin! Sofort zur Rettung der jungen Erzherzogin aufzubrechen!“ bemerkte der Capitaine.

Franz Ludwig Johann Napoleon Bonaparte zuckte mit den Schultern. „Das ist nicht nur reine Ritterlichkeit, Capitaine. Da steht auch Berechnung und natürlich Politik dahinter. Wenn ich Maria Sophia von Österreich heirate, dann könnten Frankreich und die Vielvölkermonarchie unter Umständen ein einziger Staat werden, mit meiner Abstammung und als Ehemann der Erstgeborenen wäre es möglich, den Thron zu beanspruchen. Wenn ich diese femme folle irgendwie zähmen kann, sie ist ja wirklich ziemlich eigenwillig.“

Stimmt!“ Capitaine de Rougeville massierte kurz mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel, ehe er das Glas wieder vor die Augen hob. „Die Erzherzogin war schon immer eigenständig. Sie hat sogar studiert. Ethnologie und Philologie, wie ich hörte.“

Trotzdem!“ der französische Dauphin kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. „Jetzt, wo Ibrahim Jamal behauptet, der rechtmäßige Mahdi und Herrscher zu sein, so weit nach Süden auf dem Nil zu reisen, ist die reinste Torheit. Machen Sie noch einmal in Abu Simbel halt, Capitaine, und informieren Sie Paris und Wien, dass die Prinzessin von Österreich verschwunden ist und wir sie suchen!“

Atrá war mit dieser Wendung der Dinge gar nicht einmal so unzufrieden. Auch wenn es nicht ihre eigenen Leute waren, welche die Prinzessin gefangen hielten, für ihre Pläne machte das nur wenig Unterschied. Und weder eine Dhau noch ein Dampfer konnten sich auf dem Nil vor Augen aus der Luft verstecken. Die Hauptsache war doch, die europäischen Mächte aufeinander treffen zu lassen und einen weltweiten Brand zu verursachen, damit der Orden Jerusalem in Besitz bringen konnte. Um dann aus den Trümmern der alten Ordnung das neue Königreich des wahren Blutes zu erschaffen!

GOTT straft die Ungläubigen und belohnt all jene, die reinen Herzens sind!“ flüsterte sie im Gebet. „Gib DEINEM Blut, gezeugt aus dem Samen Davids, geboren aus dem Schoße Benjamins wieder jenen Platz auf Erden, der ihm zusteht, damit DEIN Königreich der Engel auf Erden endlich errichtet werden kann!“

=◇=

Am roten Meer

Ein weiterer kakanischer Flottenstützpunkt neben Port Helene in Eritrea, der Josephshafen genannt wurde, lag bei Assab am Roten Meer vor zwei halbmondförmigen Hügeln vulkanischen Ursprungs direkt an der Küste. Auf diesen Hügeln waren die schweren Festungsbatterien aufgebaut, in dicken, mit Ulmer Leichtstahl verstärkten Bunkern aus bestem Beton drohten insgesamt 10 schwere 48 Zentimeter-Geschütze auf das Meer hinaus, während einige leichtere Kanonen das Hinterland abdecken sollten. Zwei alte, rein maritime Schlachtschiffe mit je vier Panzertürmen, jeder mit zwei Kanonen Kaliber 35 Zentimeter, unterstützen diese landgestützten Verteidigungsanlagen noch. Hier, in Josephshafen, war damals der erste Hafen der ÖDLAG an der Ostküste Africas errichtet worden. Ein damals sehr wichtiger Umschlagplatz für leichte, aber eilige Waren, welche in Josephshafen von den Schiffen aus Asien auf die österreichischen Luftschiffe umgeladen wurden. Doch seit Arabien und Indien in das immer weiter wachsende Netz der Fernluftschiffe eingebunden werden und der Verkehr bald bis Bombay gehen sollte, hatte Port Erzherzogin Helene in der Bucht von Zula immer mehr an Bedeutung für Österreich gewonnen. Im Gegenzug hatte aber Josephshafen ebenso sehr an derselben verloren. 1889 wirkte Josephshafen also eher wie ein verträumter, ruhiger Flecken, als ein wirklich eminent wichtiger Marinestützpunkt. Auch wenn selbstverständlich immer wieder österreichische Marineschiffe vorüber kamen. Weit wichtiger und geschäftiger war nach außen hin der internationale Teil des damals auf Zuwachs angelegten und gebauten Hafens, die erste nennenswerte Anlegestelle im Roten Meer für Schiffe, welche aus Asien oder Südafrica kamen. Anlegemasten für Luftschiffe waren ebenfalls in reichlicher Anzahl vorhanden, die Preise für den Liegeplatz sowohl schwimmender als auch mit Gaskörpern schwebender Schiffe nicht übertrieben teuer, Kakanien verzichtete hier auf Zölle und Zollkontrollen. So hatte sich am Hafen von Josephshafen in der Bucht von Alela einer der größten Freihandelszonen des Kontinents entwickelt. Niemand sah in den großen, leicht vergammelt wirkenden Hallen im Norden der Stadt Josephshafen etwas anderes als die alten, aufgegebenen Trockendocks der Handelsflotte. Dabei beinhalteten sie jetzt ein großes Geheimnis der kaiserlich-königlichen Marine, hier kamen und gingen unbemerkt die neuesten Erfindungen Nicola Teslas und wurden genau auf ihre Fähigkeiten unter realistischen Bedingungen erprobt. Während alle Welt danach trachtete, den Himmel zu erobern, hatte Nicola Tesla seine dampf-elektrische Maschine in einen rundum abgedichteten Körper ein-, sowie auspumpbare Tauchtanks links und rechts angebaut und so die Tauchfregatten entwickelt, welche unsichtbar die Meere befahren konnten. Unter der Wasseroberfläche. Nun ja, ein wenig musste die Formen der Schiffe natürlich schon überarbeiten werden, um hohe Geschwindigkeiten erreichen zu können, besonders, was die Decksaufbauten wie das Kanonen-, das Brücken- und das Peildeck anging. Der 109,5 Meter lange Rumpf selbst war auch weit schlanker als der eines Überwassenschiffes geworden, er maß nur noch 12,1 Meter.

Das militärische Kommando von Josephshafen lag bei Konteradmiral Janik Červenka, Graf von Molgrad, einem der jüngsten Admirale der kaiserlich-königlichen Seestreitkräfte. Mit knapp über dreißig hatte man ihm, seiner Diskretion vertrauend, diesen Stützpunkt anvertraut.

Der Spieß, Oberstabsbootsmann Harkony, hatte die Tür zum Büro des Admirals geöffnet. „Härr Ådmirål. Ist gäkommen där Härr Frägattenkåpitän Baron von Mamaku!“

Ich lass‘ bitten!“ Der Böhme Červenka hatte seinen originalen Dialekt in der Marineakademie Fiume schon als Kadett verloren und sich das etwas näselnde ‚Schönbrunner Deutsch‘ angewöhnt.

Der Kommandant der Tauchfregatte salutierte. „Herr Admiral, Fregattenkapitän Mamaku von der NEMO meldet sich mit einer Meldung zur Stelle!“ Der Admiral entgegnete den Gruß.

Ruht! Nehmen’s Platz, Kapitän! Kaffee, Tee?“ Červenka war an Maoris in der Marine gewöhnt, denn sie waren schon immer den anderen Österreichern gleichgestellt. Die große Kaiserin Maria Theresia hatte befohlen, dass ‚alle Untertanen unserer Kronen, woher auch immer sie kommen, was auch immer sie glauben und was auch immer sie tun mögen, gleich behandelt werden mögen.‘ Als die Herrscherin dieses Dekret diktierte und ihren Beamten übermittelte, dachte sie nicht an Maoris, dunkelhäutige Africaner oder die Ureinwohner Australiens. Aber die Bürokraten Österreichs waren daran gewöhnt, die Befehle ihrer Majestät wörtlich zu nehmen und führten diesen auch buchstabengetreu in den österreichischen Kolonien aus. Die Maoris wurden von der Schulpflicht überrascht, erkannten aber bald den Vorteil der Bildung und klagten ihre gleichen Rechte auch ein, wenn ein Kolonist die Gesetze der Kaiserin übertraten. Es war nicht so geplant gewesen, hatte sich im Endeffekt für Österreich-Ungarn aber durchaus gelohnt.

Danke, Herr Admiral, nichts“, setzte sich der Maori auf den angebotenen Stuhl.

Schön, dann berichten‘s einmal!“

Die ROMA ETERNA dampft in diesen Gewässern herum, Herr Admiral, mit fünf Napolis und zwanzig Kreuzern als Geleit. Dazu Truppentransporter für geschätzte 85.000 Mann, wenn die Verteilung von Landkreuzern und Infanterie der üblichen entspricht.“

Die ROMA!“, verzog Admiral Červenka sorgenvoll das Gesicht. „Der Welsche meint’s wohl wirklich ernst! Welchen Kurs?“

Wenn ich raten müsste – etwas nördlich von hier, Herr Admiral. Etwa bei Baylul, in drei, vier Tagen, würde sich anbieten. Eine gute Stelle, Trinkwasserversorgung ist durch ein kleines Flüsschen in elf von zwölf Monaten bis ziemlich weit in das Hinterland zumindest halbwegs gegeben. Wenn sie nicht bis Zula oder gar bis Massaua weiterdampfen wollen, wäre Baylul eine gute Entscheidung.“

Ich stimm‘ zu, bis Port Helene rauf gibt‘s keine bessere Stell‘. Harkony“, rief der Admiral ins Vorzimmer.

Herr Admiral?“

Telegraphier‘ er sofort nach Wien an den Stabschef und die Regentin, mit der höchsten Priorität. Dann an Port Helene, an den Negus Negest in Adis‘Abeba und den Khedive in Kairo, dass die ROMA ETERNA mit einer Invasionsstreitmacht in unser‘ Richtung unterwegs ist! Sie wird wahrscheinlich so um den 29. März hier eintreffen!“

Jawohl, Herr Admiral! Dürfte ich Herrn Admiral auf die Depesche von heute Mittag aufmerksam machen, welche ich ihm gegeben habe, kurz bevor der Herr Kapitän eingetroffen ist? Italien ist in Abessinien eingefallen. In der ersten Schlacht konnten die Abessinier die Oberhand gewinnen, aber es fehlen langfristig Reserven. Der Negus Negest Yohannes IV ruft um Hilfe!“

Na fesch!“, wütend schlug der Admiral mit der flachen Hand auf seinen Tisch. „Da hab‘m wir den Pallawatsch! Lass‘ er Gefechtsbereitschaft vorbereiten, Harkony. Ab morgen gibt‘s keine Urlausscheine mehr. Aber dass mir keiner ohne Befehl schießt. Solang‘ sie uns nicht direkt angreifen, geht uns die Sach‘ nichts an! Darf sie uns nichts angeh‘n. Die Katzelmacher werden einfach durch Eritrea durchmarschieren, sag ich ihnen, Kapitän. Niemand wird‘s aufhalten! Weil das Land gehört dem Khediven von Ägypten. Der hat aber keine eigene Armee mehr, die untersteht den Engländern. Denen wiederum war bis jetzt das Land völlig egal, solang‘ sie Aden und Suez kontrollieren, und wird ihnen jetzt auch komplett wurscht sein.“

Und wenn die Engländer jetzt doch etwas unternehmen?“ „Dann sollt‘ ma hoff‘n, dass sie nur die ägyptische Armee loslassen und net ganz Europa und die Welt zu brennen anfangt, Kapitän. Ganz schwer hoffen!“

=◇=

Amirale Lorenzo di Falconi schritt unruhig auf dem Brückendeck der ROMA ETERNA auf und ab.

Peilung”, fragte Capitano Andrea Bruni in das Sprachfohr, und von oben, dem Peildeck, kam prompt die Antwort.

Wir werden die Insel Fatma innerhalb der nächsten Stunde in 2,9 Seemeilen Abstand passieren.“

Ruder, ein Strich steuerbord, dann den Kurs wieder halten“, befahl Bruni. Der Admiral nahm seine Mütze ab und wischte das Schweißband trocken. „Sie wollen außerhalb der Dreimeilenzone von Fatma bleiben?“

Ja, natürlich, das will ich”, bestätigte der Kapitän. „Die Insel Fatma ist de Jure Gebiet der Österreicher, also beginnt dort bereits die Zone. Mit allen Mächten sind Verträge über den Hafen soweit ausgehandelt, dass alle zivile Schiffe und einzelne Kriegsschiffe aller Nationen diese Gewässer von Josephshafen befahren dürfen. Wenn wir also die Flotte zurück ließen, könnte ich den Hafen anlaufen, Wasser und Proviant aufnehmen, Postsäcke abgeben und Depeschen anfordern. Sogar die Telegraphenstation stünde zu unserer Verfügung. Aber ich dürfte nur mit einem einzigen Kriegsschiff einlaufen, der Rest muss warten, bis beispielsweise die ROMA sich wieder aus der Bannzone entfernt hat. Solange sich auch nur eine Kampfbarkasse im Hafen aufhält, darf den Verträgen nach eigentlich nicht einmal ein geruderter Marinekutter einfahren. Wenn zwei Kriegsschiffe in den Schutzraum eindringen, ist der Stützpunkt berechtigt, auf alle unsere Schiffe zu feuern. Italien trüge dann die Schuld am Ausbruch des Krieges, und damit hätte unser Land alle großen Mächte gegen sich. Ich vermute, sie werden trotzdem nicht ruhig unserer Landung zusehen, aber dann haben wenigstens sie den ersten Schuss ungerechtfertigt abgegeben! Und die europäischen Mächte wären gegen sie und nicht gegen uns.“

Ich billige Ihre taktische Entscheidung und Ihre strategische Begründung, Capitano. Signalgast, übermitteln sie unverschlüsselt über Flagg- und Blinksignale an alle Schiffe: Dreimeilenzone von Fatma unter allen Umständen achten! Nachricht an alle Schiffe weitergeben“

Hoch über der Insel Fatma schwebte ein bewaffnetes Luftschiff der österreichischen Marine, die LW-15/672 FALKENAUGE, und beobachtete die näher kommende italienische Flotte.

Gott der Gerechte, se håben geändert den Kurs“, rief der erste Offizier Fregattenleutnant Benjamin Blauwald. „Herr Kaleu, Meldung! Sowohl die ROMA als auch die restliche Flotte werden Fatma außerhalb der Dreimeilenzone passieren. Jetzt blinkt die ROMA den Befehl, unser Gebiet unter allen Umständen zu achten!“

Sie schieben uns den schwarzen Peter zu“, knurrte Linienschiffleutnant Andras Håkoy, der höflicherweise als Kapitänleutnant angesprochen wurde. „Aber gut, Levy, geben Sie es an Josephshafen weiter.“

Zu Befehl, Herr Kaleu!“ Der Matrose griff zum Telephon und drehte an der Kurbel. Über ein Kabel aus kristallisiertem Leichtstahl mit dem Boden verbunden gab er die Meldung an den Kommandostand des Admirals weiter.

