Prolog

Kapitel 1

Roland blickte von seinem Handy auf. Das Mädchen, das gerade eben bei Rot die Straße überquert hatte und um Haaresbreite einem Unfall entgangen war, steuerte tatsächlich auf ihn zu. In der Tat wirkte das Outfit etwas aus der Zeit gefallen. Ein langes Kleid aus einem glänzenden, aber irgendwie luftig wirkenden Stoff, ein glitzerndes Schultertuch, lange blonde Haare, flache silberne Ballerina-Schuhe. Eine Kette um den Hals, an der ein faustgroßes, funkelndes Ding hing. Das sie jetzt vor die Augen hob. Sie schien Roland durch die Kugel hindurch anzusehen. Dann ließ sie sie sinken.

Bist du Roh-Land?“ Ihre Aussprache hatte irgendwie einen Akzent, den er aber keiner ihm bekannten Sprache zuordnen konnte.

Äh – Roland. Ja. Woher kennst du mich?“

Ich habe dich hier drin gesehen.“

Da drin? Gesehen? Krass.“

Findest du das ungewöhnlich? Du guckst doch auch in deinen Zauberspiegel.“

Das? Das ist ein Smartphone.“

Smart von was?“

Er musterte sie zweifelnd. „Smartphone. Das kommt von Telefon. Fernsprechen. Ich habe mich gerade mit Jessi da drüben unterhalten.“

Unterhalten? Und warum gehst du dann nicht einfach zu ihr hin?“ Dieses Mädchen konnte wirklich komische Fragen stellen. „Eigentlich hast du doch gar nicht gesprochen, sondern mit dem Finger da rumgedrückt.“

Natürlich. Ich habe geschrieben.“

Ohne Feder?“

Du bist nicht von hier, richtig?“

Das merkwürdige Mädchen nickte. „Damit kommst du der Sache näher.“

Schön. Also, was willst du eigentlich?“

Wenn du der bist, den ich suche, dann brauchen wir deine Hilfe.“

Und wer ist ‚wir’?“

Das ist eine lange Geschichte. Und wir haben nicht viel Zeit.“

Eigentlich habe ich auch nicht viel Zeit. Wenn du…“

Jetzt hatte Jessi die Geduld verloren und war von der anderen Seite des Schulhofes herübergekommen. „Was ist das jetzt hier? Sprichst du nicht mehr mit mir? Was ist das für eine und was will sie?“

Du könntest mich selbst fragen“, schlug das Mädchen vor.

Jessi musterte sie mit Laserkanonen in den Augen. „Kann ich oder muss ich?“ Ihre Eifersucht war deutlich herauszuhören.

Hör mal, Jessi, ich sagte gerade zu … wie heißt du überhaupt?“

Noreia“, sagte das Mädchen freundlich. „Je-Si, ich möchte dich bitten, mir Roh-Land für eine Weile auszuleihen. Er muss mir bei einer Aufgabe helfen.“

Erst mal muss er mir bei meinen Matheaufgaben helfen. Klar?“

Ich fürchte, das hier ist wichtiger.“

Jessi holte tief Luft und erhob die Stimme. „Sag mal, hast du noch alle Nadeln an der Tanne? Schneist hier rein, quatschst meinen Freund an und willst ihn abschleppen!“

Ich schleppe ihn nicht ab, ich bitte ihn um Hilfe.“

Abgelehnt!“, fauchte Jessi.

Darf ich das bitte selbst entscheiden?“, meldete sich Roland zaghaft zu Wort.

Du kriegst es fertig und fällst auch noch auf diese Masche rein!“

Noreia wurde unvermittelt ernst. „Das tut mir wirklich Leid, aber ich glaube, ich muss die Sache jetzt abkürzen. Ist nicht böse gemeint, Je-Si.“

Sie zog aus dem Ärmel ihres Kleides eine Art Holzstab und tippte mit dessen Ende auf Jessis Brust. Es sah aus, als ob ein paar Funken sprühten. Und dann war Jessi verschwunden.

Roland schnappte nach Luft. „Was … was hast du mit Jessi gemacht?“

Noreia zeigte auf einen Hydranten, der an der Schulhofmauer stand. Roland meinte, er hätte vorhin noch nicht da gestanden. Dem Dackelhund, der eben sein Bein daran hob, kam er jedenfalls gerade recht. „Ich verwandle sie zurück, wenn das hier vorbei ist. Versprochen.“

Ein … Zauberstab? Wie bei Harry Potter?“

Wer ist He-Ri Potter?“

Du musst wirklich von sehr weit her kommen.“

Sie nickte. „Du hilfst uns also?“

Habe ich eine Wahl? In was würdest du mich sonst verwandeln?“

*

Noreia ging auf die Frage nicht ein. „Hör dir meine Geschichte an. Aber ich muss mich kurz fassen, das Portal öffnet sich in weniger als einer Stunde.“ Roland verzichtete auf die Frage, um was für ein Portal es sich handelte und hoffte, dass er es gleich erfahren würde.

