8. Wieder im 21. Jahrhundert
Das leise Singen der Turbinen fiel nach einer Weile nicht mehr auf. Einen leichten Druck auf den Ohren hatte Fred erst durch Anwendung des Valsava-Manövers wegbekommen, vermutlich ein verstopfter Kanal im Nasen-Rachen-Raum. Vorsichtig wandte er den Kopf. Ewa. Kein Traum. Neben ihm, am Fenster, saß Ewa. Er fasste es immer noch nicht. Wegen einer verrückten Idee, die ihm im alkoholisierten Zustand herausgerutscht war, flog er jetzt mit dieser Traumfrau nach Island.
Wie zufällig hatte Ewa ihre Hand auf der Sitzlehne auf die seine gelegt. Sie schien einem näheren Kennenlernen nicht abgeneigt zu sein und ließ es zu, dass er ihre Hand streichelte.
Es war ein Sonderangebot gewesen. Nicht Ewa, sondern Reykjavik; für 69 Euro pro Person hin und für 99 Euro zurück. Keine andere Airline bot etwas vergleichbar Günstiges an. Sie hatten sich zugegebenermaßen Hals über Kopf entscheiden müssen und noch die letzten zwei Plätze ergattert. Eine Recherche zu ihrem Ziel hatten sie zwar im Vorfeld erledigt, aber diverse Details fehlten noch, Ewa erledigte das gerade von ihrem Laptop aus. Die Airline bot – als eine von wenigen – sogar kostenloses Wlan an Bord an.
Ewa schien bemerkt zu haben, dass er sie ansah. Sie wandte den Kopf. „Wäre ein Appartement okay? Ist günstiger als ein Hotel, und in eine Jugendherberge willst du vermutlich nicht.“
Da war wieder dieses heiße Prickeln im Bauch. Appartement klang nicht nach Einzelzimmer. War das ein Angebot? „Äh, nein. Ein Sechsbettzimmer in der Jugendherberge fände ich unromantisch.“
„Definiere Romantik.“
Zusammen mit ihrem Lächeln ließ das seine Worte auf der Zunge gerinnen. Falls dort welche gelegen haben sollten. „Ich meine…“
„Wir werden uns einigen. Vermutlich gibt es in einem Appartement ein Sofa, falls du lieber da schlafen möchtest.“ War das jetzt ironisch gemeint oder als Abfuhr? „Also, soll ich es buchen?“
„Was kostet das?“
„Hundertzwanzig pro Nacht.“
„Das ist akzeptabel.“
„Schön.“ Sie klickte auf ihrem Computer herum. „Warum dauert das so lange?“
„Vermutlich, weil Internet über Satellit etwas instabil läuft, wenn man sich mit 800 Stundenkilometern bewegt.“
„Ah! Jetzt! Die Buchung ist bestätigt.“
„Wunderbar. Hast du dich auch schon näher über die in Frage kommenden Museen informiert?“
„Das kommt jetzt.“
Nachdem auch das erledigt war, waren von dem Flug immer noch zwei Stunden übrig. „Erzähl mir was von deiner Arbeit“, schlug Ewa vor. Ihre Hand kehrte von der Tastatur zu seiner zurück.
Nun, darüber konnte er berichten, ohne in Verlegenheit zu geraten. Die Entdeckung von Exoplaneten mittels der Transitmethode, bei der man nach der Verfinsterung von Sternen suchte, wenn so ein Planet vor seiner Sonne vorbeizog und eine Mini-Sonnenfinsternis verursachte; die Untersuchung der Atmosphäre anhand der Absorptionslinien, die sie dem Sonnenlicht aufprägte, während es die Gashülle des Planeten streifte.
„Nachts am Fernrohr zu sitzen und die Botschaften der Sterne aufzufangen, das stelle ich mir romantisch vor. Oder noch lieber: selbst hinzufliegen.“
„Hast du dir deswegen für den Club die Rolle der Außerirdischen ausgesucht?“
„Ja, vielleicht.“
„Aber ich muss dich enttäuschen. Niemand sitzt am Fernrohr. Die Beobachtungen macht das Weltraumteleskop TESS, und wir werten nur seine Daten aus. Wobei die Verbindung stabiler ist, als eine Internet-Verbindung im Flugzeug.“
„Kostet vermutlich auch mehr.“
„Und hat größere Antennen.“ Erst als er es gesagt hatte, ging ihm auf, dass sie das eventuell als sexuelle Anspielung hätte auffassen können. Aber wenn er das jetzt dementierte, war es erst recht eine. Sie ging zum Glück nicht näher darauf ein.
„Und macht ihr noch etwas anderes an deinem Institut?“
„Sicher. Wir haben verschiedene Forschungsgebiete.“
„Zum Beispiel?“
„Künstliche Intelligenz. Messinstrumente. Alles mögliche.“
„Messinstrumente?“
„Ich bin zum Beispiel auch in einer Arbeitsgruppe, die an dem Stellarbolometer arbeitet.“
„Bolometer? Nie gehört. Was ist das?“
„Ein Fernthermometer.“
„Ah. Also so was, mit dem man auf Distanz Fieber messen kann.“
„Im Prinzip ja. Allerdings wesentlich präziser. Wenn es fertig ist, wird man die Temperatur von Planeten oder Asteroiden damit messen können. Oder von Satelliten aus die Erde überwachen.“ Er lachte verlegen. „Das hätte ich dir jetzt gar nicht erzählen dürfen.“
Um unauffällig das Thema zu wechseln, erkundigte er sich nach ihrer Tätigkeit. Und um ihr Interesse zu verbergen, ging sie darauf auch ein. „Ich entwerfe Designs für Gebrauchsgegenstände.“
„Tassenuntersetzer zum Beispiel“, erinnerte er sich.
Sie lächelte. „Zum Beispiel. Ich folge dabei der Bauhaus-Tradition: ‚Form folgt Funktion’, wenn du verstehst, was ich meine. Keine Schnörkel oder überflüssigen Ornamente, die mit der Funktion nichts zu tun haben.“
„Also schlichte, klare Linien. Ich vermute, auf einem Buchumschlag würde bei dir nur der Titel stehen, schwarz auf weiß und ohne grafische Elemente.“
„Du übertreibst.“
„Ich versuche zu verstehen. Würdest du Schmuck tragen?“
„Warum nicht? Ich trage Schmuck.“ Sie löste ihre Hand aus der zärtlichen Verschränkung der Finger, hob sie und lenkte seinen Blick damit auf ihren dreieckigen Ohrclip, der zu dem ebenso mit einem Dreieck verzierten Fingerring paßte. „Aber eben klare Linien, wie du es nennst.“
„Und du betrachtest das nicht als einen überflüssigen Schnörkel an deinem von Natur aus perfekten Körper?“
„Ein durchschaubarer Versuch, mir zu schmeicheln? Schau dich an, sogar du trägst Schmuck. Oder was ist das da?“ Sie zeigte auf das Lederband, das er um den Hals trug, und an dem offenbar ein Amulett oder dergleichen hing, das allerdings in seinem Hemdkragen verschwand.
„Erstens bin ich kein Verfechter des Bauhaus-Prinzips, und zweitens ist das kein Schmuck im eigentlichen Sinne.“ Er zog das Band mit dem daran hängenden Gegenstand aus dem Kragen. „Das ist das Kreuz, das ich zur Konfirmation bekommen habe.“
„Tatsächlich.“
*
Die Maschine landete in oder auf Kevlavík, dem internationalen Flughafen Reykjaviks. Die Umgebung hatte aus der Luft sehr ländlich ausgesehen und überhaupt nicht nach Großstadt. Wobei Fred sich eingestehen musste, dass er sich über die Größe Reykjaviks im Vorfeld keine Gedanken gemacht hatte, aber von einer Landeshauptstadt hatte er mehr erwartet.
Trotz Internetrecherche wusste Ewa leider auch nicht mehr. Im Abfertigungsgebäude fanden sie als erstes einen Kiosk mit internationaler Presse. Die Zeitung, die von sich behauptete, wohin auch immer man fahre, sie sei schon da (wenn auch vielleicht die Ausgabe vom Vortag), grinste Fred an. Aber es gab auch einen Informationsschalter. Frauen können keine Karte lesen und Männer fragen nie nach dem Weg. Fred raffte sich trotzdem auf und sein Englisch zusammen (für wissenschaftliche Literatur war es ausreichend, aber in astrophysikalischen Aufsätzen kamen selten Begriffe wie ‚Verkehrsverbindung’ vor) und erkundigte sich etwas unbeholfen, wie man denn nun nach Reykjavik komme. Er wurde auf den Bus verwiesen, der ‚just over there’ abfahre.
„Und?“, erkundigte sich Ewa.
„Mit dem Bus. Irgendwo gleich da drüben. Ich denke, ich erkenne einen Bus, wenn ich ihn sehe.“ Sie zogen mit ihren Rollkoffern auf die Straße, stellten fest, dass es draußen etwas kühler war als drin, und erkannten vor allem die anderen Reisenden, die sich bereits an der Haltestelle eingefunden hatten. „Da muss es sein.“
„Wie lange fährt man?“, wollte Ewa wissen.
„Danach habe ich vergessen zu fragen. Wir werden ja sehen, wann wir da sind.“
Der Bus tauchte wenige Minuten später auf. Er war modern ausgerüstet, sie konnten ihre Tickets bargeldlos bezahlen und erfuhren, dass die Fahrt etwa eine Stunde dauern würde. „One hour?“
Die Busfahrerin, blond wie Stroh, aber mit einem Pferdegebiss gesegnet, grinste breit. „It’s sixty Kilometres.“
Okay. Sie verstauten ihr Gepäck, suchten sich Sitzplätze und stellten keine weiteren Fragen.
*
Der Bus setzte sie mitten in der Stadt ab. Inzwischen war es, nach Ortszeit, kurz vor achtzehn Uhr. Auf Island galt, trotz seiner wesentlich westlicheren Lage, Greenwich-Zeit, sie hatten ihre Uhren nur eine Stunde zurückstellen müssen. Allerdings fühlte es sich von der Tageshelligkeit her an wie mittags. Natürlich, überlegte Fred. In Greenwich war es achtzehn Uhr. Hier war es eigentlich ein paar Stunden früher. Dafür würde die Sonne morgens sehr spät aufgehen, zumindest um diese Jahreszeit. Im Sommer würde es sehr lange hell sein; sie befanden sich nur unwesentlich unterhalb des Polarkreises. Noch etwas nördlicher, und die Sonne würde überhaupt nicht untergehen.