Sie überlassen uns die Entscheidung“, knurrte Admiral Červenka. „Harkony, jede Batterie noch einmal vergattern, dass mir ja keiner einen Schuss abgibt! Des könnt’ den depperten VERDIS so pass‘n. Uns zuerst provozier‘n und dann auch noch die Schuld in die Schuh’ schieb’n. Nicht mit mir, ihr Katzelmacher, ihr falschen welschen Hund, nicht mit mir. Noch einmal, kein Schuss fallt ohne mein’ ausdrücklichen Befehl. Wenn sich jemand net d’ran hält, kann er sich gleich ein gemütliches Platzerl an einer Wand aussuchen. Mach er das jedem da draußen an den Geschützen ganz eindringlich klar!“

Sälbstvärständlich, Härr Ådmirål“ salutierte der Spieß und eilte aus dem Zimmer. „Åls ob einär schissän kännt ohnä Bäfähl“, räsonierte er leise, führte den Befehl aber natürlich sofort aus.

Leutnant Thomas Hofer beobachtete die italienische Flotte durch sein starkes Glas.

Ein Gigant”, bestaunte er die ROMA ETERNA. „Ein wirklicher Koloss! Aber langsam und schwerfällig. Bis der einmal um die Kurv‘n eiert, geht im Böhmen a ganzes Viertel unter! Na ja, wenn’s den Welschen so g’fallt!“ Im Hintergrund läutete das Telephon, der Geschützkommandant des ersten Turmes der Batterie, Geschützmaat Novak, nahm den Hörer vom beweglichen Haken des Wandapparates.

Zu Befehl, Herr Oberstabsbootsmann! Selbstverständlich, Order des Admiral! Ich werde es dem Herrn Leutnant sofort ausrichten!“ Dann ging er zum Beobachtungsposten des Turmkommandanten. „Herr Leutnant! Meldung“, salutierte Novak.

Lass’ er mich raten. Kein Feuer ohne ausdrücklichen Befehl!“

Jawohl, Herr Leutnant!“

Sehr gut. Weitermachen, Geschützmaat!“ Langsam und gemächlich zog die italienische Flotte in gebührendem Abstand von etwa fünfeinhalb Kilometern an der Insel Fatma vorbei und berührte die Hoheitsgewässer des Österreichischen Gebietes nicht ein einziges Mal, jedes der Schiffe war bedacht, in internationalen Gewässern zu bleiben.

Da fahren sie hin, die Armleuchter! Die armen Abessinier“, knirschte Kapitänsleutnant Håkoy, der sein Glas nicht von den Augen nahm, mit den Zähnen. „Verdammt, es juckt mich im Abzugshebel, der Roma einen Gruß hinterherzusenden. Aber ich mach‘s nicht, nein, ich mach’s nicht, ich beherrsche mich.“

=◇=

“Sie haben nicht gefeuert, Capitano“, jubelte Admiral di Folconi. „Die Österreicher sind zahnlos und feige geworden, wir werden Äthiopien ganz leicht unserer Kolonie Africa orientale Italia als Bezirk anschließen. Der Stern Italiens und Roms steigt endlich wieder empor, bald werden wir Genua und Venedig auch noch in unseren Besitz bekommen! Und Eritrea!“

Und dann werden die italienischen Soldaten aufbrechen, uns den Italien zustehenden Platz in Europa und der restlichen Welt wieder zu erobern“, stimmte der Kapitän zu.

=◇=

Nur etwa 55 Kilometer von Josephshafen entfernt, nordwestlich der Küste weiter folgend, bekam die Ankunft der italienischen Flotte der britische Offizier Captain John McIvor vom Royal Engineer Corps zu sehen. Der Schotte sollte mit einigen Männern das Vulkanland an der eritreisch-somalischen Küste erforschen und ein genaues Kartewerk desselben erstellen. Die Queen wünschte genaue Karten ihres Empire, und das Engineer Corps ging hinaus, die Welt zu vermessen und so genau wie nur irgendwie möglich zu kartographieren. Und das Engineer Corps war schon sehr gut auf diesem Gebiet. Nun war zwar Eritrea eigentlich nicht Teil des Empire, aber so kleine, rechtliche Details waren für die Briten noch nie wichtig gewesen. Sie hissten irgendwo einfach den Union Jack und waren dort die Herren. Falls irgendwelche früher dort eingetroffenen Leute dagegen Einspruch erheben sollten, konnte immer noch die Armee nachgeholt werden. Während McIvors Männer etwa acht Kilometer von der Küste entfernt in der Nähe von Baylul mit dem Aufbau von Theodoliten, Sextanten und sonstigen Geräten beschäftigt waren, ließ MacIvor den Blick über das tiefer gelegene Land bis zur Küste schweifen.

What the hell is that“, rief er fassungslos, als er die Schiffe mir der grün-weiß-roten Kriegsflagge des Königreichs Italien vor der Küste stoppen und beidrehen sah. Sergeant Dunker folgte dem Blick des Offiziers.

Oh, Shit! Sir, das ist eine richtige Invasion! Da kommen sicher einige tausend Mann an Land!“

Alles aufsitzen“, schrie der Captain seinen Männern zu. „Rasch, rasch, wir setzen uns nach Josephshafen oder Abessinien ab und sehen zu, dass wir Colonel Kitchener so bald wie möglich über den Angriff benachrichtigen können!“ Die fünf Männer ließen ihre Geräte liegen und stehen, hasteten zu ihrem dreiachsigen Expeditionsfahrzeug und sprangen hinein, der Captain schwang sich neben dem Fahrer in die vordere Kabine. Die Räder begannen zu mahlen, und der Fahrer steuerte den Wagen nach Südwesten, den Hang noch weiter in Richtung des Hochlands von Abessinien die Hänge empor.

=◇=

Die italienische Flotte war vor der Küste Eritreas ein wenig nördlich der Hafenstadt Baylul vor Anker gegangen, ihre mächtigen Geschütze drohten teilweise zum Land hinüber, um den Brückenkopf zu sichern, teilweise waren sie auf die See gerichtet und verbaten sich jede Einmischung durch andere Schiffe in die Pläne des Königreichs Italien. Die Legionen Roms würden an Land gehen, und basta, Ende der Diskussion. Dampfbarkassen brachten zuerst mit einigen Fahrten die schweren Landkreuzer von Bord, welche am Strand mit ihren Kanonen sofort den Brückenkopf zusätzlich sicherten, dann sollten die leichte motorisierte Artillerie und die Infanterie an Land gebracht und zum Abmarsch vorbereitet werden! Es war noch unsicher, ob die schweren Landkreuzer vom Typ Jupiter den Aufstieg auf das Hochland von Äthiopien schaffen konnten, also hatte man sich auch für konventionelle Artillerie entschieden, welche im Notfall in Traglasten zerlegt auf das Hochland transportiert werden konnte. Es sollte dem Plan gemäß etwa drei ganze Tage dauern, die 86.000 Männer mit ihrem Gerät an Land zu bringen. Zumindest wenn alles glatt ging, womit aber natürlich niemand rechnete. Bei Operationen dieser Größenordnung ging immer etwas schief, daher war von vornherein die doppelte Zeit einkalkuliert worden. Ging es schneller, dann umso besser.

Hoch über der Flotte, von niemandem beachtet, zog ein großer Greifvogel gemächlich seine Kreise. Einem aufmerksamen Ornithologen wäre vielleicht, hätte er den Vogel aus der Nähe gesehen, etwas seltsames aufgefallen. Denn das Tier war kein in Africa vorkommender Vogel, sondern ein großer Adler, wie er üblicherweise in den wilden Bergen Rumäniens vorkam. Auch blieb er beständig über der Flotte, ohne auch nur einmal hinabzustoßen und Beute zu machen. Das kam einfach daher, weil Linienkapitän Eugen Popescu, der Herzog von Bistritz, rohen Fisch aus tiefstem Herzen verabscheute. Rohes Fleisch im Übrigen genauso, außer es war fein faschiertes Filet vom Rind, mit Gewürzen, einem Ei und geröstetem Weißbrot angerichtet. Viele Bücher waren in seiner transsilvanischen Heimat über Vampire und Werwölfe geschrieben worden, doch kein Wort über die weit seltenere Gattung der Weradler. Eugen hatte schon in jungen Jahren bemerkt, dass er anders als andere Kinder war, denn ab und zu quälten ihn seltsame Träume vom Fliegen. Eines Nachts wurde ihm bewusst, dass es sich nicht um Einbildungen oder Hirngespinste handelte. Er verwandelte sich bei Vollmond wirklich in einen der mächtigen Adler und konnte als solcher durch die Schluchten und über die Gipfel von Siebenbürgen fliegen. Er wurde darauf hin eine Zeitlang zum Einsiedler und übte seine Fähigkeiten, bis ihm die Verwandlung in einen Adler jederzeit auch ohne äußere Einflüsse gelang. Dann überlegte er lange, was er mit seinem Talent Nutzbringendes anfangen könnte. So meldete er sich schließlich zur österreichischen Armee und bewies einer Kommission seine Fähigkeiten. Einer der Mitglieder dieser Kommission, der schon lange verstorbene Admiral Heinrich von Pierroff, engagierte Eugen vom Fleck weg für das geheime Evidenzbureau des Marineministeriums. Nach seiner Ausbildung zum Marineoffizier wurde der Weradler 1827 sofort zum Linienkapitän befördert und bewies seine Nützlichkeit immer wieder. Er war im Laufe der Zeit ein hervorragender Beobachter geworden, ob als Adler oder als Mensch. Mittlerweile für seine Dienste zum Herzog ernannt und mit einem hübschen Salär ausgestattet, bat man ihn in Krisenzeiten immer wieder um Hilfe. Der Herzog gewährte diese Unterstützung nur zu gerne. Nicht nur der großzügigen Bezahlung wegen, es war auch nicht wenig Abenteuerlust dabei. Zur Zeit war er zwar zur Sicherung der Tauchfregatten in Josephshafen abkommandiert, aber wegen seines Talents zur Beobachtung der italienischen Landung abgestellt worden. Jetzt machten die scharfen Augen des Linienkapitäns eine Bewegung im Hinterland aus, etwas strebte dem Rand des Hochlandes von Abessinien zu. Neugierig geworden flog er eine große Schleife und nahm die Bewegung in näheren Augenschein.

Einige Männer in langen Kaftanen, mit vollen, langen Bärten und den jüdischen Schläfenlocken transportierten auf einem wüsten- und geländetauglichen Lastfahrzeug mit Dampfantrieb ein ringförmiges Gebilde mit einem Durchmesser von beinahe drei Metern und einer Länge von über anderthalb. Eine Seite war mit irgendetwas, vermutlich Leder bespannt, das ganze Gebilde erinnerte an eine gigantische Schlagtrommel. Und wirklich, nachdem die Männer den Abbruch des Hochlandes etwa fünfzig Kilometer von der Küste entfernt erreicht hatten und die offene Seite des Ringes nach dem Strand hin ausgerichtet war, nahmen zwei besonders muskulöse Männer lange, starke Stäbe mit gepolsterten Enden zur Hand. Die anderen sechs, mit dickem, goldenem Brustschmuck behangenen und mit seltsamen Kopfbedeckungen ausgestattet, stellten sich im Kreis auf. Diese Männer breiteten dann ihre Arme aus und begannen mit tiefen, sonoren Stimmen einen liturgisch wirkenden Gesang. BAMM! Einer der Männer hatte mit dem Schlägel auf die Bespannung der Trommel geschlagen, am offenen Ende entstand eine Welle im Sand, welche sich immer größer werdend auf den Strand zu bewegte. BAMM! Der zweite Schlag, eine zweite, größere Welle folgte der ersten, noch ehe diese das Tiefland erreicht hatte. Ein dritter, vierter, ein fünfter Schlag – jetzt erreichte die erste steile Welle, etwa 30 Zentimeter hoch, den Strand, wirbelte die Fahrzeuge etwas durcheinander, die zweite, mit 50 Zentimeter folgte wenig später, dann die dritte mit 70 Zentimetern. Viele von den Landkreuzern und -Korvetten wurden jetzt umgestürzt, landeten auf der Seite oder gar dem Rücken. Sich im Wasser fortsetzend und immer noch höher türmend erreichten die Wellen zuerst die Barkassen, welche die ersten beiden Wellen noch abreiten konnten. Doch dann türmte sich das Wasser Welle um Welle immer höher und steiler. Das schafften die Landungsschiffe nicht mehr, zu stark wurden die Gewalten, zu steil und hoch die Wellenkämme. Und immer noch wuchsen die Wellen, immer noch schlugen die Männer auf die Trommel ein. Jetzt erreichten die Wellen auch die großen Schiffe, welche bereits ihre Anker geopfert hatten, indem sie die Ankerketten komplett abließen und nun versuchten, dem gesichteten Unheil zu entrinnen. Umsonst, selbst die dem Strand am fernsten liegende, mächtige ROMA ETERNA schaffte es nicht mehr, zu entkommen. Die elfte Welle hatte eine beinahe senkrechte Wand, der scharfe Bug der schwimmenden Festung rammte ein anderes Schiff, welches plötzlich in den Kurs des Giganten driftete. Die ROMA bekam dadurch einen übermächtigen Impuls, überschlug sich und prallte mit dem Deck voraus in das Wasser. Die Wogen begruben den mächtigen Schiffsrumpf und drückten ihn hinab auf den Grund, das gerammte Schiff kenterte und riss ebenso all seine Passagiere und Besatzungsmitglieder mit in die Tiefe. Das Schlachtschiff der Napoli-Klasse SIZILIA drehte plötzlich quer zu der Wasserwand und versank, ihr Schwesternschiff TARENT wurde gegen die NAPOLI geschleudert, ineinander verkeilt hatten beide Schiffe keinerlei Chancen mehr. Hinter der Flotte verebbten die Wellen noch schneller, als sie entstanden waren, keine der insgesamt zwölf Wellen erreichte auch nur die Mitte des roten Meeres. Ein einziges Schiff, der für den Truppentransport requirierte Passagierdampfer FRANCESO K., überstand das Inferno unbeschädigt, die kleine Hafenstadt Baylul war zwischen der Trommel und seinem Liegeplatz gewesen. Und die Wellen waren im Sand verebbt, ehe sie die Stadt erreichten, und hatten sich nur daneben Turmhoch und höher aufgebaut, ehe die Wellen verebbten und der Sand wieder beinahe so eben wie zuvor wurde. Ein stark erschütterter Kapitän Matteo Pascarini setzte, sich fortwährend bekreuzigend, Kurs auf den Suezkanal. Nur fort von hier, nur schnellstmöglich nach Hause!

Marscialo Davide Vocano trat verzweifelt auf die Einstiegsluke des auf dem Rücken liegenden Jupiter ein.

Apri, Dannazione“, brüllte er frustriert, dann klappte das Schott auf seinem Scharnier unvermittelt doch noch zur Seite, helles Sonnenlicht fiel in den zerstörten Innenraum.