Es geht um unsere Königin Onomaris. Vor hundert Jahren hat Mogon, der Fürst der Dunkelheit, unser Königreich überfallen und Onomaris in seine Gewalt gebracht. Er hält sie in einem Verlies gefangen. Nach den vielen Jahren erschöpft sich ihre Lebenskraft, wenn sie nicht wieder die Sonne sieht.“

Wieso? Funktioniert eure Königin mit Solarstrom?“, entfuhr es Roland. Hundert Jahre. Offenbar eine sehr langlebige Königin.

Unterbrich mich nicht. In einer alten Prophezeiung ist die Rede von einem Helden Roh-Land, der zur rechten Zeit kommen wird, um Mogon zu besiegen und die Königin zu befreien. Alles spricht dafür, dass du dieser Roh-Land bist. Ich habe dein Bild in meiner Kristallkugel gesehen. Aber ich muss dich in die Dunkelwelt Mogons bringen. Und das Tor öffnet sich nur alle 18 Jahre.“ Sie lächelte schmerzlich. „Beim letzten Mal warst du gerade erst geboren. Und beim nächsten Mal ist es für die Königin vermutlich zu spät.“

Das klingt alles wie irgend so ein Fantasy-Spiel.“

Nur dass es kein Spiel ist. Komm, wir müssen uns beeilen.“ Sie griff seine Hand und zog ihn zu dem Fußgängerüberweg, über den sie vorhin gekommen war.

Es ist Rot!“

Und Rot ist Tod“, gab Noreia zurück und zerrte ihn mit sich. Bremsen kreischten, Hupen erklangen. Dann waren sie auf der anderen Seite und liefen die Stufen zum Stadtpark hinunter. „Hier, steig auf!“

Aufsteigen? Auf was?“

Vor ihnen flimmerte die Luft, dann schälte sich ein großer, bis dahin unsichtbarer Körper heraus. Es war ein gewaltiger, grünschuppiger Drache. Einer von denen, die vermutlich auch Feuer spucken konnten. Zu Rolands eigener Überraschung hielt sich sein Erschrecken in Grenzen. Tarnfelder kannte er aus Star Trek; darunter verbargen die Klingonen immer ihre Raumschiffe. „Darf ich dir Ardux vorstellen? Er bringt uns nach Südafrika.“

Die Frage „Warum ausgerechnet nach Südafrika?“, stellte Roland bereits auf dem Rücken des Ungeheuers. Noreia saß vor ihm auf dem schuppigen Panzer des Fabeltieres, und Roland hielt sich an ihr fest.

Weil dort heute eine Sonnenfinsternis stattfindet.“ Roland erinnerte sich dunkel, davon irgendwo gelesen zu haben. Aber er und seine Eltern gehörten nicht zu denen, die eigens ans andere Ende der Welt jetteten, um eine Finsternis zu erleben; daher hatte er die Nachricht als unbedeutend abgehakt. Unter ihnen flog rasend schnell die Landschaft vorbei, sie waren schon über den Alpen. Hoffentlich stießen sie nicht mit einem Verkehrsflugzeug zusammen. ‚Linienmaschine Kairo-Frankfurt mit Lindwurm kollidiert. 360 Tote.’ Nein, so eine Meldung würde niemals in der Zeitung stehen, und deswegen konnte das auch nicht passieren. Noreia machte auf ihn den Eindruck, als ob sie die Sache im Griff hatte. Sie war zweimal unfallfrei bei Rot über die belebte Straße gekommen. Roland begann ihr zu vertrauen.

Und bei Sonnenfinsternis öffnet sich das ominöse Portal, ja?“

Ich stelle fest, dass du allmählich begreifst.“

Aber wenn das so ist – wie bist du dann hierher gekommen?“, meldete sich in Roland ein Zweifel.

Das Portal ist für Sterbliche. Für mich gibt es andere Wege. Ich bin nicht von Fleisch und Blut.“

Was bist du dann? Ein Geist? Danach fühlst du dich aber nicht an.“ Immerhin hielt er sich an ihr fest. Konnte man sich an einem Geist festhalten? Er stellte fest, dass sie ihm als Mädchen lieber gewesen wäre denn als Geist.

Sie streckte einen Arm aus und wies nach vorn. „Wo die weißen Strahlen der Sonne sich mit den schwarzen Strahlen des Mondes vereinen, genau im Zentrum des Schattens, ist für wenige Augenblicke der Übergang in die Dunkelwelt möglich.“

Aber der Schatten wandert über die Erde. Ist da überall ein Portal?“

Nur wenn der Mond exakt im Drachenpunkt steht. Wir sind gleich da.“

Roland bemerkte, dass es kühler wurde. Er blickte zum Himmel und erkannte, dass sich der Mond bereits vor die Sonne zu schieben begann. Sie erreichten also die Finsterniszone.