„Wir brauchen einen Stadtplan“, erkannte Ewa.
„Wenn die Läden hier auch um sechs zumachen, sollten wir uns beeilen. Das da sieht aus wie ein Zeitschriftenladen. Schauen wir mal.“
Sie schauten also und hatten Erfolg. Auf einer Bank (oder war es eine Mauer oder ein Kunstwerk?) setzten sie sich hin und entfalteten den Plan. Frauen können keine Karten lesen? Ewa fuhr mit dem Finger durch das Straßenverzeichnis, stockte bisweilen wegen ungewöhnlicher Buchstaben wie ð oder þ, von denen sie nicht wusste, wo im Alphabet sie einzusortieren waren (ganz hinten), und fand dann doch zügig das Planquadrat mit ihrer gebuchten Unterkunft. Nicht einmal weit entfernt, sondern zu Fuß zu erreichen.
Es war ein vierstöckiger Klotz mit dem Charme einer Mietskaserne, und vermutlich ursprünglich auch mal eine gewesen. ‚Downtown Reykjavik Apartments’ stand auf einem roten Schild. Mit einem ‚p’. Was ja im Englischen nicht Appartement, sondern Mietshaus bedeutete. Sie traten ein und fanden trotzdem eine normale Rezeption vor. Das war Ewas Part, sie hatte gebucht. Der Mann am Tresen verstand allerdings kein Englisch. Fred hielt sich zwei Schritte zurück und überließ es seiner Begleiterin, wie sie damit zurechtkam. Zumal er auch kein Isländisch sprach.
Ewa löste ihr Problem schließlich, indem sie ihren Laptop auspackte, die heruntergeladene Buchungsbestätigung öffnete und dem Rezeptionisten zeigte. Nachdem er die Daten mit seinem Computer verglichen hatte, schob er Ewa einen Anmeldeblock hin, sie füllte ihn aus (obwohl die Daten im Computer ja offenbar schon vorhanden waren, aber es ging eben nichts über die analoge Tradition) und erhielt schließlich einen Schlüssel, zusammen mit einer Handbewegung, die nach oben wies.
Sie wandte sich zu Fred um. „Sehr schön. Das wäre geregelt. Irgendwo oben offenbar.“
„Hab ich gesehen. Gibt es einen Lift?“
„Ich frag lieber nicht. Da ist eine Treppe. Wir sind bis hier gekommen, die schaffen wir auch noch.“
Nachdem sie ihre Koffer zwei Stockwerke weit über die Treppe gewuchtet hatten, fanden sie die Tür mit der zum Schlüssel passenden Nummer. Ewa öffnete, sie traten ein und ließen sich auf zwei – hm – Sitzgelegenheiten sinken, die im Design an Küchenstühle erinnerten. „Geschafft“, stöhnte Ewa. Was sowohl das Erreichen des Ziels als auch den körperlichen Zustand bedeuten konnte.
„Bauhaus“, grinste Fred. „Keine überflüssigen Schnörkel.“
„Aber immerhin preiswert.“
Es gab zwei Räume mit ausgesprochen übersichtlicher Möblierung, mutmaßlich von IKEA, und ein Bad. Ein Sofa gab es übrigens nicht. Der als Schlafzimmer gedachte Raum enthielt zwei einzelne Betten. Er würde also nicht direkt neben Ewa schlafen. „Als was hast du uns angemeldet? Als Ehepaar?“
„Keine Ahnung. Ich habe nicht alle Rubriken des Anmeldebogens verstanden, die ich angekreuzt habe. Aber das ist ja jetzt auch egal. Dein Bett ist das da, ich nehme das am Fenster.“
„Danke, dass du mir die Entscheidung abnimmst.“
„Dafür darfst du vorschlagen, wie es jetzt weitergeht.“
„Wir gehen irgendwo essen und planen unsere Museumstour“, meinte Fred. „Nimm den Stadtplan mit, der hat bestimmt ein Verzeichnis der Museen, dann finden wir die Adressen schneller.“
Ewa blätterte das Straßenverzeichnis des Plans auf und fand unter ‚Sehenswürdigkeiten’ in der Tat eine Liste von Museen, darunter auch die, die sie im Vorfeld ins Auge gefasst hatten. „Wusstest du, dass es hier ein Phallus-Museum gibt?“
„Nein. Gibt es einen Grund, warum du das erwähnst?“
„Nur so. Es sprang mir ins Auge.“
„Ins Auge springt vorzugsweise das, wonach es hungert.“
„Hattest du nicht die Absicht, diesen Hunger zu stillen?“
„Ist er denn vorhanden?“
„Vielleicht. Ich wollte vor allem mal sehen, ob du rot wirst.“
„Bin ich rot geworden?“
„Nein.“
„Beruhigt dich das?“
„Ein wenig.“
„Fein. Können wir dann gehen?“ Die Diskussion begann absurd zu werden wie in einem preisgekrönten Theaterstück. Was wollte diese Schlange eigentlich von ihm? Ihn provozieren? Träumte sie davon, ihn zu verführen? Vielleicht gehörte das ja nur zu ihrem normalen Verhaltensrepertoire. Und vielleicht war das Phallus-Museum auch ein Übersetzungsfehler. Obwohl – wenn man ein außerirdisches Schwert finden wollte, war das vielleicht nicht einmal ein falscher Ort, um danach zu suchen.
Als sie abends in ihr Appartement zurückkehrten, stellte sich zumindest für Fred das Problem, wie er das mit dem Umziehen in Gegenwart Ewas bewerkstelligen sollte. Sie hingegen schien es ziemlich locker zu sehen. „Wenn du gestattest, gehe ich noch unter die Dusche.“ Daraufhin entkleidete sie sich vor seinen Augen bis auf Slip und BH, griff sich ihre Kulturtasche und verschwand im Bad. Eine Weile hörte er das Wasser rauschen. Nach zehn Minuten tauchte sie wieder auf und trug die spärliche Unterwäsche nun nicht mehr am Körper, sondern in der Hand. Fred versuchte, nicht hinzusehen, aber es gelang ihm nicht völlig. Sie warf ihre Dessous auf einen Stuhl und schlüpfte in ihren Pyjama. Nein, ‚schlüpfen’ traf es nicht, sie zelebrierte es mit – wie es ihm vorkam – provozierender Langsamkeit, eine Art Striptease rückwärts. Wenn er vorhin wegen des Phallus-Museums nicht rot geworden war, jetzt war er bestimmt rot geworden.
Im Gegensatz zu Ewas Unterwäsche hatte Fred nichts vorzuweisen, das auch nur annähernd so dekorativ aussah. Und es war ihm leider nicht egal, welchen Eindruck er auf Ewa machte. Also blieb nur eine Möglichkeit: komplett bekleidet ins Bad zu gehen unter Mitnahme des Schlafanzugs. Ihr Grinsen war impertinent.
Als er für die Nacht umgezogen zurückkehrte, empfand er es trotz Wahrung der Schicklichkeit als eine verlorene Schlacht. Ewa hatte sich inzwischen ins Bett gelegt. Und zwar in sein Bett – oder jedenfalls in das, das sie ihm vorhin zugewiesen hatte. Ihr Pyjama stand einladend offen. Das Oberteil jedenfalls. Die Hose hatte sie gar nicht mehr an.
„Hattest du nicht gesagt, das ist mein Bett?“
„Hatte ich gesagt.“
„Und warum liegst du dann darin?“
„Manchen muss man aber auch alles erklären. Ich bin dein Betthupferl. Ich dachte, du möchtest mich vielleicht vernaschen“, gurrte sie.
*
Sie lagen nebeneinander, nein, aneinander, die Beine verschränkt. Er genoss das herrliche Gefühl, wie ihre bloße Haut sich an seiner rieb. Sie schmiegte sich in seinen Arm, und ihre langen schwarzen Haare flossen über seine Schulter. Spielerisch fuhren ihre Finger über seine Brust und verfingen sich in der Lederschnur, an der er sein Konfirmationskreuz trug. Sie folgte der Schnur, hob schließlich das Kreuz hoch und ließ es baumeln.
Fred griff nach ihrer Hand. „Das kitzelt.“
„Sag mal, Fred“, begann sie plötzlich, „glaubst du eigentlich immer noch an diesen Quatsch?“
„Welchen?“
„Von Gott und so.“
Die Frage traf ihn überraschend und außerordentlich schmerzhaft. Über die Frage, ob sie gläubig sei, hatte er sich, durchaus beeindruckt von ihrem perfekten Körper und ihrer Bereitwilligkeit, das Bett mit ihm zu teilen, gar keine Gedanken gemacht. Jetzt stürzte seine Stimmung ab wie ein Stein. So ähnlich, als hätte sie sich gerade einen Popel aus der Nase gebohrt. Er richtete sich abrupt auf. „Ich glaube an keinen Quatsch“, stieß er heftig hervor. „Das sind zwei verschiedene Dinge. Ich glaube daran, und du hältst es offenbar für Quatsch.“
„Und an was genau glaubst du?“
„Hat es noch Zweck, es dir erklären zu wollen? Ich glaube an Gott den Schöpfer und an Jesus Christus den Erlöser.“
„Du bist Astrophysiker!“ Es klang wie ein Vorwurf.
„Ja, und?“
„Hast du durch dein Fernrohr da oben jemals Gott oder Engel gesehen?“
Es gelang ihm, sich aus ihrer Umarmung zu befreien und auf die Bettkante zu setzen. Er griff nach seiner Schlafanzughose.
„Ein weit verbreiteter Irrtum besteht darin, heaven und sky miteinander gleichzusetzen. Aber, um deine Frage zu beantworten: Ja, ich sehe im Universum überall die Hand des Schöpfers am Wirken. Jemand wie du könnte vermutlich durch ein Fernrohr auf die Sterne blicken und würde behaupten, er könne nirgends Gott erkennen. Ich hingegen gucke durch das gleiche Fernrohr auf die gleichen Sterne und sehe überall Gott. Logisch?“
„Camus sagte: Jeder ist das Opfer seiner Wahrheiten. Wenn du durch eine grüne Scheibe guckst, sieht alles grün aus.“
„Vergiß nicht, dass du auch durch eine Scheibe guckst. Camus war Agnostiker. Als solcher würde er mir recht geben.“
„Wir sollten das Thema beenden.“
„Ich wollte es dir nicht aufzwingen.“ Eben noch im Liebesrausch, und dann das. Das musste er erst einmal verarbeiten. Blieb zu hoffen, dass diese Ernüchterung der Zusammenarbeit im Hinblick auf außerirdische Artefakte nicht im Wege stehen würde.