Wer – lebt hier jemand noch?“, fragte eine junge Stimme, unsicher, zitternd. Der erfahrene Unteroffizier arbeitete sich aus dem Fahrzeug, während er antwortete.

Marescialo Davide Vocano. Wer sind Sie?“

Caporale Phillipe Torteteni, Signore Marescialo!“ Die Stimme war fester geworden, klang nach einer Antwort wie in einer Kaserne. ‚Meno male‘, dachte Davide. ‚Gott sei gedankt für den ewigen Drill. Ein Vorgesetzter beruhigt diese Jungspunde sofort.‘ Dann sah er sich um, und ein nicht gerade kleiner Schreck durchfuhr Davide Vocano. ‚Aber wer beruhigt mich? Vielleicht einer von den jungen Sotto Tenentes, einer dieser jungen Cretinos, die keine Ahnung vom Leben haben und für die ein Krieg nur dazu da ist, um Orden zu sammeln?‘

Wir brauchen Wasser, Caporale“, wandte er sich trotzdem mit festem Befehlston an den Untergebenen. „Ich suche hier weiter, Sie nehmen sich ihr Gewehr mit und gehen nach Baylul dort drüben. Gehen Sie! Und noch etwas, Phillipe! Seien Sie höflich und nett zu den Leuten, sagen Sie bitte. Damit dürften wir derzeit besser fahren, ich denke, mit Befehlen kommen wir im Moment ganz schlecht an. Also los, ohne Tritt, marsch!“ Dann machte sich der Marescialo auf, den nächsten Landkreuzer zu öffnen. Zuerst einmal sehen, wer noch lebte. Immer ein Schritt nach dem anderen.

=◇=

Das Fahrzeug von Captain John McIvor hatte den Hügelkamm passiert und war bereits knapp vor der Grenze, als ein leises Zittern den dampfbetriebenen Dreiachser erschütterte.

Captain!“ Master Sergeant William Poacher sprang auf und trommelte gegen die Trennwand. „Sehen Sie sich das an, Captain, schnell!“ Der Wagen hielt an, der Captain schwang sich heraus, blickte zurück und sah, wie eben die dritte Welle das Ufer erreichte. Erschüttert sah er alle zwölf Wellen über die Italiener hereinbrechen, sah, wie beinahe alle Schiffe der Invasionsstreitmacht im Ozean versanken, ihre Besatzungen mit in den Tod reißend. Nach der letzten Welle saß er wieder auf.

Fahren Sie nach Josephshafen, Corporal. Dort kann man Hilfe für die Überlebenden organisieren und den König von Italien benachrichtigen. Und bevor Sie fragen, ich bin eben so ratlos wie Sie!“

Noch schneller als der Rover des Captain war der Herzog von Bistritz in Josephshafen.

Die Wellen breiteten sich aus und verstärkten sich immer mehr, und dann verschwanden sie einfach, Herr Admiral!“ Eugen Popescu stürzte seinen zweiten Cognac hinunter und hielt das Glas Oberstabsbootsmann Harkony auffordernd entgegen, ehe er weiter sprach. Admiral Červenka nickte seinem Spieß zu, der noch einmal nachschenkte. „Im Viertelkreis von der Trommel weg, aber Baylul wurde von der Vernichtung ausgenommen, und das Schiff, das von der Trommel aus hinter der Stadt lag, hat die Katastrophe überstanden, dort war ruhige See! Ich habe so etwas oder auch nur ähnliches noch nie gesehen, Herr Admiral. Noch nie! Danke für den Cognac, Herr Admiral, ich melde mich jetzt ab, ich muss dringend nach Wien, Herrn von Hammetten direkt alles schildern. Da reicht kein Telephon oder Telegraph. Aber warnen Sie Wien vor, da wird noch einiger Sturm losbrechen. Am Ende glauben vielleicht alle, wir hätten da wieder einmal eine neue Geheimwaffe!“

Fliegen’s nur los, Linienkapitän! Und viel Glück!“

=◇=

Abessinien

Die drei gepanzerten Fahrzeuge vom Typ Husar und der Windhund waren mit den Tücken des abessinischen Hochlandes überraschend gut fertig geworden. Sie waren der markierten Handelsroute nach Mendefera etwa 50 Kilometer vor der Grenze gefolgt und hatten hier in einem geschützten Han übernachtet. Trotzdem hatten auch die Dragoner während der Nacht die Fahrzeuge bewacht, man konnte nie wissen. Und natürlich wären die Gefährte der kakanischen Bundesheeres für viele Banditen eine willkommene Beute gewesen. Und Mendefera lag bereits in den Schluchten der eritreischen Berge. Wenn sie hier auch noch nicht so schroff waren wie weiter nach Abessinien hin.

In diesen Bergen Eritreas nahe der Grenze herrschten immer noch ziemlich unangefochten die Stammesfürsten und Kriegsherren mit Gewalt und Härte. Großbritannien als de facto Kolonialherr hatte kein gesteigertes Interesse an den unfruchtbaren Bergen im Landesinneren, in denen sie nur Verluste erlitten hatten. Das einzige einigermaßen für die britische Regierung und die Börse wertvolle Gebiet war die Küste, und dort sorgten die Rotröcke für halbwegs sichere Verhältnisse. Die Osmanen, welche de jure eigentlich das Land als Teil Ägyptens immer noch besaßen, hatten in ihren africanischen Ländern eigentlich überhaupt nichts mehr zu sagen. Stammesfürsten aus den Bergen füllten das entstehende Machtvakuum und bekämpften einander manchmal bis zur völligen Ausrottung. Außerdem waren sie meistens auch wilde Räuber, welche die Reisenden gerne überfielen und um ihr Hab und Gut brachten. Nicht selten auch um ihr Leben. Zeitweise kam der Handel über die Grenze völlig zum Erliegen, dann sandte der abessinische Kaiser wieder einmal Truppen aus, um die schlimmsten Banden zu dezimieren und die Straßen wieder sicherer zu machen. Mit Billigung oder doch zumindest schweigenden Zustimmung der Londoner Regierung.

In ihren gepanzerten Fahrzeugen konnten sich die Reisegesellschaft und die Dragoner sicher fühlen, denn selbst die Räder waren mit den üblichen Infanteriewaffen nicht so leicht zu beschädigen. Dem Windhund konnte allerdings selbst ein kaputter Reifen nicht aufhalten, der Steuermann fuhr dann ganz einfach die Beine aus und lief davon. Also gab es auch keinen Grund, warum Maria Sophia nicht auch eine Strecke im Windhund zurück legen sollte. So war sie in Mendefera morgens in das kleine Spähfahrzeug geklettert, den Fahrer auf den Beobachterposten gescheucht und selbst die Steuerung übernommen. Bis zur Grenze nach Abessinien war es nicht mehr weit, und die Prinzessin wollte am Steuer sitzend endlich wieder einmal ordentlich Dampf machen. Wenn man knapp über 40 Stundenkilometer als ordentlich Dampf machen bezeichnen wollte, für den Zustand des Weges war die Geschwindigkeit, welche der Windhund hier vorlegte, allerdings gar nicht so übel.

Nicht weit hinter einer Kurve lag ein dicker Baumstamm quer über die Straße, und Maria Sophia von Österreich brachte den Windhund zum Stehen.

Da ist was faul im Staate Dänemark“, zitierte sie. „Jetzt fehlt nur mehr eine Bande Raubersbub’n, die uns überfallen wollen! Fahrer, übernehmen’s wieder ihren Posten. Kommandant?“

Oberstabswachtmeister Anton Böhm wies auf einige Gestalten in Burnussen, welche hinter dem Baum erschienen waren. „Ich glaube, die Räuberbande fehlt nicht mehr, Generaloberst.“

Nein, Sie haben recht. Sie sind ganz offensichtlich schon hier und woll’n wohl was von uns“, nickte Maria Sophia ruhig. „Heckschütze, haben Sie eine Zielansprache?“

Postiv, Generaloberst. Hinter uns liegen einige in der Felswand in Deckung!“

Heckschütze, halt’n Sie sich bereit“ befahl ihre kaiserliche Hoheit. „Sorgen Sie dafür, dass die da oben die Köpfe unten halten, wenn‘s soweit ist. Kommandant, Dachluke zum MG-Stand öffnen.“

Majestät, soll nicht besser ich…?“

Ich mach das schon, Kommandant“, bestand Maria Sophia auf ihrer Anordnung. „Ist ja nicht das erste Mal.“

Natürlich nicht. Aber wollen Sie wirklich das Risiko selbst eingehen?“

Die Erzherzogin lächelte dünn. „So groß ist das Risiko doch gar nicht, Kommandant. Diese Depp’n müssen immer erst große Worte mach’n und zeigen, wie tapfer und mutig sie sind. Besonders, wenn’s eine Frau hör‘n. Billige Amateure.“ Sie zwängte sich in den Sitz des üsMG-Schützen auch dem Dach. Nach hinten hatte sie gute Deckung durch die gepanzerte Luke, während nach vorne die geneigten Panzerplatten beiderseits des Laufes Schutz vor feindlichen Feuer boten.

Also, was habt ihr euch denn so vorgestellt?“ Auch in Eritrea wurde die arabische Sprache benutzt, und Maria sprach sie zwar holprig, konnte sich aber nicht schlecht verständlich machen. Ein hagerer Mann mit wallendem Vollbart, bewaffnet mit einem großkalibrigen Repetiergewehr und zwei Revolvern im Gürtel trat vor.

Das Fahrzeug und alles darin gehört uns! Eigentlich dachten wir, dass wir euch einfach töten sollten, aber jetzt? Vielleicht habe ich noch Platz in meinem Harem, Weib. Bist du hübsch?“

Zu hübsch für dich!“ betonte Maria. Sie erhob sich, stützte die Rechte in die Hüfte und lehnte sich an das MG.

Oh, ein wildes, rotes Tigerkätzchen. Das wird lustig, es zu zähmen! Steig aus, Weib!“ Maria lächelte und holte eine Coiba aus ihrer Tasche. Als sie brannte, wandte sie sich wieder an den Räuberhauptmann.

Ich glaube, es ist besser, wenn ihr den Baum einfach wegräumt und wir danach weiterfahren.“

Räumt es doch selber weg“, lachte der Bandit. „Wenn in dem Wagen lauter solche Weiber wie du sind, können wir alle unseren Spaß haben!“

Wir könnten natürlich den Weg selbst freimachen, vorlauter Knabe. Da wirst du aber nur noch aus der Hölle zusehen können.“ Sie setzte sich wieder und nahm die Griffe der schweren Waffe zur Hand. „Es wäre für alle wirklich viel einfacher, ihr dummen Knaben zieht den Stamm jetzt endlich aus dem Weg. Der behindert zwar nicht uns, aber den Warenverkehr zwischen Eritrea und Abessinien. Und wenn ihr fertig seid, könnt ihr wieder in das Kaff zurückkehren und unter dem Stein verschwinden, unter dem ihr hervor gekrochen seid. Also los, Bewegung, ein wenig hurtig!“

Wir sind 80 Männer, Weib“ lachte der Anführer. „Denkst du wirklich, wir lassen…“

Und das ist ein 12,5 Millimeter Maschinengewehr“, unterbrach Maria Sophia den Wegelagerer mit eiskaltem Unterton in der Stimme. „Wir sitzen in guter Deckung. Ja, ich denke wirklich, ihr lasst euch. Denn du wärst einfach nur dumm, wenn nicht. Weg mit den Waffen, und weg mit dem Stamm.“ Sie legte den Sicherungsflügel des MG um, das metallische Klicken hallte durch die plötzlich eintretende Stille. „Heckschütze, zeigen Sie, dass wir auch hinten Zähne haben.“ Ein kurzer Feuerstoß kam aus dem Maschinengewehr im Heck des Windhunds. Zwanzig, fünfundzwanzig Geschoße prasselten in die Felswand über den Wegelagerern, welche sich eiligst hinter die nächstbesten Steine warfen. „Beine ausfahren“, befahl Maria danach. Hinter den vier Rändern öffneten sich breite Klappen, die von der Bodenplatte bis zum Dach reichten. Beine mit zwei Gelenken wurden ausgefahren, entfalteten sich und hoben den Boden des Rumpfes auf eine Höhe von knapp über zwei Metern. „Rückwärts, drei Schritte!“ Mit beinahe geschmeidig wirkenden Bewegungen tänzelte der Windhund zurück, dann löste Maria Sophia das üsMG aus, ein nicht ganz zwei Sekunden dauerndes Antippen des Abzuges. Drei der 45 Gramm schweren Projektile schlugen zu Füßen des Banditen ein, winselten als Querschläger davon und überschütteten seine Beine mit Gesteinssplittern. „Vorwärts minimale Geschwindigkeit!“ Das rechte Vorderbein des Windhundes hob sich wie in Zeitlupe. „Auf jedem Bein kann bis zu zehn, fünfzehn Tonnen lasten“, plauderte Maria Sophia wieder in arabischer Sprache. „Also, Leute, wie wollt ihr es jetzt haben?“

Der Anführer legte das Gewehr nieder. „In Ordnung, in Ordnung! Wir räumen den Baumstamm ja schon aus dem Weg!“

Braver Junge. Und lasst ihn gleich dort an der Felswand liegen. Hinter uns kommen noch drei Wagen, noch größer und noch schwerer bewaffnet als wir. Also, erspart euch besser den Ärger und die Arbeit!“ Grummelnd und schimpfend machten sich die Männer an die Arbeit und wuchteten den Baum wieder aus dem Weg. Das große Maschinengewehr auf dem Dach des Windhundes blieb dabei ständig feuerbereit, wie auch das Heck-MG. Maria Sofia und Wachtmeister Istvan Korthvary ließen die Wegelagerer nicht aus den Augen.

Beine einfahren und weiter“, befahl die Erzherzogin schließlich. Im Vorbeifahren warf die Prinzessin den Wegelagerern noch einen österreichischen Goldgulden zu. „Für die schwere Arbeit!“

Was jetzt, Scheich Achmed?“, fragte einer der verhinderten Räuber und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Was wohl? Wenn da heute noch stärkere Wagen kommen, haben wir sowieso keine Chance. Wir reiten jetzt nach Hause und kommen erst morgen wieder. Oder übermorgen. Gott verdamme diese Ausländer und ihre gepanzerten Wagen! Aber in meinem Zelt hätte sich dieser rothaarige Teufel trotzdem gut gemacht!“

Wenn du sie hättest zähmen können, Scheich!“ Zweifel schwangen in den Worten des Eritreers mit, der Scheich fuhr mit gerunzelter Stirn herum. Dann zögerte etwas und nickte schließlich.