Der Drache verlor an Höhe und überquerte einen Fluss. Unter ihnen breitete sich eine karge Landschaft aus, die mit Felsen übersät war und in der nur vereinzelt Bäume standen. Sie mussten mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit geflogen sein, dabei hatte es sich nur wie eine rasante Fahrt auf dem Motorrad angefühlt. Aber was hieß das schon in einer Geschichte, in der man auf einem Drachen ritt und sich an einem Geist festhalten konnte? Drachenpunkt hatte sie gesagt. „Noreia, was ist der Drachenpunkt?“

Der Schnittpunkt der Mondbahn mit der Sonnenbahn. Nur dort kann der Mond sich mit der Sonne treffen.“ Sie landeten. Der Mond hatte die Sonne bereits fast verdeckt. Noreia hob ihre Kristallkugel vor die Augen, dann blickte sie um sich. „Genau da drüben. Bei dem Felsen wird der Übergang entstehen. Komm.“

Der Felsen sah aus wie alle anderen, aber wenn ihr Navi das sagte, musste es wohl stimmen. Es wurde finster, Sterne wurden am Himmel sichtbar. Alice war durch einen Kaninchenbau ins Wunderland eingetreten. Aber das hier sah nicht so aus. Es war einfach ein schwarzes Loch. Noreia packte Rolands Hand fest.

Jetzt.“

Von dem Loch schien eine Art Sog auszugehen, sie fielen geradezu hinein. Aus dem Augenwinkel bemerkte Roland noch, wie der Drache ihnen folgte. Dann stürzten sie in die Dunkelheit. Vermutlich gab es dort auch keine Grinsekatze.

Kapitel 2

Roland landete auf den Knien und in etwas Matschigem. Ein heftiger Schlag erschütterte den Boden, als auch der Drache Ardux angekommen war. „Roh-Land?“, fragte Noreias Stimme besorgt. „Ist alles in Ordnung?“

Sieht so aus. Wo sind wir hier?“

Im Hartwald, im Reich Mogons.“ Sie sagte etwas in einer unbekannten Sprache. Offenbar galt es Ardux, der daraufhin einen Feuerschwall in die Luft stieß. Dadurch konnte Roland erkennen, dass er in einem schlammigen Untergrund kniete, aus dem sich überall steinerne Bäume erhoben.

Sieht echt hart aus, der Wald“, musste er zugestehen. „Mist. Ich habe nicht daran gedacht, meine Eltern anrufen, dass ich heute später komme.“ Er zog sein Handy aus der Tasche und schaltete es ein. „Doppelmist. Kein Netz.“

Was willst du mit einem Netz? In diesem Wald kann man keine Fische fangen.“

Roland entschied, dass es sich nicht lohnte, es ihr zu erklären. Er seufzte nur und steckte das Gerät wieder ein. „Und nun?“

Wir müssen Efnisiën, den Schmied, aufsuchen. Als ich aufbrach, um dich zu holen, erwartete ich einen Krieger zu finden. Aber du bist unbewaffnet, also muss er dich erst noch ausrüsten. Du kannst doch mit einem Schwert umgehen?“

Hm. Also, ich hab mal an der Volkshochschule einen Kursus im Schwertkampf gemacht.“

Volks-Hoch-Schule. Das klingt jetzt irgendwie nicht sehr anspruchsvoll. Aber besser als nichts“, stellte Noreia mit verhaltener Begeisterung fest. „Efnisiën wird deine Kenntnisse auffrischen müssen.“

Sollten wir nicht auf den Tag warten?“

Warten ist tödlich. Dieser Boden ist mörderisch. Hörst du das Schmatzen? Er hat unsere Anwesenheit schon bemerkt.“

Roland musterte misstrauisch den Boden, erhob sich und versuchte halbherzig seine Hose zu reinigen. Sein rechter Fuß begann einzusinken.

Bleib nicht stehen! Der Sumpf wird uns verschlingen, wenn wir zu lange warten. Da hilft nur, in Bewegung zu bleiben. Außerdem gibt es hier keinen Tag. Mogons Reich ist die Finsternis. Ein Sonnenstrahl würde ihn töten.“

Dann wissen wir ja zumindest, wie ihm beizukommen ist.“

Ja. Theoretisch. Er weiß um seine Schwäche und nimmt sich in Acht. Wir müssen dort entlang, ins Gebirge.“

Und wie ernährt sich dieser Mogon in einem Land, in dem nie die Sonne scheint? Hier wächst doch nichts.“

Deshalb überfällt er ja die Länder im Licht, um sie auszuplündern.“

Ein reizender Zeitgenosse. Dann sollten wir zusehen, dass wir hier weg kommen. Weiß dein Navi den Weg zu diesem Efnisiën?“

Du meinst meine Kristallkugel? Sie heißt nicht Na-Vi, sie heißt Sequana.“

Von mir aus.“

Allmählich gewöhnten sich Rolands Augen an die Dunkelheit. Es war nicht völlig finster; am Himmel flackerten leuchtende Schleier, wohl eine Art Polarlicht. Sie wanderten über den trügerischen Boden. Irgendwann erreichten sie festen Untergrund, das bedrohliche Schmatzen unter den Schuhen hörte auf. Auch der Hartwald blieb zurück, dafür ging es aufwärts in ein Gebirge, das aber bei dieser Beleuchtung vor allem aus dunklen Umrissen bestand.