„Ist wohl besser, ich gehe jetzt in mein Bett.“
„Ja. Wäre besser gewesen, du wärst gleich dort geblieben.“
Jetzt stieg die Reue in ihm auf. Wieso hatte er sich mit einer eingelassen, die nicht an Gott glaubte? Aber das hatte er doch vorher nicht wissen können. Hätte er etwa sagen sollen ‚Du, ehe ich mit dir ins Bett gehe, muss ich wissen, ob du gläubig bist.’? Vermutlich hätte sie nicht einmal verstanden, warum ihm das wichtig war. O Herr, ich bin eine schwache Kreatur.
Übrigens war er nicht der Einzige, der etwas bereute. Ewa schalt sich selbst hochgradig unprofessionell, dass sie Freds Glauben in Zweifel gezogen hatte. Sie hätte heucheln müssen, ebenfalls an Gott zu glauben, um ihn nicht zu verärgern. Ihre Auftraggeber würden nicht amüsiert sein, wenn das herauskam.
*
Erst am Morgen bemerkte Fred auf seinem Nachtschrank ein Glas Wasser und einen dieser Designer-Untersetzer, wie Ewa sie ihm für seine Kaffeetassen geschenkt hatte. Er hätte aber nicht mit Sicherheit sagen können, ob die zur Ausstattung des Zimmers gehörten und schon vorher dort gelegen hatten, oder ob Ewa sie mitgebracht hatte. Lag bei ihr auch einer? Tatsächlich.
„Was ist das hier?“
„Guten Morgen, Fred. In meiner von dir offenbar wenig wertgeschätzten Fürsorglichkeit hatte ich dir ein Glas Wasser hingestellt. Falls du nachts Durst bekommst. Männer trinken immer zu wenig.“
„Danke, Mama! Offenbar habe ich in der Nacht keinen Durst bekommen.“ Er würde es nicht anrühren, dachte er grimmig. Womöglich hatte sie Gift hineingerührt.
„Doch. Aber den hast du ja an mir gestillt.“
„Hör mal, Ewa…“
„Ja?“
Ein absolut mieses Gefühl. Aber wenn er nicht jetzt damit herauskam, wann dann? Und wie sollte es dann weitergehen? „Also, was das betrifft – ich muss dir sagen, dass wir keine Zukunft miteinander haben.“
„Hä? War das vielleicht ein Irrtum heute nacht?“
„Um ehrlich zu sein, ja.“
„Wieso das denn? Gefalle ich dir plötzlich nicht mehr?“
„Mir ist klar geworden, dass du nicht gläubig bist.“
„Ja, und?“
„Eine Ungläubige ist nichts für mich.“
„Was ist das denn für eine verklemmte und lustfeindliche Religion?“ Sie war immer noch sauer auf sich selbst, dass sie sich durch ihr Outing als Atheistin vermutlich vom Zugang zu den Auskünften über das Bolometer-Projekt ausgesperrt hatte.
„Meine Religion ist nicht lustfeindlich. Lebensfreude gehört zu meiner Religion dazu, solange man nicht gegen das Doppelgebot der Liebe verstößt.“
„Was ist das denn nun wieder?“
„Liebe Gott von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst.“
„Na wunderbar, und warum kannst du mich dann nicht lieben?“
„Mich würde es unglücklich machen.“
„Was dich aber nicht gehindert hat, mit mir zu schlafen. Na toll. Wie James Bond, der alle am Wege liegenden Frauen mitnimmt, auch wenn sie zum Gegner gehören, ja?“
„Tut mir leid.“
„Du bist ein Spießer, Fred, ein elendiger Spießer!“
„Vermutlich. Aber damit muss ich leben.“
„Und nun?“
„Nun vergessen wir das und konzentrieren uns auf unser eigentliches Missionsziel.“
„Idiot!“
9. Morgens
Welch ein Morgen. Aber er war selbst schuld. Hätte er nicht gestern gleich Klarheit schaffen können? Hätte, ja. Hatte er aber nicht. Idiot? Recht hatte sie.
Zu alledem stellte sich heraus, dass die zum Appartement gehörige Kaffeemaschine so verkalkt war, dass sie den Dienst verweigerte. Und ein in der Tasse mit heißem Wasser übergossener Kaffeepad erwies sich als Beleidigung für alle Geschmacksnerven.
Nach einem – übrigens sehr schweigsamen – Frühstück führte sie der Weg ins Nationalmuseum. Da sie vermutlich nicht überall (und schon gar nicht an der Museumskasse) mit Kreditkarte bezahlen konnten – wobei bisher immer Frederiks Kreditkarte hatte herhalten müssen – hatten sie sich an einem Geldautomaten noch mit der hiesigen Währung ausgestattet. Einer Inflationswährung offenbar, ein Euro gleich 150 isländische Kronen. Oder eine Krone gleich weniger als ein Cent.
Von der Liste der Museen war das Nationalmuseum der aussichtsreichste Kandidat, um ein altes Artefakt zweifelhafter Herkunft zu finden. Der Eindruck des Museums von außen war der einer Turnhalle oder modernen Kathedrale, quaderförmig, langgestreckt und auf ganzer Länge mit schmucklosen Fenstern ausgestattet, die auf drei Etagen hindeuteten. Bauhaus, dachte Frederik sarkastisch. Davor gab es einen Parkplatz, auf dem nur wenige Fahrzeuge standen. Der Eingangsbereich hob sich allerdings davon ab. Es war ein an den Quader angeflanschter, hässlicher halbrunder Bau mit einem Portal, zu dem ein paar Stufen hinauf führten. Wie es sich für einen Tempel gehörte, selbst für einen Kulturtempel. An Fahnenmasten flatterten drei identische Flaggen, die wohl das Logo des Museums darstellten, ein stilisiertes Schwert mit einem merkwürdigen grafischen Element, das alles mögliche bedeuten konnte. Zusammen mit dem Schwert bildete es jedenfalls einen dieser originellen Buchstaben, die das hiesige Alphabet schmückten, und mit dem der isländische Name des Museums begann: Þjoðminjasafn.
Zusammen mit den Eintrittskarten (die sie dann übrigens doch mit der Kreditkarte bezahlen konnten) erhielten sie einen groben Übersichtsplan über die Ausstellung. Einen Museumsführer hätte es auch gegeben – auf Isländisch. Deutschsprachige waren nicht vorgesehen und der englischsprachige war leider gerade vergriffen. Darauf hatten sie dann verzichtet. Wie sich herausstellte, war die Ausstellung in den beiden oberen Etagen untergebacht.
Sie stiegen also eine weitere Treppe empor und konnten dann, wenn auch etwas ungeordnet, die isländische Geschichte nachverfolgen, von der ersten Besiedlung bis – wie sich herausstellte – zur Gegenwart. Es gab heidnische wie christliche Skulpturen, Schnitzereien, Kleidung, Waffen, Mobiliar, Haushaltsgegenstände, Schmuck … alles war sehr ordentlich präsentiert und mit erläuternden Täfelchen in isländischer und englischer Sprache versehen.
Frederik musste zugeben, dass seine Aufmerksamkeit vom ursprünglichen Zweck des Besuches gründlich abgelenkt wurde.
„Das ist nicht das, was wir suchen“, mahnte ihn Ewa, als er vor einer Art Altarbild verharrte, das eine etwas ungewöhnliche Kreuzigungsszene darstellte.
„Nein, das ist ein Epitaph.“
„Ein was?“
„Eine Grabtafel. Das war eine in der Renaissance übliche Darstellung, einen bedeutenden Verstorbenen zu ehren. Anstelle von Maria, Johannes und ein paar anderen biblischen Gestalten, die üblicherweise gemäß Johannes 19, 26 unter dem Kreuz dargestellt werden, stehen unter dem Kreuz symbolisch die Familienmitglieder des Geehrten.“
„Na toll.“
„Du kannst ja schon mal weitergehen. Das hier interessiert mich. Bei mir zuhause steht in der Kirche ein ähnliches Bild; mal sehen, ob ich herausbekomme, wem dieses hier gewidmet ist.“
„Wie viele Stunden willst du hier verbringen?“
„Notfalls den ganzen Tag. Und wenn wir nicht fertig werden, kommen wir morgen wieder. Wenn wir nur von einem Exponat zum anderen hetzen, übersehen wir womöglich das, was wir eigentlich suchen.“
„Wie du meinst. Bleib bei deinem komischen Heiligen und bete ihn an. Du wirst mich finden.“
Dass Jesus Christus ein komischer Heiliger war, schmerzte ihn zwar, überraschte ihn aber nicht mehr, da er Ewas Einstellung hierzu ja nunmehr kannte. Er wandte sich wieder dem Bild zu. ECCE AGNUS DEI QUI TOLLIT PECCATA MUNDI. Latein hatte er auf dem Gymnasium gelernt: ‚Dies ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt’. Warum war es für Menschen wie Ewa nur so schwer, diese befreiende Botschaft zu verstehen und dankbar aufzunehmen? Natürlich, man musste dazu begreifen und akzeptieren, dass man fehlbar war und der Erlösung bedufte. Und ein übergroßes Selbstbewusstsein war dabei eher hinderlich.
*
Den Übersichtsplan hatte Ewa mitgenommen, die nun vorausgeeilt war. Welchen Sinn hatte es zu eilen, wenn man das Ziel nicht kannte? Nachdem das Epitaph ihm keine weiteren Erkenntnisse mehr bescherte, ging auch Fred weiter. Irgendwie war er wohl falsch abgebogen, die Chronologie stimmte nicht mehr. Diese Abteilung befasste sich offenbar mit der Wikingerzeit.
Schwerter, Schilde, das Modell eines Drachenbootes. Eine Skulptur, die einen Mann mit kegelförmigem Hut zeigte, der – hm – im weitesten Sinne eine Art Hammer in der Hand hielt, eine Mischung aus Dreieck und Kreuz. Die Beschriftung wies ihn als Thor aus. Ein Steinrelief mit stehenden und am Boden liegenden Gestalten, über eine davon beugte sich offenbar eine Frau. Ein Reiter saß auf einem achtbeinigen Pferd. Das erläuternde Täfelchen war nicht sehr erhellend und erklärte nur, dies sei ein Bildstein aus Tjängvide, der eine Walhall-Szene darstelle. Auch das war sicherlich nicht direkt ein außerirdisches Artefakt.