Ja, genau, wenn…“

=◇=

Der eigentliche Grenzübertritt erwies sich als unbürokratisch. Noch weniger Zeremoniell konnte es überhaupt nicht geben, denn es war mit Ausnahme der Reisegruppe und ihrer Bedeckung niemand anwesend. Den ersten Hinweis, dass sie Abessinien bereits betreten hatten, war eine Markierung auf einer Felswand, eine mit Farbe verstärkte Gravur. In Amharischer Schrift und Sprache machte der Negus Negest seine Ansprüche auf das Land bis hierher geltend, möge GOTT des weisen und gerechten Herrscher schützen.

Auch Aksum hatte die Gesellschaft noch vor der geplanten Zeit erreicht und in dieser größeren Siedlung mit guter Infrastruktur wie geplant ein halbwegs gemütliches Nachtlager in einem Han bezogen. Solche Übernachtungsstätten gab es überall entlang der Handelswege, und nicht selten hatten sich dort kleine und große Dörfer gebildet. Denn diese vom Negus geförderten Raststätten besaßen entweder einen guten Brunnen oder waren mit einer Rohrleitung mit einem solchen verbunden. Auf die Beschädigung einer solchen Leitung standen drastische Strafen, und Beamte des Negus schritten diese regelmäßig ab. Bewaffnete Beamte. Selbstverständlich mussten auch in Aksum des Nachts immer fünf Dragoner reihum die Wagen bewachen. Wie sich herausstellte, eine durchaus angebrachte Vorsichtsmaßnahme, denn obschon Äthiopien ein durchaus moderner Rechtsstaat war, gab es in den Bergen noch wilde, ungezügelte Horden, welche sich der Zentralregierung nicht unterwerfen und nach eigenen Gesetzen leben wollten. Vor allem Beduinenstämme, welche aus dem Sudan und über das rote Meer aus der arabischen Halbinsel eingewandert waren, und auch Überbleibsel der vielen umliegenden Sultanate, die immer wieder versucht hatten, Abessinien zu erobern und die Bewohner zu unterjochen. Und selbstverständlich die Kriegsherren von jenseits der nahen Grenze. Aber die Wachsamkeit der Dragoner im Verein mit den modernen, halbautomatischen Rückstoßladern und den 20-Schuss-Magazinen der Karabinern hatte zu groben Verlusten unter der Räuberbande geführt, während auf kakanischer Seite nur eine zwar unangenehme, aber eher harmlose Schnittverletzung zu beklagen war. Als Maria Sophia mit Elisabeth von Oberwinden, Carl Friedrich Maerz und Oberst von Inzersmarkt von den Schüssen geweckt wurden und mit gezogenen Waffen in die Remise stürmten, war schon alles vorbei.

Mäldä gähorrsåmst, åcht Ångrreifärr ausgeschåltät, drrei dåvon leidärr finål“, rapportierte der Zugsführer Miklasch Hortobary salutierend. „Håbän sich gäschlichän dorrt härrein zur Tierr, åbärr därr Wotrrubå Schåni håt gähåbt ein zu gutäs Gähährr. Håbän wirr ångärrufän die Männärr, dånn gäbäbän åb an Wårnschuss. Håt nix gäholfän, sind die Härrän nicht gäbliebän stähäen. Also, bittä schän, håbän wirr hålt gäschossän schårf. Håbän wir miessän!“

Der Wirt der Raststätte Ajani Tesfaje, dem Henrietta Jones die Meldung ins Amharische übersetzt hatte, stieß einen der noch lebenden Männer mit dem Fuß an.

Es ist nicht schade um diese Leute“, erklärte er grimmig. „Diese Bastarde sind nichts weiter als gemeine Verbrecher, auch wenn sie sich als politisch Verfolgte ausgeben. Diebe und Mörder! Da fällt mir ein – wo ist der Posten? Was habt ihr mit Yoannis und Felekke gemacht?“ Wieder trat er zu.

Kovac, Löw, mitkommen“, kommandierte Stabswachtmeister Franz Loibner. „Gefechtsbereitschaft herstellen, Waffen geladen und gesichert! Majestät, ich melde mich mit zwei Mann zur Suche ab!“

Gehen’s nur, Stabswachtmeister“, gab Maria Sophia ihr Einverständnis.

Lampen ein“, befahl der Unteroffizier. Die Firma Manuslux aus Konstanz am Bodensee hatte die Göbellampe auf die Größe einer kleinen Bohne reduziert, eine nur fünf Zentimeter durchmessende Fresnellinse geschliffen und das ganze mit einem Leclanché-Element als Energiequelle verbunden. Diese kleine Trockenbatterie lieferte genug elektrischen Strom für einige Stunden Licht, die flache Linse bündelte den Strahl, sodass er mehrere Meter helles Licht lieferte, ohne den Benutzer zu blenden. Die Gewehrmanufaktur Mannlicher stellte zu diesen Stablampen ein Halterung für ihre Dragonerkarabiner her. Natürlich so, dass der Lichtstrahl parallel zur Achse des Laufes ausgerichtet war.

Die Lichtkegel der drei Dragoner des Bundesheeres der Vereinigten Donaumonarchien huschten durch das Dunkel der Nacht, der Mond näherte sich bereits stark seiner dunkelsten Phase und spendete kaum mehr Helligkeit. Die Soldaten wussten, dass es durchaus noch mehr Banditen in der Gegend geben konnte, welche nur auf eine Unachtsamkeit lauern mochten. Daher leuchteten die beiden Gefreiten Jan Kovac und Rivkin Löw stetig die Umgebung ab und folgten dem Licht wachsam mit den Augen, während der Stabswachtmeister Franz Loibner aus Regensburg seine Aufmerksamkeit auf den Boden gerichtet hielt. Er musste auch gar nicht lange suchen, beide Männer lagen mit durchschnittener Kehle an jenem Platz vor dem Han, wo sie Wache stehen sollten.

Arme Schweine!“, befand Loibner. Der Bayer ging in die Hocke und betrachtete die Wundmale genauer. „Da waren Profis am Werk, sauber die Arteria Carotis und die Luftröhre durchtrennt. De hom koan Mucks mehr tan.“ Kurz verfiel er in seinen heimischen Dialekt, dann fing er sich wieder. „In Ordnung gehen wir zurück!“

Als im Han der Stabswachtmeister von seinen Fund berichtete, jammerte Ajani Tesjaje laut.

Das ist schon das dritte Mal, dass mir diese Schakale zwei Posten ermorden.“ Wütend trat er auf die mittlerweile notdürftig Verbundenen und sorgfältig Gefesselten überlebenden Verbrecher ein. „Morgen schon wird der Richter über euch kommen, und wenn er fertig ist, dann werde ich den ersten Stein werfen. Das verspreche ich euch!“

Und eine Art Unterstand für die Posten bauen, dass die zumindest von hinten gedeckt sind“, riet Oberst von Inzersmarkt dem Wirt. „Unregelmäßige Kontrollgänge haben auch noch niemandem geschadet. Und regelmäßige Ablösungen, denn nach zwei, drei Stunden in die Finsternis starren sieht man entweder Gespenster herumhuschen oder übersieht eine Herde Elephanten.“

Ein Unterstand – gute Idee, Herr Offizier. Aber ich hoffe, ich finde noch genug Männer, die Wache stehen wollen. Es ist eine riskante Arbeit, so nahe an der Grenze kommt nicht unser eigenes Gesindel, sondern auch solche ägyptisch-eritreische Brut wie diese hier. Ich wollte, die Armee hätte ihre Grenzgarnison dichter an Aksum gebaut. Aber zumindest gibt es jetzt bereits drei von diesem Abschaum weniger. Und bald noch fünf dazu!“

Nach dieser unruhigen Nacht erhielten die Reisenden und ihre Bedeckung ein gutes Frühstück von dem dankbaren Wirt. Besonders der Wachtrupp von Zugführer Miklasch Hortobary bekam das beste aus Ajanis Speisekammer aufgetischt. Für die Soldaten aus Europa war zwar der mit Feigenmus angerührte Schafjoghurt zuerst etwas suspekt, aber Gefreiter Jakob Spengler hob trotzdem den Löffel und kostete ganz vorsichtig. Dann hoben sich seine Augenbrauen.

Hervorragend! Das schmeckt ja wirklich gut.“ Ajani Tesjaja freute sich, als die Dragoner die Leckerei mit wachsender Begeisterung löffelten. Dann wandte er sich an die Prinzessin.

Ich bin euren Männern wirklich dankbar. Der Schreiber des Richters hat bereits den Vorfall aufgenommen, Herrin. Eurer pünktlichen Abreise, wann immer ihr wollt, steht also nichts mehr im Wege. Auch wenn ich euch noch gerne länger bewirtet hätte.“

Die Fahrt ging weiter, immer der markierten Handelsroute nach. Zuerst weiter durch wilde Schluchten, welche wahrscheinlich während früherer Zeiten, als es noch mehr Regen in dieser Gegend gab, von Flüssen in das Gestein gegraben wurden. An manchen Stellen erinnerten sogar noch alte Sagen und Legenden an das frühere Vorhandensein von Wasser. In den meisten Schluchten war das aber lange vorbei, man musste schon einigermaßen tief bohren, um an das begehrte Wasser zu gelangen. Dann öffnete sich der Canyon unvermittelt in ein weites, hügeliges Tal. Es waren von der Höhe Gebiete mit grünen Feldern zu sehen, es musste auf dieser Hochebene also fruchtbare Erde vorhanden sein. Und ein ganzjähriger Zugang zu irgendeiner Form von Bewässerung. An diesem Tag fuhr Maria Sophia in einem der Husaren, und sie hatte den Befehl ausgegeben, nicht von der markierten Route abzuweichen. sie fand es besser, einen erheblichen Umweg in Kauf nehmen, als auch nur einen Grashalm zu knicken. Wer auch immer die Straßen anlegen ließ, die Erbauer hatten sich stets an felsigen Grund gehalten. So führte der Weg auch in einem weiten Bogen nach links, immer an einer steilen Felswand entlang. Die Prinzessin war in den Turm mit der 3-Zentimeter-Kanone geklettert, hatte das Turmluk geöffnet und stand nun mit dem Oberkörper im Freien. Sie genoss diese Fahrt, mit der Sonne im Gesicht, umspielt von einer frischen Brise. Derzeit herrschten außerhalb der Fahrzeuge auf Grund der Höhe angenehme Temperaturen, und man konnte die Fahrzeuge wieder einmal ordentlich durchlüften.

Ein Glitzern erweckte die Aufmerksamkeit der Erzherzogin und sie hob den Feldstecher vor die Augen.

Langsamer,“ rief sie nach unten, gleichzeitig gab sie mit einem Handzeichen auch den Fahrern der anderen Wagen diesen Befehl.

Was gibt es denn?“, rief Oberst von Inzersmarkt in den Turm hinauf. „Probleme?“

Ich glaub’ nicht”, antwortete Maria Sophia. „Zumindest nicht für uns. Da vorn‘ gibt‘s einen Fluss, und an dem steh‘n ein paar Fahrzeug‘ mit dem gekrönt‘n Judalöwen auf die Flank’n g’malt, also wahrscheinlich von der Abessinisch‘n Armee. Es sind vier Schützenluchs‘ und vier Artilleriepandur‘n. Die Leut‘, die herumsteh’n und arbeit’n, trag‘n auch die richtigen grau-grünen Uniformen mit den grün-rot-goldenen Turbanen und dem braunen Lederzeug, wie‘s die Soldaten hierzuland‘ trag’n. Aber die sind g‘rad mächtig beschäftigt, da wär’s nicht wirklich höflich, mit vollem Dampf auf die Leut‘ hinfahr’n, als wollt‘ wir’s über’n Haufen roll’n und sie damit erschreck’n!“

Nein, höflich wär’s ganz sicher nicht“, bestätigte Inzersmarkt. „Vor allem, weil die Habescha unsere Freund‘ sind.“

Mikhal Tambaturu war Oberleutnant der abessinischen Armee, kommandierte einen der Artilleriepandur und war Befehlshaber einer Kompanie Panzerfahrzeuge. Üblicherweise war der noch junge Mann mit dem dunkelhäutigen Gesicht die Ruhe in Person, doch im Moment waren seine Nerven dünn wie ein Zwirnfaden. Und ebenso verdreht. Noch vor wenigen Wochen war er an der westlichen Grenze Abessiniens stationiert gewesen. Die Mahdisten hatten immer wieder Überfälle durchgeführt und die Garnison in Abdurafi am Fluss Angereb hatte ein ziemlich großes Gebiet beschützen müssen. Dann war das Telegramm eingetroffen, Italien hätte von Mogadischu aus sein Heimatland überfallen, und seine Einheit war nach Osten in Marsch gesetzt worden, um die Grenze nach Eritrea zu sichern. Danach die Hiobsbotschaft, dass eine riesige italienische Armada unterwegs war und eine italienische Armee tatsächlich auch über Eritrea einmarschieren wollte. Dann hatte er in Mek’Ele erfahren, dass die Lage bereits unter Kontrolle war, und er umkehren sollte. Und jetzt war die Achse eines seiner Luchse gebrochen. Ausgerechnet mitten in der Furt.

Die Luchse der Firma Elbmetall in Dresden waren acht Meter lange und drei Meter breite gepanzerte Zweiachser mit großen Rädern, welche von starken Werner-Dampfturbinen angetrieben wurden. Jeder von ihnen konnte im Inneren sechs Grenadiere samt Ausrüstung mit einer Höchstgeschwindigkeit von 75 bis 80 Stundenkilometern transportieren. Auf halbwegs guter Straße. Die Besatzung bestand aus dem Fahrer und einem Schützen, welcher auf dem Dach zweieinhalb Meter über dem Erdboden hinter einem Maxim-Gewehr in einer gedeckten Barbette saß. Der Pandur war ein Produkt der MÁVAG, der Magyar Királi Államvasutak Gépgyára, oder übersetzt Maschinenfabrik der Königlichen Ungarischen Staatseisenbahnen. Es handelte sich bei dem Panduren um eines der ersten vom k.u.k. Eisenbahntechniker Adolf Burstyn erfundenen Motorgeschütze. Kein vaporelektrischer Antrieb, sondern gute, alte Dampfturbinen. Keine Klimaanlage, keine Geräuschdämmung, und das Baumaterial war guter, alter, solider Stahl. Kein Kristall-Leichstahl, sondern noch die klassische, schwere Variante. Das mitteschwere Geschütz im Kaliber 14,4 Zentimeter konnte in seiner Wiegelafette nur vertikal bewegt werden, die horizontale Ausrichtung erfolgte durch den Fahrer, welcher mit dem ganzen Rumpf zielte. Dieser Rumpf war etwas über sieben Meter lang und beinahe zweieinhalb Meter breit, doch beiderseits waren noch bis zur halben Höhe die Fahrketten hinzu zu zählen. Jeweils mehr als einen halben Meter breit, mit Stahlplatten gegen seitlichen und frontalen Beschuss gesichert. Die stärkste Panzerung wies jedoch die geneigte Frontpartie auf. Diese konnte dem Beschuss schwerer Kanonen stand halten, bis zu Kalibern von über 22 Zentimetern. Es sei denn, es wurde spezielle panzerbrechende Munition verwendet. Auf dem Dach waren noch zwei gedeckte Barbetten mit je einer Gatling-Revolverkanone Kaliber .45 mit Wernermotor, damit konnten mit der Endlosgurtzuführung in der Minute theoretisch 900 der 11,43 Millimeter durchmessenden Kupferprojektile verschossen werden. Aber wer zog schon 60 Sekunden lang den Abzug? Bei 15 Schüssen in der Sekunde reichten kurze Feuerstöße völlig aus. Aber diese Panzerung und Bewaffnung hatte ihren Preis. Sehr viel mehr als fünfzehn, sechzehn Stundenkilometer schaffte der alte Pandur im schweren Gelände nicht.