Warum fliegen wir nicht mit Ardux?“

Wir sind zu nahe an Mogons Burg. Wenn Ardux aufstiege, würde man uns bemerken.“

Ein urzeitliches Brüllen erschütterte die Luft, das durch Mark und Bein ging. Roland blieb wie erstarrt stehen. „Was ist das?“, flüsterte er. Eine Grinsekatze war es bestimmt nicht.

Ein Hork. Ein ziemlich dummes Monster mit einem ziemlich guten Geruchssinn, mit dem es seine Beute aufspürt.“

Fallen wir in sein Beuteschema?“

Leider ja. Auch wenn ich nur ein Avatar bin.“

Ein Avatar? Wessen Avatar?“

Eine Antwort bekam er nicht, und diese Frage war wohl momentan auch nicht lebenswichtig. „Er kommt! Los, da drüben ist eine Höhle; wir müssen uns verkriechen!“

Roland folgte Noreia, die ihn hinter sich her zerrte. Jedenfalls kannte sie sich hier aus; sie erreichten einen natürlichen Torbogen, der aus zwei gegeneinander gelehnten Felsen bestand. Dahinter war es absolut finster. Sie ertasteten die Rückwand und kauerten sich nieder. „Warum kommt es mir so vor, als ob wir hier in der Falle sitzen? Dieser Hork braucht uns doch nur noch aufzusammeln.“

Er passt nicht durch die Öffnung.“

Na toll. Dann wartet er draußen. Kann dein Drache ihn nicht bekämpfen?“

Horks sind gegen Feuer immun.“

Das spärliche Licht, das durch die Öffnung hereindrang, wurde von einem riesigen Körper ausgelöscht. Dafür erklang wieder das ohrenbetäubende Brüllen, gefolgt von einem Kratzen gewaltiger Krallen. Das Monster hatte die Höhle gefunden und witterte zweifellos seine Beute.

Dann nimm deinen verdammten Zauberstab und verwandle ihn in etwas Harmloses!“

Würde ich ja. Aber wir sind immer noch im Herrschaftsgebiet Mogons. Wenn ich hier einen Zauber anwende, spürt er es. Dann wäre unsere Anwesenheit verraten. Wenn er seine Soldaten schickt, ist das schlimmer als ein Hork.“

Was ist das eigentlich für ein bescheuertes Spiel? Erst geht meine Technik nicht, und jetzt geht deine Technik auch nicht.“ Er überlegte. Seine Technik? Die Gesetze der Physik schienen hier zumindest teilweise zu gelten, jedenfalls fielen Dinge hier auch nach unten. Selbst wenn das Handy zum Telefonieren hier nicht taugte, es hatte einen noch fast vollen Akku. „Hast du irgendein Stück Metall für mich? Eine Haarnadel oder so was?“

Willst du damit etwa den Hork bekämpfen?“

In gewisser Weise ja.“

Sie drückte ihm etwas in die Hand, das sich wie eine Halskette anfühlte. „Geht das hier? Ist aus Silber.“

Und jetzt noch ein Stück Band…“, überlegte er. Ach richtig, er trug ja dieses Freundschaftsband von Jessi am Handgelenk. Die im Moment als Hydrant vor der Schule herumstand. „Hab schon.“

Was machst du?“

Wenn man einen Lithium-Ionen-Akku kurzschließt, erhitzt er sich und explodiert.“ Er zog den Akku aus dem Handy, wickelte die Kette darum und befestigte sie mit dem Band. Sofort spürte er, wie das Ding in seiner Hand heiß wurde; er schleuderte es in Richtung des Höhlenausgangs.

Li-zjum-jo-nen-a-ku“, buchstabierte Noreia, als müsse sie einen Zauberspruch lernen. „Aber ist das keine Magie, die Mogon spüren könnte?“

Nein. Das ist Physik. Ich dachte mir, in einer Welt, in der die Schwerkraft noch funktioniert, müsste der Rest vielleicht auch noch funktionieren.“

Schwer-Kraft?“

Dass Sachen nach unten fallen.“

Das tun sie, weil sie ihren natürlichen Ort anstreben. Erde strebt zu Erde nach unten, Luft zu Luft nach oben.“

Ach du Schande, wohin bin ich geraten, dachte Roland. Und dann explodierte der Akku freundlicherweise trotzdem. Der Hork stieß ein markerschütterndes Heulen aus, warf sich herum und flüchtete wie von Furien gehetzt. Da er gegen Feuer immun war, blieb fraglich, ob die Explosion ihn ernsthaft verletzt hatte, aber zumindest hatte sie ihm den Appetit verdorben.

Komm, lass uns weitergehen“, schlug Roland vor und ergriff Noreias Hand. Vielleicht war sie nicht aus Fleisch und Blut, aber er spürte, dass sie zitterte. Irgendwie beruhigte ihn das.