„Soll ich es dir erklären?“
Frederik wandte sich überrascht zur Seite. Nein, es war nicht Ewa. Neben ihm stand eine junge Frau mit üppigen roten Haaren, die sie mehr schlecht als recht zu einem Zopf gebändigt hatte. Sie trug eine Jeanshose und eine bunte Strickjacke. Und außerdem Sommersprossen im Gesicht. Sie lächelte schüchtern. „Entschuldigung. Ich dachte, du verstehst vielleicht das Bild nicht. Der Text da auf der Tafel ist wirklich sehr … sparsam.“
Sie sprach Deutsch mit einem lispelnden Akzent und wirkte, vielleicht deshalb, auf Fred einfach nur süß. „Ja“, nickte er, „erklär’s mir.“
„Es ist eine Szene aus dem Eiríksmál, dem Eiríkslied. König Eirík fiel im Kampf gegen die Engländer. Die Szene zeigt ihn am Boden liegend. Eine Walküre beugt sich über ihn, um ihn nach Walhall zu führen.“
„Faszinierend. Du scheinst dich mit der hiesigen Mythologie auszukennen.“
Sie grinste. Ihre Gebiß war strahlend weiß und makellos. „Ja, ein bißchen.“
„Und dieses Pferd da mit den acht Beinen?“
„Das ist Sleipnir, das Pferd Odins, beziehungsweise Wotans. Sleipnir heißt soviel wie ‚gleiten’, denn dieses Pferd ist unglaublich schnell, es gleitet nur so dahin; manche sagen, es kann sogar fliegen.
„Aha. Und das hier ist eine Runenschrift, vermute ich?“ Neben Odin auf seinem Wunderpferd konnte man mit etwas Mühe einige Symbole erkennen, die er aber nicht entziffern konnte.
„Die Runenschrift neben Odin besagt: ‚Ég mun vekja hann’, das heißt: ich werde ihn wecken. Damit ist die Auferweckung der Krieger zum letzten Gefecht gemeint. Odin versammelt die gefallenen Krieger in Walhall, von wo sie einst an Ragnarök in den letzten Kampf gegen die Midgardschlange und den Fenriswolf ziehen werden.“
„Ich bin beeindruckt. Du kannst Runenschrift lesen?“
„Sie gehört zu meiner Kultur.“
„Ja, natürlich. Ich heiße übrigens Frederik, oder kurz Fred.“
„Fred-Erik. Fast ein nordischer Name“, bemerkte sie.
„Und du?“
„Dörte. Eigentlich Ðörþ. Das schreibt man Edh-Ö-R-Thorn.“
Fred schluckte. „Ich glaube, ich bleibe bei Dörte. Hast du Lust und Zeit, mir noch ein paar andere Exponate zu erklären? Du scheinst mir die ideale Museumsführerin zu sein.“
„Na ja, vielleicht, was diese Epoche betrifft. Im Rest kenne ich mich weniger gut aus.“
„Ist das dein Beruf? Altertumskunde?“
„Nein. Ich studiere Kunst.“
„Ach so.“ Noch weiter nachfragen mochte Fred nicht. Jedenfalls empfand er es als glückliche Fügung, dass Ewa ungeduldig davondiffundiert war und er an ihrer Stelle diese kompetente Einheimische getroffen hatte. Vielleicht konnte sie ihm auch viel eher bei der Suche nach einem nicht in die Kultur passenden Artefakt helfen. Allerdings mochte er ihr das nicht so deutlich sagen, sie hätte ihn womöglich für verrückt gehalten. Und das wäre ihm unangenehm gewesen, da er sie hochgradig sympathisch fand. Oder sogar mehr als das, aber das konnte er sich selbst nicht eingestehen.
Jedenfalls begleitete sie ihn wie selbstvertändlich, als er weiter durch die Ausstellung wanderte. Beziehungsweise er begleitete sie, denn sie führte ihn, ein wenig im Zickzack, entlang der Exponate, wobei sie ihm die nordische Mythologie entfaltete:
*
Zu Beginn der Welt gab es den Urraum Ginnungagap. Im Wechselspiel zwischen dem dunklen und kalten Niflheim im Norden und dem von Feuer und Hitze erfüllten Muspellsheim im Süden füllte sich der Urraum mit Schlacke und es entstand als erstes Leben der Urriese Ymir. Aus seinem Schweiß wuchsen ein Mann und eine Frau. Von ihnen stammen die Reifriesen ab. Außerdem war da die Urkuh Aushumla, die Salz von den Steinen leckte und dabei den Mann Buri freilegte, der einen Sohn Borr hatte. Mit der Riesin Bestla, der Tochter des Bölthorn, zeugte Borr die Götter Wotan, Wili und We.
Die Götter töteten Ymir und erschufen aus ihm den Kosmos. Die Gewässer entstanden aus seinem Blut, die Erde aus seinem Fleisch. Aus den Zähnen wurden die Berge und aus seinem Schädel das Himmelsgewölbe. Die Wolken entstanden aus seinem Gehirn. Funken aus Muspellsheim wurden zu den Sternen am Himmel.
Der Riese Bergelmir und seine Frau überlebten Ymirs Ende und wurden die Stammeltern der Reifriesen. In diesen lebt das Chaos weiter, sie sind daher die Erzfeinde der Götter.
Wotan, Wili und We schnitzten aus zwei Stämmen Treibholz das erste Menschenpaar: Ask und Embla. Die Menschenwelt ist Midgard, in deren Mitte erhebt sich die Götterburg Ásgard, wo auch die Walhall liegt. Von seinem Hochsitz Hlidskjalf aus überblickt Wotan die ganze Welt. Zwischen Ásgard und Midgard erstreckt sich die Regenbogenbrücke Bifröst. Die Brücke wird vom Wächter Heimdall in seiner Burg Himminbjörd bewacht.
Ein Weltmeer umgibt Midgard, jenseits davon liegt Utgard. Dort leben die Chaosmächte, Riesen und andere dämonische Wesen, insbesondere der Fenriswolf. In dem Weltmeer liegt die Midgardschlange, die Midgard völlig umschließt und sich in den Schwanz beißt. Unterirdisch liegt das Totenreich der Göttin Hel.
Über der Welt erhebt sich die Weltesche Yggdrasil. Sie hat drei Wurzeln, die sich nach Niflheim, Utgard und Ásgard erstrecken, wo drei Quellen liegen: Hwerglmir in Niflheim, Mimirs in Utgard und Urdar brunnt in Ásgard. An der Urdquelle oder Urdar brunnt kommen die Götter zum Gericht zusammen, hier wohnen die Nornen Urd, Skuld und Werdandi, das bedeutet Schicksal, Schuld und Werden. Von der Weltesche ernährt sich die Ziege Heiðrún, ihre Milch füllt die Gefäße der Götter mit Met. Hier weidet auch der Hirsch Eikþyrnir, von dessen Geweih Wasser in die Flüsse tropft. Allerdings nagt bei der Quelle Hwerglmir auch der Drache Nidhögg an der Wurzel Yggdrasils.
*
Fred war den Ausführungen seiner Begleiterin mit zunehmender Faszination gefolgt. Das war zweifellos eine sehr bunte Schöpfungsgeschichte, der gegenüber die aus der Bibel ein wenig verblasste. An die er allerdings auch nicht glaubte. Als Astrophysiker kannte er noch eine andere, die begann mit dem Urknall und war zumindest von da an logisch. Außerdem führte auch sie über Licht und Finsternis zur Erde und zu dem Leben auf ihr. Komisch, dachte er, Licht und Finsternis – dieses Muspellsheim und Niflheim waren ja letztlich auch Synonyme dafür. An gewissen Elementen kam wohl kein Schöpfungsmythos vorbei.
„Konntest du folgen?“, erkundigte sich Dörte lächelnd.
„Viele Namen“, musste Fred zugeben. „Du erwartest hoffentlich nicht, dass ich sie mir alle gemerkt habe.“
„Es waren ja noch nicht einmal alle. Ich müsste dir jetzt als nächstes die Genealogie der Götter erläutern, da kommen noch ein paar Namen dazu. Und ein paar Konflikte. Es gäbe noch sehr viel zu erzählen.“
Wahrlich ein durchaus verlockender Gedanke war es, Dörtes Ausführungen weiter zu lauschen. Aber – Fred verzog den Mund etwas schmerzlich: „Ich bin nicht mein eigener Herr. Meine Begleiterin Ewa ist irgendwo da hinten, und ich kann ihr nicht einfach weglaufen.“
„Oh“, machte Dörte. „Deine Frau?“
„Nein, nein“, beeilte sich Fred zu betonen. „Nur meine – hm – Reisebegleiterin.“
„Das klingt nach Gruppenreise.“
„Das stimmt so nicht. Das wäre dann jedenfalls eine Kleingruppe aus Ewa und mir. Wir haben uns für eine Art Studienfahrt zusammengeschlossen, könnte man wohl sagen.“
Falls Dörte nun auf die Idee gekommen sein sollte, nach dem Zweck der Studienfahrt zu fragen (was ihm wiederum peinlich gewesen wäre zu beantworten), so kam sie jedenfalls nicht mehr dazu, denn in diesem Augenblick tauchte Ewa wieder auf. Sie eilte schnellen Schrittes auf Frederik zu und holte Luft, um etwas zu sagen, gewahrte aber in dem Moment, dass Dörte nicht etwa zufällig dort stand, sondern sich in einer Unterhaltung mit Fred befand. Sie klappte den Mund wieder zu, um sich ihre nächsten Worte zu überlegen.
„Hallo, Ewa“, sagte Fred. „Darf ich dir Dörte vorstellen? Sie kennt sich in nordischer Mythologie aus und hat mir gerade eine Einführung in das Weltbild der Germanen gegeben.“
„Das ist schön“, stellte Ewa mit etwas säuerlichem Gesichtsausdruck fest.
„Hallo, Ewa.“ Dörtes Lächeln war echt und ohne Falsch. „Ich hörte gerade, ihr seid auf Studienfahrt.“
„Nicht, dass wir eigentlich nach dem Weltbild der Germanen gesucht hätten“, murmelte Ewa.