Vorsichtig” brüllte Mikhal Tambaturu seinen Männer zu, welche im Fluss am Luchs arbeiteten. Gute Soldaten, aber schlechte Techniker. Der einzige, der etwas davon verstand, war bei den Truppen in Abdurafi verblieben, um die Fahrzeuge der zweiten Kompanie am Laufen zu halten. Eine Dampfsirene gellte, der Oberleutnant sah auf den Pandur hinter sich und bemerkte einen der Gatlingschützen in das Hinterland gestikulieren. Er ging etwas zur Seite, um einen Überblick zu bekommen.

ALARM“ brüllte er, den Befehl mit der entsprechenden taktischen Geste unterstreichend und zu seinem Pandur sprintend. „Wenden! Rasch, Rasch!“ Hinten war die Panzerung eines Panduren ein Witz. Ein verdammt schlechter Witz und noch schlechter erzählt, schon ein etwas schwereres Gewehr konnte das Metall beschädigen. Und genau von hinten näherten sich langsam vier Fahrzeuge, drei große und ein kleineres, lackiert in verschiedenen Sandtönen. Keine abessinische Bemalung. Er sah genauer hin, am Bug hatten die Radpanzer eine schwarze Raute auf gelbem Grund, auf beiden Seiten flankiert von rot-weiß-roten Streifen. Das Zeichen den Bundesheeres der Vereinigten Donaumonarchien. Der Herzschlag Tambaturus beruhigte sich ein wenig. Keine Italiener! Aber was machten – Moment, da war doch etwas gewesen? Eine Depesche, kaum beachtet und beinahe vergessen! Ein Mitglied des österreichischen Kaiserhauses war durch Abessinien unterwegs, mit vier Fahrzeugen. Und dort, bei dem ersten Radpanzer, im Turmluk. Die Person hatte eine sandfarbene Uniform an, dunkles, mahagonirotes Haar wehte hinter ihr her. Eine Frau! Jetzt drehten die Geschütztürme zur Seite, richteten sich von den abessinischen Gefährten weg.

Rohre senken”, akzeptierte und erwiderte Oberleutnant Tambaturu die Friedensgeste.

Bald standen sich der Abessinier und die Österreicherin gegenüber, Henrietta Jones übernahm die Übersetzung. Mikhal musterte Maria Sophia beeindruckt. Sie war so ganz anders gebaut als die Frauen seiner Heimat, sie war breitschultriger und muskulöser. Die Frauen der abessinischen Völker waren überwiegend groß und eher schlank, sie wirkten elegant und graziös. Ihre Kraft sah man diesen dunkelhäutigen Gazellen nicht auf den ersten Blick an, während die Erzherzogin von Österreich von einer starken Aura physischer und psychischer Stärke ausstrahlte. Auch die abessinischen Männer waren durchschnittlich schlanker und größer als die im Vergleich dazu beinahe bullig wirkenden Europäern, wirkten graziler und eleganter.

Sie scheinen ein Problem zu haben, Oberleutnant?“

Tambaturu nickte. „Leider scheint die linke vordere Halbachse gebrochen zu sein, Generaloberst.“ Dankbar benutzte er die angebotene neutrale Anrede mit dem militärischen Rang. „Und niemand von uns ist wirklich ein Techniker. Der einzige, der dem halbwegs nahe kommt, ist Sergent Amataro. Der überlegt gerade, wie wir den Wagen zuerst einmal aus dem Fluss bekommen, ohne noch mehr Schaden anzurichten.“

Ich verstehe!“ Die Erzherzogin wandte sich an einen der vier Dragoner, welche mit der Waffe in der Hand aufmerksam die Umgebung betrachteten. „Korporal ah… Weber“, las sie von dem Namensschild auf seiner Brust ab. „Such er doch den Vizeleutnant Smetana. Ich lass frag‘n, ob wir einen technisch versiert‘n Mann in der Mannschaft hab’n, der den Leut’ helfen kann!“

Wenn Majestät erlauben, der Zugsführer Vogel ist ein Schrauber. Und der Korporal Unterbauer kann auch schweißen, wenn’s nötig ist.“ Korporal Morawetz stand salutierend stramm.

Ganz hervorragend“, lobte Maria Sophia. „Dann hol’ er doch die Beiden her.“

Was meinst, Konrad. Der Windhund setzt sich vor den Luchs, fährt die Hax’n aus und geht in Knie. Wir befestig‘n an Greifzug für‘s 12 Millimeter Stahlseil da oben auf’m Dachl an dem Ring dort und führen das Seil da zum Rahmen von dem Luchs. Die Schießscharten vom Heck-Maxim-G’wehr muss halt zug’macht und abdeckt werden. Wenn der Windhund dann die Hinterfüß‘ ganz ausfahrt, dann sollt‘ er des Vorderteil von dem Luchs genug in d’ Höh’ lupfen, dass er den Wagen langsam aus’n Wasser zieh’n kann.“ Reinhard Vogel unterstrich seine Worte mit den entsprechenden Gesten.

Konrad Unterbauer nickte. „Wird schnelle gehe, als von dem andere Luchs die Seilwinde zum abmontiere und da vorn bei dem im Wasser wieder anschraube.“

Ja, aber Führung für die Tross’n und der Aufprallfender an der Aufhängung sind ja zum Glück noch da! Komm mit!“ Reinhard Vogel erklärte der Prinzessin und dem Oberstabswachtmeister Böhm vom Windhund seinen Plan, während Henrietta es dem Oberleutnant übersetzte.

Sie glauben, das funktioniert?“, fragte Maria Sophia und blickte hinüber zum havarierten Luchs. „Und können Sie ihn danach wieder zum Fahren bringen?“ Reinhard Vogel übernahm als der Ranghöhere das Reden. „Also, Majestät, Herr Oberstabswachtmeister, aus dem Fluss bekommen wir in damit sicher. Hernach müss‘n wir uns halt einmal anschau‘n, was wirklich kaputt ist. Wenn’s denn wirklich die Halbachs‘ ist, wahrscheinlich schon. Wenn’s die Turbin‘ erwischt hat, müss‘n wir die Seilwind’n von dem Luchs dort abmontier’n und bei der Havarie anschrauben. Dann muss er sich halt von selber hochzieh’n, bis zum nächsten Schmied, der’s reparieren kann. Oder, der Oberleutnant lasst ihn vorderhand steh‘n und organisiert irgendwie eine Bergung. Aber zumindest ist die Furt wieder frei und das Fahrzeug in Sicherheit.“

Das wäre schon etwas wert”, bekundete Tambaturu. „Es kommt zwar extrem selten vor, aber manchmal kann ein heftiger Regenguss am Oberlauf dafür sorgt, dass der Fluss stark anschwillt und dann könnte das Fahrzeug für immer verloren ist.“

In Ordnung“, bestätigte Maria Sophia. „Zugsführer, nehm’ er, was er braucht und setz‘ er seinen Plan um. Dann schaut er, ob der Luchs mit unsere Mittel zum reparier’n geht.“ Sie sah auf ihre Armbanduhr. „Wie ist denn der Weg nach T’iruwiha, Oberleutnant?“

Gut, Generaloberst. Mit ihren Fahrzeugen sollten Sie ihn in zwei Stunden zurück legen können.“

Doch schon so nahe“ staunte die Erzherzogin. „Da sind wir unserem Plan in der Zeit ja hübsch voraus!“

Der Windhund hatte seine Beine ausgefahren, die denen von Zehengängern nachempfunden waren. Für die „Hufe” hatten die Konstrukteure anleihen am Kamelfuß genommen, sie waren dreigeteilt mit aufblasbaren Kissen dazwischen. Damit konnte die Auflagenfläche stark vergrößert werden, recht praktisch auf Sand- und Kiesböden, um besseren Halt zu erreichen. Für Steilwände und vereiste Verhältnisse konnten sogar Krallen aus den Hufen gefahren werden. Vogel und Unterbauer wateten durch das für Menschen nicht ganz knietiefe Wasser des Fluss Geba bis zum beschädigten Fahrzeug. Zugsführer Reinhard Vogel turnte an der Leiter am Heck des Windhundes hinab und befestigte den Karabiner der Abschleppstrosse am Vorderteil des Luchses, dann kletterte er wieder hinauf. Mit Hilfe des Greifzuges spannten sie die Trosse, soweit es mit Muskelkraft und der Hebelübersetzung möglich war, ohne mehrere Umlenkrollen einzusetzen. Vogel ging zwischen den Hale-Raketenwerfern nach vorne zum Dachluk.

Vorsichtig heben“, rief er nach unten. Langsam streckten sich unter dem Druck der Hydraulik die Beine des Windhundes.

Kommt“, rief Unterbauer. „Vorderräder frei. Wir könne vorwärts!“

Heben stopp”, rief Vogel dem Fahrer durch die Luke zu. „Langsam Voraus!“ Schritt um Schritt näherte sich nun der Windhund mit dem Luchs im Schlepptau dem jenseitigen Ufer.

Sieht doch nicht schlecht aus“, freute sich Maria Sophia. „Vizeleutnant Smetana, eine offizielle Belobigung an Vogel und Unterbauer. Vermerk er das doch bitte auch in ihren Dienstakten.“

Glücklicherweise war nur die Aufhängung des Turbinengehäuses beschädigt, und die Husaren hatten für solche Kleinreparaturen einen Vorrat von Stahlbändern mit. Und natürlich ein Vaporid-Schweißgerät.

Das ist jetzt aber nur eine provisorische Angelegenheit“, meldete Zugsführer Vogel den Abschluss der Reparaturarbeiten. Mittlerweile hatte sich herausgestellt, das Tambaturu recht gut die französische Sprache beherrschte, in der sich auch der Zugsführer verständlich machen konnte. „Ich weiß aber nicht, was da geschehen ist, im Normalfall sind die Luchse gute Maschinen. Aber das Bodenblech rund um den Turbinenkopf schaut irgendwie komisch aus. Als ob sie mit einer starken Säure in Kontakt kommen wäre. Kann sich der Herr Oberleutnant da was vorstellen?“ Tambaturu schüttelte verneinend den Kopf.

Eigentlich nicht. Wir haben die Fahrzeuge zwar gebraucht vom deutschen Heer bekommen, aber man hat uns gesagt, sie seien in gutem Zustand.“

Also gut. Ich würde mit dem Flicken jetzt einmal nur bis zum nächsten Schmied fahren. Der muss dann den Wagen richtig hoch aufbocken und dann einen Stahlstreifen von rund einem Meter Breite schmieden, sagen wir runde fünf, sechs Millimeter dick. Links und rechts ausschneiden, die Turbinenverkleidungen abmontieren, das geht ganz einfach. Aber zuerst den ganzen Druck aus dem Kessel, der muss komplett leer sein. Dann sind da zwei Leitungen mit Bajonettkupplung, eine rote und eine blaue. Aufmachen, die Räder wegstellen. Den ausgeschnittenen Streifen soll der Schmied dann auf das Bodenblech zwischen den Vorderrädern anschweißen, die Leitungen wieder anschließen, aber ganz wichtig – rot mit rot und blau mit blau. Dann die Turbinenverkleidungen wieder gut an der Verstärkung von der Bodenplatte montieren und den Wagen vorsichtig wieder ablassen. Druckkessel mit Wasser versorgen, wieder Vaporid zuführen und vorsichtig starten. Es sollte funktionieren. Im Handbuch sind die Zeichnungen dazu, die sind aber blöderweise nur auf Deutsch. Wenn die Frau Jones aber schnell die Kurzanleitung übersetzen könnt, ich habe das Wichtigste aufgeschrieben.“

Wir haben leider nur eine einzige amharische Reparaturanleitung, aber die ist in unserer Garnison geblieben“, berichtete Mikhal Tambaturu. „Man hat uns mitgeteilt, dass eine Reparatureinheit nach Osten verlegt und im Einsatzgebiet zur Verfügung stünde.“

Und niemand hat mit einem Schaden während der Fahrt gerechnet“, rekapitulierte Oberst von Inzersmarkt.

Tambaturu nickte. „Stimmt!“

Ich denke, es sollte in jedem Fahrzeug eine verständliche Betriebsanleitung liegen“ bemerkte Vogel. „Ich bitte um Entschuldigung, dass ich so einfach spreche, aber man weiß nie, wann man eine Anleitung benötigt.“

Das scheint eine allgemeine österreichische Ansicht zu sein“, lachte der abessinische Oberleutnant. „In den schweren Motorgeschützen liegt überall eine Anleitung in Deutsch, Englisch, Französisch und in unseren sogar in Amharisch auf. Nicht, dass wir die schon einmal benötigt hätten.“ Maria Sophia nahm den Australier ab und wischte kurz über das Schweißband, ehe sie den leichten Hut wieder aufsetzte.

Freut mich, dass Sie mit den Geräten zufrieden sind, Oberleutnant. Dann werden wir uns wieder verabschieden. Haben Sie noch eine gute Fahrt!“

Das wünsche ich Frau Generaloberst auch. Und Danke für die Hilfe. Ihnen möchte ich auch Danke sagen, Caporal Chef Vogel, Caporal Unterbauer!“ Tambaturu salutierte den Chargen, welche stramm standen und den Gruß erwiderten.