Kapitel 3

Efnisiëns Schmiede lag bereits in dem Teil dieser Welt, aus dem die Sonne nicht verbannt war. Sobald sie Mogons Reich hinter sich gelassen hatten, waren sie die restliche Strecke mit Ardux geflogen. Der Schmied war ein athletischer Mann, trug die zu seinem Berufsstand gehörige Lederschürze, und er begrüßte Noreia mit erkennbarer Ehrerbietung. Dann deutete er mit einer Kopfbewegung auf Roland. „Und er?“

Das ist Roh-Land, der Held aus der Prophezeiung. Ich habe ihn tatsächlich gefunden. Aber er hat kein Schwert. Du musst ihn ausrüsten.“

Roland überlegte, dass der kräftig gebaute Schmied einen viel besseren Helden abgeben müsste als er selbst. Aber diese merkwürdige Prophezeiung hatte offenbar ihn auserkoren und nicht Efnisiën. Ob er wirklich etwas hatte, das andere nicht besaßen? Dann war es ihm jedenfalls noch nie aufgefallen.

Ich grüße dich, Roh-Land.“ Der Schmied deutete eine Verbeugung an.

Roland tat es ihm nach. „Ich grüße dich, Efnisiën.“

Komm und such dir eine Waffe aus.“ Mit einer Geste bat er seine Besucher in einen Hinterraum, in dem verschiedene seiner Werkstücke aufgereiht standen.

Roland ließ seinen Blick über die Schwerter schweifen und nahm sich schließlich eines, das in Gestalt und Größe dem am nächsten kam, mit dem er in seinem Kursus gelernt hatte.

Efnisiën musterte ihn stirnrunzelnd. „Das Schwert Hafgan? Das ist eine Waffe für Anfänger.“

Sagen wir’s offen. Ich bin Anfänger. Hätte Noreia nicht mich angeheuert, würde ich sagen, du bist der bessere Mann für den Job.“

Efnisiën und Noreia tauschten einen Blick. „Er ist sich seiner Kräfte nicht bewusst“, erläuterte das Geistermädchen. „Aber ich habe bereits eine Probe seines Könnens erlebt, als ein Hork über uns herfallen wollte. Vertrau mir, er ist der Richtige.“

Efnisiën nickte. „Schön. Dann lass doch mal sehen.“ Er griff sich ebenfalls ein Schwert aus der Sammlung. „Attacke!“

Roland schaffte es, den ersten Angriff zu parieren und seinerseits vorzudringen. Er gewann etwas Raum und drängte den Schmied zurück. Aber dann gelang es Efnisiën, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen. Ritterlich hob er sie auf und reichte sie ihm wieder. „Im Angriff nicht schlecht, aber in der Abwehr miserabel“, resümierte er.

Er ist zum Angreifen gekommen, nicht zum Abwehren“, bemerkte Noreia.

Der Schmied grinste schief. „Wenn du das sagst.“

Das Geistermädchen zog seine Kristallkugel hervor, die nun nicht mehr an einer Kette hing. „Ich brauche übrigens eine neue Kette für Sequana.“

Ich glaube, das ist heute das kleinste unserer Probleme.“

Gib mir noch eine Lektion“, verlangte Roland, dessen männlicher Stolz sich meldete.

Aber gern.“ Diesmal gelang es ihm, sich auf die Kampftechnik des anderen einzustellen und sich etwas länger zu behaupten.

Wenn ich ihn lange genug trainiere, könnte es etwas werden. Aber ich fürchte, so viel Zeit haben wir nicht mehr. Mogons letzter Überfall liegt einige Zeit zurück. Ich vermute daher, der nächste steht unmittelbar bevor.“

Mogon kämpft selbst? Ich dachte, er scheut die Sonne.“

Er greift nachts an, du Schlaukopf. Und zieht sich vor Sonnenaufgang zurück.“

Dann weiß ich, wie wir ihn besiegen. Wir müssen ihm den Rückweg abschneiden, damit er nicht vor Tagesanbruch seine dunklen Gefilde erreicht.“

Hab ich doch gewusst, dass er der Richtige ist, schien Noreias Blick zu sagen, den sie jetzt dem Schmied zuwarf.

Wenn wir jetzt noch wüssten, wann und wo er anzugreifen gedenkt, hätten wir vielleicht eine Chance“, nickte Efnisiën. „Eine kleine Streitmacht könnten wir schon aufstellen, die ihn auf dem Rückzug aufhält. Bleibt die Frage, wie man seine Pläne erfährt.“

Durch einen Spion?“, schlug Roland vor.

Den man dazu unbemerkt in seine Burg bringen müsste, damit er die Besprechung Mogons mit seinen Heerführern belauscht“, gab der Schmied zu bedenken.