„Wonach denn?“, wollte Dörte wissen. „Vielleicht kann ich euch helfen.“ Womit sie doch bei der befürchteten Frage angekommen war. Zu der allerdings Ewa ihr das Stichwort gegeben hatte, also sollte sie gefälligst auch antworten. Fred wies mit einer stummen Geste auf seine Reisebegleiterin.
„Ach.“ Ewa winkte ab. „Relikte aus alten Zeiten eben.“
„Davon ist hier alles voll.“ Jetzt war die Ablehnung auch zu der arglosen Isländerin durchgedrungen. „Wenn ich euch störe, sagt es einfach. Dann gehe ich.“
„Du störst nicht“, beeilte Fred sich zu betonen. „Ewa, Dörte bot mir eben an, mehr über die Götterwelt zu erzählen, und ich finde das sehr interessant. Für uns beide. Wollen wir uns nicht alle drei irgendwo entspannt zu einem Kaffee hinsetzen? Und dann erzählt Dörte in aller Ruhe und nicht hier im Stehen.“
Ewa widersprach zumindest nicht, bedachte die andere aber dennoch mit einem erkennbar giftigen Seitenblick. Eifersucht? Doch wohl kaum. Zwischen Fred und Ewa kam nichts mehr zustande, da war so ein Gefühl eher fehl am Platze. Aber wer kannte sich schon mit der Psyche von Frauen aus – vielleicht neidete Ewa es ihm, dass er den Draht zu dieser Einheimischen gefunden hatte, den er zu ihr eben nicht gefunden hatte. Ach, was dachte er da? Er hatte keinen Draht zu Dörte gefunden, er hatte einfach ihr Angebot angenommen, ihn in die hiesige Kultur einzuführen.
Den Seitenblick jedenfalls übersah Dörte. Oder wollte ihn übersehen. Unbefangen plauderte sie los: „Ich weiß ein kleines Café in der Nähe. Aber heute nicht mehr, leider. Ich muss für ein Seminar morgen noch etwas vorbereiten. Aber morgen abend um 17 Uhr bin ich an der Uni fertig; dann könnten wir uns treffen. Ich lade euch zum Kvöldkaffi ein.“
„Das nehmen wir natürlich dankend an“, betonte Fred eilig, ehe Ewa womöglich ablehnte. „Wenn wir dir nicht lästig werden.“
„Bisher nicht“, lachte sie. „Ihr gehört offenbar nicht zu der Sorte Touristen, die nur nach Island kommen, um Walfleisch zu essen, nachdem der Walfang anderswo verboten ist. Ich freue mich, mein Wissen weitergeben zu können.“
Sie ließen sich auf dem Stadtplan erklären, wo sie sich treffen wollten und verabschiedeten sich von Dörte. „Nun hast du Fred wieder für dich“, sagte jene mit falschem Grinsen. Sie hatte Ewas Eifersucht also doch bemerkt.
Sie machten sich auf den Weg zu ihrer Unterkunft. „Du hast ihr nicht erzählt, dass wir außerirdische Artefakte suchen?“, raunte Ewa ihm zu, als befürchte sie unerwünschte Zuhörer, obwohl ihre neue Bekanntschaft längst außer Sichtweite war.
„Natürlich nicht. Damit würden wir uns nur lächerlich machen“, gab er leise zurück.
„Na, wie schön. Während du dich mit deinen komischen Altären und mit dieser … überwältigenden Dörte beschäftigt hast, habe ich nämlich etwas gefunden, das vielleicht interessant sein könnte.“
„So. Was denn?“
„Laut Beschriftung ist es ‚uncertain – probably kitchen utensil’. Sieht aus wie ein Toaster aus der Bronzezeit. Könnte aber auch ein extraterrestrisches Funkgerät sein.“
„Du veralberst mich.“
„Nicht willentlich. Du solltest dir das Ding einmal ansehen. Da wir uns morgen erst abends mit deiner neuen Bekanntschaft treffen, könnten wir tags noch einmal in das Museum gehen.“
„Wenn du meinst. Da bin ich ja mal gespannt.“
„Hast du sie übrigens gefragt, ob sie an Gott glaubt?“, ätzte Ewa mit einer gewissen Häme.
Nein, hatte er nicht. Wie hältst du’s mit der Religion? fragte Gretchen. Aber was hatte Faust darauf geantwortet?
10. Abends
Die Nacht war gefühlt recht kurz, da die Sonne spät unterging. In der Dunkelheit war Fred einmal aufgewacht und hatte irritiert ein flackerndes Licht bemerkt. Eine erste Assoziationskette brachte ihn auf Blaulicht, Feuerwehr, Feuer, Gefahr. Das alarmierte ihn genug, um aufzustehen und ans Fenster zu treten. Es war keine Feuerwehr. Mindestens eine halbe Stunde blieb er stehen und betrachtete fasziniert die flammenden Vorhänge des Polarlichtes, ehe er sich wieder hinlegte. Das führte allerdings dazu, dass er noch wach lag, als Ewa sich ihrerseits erhob und das Bad ansteuerte. Schon wollte er sie auf die Aurora hinweisen, als ihm ein Detail merkwürdig vorkam. Sie zog, das Polarlicht ignorierend, das Schubfach ihres Nachtschranks auf und nahm ein Buch mit auf die Toilette. Nun gut, er hatte auch schon auf dem Klo gelesen. Aber mitten in der Nacht?
Leider ergab sich danach keine Gelegenheit, in einem unbeobachteten Augenblick in der Schublade nachzusehen, was da für ein Buch lag. Und eigentlich ging es ihn ja auch nichts an.
Gleich nach dem Frühstück (mit widerlichem improvisiertem Kaffee) suchten sie erneut das Nationalmuseum auf. Ewa führte Fred auf direktem Wege zu ihrem Fundstück. Das Bolometer konnte sie vergessen, das hatte sie sich selbst durch ihr Bekenntnis zum Atheismus verdorben. Aber in dieser Sache konnte Freds Expertise vielleicht doch nützlich sein. „Na, was sagst du dazu?“
„Also, für mich sieht das eher aus wie eine antike Fruchtpresse.“
„Aber diese Knöpfe da? Und diese Skala?“
„Das ist eine Verzierung, keine Skala. Ich glaube es sind Runen. Schade, dass Dörte nicht hier ist, sie könnte sie uns womöglich sogar übersetzen. Meinetwegen mach ein Foto davon, und wir zeigen es ihr heute abend.“
„Wir müssen sie nicht mit der Nase darauf stoßen, was wir suchen.“ Als Experte für außerirdische Artefakte war er offenbar auch ein Flop.
„Tun wir ja nicht. Wir möchten eben nur wissen, was die Zeichen bedeuten. Und sie bedeuten bestimmt nicht ‚außerirdisches Funkgerät’.“
„Hm.“ Ewa zögerte, griff dann aber doch nach ihrem Handy und lichtete das Objekt ab.
„Aber auch wenn dies ein Küchengerät ist, werden wir durch den Ausflug in die Götterwelt wenigstens einen Erkenntnisgewinn haben. Außerdem gebe ich noch nicht auf. Es gibt sicherlich noch mehr Museen. Ich werde Dörte danach fragen.“
„Klar, wen sonst. Von diesen germanischen Göttern halte ich so wenig wie von deinem. Wir leben in einem aufgeklärten Zeitalter.“
Damit durfte man ihm nicht kommen, in dem Punkt hatte er eine eigene, wenn auch unpopuläre Meinung. „Was hat die Aufklärung denn geleistet? Sie wollte uns von der Unterdrückung durch die Kirche erlösen und hat bei der Gelegenheit gleich Gott mit abgeschafft. Ups. Dafür führte sie uns in die Abhängigkeit von der Werbeindustrie und in die Überwachung durch Geheimdienste. Befreiung aus der Unmündigkeit? Wir sind doch heute unmündiger denn je und glauben jeden Quatsch, der über irgendeinen Bildschirm flimmert!“
Ewa schwieg. Wofür sie ihre Gründe hatte.
Den restlichen Tag verbrachten sie mit ein wenig touristischer Erkundung der Stadt, bei der Ewa sich darüber mokierte, dass er wiederum die meiste Aufmerksamkeit den Sakralbauwerken schenkte. Wobei die Architektur zumindest der Hallgrímskirche auch sie zu beeindrucken schien. Der beherrschende Turm mit seinen abgestuften Säulen wirkte von weitem wie aus Legosteinen errichtet. Außerdem konnten sie mit einem Lift hinauffahren und die Aussicht genießen.
Zur verabredeten Zeit fanden sie sich in dem Café ein, in dem sie sich mit Dörte treffen wollten. Jene verspätete sich ein paar Minuten.
Sie winkte von weitem. „Ich komme schon. Das Seminar dauerte leider etwas länger. Habt ihr schon etwas bestellt?“
„Wir wollten uns auf deine Expertise verlassen“, lächelte Frederik.
„Schön. Dann empfehle ich Molakaffi.“
„Das ist?“
„Schwarzer Kaffee mit Würfelzucker. Man nimmt den Zucker in den Mund und trinkt den Kaffee durch den Zucker hindurch.“
Ewa schwieg, aber ihr Gesicht zeigte Anzeichen von Abscheu. „Klingt interessant. Das probiere ich“, sagte Fred.
„Ich trinke den Kaffee ohne Zucker“, erklärte Ewa.
„Etwas zu Naschen dazu? Ich schlage Kleinur vor.“
„Ist das auch sowas Perverses?“ Vorsorglich verzog Ewa schon einmal angewidert das Gesicht.