Nun gut”, wandte sich Maria Sophia an den ebenfalls anwesenden Vizeleutnant Smetana, den ranghöchsten Dragoner. „Mannschaften antreten und aufsitzen lassen. Wir fahren weiter!“

Zu Befehl, Majestät. Mannschaften antreten und aufsitzen lassen!“ Er schritt zum nächsten Husaren und betätigte dreimal kurz das Signalhorn. Die Dragoner kamen von allen Seiten gelaufen und die Befehlsstimme des Vizeleutnant klang über den Platz. „Fahrzeugweise Linie zu zwei Gliedern antreten!“ Jeder Soldat kannte seinen Platz in der Einteilung, und nur wenige Minuten später standen die 19 Dragoner und die 14 Männer der Fahrzeugbesatzungen in Reih und Glied in Grundstellung bereit. Zufrieden überflog Alexander Smetana die Angetretenen, ehe er sein nächstes Kommando gab. „Aufsitzen!“

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Es dauerte wirklich nur noch knappe zwei Stunden, bis die vier kakanischen Fahrzeuge ihr geplantes Tagesziel, die Ortschaft T’iruwiha erreichten. T’iruwiha lag an einem breiten Schluchtausgang im Süden der Ortschaft, ein Fluss kam dort aus den Bergen und half die Hochebene nördlich davon mit Hilfe unzähliger Kanäle zu bewässern. Es war eine jener Ortschaften, welche im Laufe der Zeit um einen Han mit reichlich Wasser und günstiger Lage an der Handelsstraße entstanden waren. Einige Handwerker hatten sich zuerst angesiedelt, da sie sich von den Durchreisenden ein kleines Geschäft versprachen, ein Schneider, ein Schuster, ein Schmied und ähnliches. Dann kamen Händler und Dienstleister nach, welche auch jene Bedürfnisse der Anwohner und Reisenden stillten, welche von der Raststätte nicht angeboten wurden. Eine Apotheke, ein Arzt, eine Bar. Schürfer, welche in den nahen Bergen nach allem möglichen suchten, das zu brauchen war, fanden sich zwischen ihren Suchgängen in diesem Ort ein. Sie vergnügten sich einige Zeit und gaben ihr sauer verdientes Geld mit vollen Händen aus, ehe sie wieder neu ausgerüstet und verpflegt aufbrachen, denn auch von den Betreibern der umliegenden Bauernhöfen wurden frische Lebensmittel im Ort zu Verkauf angeboten.

Weiter weg vom westlichen Flussufer den Berghängen zu war ein veritables Vergnügungsviertel entstanden, in welchem die Prospektoren auch einmal so richtig Dampf ablassen konnten. Auch die Soldaten der hier stationierten Gebirgstruppen der abessinischen Armee waren hier nicht selten zu Gast. Ein staatlicher Geologe eröffneten sein Bureau in T’iruwiha, um die Funde der Metallsucher zu schätzen. Bisher brachten die Schürfer wenig Edles zum schätzen zu der Stelle, aber einer hatte doch in der Nähe eine viel versprechende Eisenmine entdeckt. Von der Fundprämie hätte er sich ein gutes Leben in Addis Abeba leisten können, doch der Kautz zog es vor, weiter durch die Berge zu ziehen. Die wenigsten kannten seinen wahren Namen, alle nannten ihn nur Ādanyi, Retter. Er hatte schon unzähligen in Not geratenen Schürfern geholfen, sei es mit Nahrungsmitteln oder durch das Versorgen von Wunden. Verirrte brachte er wieder in die Stadt, und er schien nirgendwo und überall zu sein. Sein ausdrucksvolles Gesicht war landauf, landab bekannt, und sein Wort hatte Gewicht. Oftmals mehr Gewicht als das der uniformierten Ordnungshüter.

Natürlich frequentierten auch die Minenarbeiter das Vergnügungsviertel, denn egal welcher Hautfarbe und Herkunft, Männer blieben überall Männer. Und die meisten Männer liebten Wein, Weib und Gesang. Nun, bei Wein und Gesang differierten die Meinungen zeitweise stark, es gab zum Beispiel eine große Anzahl Männer, welche Bier dem Wein vorzogen. Oder die dem ‚Gejodel’ einer Operettensoubrette nichts abgewinnen konnten. Aber nur wenige, die keinen Gefallen fanden, eine Frau zu küssen. Und nicht nur zu küssen. Oberleutnant Tambaturu kannte die Menschen und die Männer, und zum Dank für die rasche Hilfe hatte er Vogel und Unterbauer Gutscheine für eines der Lokale im Vergnügungsviertel geschenkt. Die entsprechenden Damen, und nur diese, konnten sicher sein, dass die Scheine in der Zahlstelle der Garnison in klingende Maria-Theresien-Thaler, die offizielle Währung Abessiniens, gewechselt wurden. Die Ordnungshüter hatten ein scharfes Auge auf die Gesundheit jener registrierten Professionellen, und sie verfolgten gnadenlos jeden Übergriff auf jene Frauen mit einem Armeevertrag. Ein Vorteil für beide Seiten.

Der Zugsführer und der Korporal machten sich frisch geduscht und in sauberen Uniformen nach Anbruch der Dämmerung mit den Rotlicht- und bis Mitternacht geltenden Urlaubsscheinen auf den Weg. Abseits der Hauptstraße wurde es etwas verwirrend, da die Architektur Abessiniens runde Bauten vorzog und von einer offensichtlichen Straße zumeist nichts zu erkennen war. Die meisten Häuser bestanden aus Pfosten, zwischen denen dünne Zweige geflochten waren. Zwischen zwei dieser Wände hatte man dann Bruchsteine aus den nahen Bergen gefüllt und das ganze mit einem Stroh- Lehmgemisch verfugt. Die Dächer bestanden aus mehreren Schichten dichter Matten aus geflochtenen Palmblättern, welche zwar regelmäßig erneuert werden mussten, aber überraschend effizient waren. Da auch noch jedes Haus unterschiedlich groß war, wurde die Orientierung für Außenstehende zur Glücksache. Besonders, da Hausnummern in dieser Gegend noch so gut wir unbekannt waren. Es mochte irgendwo eine Art Katasteramt mit solchen Nummern geben, aber an den Häusern war nichts zu sehen.

Also, wie war das?“, fragte Konrad Unterbauer hielt seine Laterne hoch. „Links vorbei am rode Haus mit de blaue Zickzack-Linie, rechts am Haus mit de gelb-rote Kasdele und wieder links vorbei an dem mit dem braun-dürkise Mäandermuster.“

Stimmt Konrad.“ Auch Reinhard Vogel hatte eine Laterne mitgenommen und sah sich um. „Schau, da ist der Weg, und dort hint‘n schaut’s aus, als brennert ein Licht!“ Dem Weg zu folgen war jetzt nicht weiter schwierig, trotz der dunklen Nacht. Bald hatten die beiden Dragoner einen Ring aus recht großen Gebäuden erreicht, welche mit ziemlich eindeutigen Bildern bemalt waren.

Meinst du wirklich, wir sollte das mache“, fragte Unterbauer, plötzlich zögernd. „Ich mein, haltest du das für richtich, dass wir da zu den Mädle gehe?“

Wieso? Weil’s a dunkle Haut hab’n“, erkundigte sich Vogel.

Nein, ja, schon, weißt, das sin doch auch Mensche“, argumentierte Konrad. „Nutze mer de nichd ganz gemein aus, wenn wer de jetzt – na du weißt schon – äh, flach lege?“

Schon!“, bekannte Reinhard Vogel und kratzte sich am Kopf. „Aber weißt, dann dürft’ man ja in gar kein Puff mehr geh’n. Und von was sollt’n die Süß’n denn dann leb’n? Komm schon, Konrad, auf geht’s. Lass uns ein bisserl Spaß hab’n!“

Die Kakanier betraten den Ring aus Gebäuden. „Das einzige Problem, das wir jetzt noch hab’n, wie find’n wir die richtige Hütt’n.“ Stirnrunzelnd betrachtete Vogel die einzelnen Häuser.

Vielleichd is es das Häusele dord drübe“, wies Unterbauer auf ein Haus im Norden des Kreises. „Das had diesen komische Dings – diese Löwe mit de Krone und dem Stäbele mit de Kreuz obe über dem Dächle! Das habe wir auch auf die Zettelche!“

Stimmt, Konrad. Der Judalöwe.“ Vogel ging wieder los. „Hast du g’wusst, dass die abessinischen Christ’n grad den Judas für den wichtigsten Heiligen halt‘n?“

Ja, bei der Befehlsausgabe had uns der Vizeleutnant drauf hing’wiese!“ Vor dem angepeilten Haus standen einige Tische und Bänke, auf denen einige Soldaten in der weißen Infanterieuniform der abessinischen Armee saßen. Einige dieser Soldaten erhoben sich mit finsterem Gesicht, als die Dragoner näher kamen.

As-tu perdu ton chemin?“ Einer der Uniformierten mit zwei Winkeln sprach recht gutes Französisch.

Peut-être, mon Sergent.“ Zugführer Vogel sprach ebenfalls ein wenig die Sprache Voltaires, er und Unterbauer salutierten und die Abessinier erwiderten den Gruß. „Wir haben von Oberleutnant Tambaturu am Fluss Geba zwei Scheine geschenkt bekommen. Ist das hier das richtige Etablissement?“ Er zog die Papiere hervor.

Oui!“ Die Gesichter der Infanteristen entspannten sich. „Setzt euch! Heda, Weyizero zwei Becher Tela!“ Den Kakaniern fielen beinahe die Augen aus den Höhlen. Das schlanke, große Mädchen hatte außer einem kurzen Schürzchen nichts an, als sie die beiden Becher brachte und sich mit schwingendem Hinterteil wieder entfernte.

Das ist noch gar nichts, Ositirīyawi. Warte nur auf die Frauen, die dich drinnen erwarten!“ Der Sergent hieb Vogel lachend auf die Schulter. „Zum Wohl“, hob er seinen eigenen Becher.

Das Hirsebier sah nicht besonders Vertrauen erweckend aus, aber eine Ablehnung kam jetzt nicht mehr in Frage. Und giftig würde das Zeug schon nicht sein, wenn die Einheimischen es tranken, also tranken die Österreicher.

Also, Ottakringer ist des net”, stellte Vogel fest, grinste die Abessinier aber dabei an. „Gut“, nickte er ihnen zu. Nun ja, wirklich schlecht war es wirklich nicht, aber mit gewohntem Bier hatte das Gebräu nur wenig zu tun. Keine Kohlensäure und lauwarm.

Ich bin Sergent Jushua Banata. Jetzt erzählt einmal, warum euch der Oberleutnant diese Bezugsscheine geschenkt hat.“

Ich bin Caporal Chef Reinhard Vogel, und mein Freund hier ist Caporal Konrad Unterbauer. Wir haben einen Puma des Oberleutnant aus dem Fluss bekommen. Und notdürftig geflickt.“ Der Sergent übersetzte seinen Landsleuten, die darauf näher rückten.

Das müsst ihr erzählen“, forderte Jushua den Zugsführer auf. „Aber langsam, ich übersetze!“

Und Reinhard Vogel erzählte. „Ich hoffe, er wird einen Schmied finden, der den Puma richtig aufbocken kann“, endete er, mittlerweile hatten er und Unterbauer schon das dritte Hirsebier intus.

Haben wir“, rief Banata. „Er wird sicher hierher kommen, und wir schaffen das schon. Auch das mit der Stahlplatte. Aber jetzt seht zu, dass ihr in die Hütte kommt, sonst wird es zu spät für euch. Wir können ja vielleicht noch nachher miteinander reden!“ Dann drehte er sich um und rief in amharischer Sprache in die Hütte. „Maraja, die zwei sind Freunde von uns, verwöhnt sie ein wenig!“

=◇=

In dieser Nacht kam es zu keinem Überfall auf die Österreicher, welche am nächsten Morgen nach einem ausgiebigen Frühstück aufbrachen und, der Markierung des Weges folgend, Kurs auf die Schlucht nahmen.

Du könntest ein bisserl weniger befriedigt aus der Wäsch’ schau’n, Reinhard“, brummte Korporal Walter Fischer im Husar III.

Warum? Bist leicht neidisch, Walter“, gab Vogel zurück.

Na klar“, versetzte Fischer. „Du gehst zu den Weibern, und wir dürf’n maximal cinque contra uno spiel’n.“

Was willst denn“, lachte der Zugsführer. „Das ist doch eh die reinste Art! Sozusagen Liebe an und für sich!“

Aber halt’s doch zam. Hat der Mensch ein Glück!“

Hättest halt auch was ordentlich‘s g’lernt!“, polierte Vogel seine Fingernägel an der Bluse und machte ein hochnäsiges Gesicht.

Geh schleich dich doch, Wappler“, winkte Fischer ab. „War’s wenigstens fesch, die Katz’? Hat sich’s g’lohnt?“

Und wie, Walter. Und wie. Sie war ein richtiger kleiner Mohnkuch‘n, schwarz und süß. Außerdem war’s eine wahre Augenweide. Nur ein bisserl mehr Fleisch könnten da die Leut’ ganz allgemein hab’n. Die sind da alle so dünn und mager.“

=◇=

In Lalibela gab es glücklicherweise einige Hotels und Restaurants, denn es handelte sich immerhin um einen Wallfahrtsort. Aus ganz Abessinien kamen die Pilger zu den Erdkirchen, um den Worten der Popen zu lauschen. Auch wenn nach dem abessinischen Glauben Gott vor allem im Herzen der Gläubigen und damit überall wohnte, suchten auch die Abessinier einen Ort des gemeinsamen Erlebens. Viele Menschen der Bevölkerung sprachen recht gutes Deutsch und Englisch, mit einigen französischen Worten vermischt. Zumindest genug, um bei einem Spaziergang durch die Stadt nicht immer auf die Hilfe von Henrietta Jones angewiesen zu sein. Rasch wurde man sich in einer der Gaststätten über die nötigen Sachen wie Zimmer, Abendessen und Frühstück für die doch recht große Reisegesellschaft von immerhin mehr als vierzig Personen und dazu eine ummauerte Abstellmöglichkeit für die vier Fahrzeuge einig. Die Erzherzogin plante ja einen mehrtägigen Aufenthalt in Lalibela und wollte die Dragoner in dieser Zeit nicht in einem provisorischen Zeltlager unterbringen. Der Han aber war nur für eine, höchstens zwei Nächte gedacht, dann sollte man weiter ziehen und den Platz für Nachkommende frei Machen. Selbstverständlich zogen auch hier in Lalibela rund um die Uhr sechs Wachposten auf, um die Fahrzeuge zu bewachen. Man konnte nie wissen, und auch die Gegend um Aksum hatte als relativ sicher gegolten. Trotzdem hatten dort einige Personen zumindest die Fahrzeuge stehlen wollen.

Anders als die anderen Städte und Dörfer Abessiniens war Lalibela übersichtlich gestaltet. Es gab natürlich eine ummauerte Suq, wie überall im Orient. Doch hier konnte man sich leicht orientieren, wenn man die bunten Wandbemalungen einmal verstand. Auch bildeten die Gassen hier kein undurchschaubares Labyrinth, wie es sonst oft geschah. Es schien so, als hätte jemand Lalibela mit dem Lineal geplant, und wirklich hatte der Grundriss der Altstadt einige Ähnlichkeiten mit dem des antiken Alexandria. Soweit das nach den Schilderungen griechischer und römischer Schriftsteller zu erkennen war. Außerhalb der Suq setzte sich das farbige Leitsystem weiter fort, es war nicht weiter schwierig, die große Handelsstraße wieder zu erreichen. Die Kirchen waren für Fremde schwerer zu finden, man sah sie erst aus unmittelbarer Nähe. Es empfahl sich, zu diesem Behufe einen Führer zu engagieren.