Roland stellte fest, dass er sich allmählich in diese Welt hineinfand. Und in die Denkweise ihrer Bewohner. Und die verließen sich darauf, dass er ihre Königin rettete. Zweifellos würde er von hier nicht zurückkehren können, bevor er das getan hatte; da war Zögern fehl am Platze. Und da war, zugegeben, ein schönes Mädchen namens Noreia, das seinen Ehrgeiz anstachelte. Selbst wenn sie ein Geist war.

Noreia, du hast gesagt, dass Mogon es spüren würde, wenn du in seinem Reich einen Zauber anwendest. Würde er es auch merken, wenn du hier zauberst?“

Sicherlich nicht.“

Dann habe ich einen Vorschlag. Verwandle mich in ein Tier, das unbemerkt in die Burg Mogons eindringen kann. Eine Ratte oder was weiß ich. Kannst du das?“

Sie lächelte ein wenig. „Geht auch ein Rabe? Raben mag ich besonders gern.“

*

Wir sollten den Plan noch einmal genauer durchdenken“, überlegte Noreia. „Angenommen, du erlauschst Mogons Angriffspläne. Dann musst du sie zu uns bringen. Und du musst schnell sein, denn natürlich musst du unser Heer anführen. Als Rabe fliegst du über drei Stunden bis zur Burg Mogons. Und noch einmal drei Stunden zurück.“

Ardux könnte mich hinbringen, der ist bestimmt schneller, der hat uns in einer Dreiviertelstunde nach Südafrika gebracht“, schlug der Rabe vor.

So schnell ist er hier nicht. Aber immerhin ist er schnell. Nur darf er sich der Burg nicht zu weit nähern, wie du weißt. Mogon hat Geschütze mit eisernen Pfeilen, die einen Drachen abschießen können. Hm. Immerhin könnte er dich bis zum Hartwald bringen, und du fliegst die restliche Strecke.“

Na gut, dann machen wir es so“, krächzte Roland.

Moment. Ardux kann im Hartwald nicht auf dich warten. Ich sagte es schon, der Sumpf verschlingt jeden, der zu lange an einem Ort bleibt. Wir müssen also wissen, wann du zurückkommst, damit er im rechten Moment zur Stelle ist.“

Eine Whatsapp kann ich euch leider nicht schicken, dachte Roland grimmig.

Ich hab’s. Wir besorgen dir eine Kristallkugel. Dann kann ich in meiner sehen, wo du bist.“

Du willst mir nicht etwa so einen Mühlstein um den Hals hängen?“

Natürlich nicht. Calatin muss uns eine kleinere machen.“

Wer ist Calatin?“

Ein Zauberer. Er wohnt nicht weit von hier. Und du, Efnisiën, bastelst inzwischen einen Vogelkäfig, in dem Ardux Roh-Land transportieren kann.“

Du willst mich in einen Käfig sperren?“

Doch nicht einsperren, du Narr. Efnisiën macht ihn so, dass du ihn von innen öffnen kannst.“

Verzeihung“, spottete Roland, „ich bin ja nur ein kleiner, dummer Rabe.“

Den Raben Roland auf der Schulter, betrat Noreia wenig später die Hütte des Zauberers. Sie verneigte sich ehrfürchtig, und Roland bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten. „Seid gegrüßt, Meister Calatin.“ Calatin war ein alter Mann mit weißem Bart und kahlem Schädel.

Gruß auch dir, Noreia. Ich stelle fest, du hast einen Vogel. Allerdings einen besonderen, wie mir scheint.“ Roland musterte interessiert das Interieur der Hütte. Gläser, Töpfe, Retorten. Es hatte etwas vom Chemielabor in der Schule. Allerdings ohne Abzug und ohne Bunsenbrenner. Vermutlich hing Calatin auch noch der Phlogiston-Theorie an.

Sie nickte. „Das ist Roh-Land. Er wird für uns Mogons Pläne auskundschaften. Ich benötige eine Kristallkugel, die so klein ist, dass er sie tragen kann.“ Sie erläuterte ihm, wozu sie sie brauchen würden.

Calatin warf einige Scherben in einen Tiegel, der auf einem Ofen stand. Dann fachte er mit einem Blasebalg das Feuer an. Bald konnte er ein Metallrohr in die Schmelze stecken, einen zähen Klumpen Glas daran, dann begann er das Rohr zu drehen, während er hineinblies. Mit dem Geschick eines Glasbläsers stellte er eine kleine Kugel her, die fast wie eine Christbaumkugel wirkte. „Sie darf ja nicht größer werden“, stellte Calatin fest, „sonst würde ich ihr noch einen zweiten Zauberspiegel geben. So kannst du zwar hindurchsehen, aber er nicht.“

Das muss genügen.“ Sie zeigte auf die entstehende Kugel. „Wie wird sie heißen?“

Sirona.“ Calatin fädelte eine kleine Kette durch die Öse, die er der Kugel angeschmolzen hatte. „Wartet, verbrennt euch nicht daran. Sie muss noch abkühlen.“

Ich weiß schon. Heißes Glas sieht genau so aus wie kaltes Glas“, zitierte Roland seinen Chemielehrer.

Dein Roh-Land scheint mir ein Weiser zu sein“, bemerkte der Zauberer.