„Nein, das ist völlig harmlos. Ein Schmalzgebäck.“
Dörte gab für sie alle die Bestellung auf. „Habt ihr euch den Tag angenehm vertrieben?“
„Eigentlich ja. Wir waren vormittags erst noch einmal im Nationalmuseum. Da haben wir ein merkwürdiges Gerät gesehen mit einer ebenso merkwürdigen Beschriftung. Ewa, zeig mal das Foto.“
Ewa öffnete den Bilderordner ihres Handys. „Hier. Dieses. Fred hält es für eine Fruchtpresse und meint, das hier sind Runen.“
Dörte sah sich das Bild an. „Er hat recht“, meinte sie. „Allerdings etwas schwierig zu entziffern, weil Wenderunen darin enthalten sind. Ich versuche es mal in Normalform aufzuschreiben.“ Sie kramte einen Kugelschreiber aus der Tasche und notierte auf einer Serviette:
„Daraus lese ich ‚Dise þengt sveði’. Offenbar eine Bitte an eine Dise, also irgendeine lokale Göttin. Schwer zu interpretieren. Irgendwie eine Verbindung mit dem Feld herstellen, vielleicht die Feldfrüchte schützen oder dergleichen. Das Gerät wird also schon etwas mit der Verarbeitung von Früchten zu tun haben. Stand keine Erläuterung dabei?“
„Ja: unbekanntes Küchengerät.“
Dörte lachte. „Köstlich. Ja, unsere Altvorderen haben uns schon ein paar Rätsel hinterlassen. Zum Glück, sonst wären ja die Archäologen und Historiker arbeitslos. Und was habt ihr nachmittags gemacht?“
„Sightseeing. Die Hallgrímskirche fand ich recht beeindruckend.“
„Wart ihr auch auf dem Turm?“
„Ja, waren wir.“
„Er ist 74,5 Meter hoch. Die Kirche ist nach Hallgrímus Pétursson benannt, einem einheimischen Dichter und Pfarrer.“
„Die Architektur ist schon originell“, gestand Ewa zu.
„Die Betonsäulen sind den Basaltsäulen nachempfunden, wie sie zum Beispiel in der Stuðlagil-Schlucht am Jökla vorkommen, eine ziemlich abgelegene Gegend.“
„Und wieder weiß unsere Reiseführerin alles“, lächelte Fred.
„Oh, danke.“
Der Kaffee und das Gebäck wurden serviert. „Laßt es euch schmecken. Und vergiß nicht: erst den Würfelzucker in den Mund, dann den Kaffee.“
„Ich hab’s schon verstanden.“
„Und?“, erkundigte sich Dörte, nachdem Fred getrunken hatte.
„Apart. Aber, um ehrlich zu sein, mein Lieblingsgetränk wird es nicht.“
„Dann habe ich ja nichts verpaßt“, meinte Ewa spitz.
Dörte ging großzügig darüber hinweg. „Wie ist es, seid ihr bereit für die nächste Lektion Mythologie?“
„Dafür sind wir hergekommen“, nickte Fred. Wenn’s sein muss, sagte Ewas Gesicht.
„Ich muss mich jetzt etwas wiederholen, weil Ewa ja gestern nicht dabei war“, begann Dörte, und dann erzählte sie.
*
Der Göttervater des Asengeschlechts ist Odin, auch Wotan genannt. Er ist der Sohn von Borr und der Riesin Bestla. Das Geschlecht der Riesen entstand eigentlich zuerst, aber sie wurden zu großen Teilen getötet. Die übrigen leben, als Feinde der Asen, in Utgard. Wotan schnitzte, zusammen mit seinen Brüdern Wili und We, die ersten Menschen aus Holz. Deshalb werden von den Menschen bis heute die Bäume verehrt, von denen sie ja abstammen.
Odin besitzt den Speer Gungnir, der immer trifft. Odin hat nur ein Auge, das andere musste er opfern, um vom Zwerg Mimir zu lernen, wie man in die Zukunft sieht.
Aber obwohl Wotan der Hauptgott ist, wird Thor noch mehr verehrt als er. Erstens ist er ein Draufgängertyp, der in etliche Abenteuer verwickelt wurde, und zweitens kämpft er mit Mjöllnir, seinem Hammer, der eine wahre Wunderwaffe ist und Blitze schleudern kann. Thor versuchte einst, die Midgardschlange zu angeln, aber der Riese Hymir schnitt aus Angst die Angelschnur durch. Thor schleuderte noch seinen Hammer nach ihr, und sie versank bewusstlos, wird aber an Ragnarök wieder erwachen.
Sohn von Odin und Frigg ist Balder. Balder ist die Verkörperung des Lichten und Guten. Von seiner hellen und schönen Gestalt geht ein Leuchten aus.
Hier kommt nun der Gott Loki ins Spiel. Loki ist der Gott des Feuers und zugleich der Schandfleck in der Familie der Asen. Aber er ist sehr listig und kann sich in alle möglichen Gestalten verwandeln. Er ist das Kind des Riesen Farbauti und seiner Frau Laufey. Mit Sigyn hat er die Söhne Byleist und Helblinde; seine Kinder mit der Riesin Angrboda sind die Midgardschlange, die Totengöttin Hel und der Fenriswolf. Beim Bau Ásgards ließ Loki sich in Gestalt einer Stute mit dem Hengst Swadilfari des Riesenbaumeisters ein und gebar das Wunderpferd Odins: Sleipnir. Als Fliege störte er die Zwerge beim Schmieden des Thorshammers Mjöllnir. Und schließlich ist er schuld am Tod Balders. Wegen Balders böser Vorahnungen und Träume ließen sich die Asen von allen Lebewesen und Dingen Frieden und Schonung für ihn garantieren. Balder fühlte sich sicher und bot an, alle mögen ihn beschießen, niemand werde ihm etwas anhaben können.
Loki, nun in der Maske einer Frau, entlockte Frigg aber die Information, dass sie dem Mistelzweig keinen Eid abnehmen konnte; er überredete den blinden Hög, einen Mistelzweig nach Balder zu werfen. Dieser wurde tödlich getroffen. Balders Frau Nanna starb aus Kummer. Beide wurden in einem brennenden Schiff bestattet. Balders Bruder Hermod ritt auf Friggs Bitte hin mit Sleipnir in die Unterwelt, um Balder gegen Lösegeld wieder in die Asenwelt zu entlassen. Die Totengöttin Hel stimmte zu, falls alle Lebewesen um ihn trauerten. Aber Loki, jetzt in der Maske einer Riesin, verweigerte die Trauer. Balder musste also in der Welt der ewigen Schatten bleiben. Aber nach Ragnarök wird er zurückkehren. Loki wurde schließlich an drei Felsen geschmiedet, wo ihm unablässig das Gift einer Schlange ins Gesicht tropft. Seine Frau Sigyn fängt das Gift zwar mit einer Schale auf, aber immer wenn sie sie ausleeren muss, bekommt er einige Tropfen ab.
Neben Odin und Thor gehört Freyr zu den wichtigsten Göttern, er ist für die Fruchtbarkeit des Landes und für das Wetter zuständig. Er hat einen von Zwergen geschmiedeten goldenen Eber Gullinborsti, der seinen Wagen zieht. Außerdem besitzt er das Schiff Skídbladnir, das aus so dünnem Holz geschnitzt ist, dass er es wie ein Tuch zusammenfalten und in die Tasche stecken kann. Sein Hof ist Álfheimr. Er verliebte sich in die Riesentochter Gerd und schickte seinen Diener Skirnir als Brautwerber. Für die gefahrvolle Reise gab er ihm sein Schwert mit, aber an Ragnarök wird ihm diese Waffe dann fehlen.
Týr ist der tapferste Asengott, auch er ist ein Sohn Odins. Er bestimmt über den Sieg in einer Schlacht. Er verdankt seinen Ruf seinem tapferen Einsatz bei der Fesselung des Fenriswolfes. Um ihn zu bannen, steckte er ihm seinen Speer ins Maul. Dabei biss der Wolf ihm allerdings seine rechte Hand ab.
Damit kommen wir zu Ragnarök. Ragnarök ist die Bezeichnung für den Weltuntergang oder die Götterdämmerung. Sie beginnt mit drei Fimbulwintern mit Frost, Schnee, Stürmen und ohne Sommerzeiten dazwischen. Es kommt zum moralischen Verfall, zur Axtzeit und Schwertzeit. Brüder töten sich gegenseitig. Dann verschlingen Wölfe Sonne und Mond, der Fenriswolf wird frei, die Midgardschlange kommt aus dem Meer und verursacht Überflutungen und verpestet mit ihrem Gift Luft und Gewässer. Der Feuerriese Surt und die Söhne Muspellsheims preschen heran, dazu Loki mit dem Riesen Hrym, der das Totenschiff Naglfar steuert. Die Brücke Bifröst stürzt ein. Der Wächtergott Heimdall bläst Alarm, die Götter kommen zusammen und werfen sich in den Kampf, zuvorderst Odin mit Gungnir. Der Höllenhund Garm befreit sich und kämpft mit Týr; beide fallen. Der Fenriswolf verschlingt Odin. Dessen Sohn Widar rächt ihn. Loki und Heimdall töten sich gegenseitig. Surt schleudert Feuer über die ganze Welt, die verbrennt. Die Welt verdunkelt sich, das Land versinkt im Meer.
Aber das ist nicht das Ende. Der untergegangenen Welt folgt eine neue. Eine herrliche, grüne Erde steigt aus dem Meer empor, auf der Getreide von selbst wächst. Odins Söhne Widar und Wali haben überlebt und wohnen nun auf Idawöll, der glänzenden Ebene, wo vorher Ásgard war. Thors Söhne Modi und Magni stoßen zu ihnen, außerdem Balder und Hög. Die überlebenden Menschen finden einen sicheren Ort Gimle als Heimat. Und auch die Sonne hat eine Tochter, durch die sie ersetzt wird.
*
Fred schwieg, beeindruckt von dieser Fülle an Information. Und reflektierte die wenigen Punkte, die er behalten hatte. Er trank den kalt gewordenen Rest seines Kaffees aus.