Die bewaffneten und gepanzerten Fahrzeuge der Österreicher hatten wie überall für großes Staunen unter den Einheimischen gesorgt. Es hatte auch nicht sehr lange gedauert, bis die jeder im Ort wusste, wer im Hotel ‚Löwe von Zion‘ abgestiegen war. Eine Delegation der Stadt mit dem Patriarchen von Lalibela war in das Hotel gekommen und hatte die Prinzessin willkommen geheißen. Bei einigen kleinen Häppchen hatte man nett geplaudert, und der Patriarch hatte die Erzherzogin eingeladen, ihr die Kirchen persönlich zu zeigen. Maria Sophia war gerne darauf eingegangen und hatte die in den Boden gegrabenen Kirchen gebührend bestaunt. Sie waren wirklich so groß wie viele der europäischen Kathedralen, es war erstaunlich, wie die Vorfahren der heute hier ansässigen Bevölkerung diese Bauwerke tief in den Stein gemeißelt hatten. Wenn die Überlieferungen stimmten, mit Hämmern und einfachen Meißeln aus normalem Eisen, wie es auch die Römer benutzten, denn echter Stahl wurde nach dem derzeitigen Wissensstand hier in Africa erst Jahrhunderte später bekannt. Gesichert aber war das nicht, erst vor kurzem war die Speerspitze eines Oromo-Krieger gefunden worden, welche aus völlig anachronistischem bestem, kohlenstoffveredeltem Stahl bestand. Die Herkunft blieb unbekannt und ein Rätsel, das die Wissenschaftswelt entzweite.

Der Patriarch von Lalibela hatte seine Kirchen der Erzherzogin voller Stolz gezeigt und sie auch auf einige Besonderheiten aufmerksam gemacht. Leider hatte er aber bei der Lösung des Rätsels um den Goldenen Frühling nichts genaueres beizutragen gewusst, aber nach einigen Gesprächen hatte der oberste Priester der Tewahedo-Kirche die Reisegruppe eingeladen, den großen Schatz der Gemeinde zu besichtigen. Vielleicht, dass hier zumindest eine Teilantwort zu finden war, auch wenn er nicht wusste, wie. Dieser große Schatz war das Evangelium der Salome, einer Frau, welche Joshua ben Joseph und seine Frau Mirjam Magdala von Jerusalem nach Alexandria begleitet hatte und sich dort auf die Bitte Joshuas weiter um dessen Sohn und seine Frau gekümmert hatte, bis sie später ebenfalls weiterzog. Warum, das wussten sie noch nicht.

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>>Und es stand geschrieben: ‚Dem Volke Israel wird ein Retter erstehen, er wird geschaffen werden aus dem Geiste GOTTES, gezeugt aus dem Samen Davids und geboren aus dem Schoße Benjamins. Er wird das auserwählte Volk des HERRN in ein besseres Leben führen und voll von Gerechtigkeit sein. Sein Königreich wird das Königreich des Paradieses sein, wo er gerecht urteilen wird über die Gläubigen wie auch die Ungläubigen. Ihm wird die Macht gegeben sein, die Menschen von den Sünden und dem Joch der Sklaverei zu befreien!‘

Nun begab es sich, dass im Jahre 3799 nach dem Kalender des auserwählten Volkes GOTTES Josef, der Spross des Hauses David, heiratete Mirjam, die Tochter des Stammes Benjamin. Nach einem Jahr der Ehe schenkte die junge Frau ihrem Manne zu Beth L’chaim, einen Sohn, den das Paar Joshua nannte. Dieser Sohn war es, den die alten Prophezeiungen meinten, von dem sie schrieben, er solle der Messias werden, der Gesalbte. Und er wuchs mit seinen jüngeren Brüdern und Schwestern auf als Mensch, bis dass sich sein Schicksal erfüllen sollte. Im Jahre 3820 nahm er zur Frau Mirjam aus dem Ort Magdala, und sie wusch seine Füße, salbte sie ihm mit Nardenöl und gebar ihm im zweiten Jahr ihrer Ehe Josef. Als das Kind fünf Jahre alt war, sammelte Joshua seine Jünger und begab sich auf die Wanderung durch Judäa! Und sie wanderten sechs Jahre und sprachen zu den Menschen, bis sie ihre Schritte wieder zurück nach Jerusalem lenkten. 3833 Jahre nach der Erschaffung des Menschen durch den GOTT unserer Väter trafen sie ein in der heiligen Stadt des Volkes Israel, wo auch stand der große Tempel des Salomo!<<

Aus dem Evangelium der Salome, die mit dem Lehrer und seiner Gefährtin wanderte.

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Warum ist sie dir lieber als wir, die wir doch deine getreuen Jünger sind, Herr!“ Der Tonfall des Mannes war eine Mischung aus Trotz, Aggressivität und Unterwürfigkeit, als er die Frage stellte.

Fragst du mich das wirklich, Simeon? Wahrlich, ich sage dir: höre ihr zu und dann dir selbst. Sie macht mich glücklich, denn sie liegt nicht nur bei mir, sondern sie versteht mich besser als ihr alle, Simon. sie weiß, wie man mit den Menschen sprechen soll, sie spricht zu ihnen mit ihrer Zunge, und sie lauscht ihren Kümmernissen. Doch du warst selbst einst Fischer, aber jetzt denkst du, du wärest weit darüber erhaben, mit den Ärmsten der Armen zu sprechen!“ Der etwa fünfunddreißig Jahre alte Mann mit dem langen Vollbart hob die Hände. „Habe ich dir nicht immer wieder gesagt, Simon, das Himmelreich erringt nicht jener, der hinaufsteigt und auf andere herab blickt, sondern nur jener, der selbst zu seinen ärmeren Brüdern herabsteigt. Der den Ärmsten das Brot gibt, dass er dann selbst mit seinen Brüdern bricht.“

Und sie?“ Simon fuchtelte mit den Händen. „Sie sonnt sich in deiner Liebe, Herr, und wir nicht! Ist das gerecht, frage ich dich?“

Simon, sie schenkt mir ihre Liebe, sie schenkt mir Freude, sie schenkte mir einen Sohn. Sie salbt meine Füße und küsst meine müden Glieder – wie sollte ich sie da nicht lieben? Wende dich ab von Neid und Eifersucht, Simeon, sie führen dich in die falsche Richtung! Damit wirst du die Himmel Gottes nimmermehr erreichen.“ Damit wandte sich Joshua ab und wandelte den Hügel hinauf, um sich zu Mirjam und seinen Eltern zu gesellen.

Simeon stampfte mit dem Fuß auf. „Er will nicht wahrhaben, dass er der Gesalbte ist, der Befreier seines Volkes vom Joch der Römer und der Priester, dem dann natürlich auch die Herrschaft zusteht. Und dass wir jene sind, die sie stellvertretend für ihn ausüben könnten!“

Dann brauchen wir eben einen Märtyrer, keinen König, mein Bruder!“

Simeon fuhr mit entsetzter Miene herum. „Du möchtest Joshua töten? Das kannst du nicht machen, Andreas!“

Ich? Ich werde gar nichts machen“, beteuerte Simeons Bruder. „Das machen schon die Römer!“

Aber – warum sollten sie denn?“ Ratlosigkeit prägte die Züge des ersten Apostels.

Nun, Königreich? Macht? Der gesalbte Retter? Wenn das kein Aufwiegeln gegen Rom und Cäsar Tiberius ist!“ Andreas rieb sich die Hände. „Wenn Pontius Pilatus das hört, endet unser Freund am Kreuz, und Jakow, sein Bruder, übernimmt seine Nachfolge.“ Andreas senkte in gespielter Demut das Haupt. „Mit uns als seinen getreuen Helfern und Beratern, natürlich!“

Das werden die Anderen doch niemals zulassen!“

Denkst du?“ Andreas sah Joshua lächelnd nach. „Es sind nur drei, die nichts davon erfahren dürfen. Simeon Zelotes, er ist viel zu eifrig damit beschäftigt, Joshua nachzueifern und im Dreck zu wühlen, sich mit Aussätzigen, Huren, Abdeckern und sonstigem Abschaum abzugeben. Matthäus, denn ich werde diesem ehemaligen Beamten und Steuerpächter um nichts in der Welt vertrauen, und natürlich Judas Iskariot. Diese Iskarier sind zu treu und so verdammt ehrlich. Keiner von denen würde seinen Gegner jemals anders als von vorne erledigen, und Judas ist außerdem absolut loyal gegenüber Joshua!“

Wenn Jakow die Nachfolge des Joshuas antreten soll, müssen aber Joshuas Sohn und Ehefrau auch verschwinden“, freundete sich Simeon immer mehr mit der Idee einer gehobenen Machtposition in der Gemeinde des Messias an. „Komplett!“

Eine Frau und ein vierzehnjähriger Knabe!“ Juda, der Sohn des Jakow, war zu ihnen getreten. „Ich nehme Mirjam zu mir“, sagte er wegwerfend. „Und sie wird mir dankbar sein, dass ich sie und ihren Sohn Josef nicht vor die Hunde gehen lasse. Solange sie eine brave, unterwürfige und demütige Ehefrau bleibt, natürlich.“

Auch Jakow und Jochanan, die Söhne des Zebedäus waren hinzu getreten und nickten den anderen zu. „Wir müssen uns rechtzeitig absichern. Joshua gibt das Geld mit vollen Händen aus, um irgendwelche Leute zu verköstigen, die uns überhaupt nichts angehen. Für uns, für seine Jünger und Berater, bleibt davon nichts mehr übrig!“

Nun ja, es ist ja auch das Geld seiner Mutter, das er dafür ausgibt. Und solange die nichts sagt, was können wir schon machen“, meinte Juda ben Jakow.

Diese Frau ist doch total vernarrt in ihren Sohn. Sie wird ihn nie an seinem Tun hindern! Sie verschenkt ja selber auch Unsummen!“ Phillipus stemmte die Fäuste in Seiten. „Wir müssen überhaupt vorsichtig sein, damit keines von den Weibern etwas mitbekommt. Die sind alle ganz verrückt nach seinen Worten und Taten!“

Er predigt ihnen ja auch andauernd, dass sie gleich viel Wert wie Männer seien, dass sie heilige Gefäße sind und diesen ganzen Schwachsinn. Dass sie eigenen Besitz und auch die gleichen Rechte wie wir Männer haben sollen! Dieser spezielle Messias ist mehr als gefährlich für unsere Jahrhunderte alten Gesellschaftsordnung. Wir brauchen einen anderen Anführer, der ihnen die Flausen wieder austreibt und sie wieder untertänig werden lässt!“

Lasst uns jetzt nach oben zu den Anderen gehen”, warf Andreas ein. „Sonst wird selbst der gutgläubige Joshua noch aufmerksam und schöpft Verdacht!“

Die Gruppe Männer verließ ihren Platz an den Büschen und folgte dem Messias nach oben. Zwei Frauen kamen hinter einem Gebüsch hervor.

Diese Verbrecher“, schimpfte Salome, und Rebekka stimmte ihr zu.

Wir müssen etwas unternehmen, und das schnell, Salome!“

Stimmt. Lauf du zu dem Iskarier, Judas soll alles für eine Flucht vorbereiten. Vor allem Mirjam Magdala und Josef müssen rasch in Sicherheit gebracht werden, das hatte für unseren Lehrer schon immer erste Priorität. Ich gehe inzwischen zu Joses, dem Bruder unseres Lehrers. Der hat doch sicher noch Kontakte, welche uns helfen werden! Und Juda, der andere Bruder, muss auch benachrichtigt werden. Das übernimmst du, bitte, wenn du bei Judas warst. Er soll die heiligen Gegenstände irgendwo für die nächste Zeit verstecken, denn du kannst sicher sein, dass die Reliquien wie etwa Davids Schleuder, Salomos Tefilim oder die sieben Schofare von Jericho diesen Leuten sehr wichtig wären. Ich laufe dann noch rasch zum reichen Handelsherrn Josephus! Spute dich, Rebekka, im Namen des gerechten HERRN, so lauf doch zu!“ Beide Frauen liefen in unterschiedlichen Richtungen davon, um die Getreuesten der Helfer Joshuas von dem Komplott gegen ihren Freund und Lehrer zu unterrichten.

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Die genagelten Sandalen der Römischen Kohorten machten ziemlichen Lärm, als die Legionäre über die Straßen Jerusalems den Garten erreichten, wo Joshua und die Apostel schliefen. Die Soldaten des Statthalters Pontius Pilatus waren gekommen, um den Lehrer gefangen zu nehmen. Simeon, der Eiferer, wollte in seinem Zorn noch ein Schwert zur Verteidigung ziehen, doch Joshua fiel ihm in den Arm.

Nein, Simeon. Es wäre sinnlos, und nicht sie sind es, welche mich hintergehen. Leb wohl, meine Zeit ist gekommen!“ Er wandte sich noch Judas zu und küsste ihn auf die Stirn. Damit hielt er dem Zenturio seine Hände hin, welcher sie mit einem Strick zusammen band, und einen weiteren mit einer Schlinge um Joshuas Hals legte.

Wir haben gehört, du willst ein Königreich errichten, Jude“, herrschte der Römer Joshua an.

Ein Königreich des Himmels“, bestätigte Joshua!

Nun, das ist wohl Hochverrat an Tiberius! Nehmt ihn mit!“

Meister!“ Judas Iskariot wollte ihn begleiten, wurde jedoch von den Römern beiseite gestoßen. „MEISTER!“

Sorge dich nicht um mich, Judas!“ Joshua drehte noch einmal den Kopf und sah Judas eindringlich an. „Sorge dich nicht um MICH!“

Ja Meister!“ Judas ließ den Kopf hängen, erst als die anderen Jünger mit Ausnahme des ehemaligen Steuerpächters Matthäus, des ewig zweifelnden und alles genau durchdenkenden Thomas und des eifrigen Simeon Zelotes, welche dem Meister nachgingen, ganz nahe waren, bemerkte er sie.

Wo sind Mirjam und Josef“, wollte der Sohn Jakows, Juda, wissen.

In Sicherheit“, erklärte Judas Iskariot fest. Phillipus und Andreas packten den Iskarier an den Armen.

Wo sind sie?“ Simeon griff in die Haare des Judas und zog seinen Kopf zurück. „Wo?“

Dort, wo ihr Verräter sie nie finden werdet!“ Verachtung schwang in der Stimme des Judas mit.

Und die heiligen Gegenstände?“ Simeon riss schmerzhaft an den Haaren!

Um die kümmert sich jemand anderes! Ich habe keine Ahnung“, log Judas, und Simeon ließ sich täuschen.

Hängt ihn am Hals auf, damit es nach Selbstmord aussieht. Und werft ein paar von den Silbermünzen neben ihn. Wir sagen den anderen einfach, er hätte Joshua verkauft und nicht mehr mit der Schuld leben können!“

Mit Vergnügen, Meister! Ich wollte diesen gebildeten Schnösel schon lange weg haben, Gott erfüllt so manchen Wunsch!“ Damit stieß der grobe Phillipus Judas zu einem Baum und gemeinsam zogen sie den Iskarier hoch und imitierten seinen Selbstmord.