Er ist der Held, der die Königin retten wird!“, betonte Noreia.

Der Rabe wandte ihr den Kopf zu. „Danke, dass du mich daran erinnerst.“

Kapitel 4

Der erste Teil des Plans hatte problemlos funktioniert. Ardux hatte, den Vogelkäfig um den Hals, Roland bis zum Hartwald getragen. Dort öffnete der Rabe, seinerseits die Kugel Sirona um den Hals tragend, die Tür des Käfigs und schlüpfte hinaus. Der Drache stieß ein Fauchen aus, mit einem ganz kleinen Flammenstoß. Vielleicht sollte es ‚Viel Glück’ heißen. „Danke“, krächzte Roland und erhob sich in die Luft. Hinter ihm hob auch Ardux wieder ab, um ins Licht zurückzukehren.

Die Polarlichter flackerten am Himmel. „Folge ihnen in Richtung Rot“, hatte Noreia gesagt. „Rot ist Tod, dort findest du die Burg Mogons.“

Er benötigte eine halbe Stunde, bis unter ihm die Türme und Zinnen der Burg auftauchten. Düster und bedrohlich, und das nicht nur wegen der spärlichen Beleuchtung. Die Zinnen wirkten wie die mehrfach gezackten Schneiden archaischer Waffen. Und da auf dem Turm, das musste eines der Geschütze sein, von denen Noreia gesprochen hatte. Aber auf einen Raben würde man damit wohl kaum schießen.

Du musst das Heer anführen, hatte Noreia gesagt. Und dort, an der Spitze der Truppen, würde er kein Rabe mehr sein, sondern seine eigene Haut zu Markte tragen. Prickelnde Aussichten.

Roland drehte eine Runde über dem Burghof, um sich zu orientieren. Dann landete er auf einem Sims und schlüpfte durch ein Fenster. Er hatte sich nicht getäuscht. Dies war eine Art Thronsaal, von Fackeln erhellt. Aber außer einem einzelnen Wachposten war niemand zu sehen. Hier würde er nichts erfahren. Er kehrte zurück auf den Hof. Einer der Türme stand einzeln und gehörte nicht zur Burgmauer. Die Fenster waren winzig und dazu noch vergittert. Vielleicht…

Roland zwängte sich zwischen den Stäben hindurch und erkannte, dass er richtig war. Da waren Zellen mit Gittertüren und eisernen Schlössern – das Burgverlies. Er flatterte eine gewundene Treppe hinab und fand schließlich eine Tür, vor der zwei Krieger mit Schwertern und martialischen Helmen Wache hielten. Wurde hier die Königin gefangen gehalten? Gern hätte er einen Blick in die Zelle geworfen. Er stellte sich vor, wie es wäre, sich bei seiner bescheidenen Kampfkunst mit diesen Wächtern einzulassen und rechnete sich keine Chancen aus. Aber als Rabe konnte er vielleicht einen Versuch wagen. Er landete und drückte sich an der Wand entlang. Fast wäre es gelungen. Er reckte den Hals und konnte ganz kurz eine Gestalt erkennen, mit langen blonden Haaren, die mit Ketten an die Wand gefesselt war.

Was ist das denn für ein Unglücksvogel?“, erklang die Stimme eines der Krieger, und zugleich hörte er das Klirren, als jener sein Schwert aus der Scheide zog. Hastig flatterte Roland auf und suchte sein Heil in der Flucht. Die Klinge hieb nach ihm, verfehlte ihn aber knapp.

Er kehrte in den Thronsaal zurück, in dem diesmal mehr Betrieb herrschte. Eine Schar bis an die Zähne bewaffneter Krieger begleitete einen Mann in einem schwarzen Umhang zu einem erhöht stehenden Sessel. Mogon, niemand anders konnte es sein, schleuderte in einer lange geübten Bewegung den Umhang über die Lehne und nahm Platz. Sein Kopf war bleich, schmal und knochig, fast wie ein Totenschädel. „Bericht!“, verlangte er.

Einer der Krieger trat vor und kniete nieder. „Mein Gebieter, der Angriff auf die nördliche Feldmark ist vorbereitet. Tausend Krieger stehen bereit und warten auf Euren Befehl. Sie werden diese dummen Bauern überrollen wie ein Orkan.“

Sehr gut. Mit Beginn der Nacht greifen wir an. Sattelt mein Pferd.“

Das war die Nachricht, die Roland zu erlauschen gehofft hatte. Er war zweifellos genau zur rechten Zeit hier eingetroffen. Noreia, hast du alles gehört? wollte er fragen. Aber die Kugel Sirona funktionierte ja nur in einer Richtung und konnte zudem nur ein Bild übertragen, aber keinen Ton. Sie müssten ihre Zauberspiegel hier mal weiter entwickeln. Jedenfalls war es jetzt zweifellos an ihm, die erbeutete Information so schnell wie möglich zu den Verbündeten zu bringen. Er schlüpfte durch das Fenster hinaus und flog davon, zurück zum Hartwald, wo er Ardux hoffentlich im rechten Augenblick treffen würde.