„Ich sehe Parallelen zu meinem christlichen Glauben“, bekannte er. „Odin, der die Menschen aus Holz schnitzt. Vergleichbar mit Gott, dem Schöpfer, der die Menschen aus Staub formt? Balder, der lichte Gott, der durch Intrige getötet wird und erst am Ende aller Tage wiederkehrt. Eine Entsprechung zu Jesus Christus? Die neue Welt nach der Götterdämmerung. Ein Bild für das himmlische Jerusalem? Loki, der Listige. Ein anderer Name für Satan?“
„Offenbar gibt es in allen Kulturen immer wieder die gleichen Archetypen“, meinte Ewa unbeeindruckt und mit einem Schulterzucken. „Was zeigt, dass auch dein Christentum nur ein Mythos ist wie alle anderen.“
Giftnatter, dachte Fred. Natürlich gab es auch noch die Möglichkeit, überlegte er, dass diese Mythen erst entstanden waren, nachdem Missionare den christlichen Glauben zu den germanischen Völkern gebracht hatten. Und diese sie umgedichtet hatten, passend zu ihren Vorstellungen. Spontan erinnerte er sich an einen Text, den er in seiner Schulzeit im Deutschunterricht kennengelernt hatte. Wörtlich hätte er ihn nicht mehr widergeben können, aber so ungefähr…
*
Es war von Romburg des gewaltigen Mannes über alle Erdenvölker, Oktavianus, Bann und Botschaft über die Breiten des Reiches gekommen, von dem Kaiser zu jedem der Könige, die ihre Heimat hatten, so weit seine Herzöge über alle Lande hin der Leute walteten. Alle auswärtigen Mannen sollten ihr Erbgut aufsuchen, die Helden ihr Handmal vor ihres Herrn Boten; kehren sollte jeder zu seinem Geschlecht, aus dem er gekommen war, zu der Stätte seiner Geburt. Mit seinem Hause ging auch der gütige Josef, wie Gott der Mächtige, der Hehre es wollte: zu suchen die ruhmreiche Heimat, die Burg zu Bethlehem, zu der beide gehörten, das Handmal des Helden und der heiligen Jungfrau, Maria der Reinen. Errichtet war dort einstmals der Stuhl des berühmten Edelkönigs, des Herrschers David, der in langer Dauer als Herzog der Hebräer ihn gehalten hatte, den hohen Sitz. Sie waren von seiner Sippe, standen bei seinem Stamm, dem Stamm Gottes, beide von schönem Geschlecht. Ein schimmerndes Zeichen von Gottes Macht mahnte da Maria, dass sie in der alten Heimat den Sohn erhalten werde, in Bethlehem das stärkste Kind gebären werde, aller Könige kräftigsten.
*
Angeblich war dies im Kloster Corvey entstanden, Anfang des neunten Jahrhunderts. War hier nicht die biblische Weihnachtsgeschichte bereits umgedichtet worden, um sie zum Zwecke der Missionierung der – wie man heute sagen würde – Zielgruppe schmackhaft zu machen? Wenn so ein Prozeß gewissermaßen außer Kontrolle geriet, konnte dann nicht auch die germanische Göttermythologie daraus werden? Nun, historisch war das vermutlich nicht haltbar, und Fred war kein Historiker.
„Was überlegst du?“, erkundigte sich die Isländerin.
„Nichts. Oder jedenfalls nichts, das uns jetzt weiterbringt. Wir danken dir, Dörte, für diese ausführliche Darlegung. Dein Wissen über diese Dinge ist wirklich beeindruckend.“
„Oh, es ginge noch ausführlicher, aber ich wollte es nicht übertreiben.“
„Hast du schon mal überlegt, damit aufzutreten?“, meinte Ewa etwas respektlos.
Dörte lachte. „Damit wäre kein Geschäft zu machen. Diese Dinge weiß hier jedes Kind. Immerhin trete ich ja damit auf. Genau hier und jetzt für euch. Ich habe nur leider keinen Hut, sonst würde ich ihn jetzt rumgeben. Aber es ist spät geworden. Ich glaube, die schließen hier demnächst. Ich sollte jetzt zahlen.“
„Du?“
„Ihr wart eingeladen. Schon vergessen?“
„Ach ja. Danke.“
„Eine Frage noch, Dörte.“
„Ja?“
„Kannst du uns ein weiteres Museum empfehlen, das die isländische Geschichte behandelt?“
„Hat euch das Nationalmuseum nicht gereicht für euren Wissensdurst? Aber es gibt tatsächlich noch eines: Landnámssýningin, das Besiedlungsmuseum. Gebt mal euren Stadtplan, ich zeige euch, wo es liegt.“
Die nächste Frage fiel Fred deutlich schwerer. „Und, Dörte – sehen wir uns wieder?“
Sie hob die Augenbrauen, als sei sie wirklich verwundert ob der Frage. Wenn da nicht dieses Lächeln der Mona Lisa gewesen wäre.
„Ich meine, nachdem du uns nun eingeladen hattest, sollten wir uns vielleicht revanchieren.“
Mit einem tiefgründigen Blick aus ihren grünen Augen sah sie ihn sehr lange an. So lange, dass es ihm schon unangenehm wurde. Ein ganz zartes Schmunzeln umspielte ihren Mund. „Das ist natürlich ein Argument. Geht ihr morgen ins Landnámssýningin?“
„Landnam … Ja, genau, das war der Plan.“
„Nachmittags habe ich leider wieder Seminar. Aber danach? Wieder hier?“
„Wir könnten auch gemeinsam zu Abend essen. Empfiehl uns ein Restaurant.“
„Als Studentin gehe ich selten ins Restaurant, wisst ihr? Aber wir werden etwas finden. Ich komme nach dem Seminar zum Museum.“ Sie lächelte. „Und geduldet euch etwas, falls es wieder später wird. Ich habe keinen Einfluß darauf, wie lange sich die Diskussion hinzieht. Außer, indem ich den Mund halte, um sie nicht noch weiter zu verlängern. Aber das kann sich dann wieder auf meine Note auswirken, wenn es heißt, ich leiste keine Beiträge.“
„Natürlich“, nickte Frederik. „Das kenne ich. Ich habe auch mal studiert.“
Auf dem Heimweg zu ihrer Unterkunft, mit gesenkter Stimme, raunte Ewa ihm zu: „Ist dir aufgefallen, dass Dörte die Inschrift nicht wirklich deuten konnte? Eine Verbindung mit einem Feld herstellen. Sie glaubt, dass ein Acker gemeint ist. Wenn es aber ein Kraftfeld ist? Ein elektromagnetisches Feld? Dann spräche das für meine These, dass es ein Funkgerät sein könnte.“
„Du spinnst. So sieht kein Funkgerät aus.“
„Kein irdisches. Aber kennst du dich mit Alien-Technik aus?“
„Nein. Darüber gab es in meinem Studium leider kein Seminar.“
„Eben“, triumphierte Ewa.
„Hör mal, welchen Grund sollten Aliens haben, ihre Geräte mit germanischen Runen zu beschriften?“
„Vielleicht, damit die Germanen sie bedienen können? Dahinter kann alles mögliche stecken.“
„Na klar. Erich von Däniken läßt grüßen.“
„Das mit den außerirdischen Artefakten war immerhin deine Idee!“
11. Am nächsten Abend
An diesem Abend gelang es Fred, während Ewa im Bad war und er die Brause rauschen hörte, die Schublade an ihrem Nachtschrank aufzuziehen und nachzusehen, was für ein Buch darinlag. Nachdem er selbst bereits zu der Einsicht gelangt war, dass es ihn eigentlich nichts anging, schämte er sich fast dafür, nun doch seiner Neugierde zu erliegen. In der Erkenntnis, dass er nicht beliebig lange Zeit hatte, ehe Ewa zurückkehrte, besiegte er aber Zweifel und Gewissensbisse, überwand sich und tat es einfach.
Das Buch war eine Bibel. Im ersten Augenblick hätte er lauthals über sich selbst lachen mögen. Dass in Hotelzimmern Bibeln ausgelegt waren, meist vom Gideon-Bund, hätte er wissen können. Das war nun das ganze Geheimnis – eine Bibel. Er blätterte sie auf, und sie sah auch von innen aus wie eine ganz normale Bibel. Dann ging ihm auf, dass er hier auf Island war, und dass dies eine deutsche Bibelausgabe war. Das war nicht normal. Er hätte hier eine in isländischer Sprache oder bestenfalls die englischsprachige King James Bible vorzufinden erwartet. Also musste Ewa sie mitgebracht haben. Aber dass Ewa, die nach eigenem Bekunden nicht an Gott glaubte, nachts ausgerechnet in der Bibel las, war sogar überaus unnormal. Was hatte das zu bedeuten?
Er blätterte nach vorn, um zu sehen, welche Übersetzung es war. Luther 1984, las er. Dabei schlug sich zufällig der Anfang des Buches Genesis auf. Und dort bemerkte er, dass im Text kleine Bleistiftstriche eingefügt waren. Und zwar regellos, teils mitten im Wort:
Am Anfang schuf Gott| Himmel und Erde. Und d|ie Erde war wüst und l|eer, und es war finste|r auf der Tiefe; und de|r Geist Gottes schwe|bte auf dem Wasser.
Merkwürdig. Im zweiten Absatz gab es keine Bleistiftstriche mehr. Wobei es ja eigentlich merkwürdiger war, dass es im ersten welche gab.
Das Rauschen des Wassers verstummte. Gleich würde Ewa zurück kommen. Er hatte nur noch soviel Zeit, wie sie zum Abtrocknen und Zähneputzen benötigte. Rasch legte er die Bibel wieder in die Schublade. Beim Schließen der Lade verkantete er sie in der Hektik, es gab einen Ruck, und das Wasserglas kippte um. Er fing es geistesgegenwärtig auf, ehe es herunterfiel, konnte aber nicht verhindern, dass er die Flüssigkeit vergoß. Das Glas war zwar nur noch zwei Fingerbreit hoch gefüllt gewesen, aber es gab doch eine kleine Pfütze auf dem Nachtschrank. Was machte er jetzt damit? Ein Handtuch! Ins Bad konnte er momentan nicht, aber zum Appartement gehörte eine winzige Küchenzeile (mit nicht funktionierender Kaffeemaschine), und dort gab es ein Geschirrtuch. Frederik hastete dorthin, griff sich das Tuch und kehrte zurück, um die Spuren seiner Neugierde zu beseitigen. Auch der Designer-Untersetzer war natürlich nass geworden. Er hob ihn an und trocknete ihn gesondert ab.
Und da fiel ihm auf, dass auf der Unterseite in die einzelnen Stäbe des Scherengitters Buchstaben eingeprägt waren. ABCDE… – auf jedem Stab das ganze Alphabet, je ein Zeichen an den Gelenkpunkten. Ewa hatte ihm ja auch solche Untersetzer geschenkt. Sie lagen bei ihm daheim, und er konnte es jetzt nicht nachprüfen, aber er war sicher, dass auf seinen keine Buchstaben standen.
Er schaffte es gerade noch, ihn wieder hinzulegen, ehe Ewa aus dem Bad kam. Nackt wie jedesmal. „Was machst du denn da?“, fragte sie angesichts des nassen Tuchs in seiner Hand.