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Es waren viele Tage vergangen. Tage, in denen die Römer Joshua in der Arena Judäas immer und immer wieder öffentlich mit schweren Peitschen den Rücken blutig geschlagen hatten. Nun nahmen sie ihm auch noch das letzte Schamtuch weg, luden ihm und noch zwei anderen als Hochverräter verurteilten Männern die Querstücke ihrer Kreuze auf die Schulter und banden ihre Arme daran fest. Joshua setzten sie noch eine römische Krone, allerdings statt aus Gold geschmiedet aus Dornenranken geflochten auf das Haupt. Er blinzelte in die strahlende, warme Frühlingssonne. So also sollten er und seine Ideen von einer besseren Zeit enden? Seine sozialen Projekte, seine Bemühungen für eine bessere Stellung der Armen und der Frauen? Ein heftiger Peitschenhieb ließ in vorwärts taumeln, immer einen Schritt nach dem anderen. Er sah die Menschenmenge, welche seinen Weg säumte, und er sah in den Gesichtern alle menschliche Emotionen. Von der tiefen Trauer und ehrlichem Mitleid bis Häme und Sensationsgier. Weiter, immer weiter stolperte er, wie eine Maschine. Er hatte sich tief in sich zurück gezogen und betete! Betete zu seinem Gott, aus dessen Geist er geschaffen wurde. Er schloss innerlich mit seinem Leben ab und ergab sich ganz bewusst in sein Schicksal. Er wusste, was geschehen war, Salome und Rebekka hatten ihn gewarnt. Er hatte vorgehabt, die Verräter in den nächsten Tagen zur Rede zu stellen, doch sie und die Römer waren noch schneller gewesen, als er dachte. Viel schneller. Grausamer Schmerz durchzuckte seine Handgelenke, als grobe eiserne Nägel mit wuchtigen Hammerschlägen hindurch getrieben wurden. Die Römer zogen den Querbalken am aufrecht stehenden Stamm hinauf und befestigten ihn, dann schlugen sie auch Nägel durch seine Fußgelenke. Nun begann die lange Tortur der Gekreuzigten, unter riesigen Schmerzen die Beine anspannen, um den Brustkorb zu entlasten, dann wieder ausruhen, unter Atemnot und vielen anderen schmerzhaften Symptomen leiden. Irgendwann raffte man seine Energien wieder zusammen, um doch trotz aller Schmerzen wieder für ein paar Minuten Luft zu kämpfen. Römische Henker verstanden ihr Handwerk, und es war eine brutale, bösartige Methode der Hinrichtung für Verräter an Rom. Was er zwar nie gewesen war, nicht einmal sein wollte, aber die Römer waren harte und mitleidlose Herren. Sie reagierten selbst auf erlogene Denunziationen mit aller Härte und Brutalität. Sie waren auch gierige Herrscher, denn das Vermögen der Verurteilten wurde stets bis auf den letzten Schekel, die letzte Sesterze eingezogen. Aber sie waren auch korrupt und bestechlich. Der Pulsum, das Essiggetränk, welches einer der Legionäre mit einem Schwamm an einer Stange an seine Lippen hielt, war um den Preis vieler Sesterzen mit einem schweren, schnell wirkenden Opiat versetzt. Und jener Soldat, welcher mit einem Einstich in den Körper des Gekreuzigten den Tod feststellen sollte, stach dank einiger Goldmünzen nur oberflächlich. Selbst Pontius Pilatus war nicht abgeneigt, gegen ein ‚kleines‘ Geschenk den Leib Joshuas zur Beerdigung frei zu geben, nachdem ihm der überraschend schnelle Tod gemeldet wurde.

Im Besitz dieser Erlaubnis, den Toten begraben zu dürfen, eilte Josef zum Berg Golgatha, wo die Richtstätte der Römer lag und brachte den ausharrenden Frauen die gute Nachricht. Den Legionären war das egal. Sie nahmen den Befehl des Statthalters entgegen und dieses Wort war für sie eben ein Gesetz, das sie nicht hinterfragten. Mirjam, des Lehrers Mutter, Sarah, seine Schwester und Mirjam, deren Tochter nahmen gemeinsam mit Josef, dem Handelsherrn und treuen Jünger den Leichnam vom Kreuz und salbten ihn für das Begräbnis, beobachtet von den nun nur noch elf Aposteln und bewacht von einigen bewaffneten Knechten des Händlers. Dann brachten sie ihn in das Familiengrab des Josef und betteten ihn, wie es üblich war, auf eine Stufe der Grabkammer. Die Apostel, allen voran Simeon, wollten wenn nötig mit Gewalt ebenfalls in diese Kammer im Berghang, denn sie vermuteten die heiligen Artefakte darin. Allen voran drängte Simeon darauf. Jener Simeon, der sich jetzt Petrus nannte und behauptete, Joshua hätte ihm selbst diesen Namen gegeben. Als Fels, auf dem er eine Kirche bauen wollte. Obgleich der Lehrer so etwas nie im Sinn gehabt hatte, er wollte den Glauben seiner Väter reformieren, er wollte dem Wort GOTTES, seines geistigen Vaters, wieder Geltung verschaffen. Er wollte, dass man nicht mehr an den rächenden, eiskalt strafenden, sondern an den liebenden GOTT glaubte. Er wollte niemals selbst GOTT sein, sondern nur dessen Sohn, der die Liebe seines geistigen Vaters zu den Menschen bringen und sie dessen Worte lehren wollte. Aber Petrus benötigte für seine und der anderen Apostel Pläne einen anderen GOTT und einen anderen Sohn GOTTES. Ein selbst übermächtiges Wesen, seinem SCHÖPFER gleich an Bedeutung und Geltung. Einen GOTT gleichen Gottessohn, dessen Befehle sie für ihre Legitimation brauchten. Und selbstverständlich suchten sie für ihre Herrschaft auch noch in den Besitz einiger der heiligen Waffen und Symbole zu kommen, welche der Stamm Davids und der Stamm Benjamins bewahrten. Die Schleuder Davids etwa, mit der man einen zerstörerischen Blitz über mehr als einen Kilometer zielsicher schleudern konnte. Die sieben Schofare, die heiligen Widderhörner, mit deren Schall man Wälle und Burgmauern zum Einsturz bringen konnte. Der Brustpanzer der Höchsten der Hohepriester oder jenes Gefäß, das die Juden mit Manna, mit göttlichem Brot versorgt hatte, als sie Moses aus Ägypten folgten. Die Flügel eines der Boten Gottes und den Stab des Moses, mit dem er das Wasser teilen und zurückrufen konnte. Vielleicht sogar die Bundeslade mit den Geboten Gottes. Doch nichts von alledem war hier in diesem Grabe zu sehen, Juda, der Bruder des Messias, hatte eine gute Wahl getroffen, als er alles in Sicherheit brachte. So zogen die Apostel enttäuscht wieder ab und riefen Jakow, den Bruder des Lehrers, und Simon Petrus zum neuen Anführer aus.

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Mirjam? Josef?“ Die ersten, leise gehauchten Worte des Lehrers galten seiner Familie.

Ich bin hier, Geliebter!“ Vorsichtig ergriff die Frau Joshuas Hand, streichelte über die dicken Verbände.

Hier, mein Meister!“ Salome, die mit Mirjam aus Magdala Wache gehalten hatte, kam hinzu, eine Schale mit starker Fleischbrühe in den Händen haltend.

Der Medicus sagte, du müsstest jetzt erwachen, und er hatte recht behalten. Mein Geliebter Mann, ich…“ Mirjam konnte nicht weitersprechen, die Tränen schnürten ihr wieder die Kehle zu.

Hilf mir, Meisterin“, bat Salome, und Mirjam nickte, nahm den Kopf Joshuas auf ihren Schoß und stützte ihn, damit er einige Schlucke der Brühe trinken konnte.

Die heiligen Dinge sind in Sicherheit, Bruder.“ Joses und Judas, die beiden Brüder des Lehrers, kamen aus dem Hintergrund, ebenso Josef, der Händler. „Vater und Mutter kommen zwar an dein Grab und sprechen ihre Gebete, ebenso deine Schwester und ihre Tochter. Doch sie bleiben außerhalb, denn Simon Petrus lässt sie beobachten. Jakow ist jetzt der Führer unserer Schar, aber er sagt nur, was Simon Petrus im vorkaut. Beide denken, dass wir ihnen ihre Geschichten glauben, aber wir wissen es besser. Werde gesund, und dann…“

Joshua hob matt die Hand. „Später, Brüder, bitte! Wie kommt ihr hier herein?“

Ein geheimer Gang, Lehrer“, erklärte Josef. „Manchmal ist ein Versteck recht praktisch, also gibt es auch eine verborgene Kammer. Dein Sohn ist bei mir, Lehrer, und es geht ihm gut!“

Danke, Josef! Ich danke euch allen.“ Dann schlief der Geschundene wieder, er brauchte Zeit, viel Zeit, um wieder gesund zu werden.

>>Und so kam es, dass Joshua bar Josef, der Spross Gottes, Davids und Benjamins, aufbrach nach Ägypten und seine Schritte nach Alexandria lenkte, wo eine große Gemeinde mit mosaischen Glauben lebte. Sechs Jahre wanderten wir mit dem verehrten Lehrer durch die Wüste und trafen 3839 in der Stadt Alexanders ein. Dort blieb Josef, der Sohn des Joshua, bei Rahel, die eine Schwester der Mirjam aus Magdala war, und nahm deren Tochter Mirjam zu Gemahlin. Sie gebar ihm drei Töchter und endlich im Jahre 3850 den ersten von zwei Söhnen, den sie Yoshua nannten.<<

Aus dem Evangelium der Salome, die mit dem Lehrer und seiner Gefährtin wanderte.

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Also, in der Schule habe ich das aber noch anders gelernt. Ganz anders!“ Henrietta Jones hob den Blick von dem Buch, aus welchem sie gleichzeitig in das Deutsche übersetzend vorgelesen hatte. Maria Sophia rieb sich das Gesicht.

Ich auch! Es erzählt zwar prinzipiell von den gleichen Ereignissen wie die anderen Evangelien, aber die Personen sind – anders, als wir bis jetzt immer dacht haben. Es ist ein ganz ein anderer Blickwink‘l!“

Glauben Sie das, was da steht, Hoheit“, fragte der Oberst. „Ich meine, das könnte ja jeder geschrieben haben, irgendwann.“

Nun, halte ich es für Möglich, dass sich die Dinge damals so zugetragen haben? Ja, das tue ich, warum denn nicht“, versetzte die Erzherzogin. „Glaube ich, dass das die Wahrheit und nichts als Wahrheit ist? Eindeutig ein Vielleicht. Aber ganz eindeutig. Ich war ja nicht dabei! Also, soviel ich weiß! Denn falls die Buddhisten und Hinduisten recht haben sollten mit ihrer Reinkarnation, erinnere ich mich zumindest nicht daran.“

Ich versichere euch, Hoheit, dass dies wirklich das Evangelium der Salome ist, welche zuerst mit Joshua nach Alexandria ging und dann nach Gonder.“, beteuerte ein altehrwürdiger Mann mit einem Bart, welcher bis zu jenem Seil reichte, welches er um seine einfache Mönchskutte gebunden hatte. „Dort traf sie auf den Stamm Daniels und überließ diesem ihre Schriften. Von dort aus ist das Buch letztendlich hierher gekommen.“

Und ich glaube euch, Patriarch, dass ihr fest davon überzeugt seid“, beschied Maria Sophia nachdenklich. „Aber, wenn ihr das alles glaubt, was da drin steht, warum verehrt ihr denn dann den Joshua wie einen Gott?“

Joshua, oder Jesus, wie ihr sagt, ist für uns ein Sohn GOTTES im Geist, wie wir alle Kinder aus SEINEM geheiligten Geist sind. Wir ehren Joshua als Boten, der als Mensch gelebt, geliebt und gepredigt hat, als Mensch gestorben ist und uns das WORT GOTTES gebracht hat. Dafür, Hoheit, ehren wir ihn, aber wir verehren ihn nicht als göttliches oder gar GOTT gleiches Wesen.“

Und warum dann die Kreuzform der aus der Erde gegrabenen Kirchen?“ sah sich Elisabeth von Oberwinden bewundernd um.

Ach, das Kreuz ist für uns ein Symbol, welches nichts mit dem römischen Folter- und Hinrichtungskreuz zu tun hat. Welches im übrigen die Form eines T hatte. Nein, bei uns symbolisiert die senkrechte Linie den himmlischen Strahl des GÖTTLICHEN Geistes und SEINES Willens, SEINER Energie und Kraft, welcher den waagrechten Balken, der die Erde darstellt, durchdringt, befruchtet und segnet. Das Spirituelle trifft auf das Weltliche, das Geistige auf das Stoffliche. Darum sind ja auch alle vier Balken unseres Kreuzes alle gleich lang!“

Die Vorstellung eines auch als Mann potenten und liebenden Menschen gefällt mir durchaus“, bemerkte Oberst von Inzersmarkt und zwirbelte seinen Schnurrbart. „Auch wenn ich vorher misstrauisch war, was die Echtheit der Schrift angeht, und noch immer nicht überzeugt bin. Vielleicht, weil mir der Jesus aus diesem Buch so viel besser gefällt als der aus der Bibel aus Rom. An die und ihre Gebote hält sich ja nicht einmal der Erzbischof von Wien, also der Ferdinand Langer.“

Aber wieso denn, mein lieber Inzersmarkt?“, hob Maria Sophia fragend eine Augenbraue.

Äh, na ja, weil halt eben, weil…“, verfiel der Oberst verlegen ins österreichische Deutsch.

Ein tolles Argument, Oberst“ lachte die Prinzessin. „Aber die Kurie verlangt mit dem Zölibat ja nur Ehelosigkeit, nicht ein Leb‘n ohne Sex. Und der Erzbischof Langer will ja meine Mutter eh nicht heirat’n, Inzersmarkt. Nur…“ Sie schlug zwei Mal mit der rechten Handfläche oben beim Daumen auf die zur Faust geballten Linke.

HOHEIT!“ Inzersmarkt war schockiert.

Was denn? Es weiß doch eh schon der halbe Hof!“

Ja, schon, ein großes Geheimnis ist’s nimmer, das stimmt schon. Aber diese Geste – die, das, also, so etwas sollt’n Sie doch gar nicht kennen, geschweige denn benutz’n, Hoheit“, stotterte der Oberst.

Ach! G‘wöhnen’s ihnen besser daran, mein lieber Oberst. Ich hab’ auch noch ein paar ganz andere Handzeichen auf Lager!“

Auf jeden Fall war dieser neue Blickwinkel auf das neutestamentarische Geschehen erstaunlich, und Henrietta Jones wollte noch weiter in den Schriftrollen lesen und sich Notizen machen, um später eine Zusammenfassung zu erstellen. Vielleicht, dass sich doch noch ein Hinweis finden ließ, irgend etwas, das das Rätsel kleiner machen könnte. Bei der Menge an Schriftrollen war es eine ganze Menge Arbeit, welche auf die junge Frau wartete.