„Nichts. Ein kleines Missgeschick. Ich habe Wasser verschüttet und wieder aufgewischt.“
„Ach so.“ Sie sah ihn mitleidig an, mochte so etwas wie ‚Tölpel’ denken, schien aber keinen Verdacht zu schöpfen. Fred griff sich seinen Schlafanzug und ging ins Bad. Er schloss die Tür ab. Des Widersinns dieses Tuns war er sich durchaus bewusst; Ewa wusste, dass er jetzt im Badezimmer war, also würde sie kaum hereinkommen. Aber er kam nicht gegen den Reflex an. Außerdem – wenn sie ihn immer noch provozieren wollte, würde sie vielleicht gerade deshalb hereinkommen.
Im Bett angekommen, verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und dachte nach. Was machte man mit Buchstaben auf einem Scherengitter? Zum Design konnte es nicht gehören, denn die Buchstaben waren auf der Unterseite gewesen, wo man sie normalerweise gar nicht sah.
Form folgt Zweck. Wenn man das Scherengitter zusammenfaltete, würden sich die Buchstabenreihen gegeneinander verschieben. Etwa so:
____ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ
___ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ
__ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ
_ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ
…
Verdammt! Das war eine Codiertabelle für einen Vigenère-Code! Verschickte Ewa etwa verschlüsselte Botschaften?
Frederik hatte sich nie speziell mit Kryptologie beschäftigt, nur im Mathematikstudium hatte er zumindest ein wenig Bekanntschaft damit gemacht. Er wusste daher immerhin, dass es längst bessere und sicherere Verfahren als das von Vigenère gab. Außer in einem Falle: Wenn der Schlüssel länger war als die Botschaft und nur einmal verwendet wurde, dann war das Verfahren unangreifbar, solange der Schlüssel geheim blieb. Die Bibel! Die Bibel musste der Schlüssel sein! Die war zwar nicht unendlich lang, aber immerhin so lang, dass ein Agentenleben nicht dafür ausreichen dürfte, den Schlüssel auszuschöpfen.
Trotzdem arbeitete Ewa, was auch immer sie verschlüsselte, äußerst schlampig: sie hinterließ Spuren in Form von Bleistiftstrichen! Offenbar markierte sie damit, bis wohin sie den Schlüssel bereits verbraucht hatte. Im Prinzip war der Trick gut. Ein alltägliches Buch und ein harmloser Untersetzer. Dinge, die man nicht zu verbergen brauchte. Stets vor Augen, doch verborgen, wie es in einer Kindergeschichte über eine Schatzsuche hieß. Und ein Bleistift zum Markieren hatte ebenso wie ein simples Handy in ihrer Kulturtasche Platz, das brauchte sie also nicht heimlich aufs Klo zu tragen. Aber auch einem Profi konnte ein alberner Fehler unterlaufen: Obwohl sie vehement bestritten hatte, an Gott zu glauben, verwendete sie ausgerechnet die Bibel.
Fred stellte fest, dass sein Adrenalinpegel gewaltig angestiegen war. In was für eine Geschichte war er hier geraten? Ewa – eine Agentin, die ihn ausspionierte? Was jetzt? Er blieb sehr lange wach liegen in der Erkenntnis, dass er der Schlange nicht vertrauen konnte. Sollte er sie zur Rede stellen? Oder war es gefährlich für ihn, wenn er offenbarte, dass er sie durchschaut hatte? Aber er hatte sie längst nicht durchschaut, denn welches Spiel sie wirklich trieb, erschloss sich ihm nicht. Und das würde er auch nicht aus ihrem mutmaßlich im Bad versteckten Handy erfahren, denn wenn sie nicht völlig hirnlos war, hatte sie es mit einem Code verriegelt. Irgendwann war die Müdigkeit dann doch stärker.
Immerhin konnte er, da er nun wusste, wonach er suchen musste, am folgenden Morgen rasch die Probe aufs Exempel machen. Als Ewa nach dem Frühstück zur Toilette ging, zog er ihre Schublade auf und warf einen kurzen Blick auf Genesis 1,1. Es war ein Bleistiftstrich im zweiten Absatz dazugekommen:
Am Anfang schuf Gott| Himmel und Erde. Und d|ie Erde war wüst und l|eer, und es war finste|r auf der Tiefe; und de|r Geist Gottes schwe|bte auf dem Wasser.
Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es| ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.
Ewa hatte also im Laufe der Nacht eine weitere Botschaft verschlüsselt und wohl auch an ein geheimnisvolles Gegenüber gesendet. Und sie hatte deutlich mehr Buchstaben des Schlüssels verbraucht als in den Tagen zuvor, also war die Botschaft länger gewesen als sonst. Natürlich. Es gab ja auch mehr zu berichten. Sie glaubte, ein außerirdisches Artefakt gefunden zu haben. Obwohl er, für sein Teil, es weiterhin für eine Fruchtpresse hielt.
12. Gleichzeitig
Eine dunkle Uniform, ein glatt rasiertes Gesicht, ein militärisch kurzer Haarschnitt, die Schulterstücke wiesen ihn als Major aus. Er salutierte exakt vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten. Das Rangabzeichen eines Adlers bescheinigte jenem den Rang eines Colonel, also eines Obersten. „Sir!“
„Major Lockman. Nehmen Sie doch Platz.“
„Danke, Sir.“ Er setzte sich vorsichtig auf die Stuhlkante. Es entsprach nicht seiner Rolle, sich vor Colonel Corn lässig hinzufläzen.
„Sie haben mir etwas zu berichten?“
„Jawohl, Sir. Meier 5 aus Deutschland scheint wieder im Einsatz zu sein. Wir haben mehrere Botschaften von seinem Mobiltelefon mitgeschnitten. Zieladresse ist wie immer jemand im SWR.*“ (*Russischer Auslandsgeheimdienst)
„Ich nehme an, nur deswegen kommen Sie nicht zu mir?“
„Richtig, Sir. Verschlüsselte Botschaften von Meier 5 gab es schon häufiger. Aber diesmal konnten wir den Code dechiffrieren.“
„Erzählen Sie.“
„Die ersten sechs Botschaften hatten alle die gleich Länge, jeweils siebzehn Zeichen. Dafür kann es verschiedene Erklärungen geben, aber die plausibelste ist, dass es sich jedesmal um den gleichen Wortlaut handelt. Wir haben die Arbeitshypothese aufgestellt, dass Meier 5 eine Sache verfolgt, und mehrmals melden musste, dass noch keine Ergebnisse vorliegen.“
„Hm. Und weiter?“
„Dann haben wir uns gefragt, welche Botschaft mit siebzehn Zeichen zu dieser Situation paßt. Da gibt es viele Möglichkeiten. Unter der Annahme, dass der Klartext Deutsch ist, kämen etwa in Frage ‚BISHERNICHTSNEUES’ oder ‚KEINEERKENNTNISSE’ oder ‚ALLESUNVERAENDERT’ oder ‚WEITERERGEBNISLOS’ und ein paar andere.“
„Machen Sie’s nicht so spannend.“
„Na ja, wir sind ein bißchen stolz darauf. Sie wissen, ein Vigenère-Code ist unknackbar, wenn der Schlüssel lang genug ist. Aber Sie wissen sicherlich auch, dass man, wenn man den Klartext und den verschlüsselten Text kennt, daraus den Schlüssel errechnen kann. Damit haben schon die Briten in Bletchley Park die deutsche Enigma geknackt. Also, kurz, wir haben die möglichen Klartexte durchprobiert und jeweils über den verschlüsselten Text den mutmaßlichen Schlüssel errechnet.“
„Ergebnisse?“
„Sehen Sie selbst.“ Major Lockman präsentierte einen Computerausdruck. „Die Anwendung des Klartextes ‚KEINEERKENNTNISSE’ auf die ersten sechs verschlüsselten Botschaften brachte folgendes Ergebnis…“
Da stand zunächst die wirre Zeichenfolge der ersten sechs Geheimbotschaften, darunter jeweils der vermutete Klartext. Man brauchte nur noch den Geheimtext mit dem Klartext zu verrechnen und erhielt den Schlüssel:
KQIAJEEQWPUNSOGLX RMUZIPLXHREWRCFVH SIMEHINKVJHLGCFVP
KEINEERKENNTNISSE KEINEERKENNTNISSE KEINEERKENNTNISSE
AMANFANGSCHUFGOTT HIMMELUNDERDEUNDD IEERDEWARWUSTUNDL
OIZHRHVCANEYVVKLI BECSHIIDMRSXHVVVI BKMVWXXYXGRLFKZOI
KEINEERKENNTNISSE KEINEERKENNTNISSE KEINEERKENNTNISSE
EERUNDESWARFINSTE RAUFDERTIEFEUNDDE RGEISTGOTTESSCHWE
„Meier 5 verwendet als Schlüssel also offenbar den Text des Buches Genesis. Und nun kommt es: Heute fingen wir eine weitere Botschaft ab, diesmal länger. Wir haben den codierten Text mit dem anschließenden Text der Bibel entschlüsselt, und es hat geklappt.“ Er legte einen weiteren Computerausdruck vor:
WXVMOYOMODAJLIWUXWMSYNFSVNGCXDWPZHRQCPRZYEDIL
BTEAUFDEMWASSERUNDGOTTSPRACHESWERDELICHTUNDES
VERMUTLICH|ARTEFAKT|GEFUNDEN|EVTL|ALIEN|FUNKGERAET
Zwecks besserer Lesbarkeit hatte offenbar jemand in Lockmans Abteilung hinter die Worte kleine Bleistiftstriche gesetzt.
„Artefakt? Alien-Funkgerät? Was kann das bedeuten?“
„Meier 5 ist momentan in Reykjavik. Und scheint auf der Suche nach außerirdischen Artefakten zu sein.“
„Wenn der SWR das ernst nimmt, sollten wir es zweifellos auch ernst nehmen.“
„Nun, wir haben jetzt den Schlüssel, und Meier 5 wird uns ganz freiwillig auf dem laufenden halten.“ Lockman erlaubte sich ein Lächeln.
„Gute Arbeit, Major. Sie werden mir berichten. Wegtreten!“
Lockman erhob sich, salutierte erneut und wandte sich zum Gehen.
„Ach, einen Moment noch!“
„Sir?“
„Halten Sie ein Team zum Eingreifen bereit. Wenn da wirklich etwas dran ist, dann ist der Sicherheit unseres Landes am ehesten gedient, wenn wir dieses Ding in die Hände bekommen.“
„Natürlich, Sir.“