*

Der Drache brachte ihn in das Zeltlager, in dem die Truppen der Lichtwelt auf ihren Einsatz warteten. Er traf Noreia zusammen mit Efnisiën und Calatin. Sie nahm ihm die Kugel Sirona ab, zog den Zauberstab und verwandelte ihn zurück. „Wie war es als Rabe?“, erkundigte sie sich.

Man gewöhnt sich daran.“ Roland streckte seine Gliedmaßen und versuchte, seinen menschlichen Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Mogon wird bei Einbruch der Nacht mit tausend Kriegern die nördliche Feldmark angreifen.“

Das ist zu weit von hier. Bis Sonnenuntergang bekommen wir unsere Truppen nicht mehr dorthin verlegt.“

Das müssen wir doch auch gar nicht. Unser Ziel ist es, ihm den Rückweg zu verwehren.“

Sie sah Efnisiën an. „Er hat Recht. Wir dürfen ihn gar nicht aufhalten! Je tiefer er in unser Land eindringt, desto besser für uns. Roh-Land, du solltest jetzt hinausgehen und dich den Kämpfern zeigen, an deren Spitze du reiten wirst.“

Scheibenkleister, natürlich, er sollte ja die Truppe anführen. Von Reiten war allerdings nie die Rede gewesen. Aber hatte er denn ernsthaft geglaubt, man könne ein Heer zu Fuß anführen? „Reiten? Ich kann nicht reiten.“

Noreais Blick war leidend. „Und es gab dafür nicht eventuell einen – äh – Volks-Hoch-Schul-Kurs?“

Roland machte eine hilflose Geste.

Unsinn!“, rief sie dann aus. „Du bist mit mir zusammen auf Ardux geritten. Statt dich an mir festzuhalten, hältst du dich an seinen Schuppen fest. Das ist alles.“

Ich soll auf dem Drachen reiten?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Wenn du auf einem Pferd nicht reiten kannst?“ Dann reichte sie ihm einen Waffengürtel mit dem Schwert Hafgan, das er sich ausgesucht hatte.

Roland schluckte trocken. Na gut. Wenn sie das sagte. Er hatte sich vor dem traumhaft schönen Geistermädchen schon genug Blößen geleistet. Er legte den Gürtel um und straffte seine Haltung. „Also gehen wir.“

Sie traten hinaus. Noreia nickte ihm aufmunternd zu, dann bestieg er den Drachen. Es war nicht einmal so schwer, wie er gedacht hatte. „Ruf sie zum Appell!“

Wie stark ist denn unsere Truppe?“

Zweihundert Schwertkämpfer, zweihundert Bogenschützen.“ Gegen tausend Krieger Mogons. Daran sollte er jetzt vielleicht nicht denken.

Roland holte tief Luft. „Krieger der Lichtwelt! Tretet hervor zum Befehlsempfang!“ Er beugte sich zu Noreia hinunter, die neben Ardux stand. „Gut so?“, fragte er leise.

Sie lächelte. „Perfekt.“

Die Kämpfer sammelten sich auf dem Platz und gruppierten sich. Zu Rolands Verwunderung sah er fast ebenso viele Frauen wie Männer. Ob die hier auch eine Frauenquote hatten? Und ob er nun ‚Kriegerinnen und Krieger’ hätte sagen müssen? Was mitten im Kampf vermutlich ein strategischer Nachteil gewesen wäre.

Krieger!“, rief Noreia. „Dies ist Roh-Land, der Held aus der Prophezeiung. Er wird euch siegreich gegen Mogon führen.“

Jubel brandete auf. Es war schon von Vorteil, wenn einem Messias bereits eine Prophezeiung voranging, dachte Roland. Nur damit, dass er der Messias war, hatte er noch immer Probleme.

Erkläre ihnen deine Strategie“, flüsterte Noreia.

Hatte er eine? Doch, er hatte eine. Irgendwo in ihm hatte sich eine entwickelt, seit er um Mogons Schwäche wusste. „Krieger! Ich habe Mogons Pläne ausgekundschaftet. Er wird bei Sonnenuntergang in die nördliche Feldmark einfallen. Und wir werden ihn nicht aufhalten. Aber wir werden ihm den Rückweg abschneiden, damit die Morgensonne ihm die schwarze Seele aus dem Leib brennt. Und es wird uns gelingen, denn wir werden Waffen einsetzen, mit denen er nicht rechnet. Calatin, der Zauberer, wird sie uns herstellen.“ Erneuter Jubel.

Aus dem Geschichtsunterricht hatte er gelernt, dass jubelndem Volk ebenso wenig zu vertrauen war wie den Anführern, denen diese Begeisterung galt. Und dennoch gab es hier und jetzt offenkundig keinen anderen Weg.

Calatin trat neben die Seite des Drachen. „Gibt es etwas, das ich wissen müsste? Von was für Waffen redest du?“

Ich rede von Brandpfeilen, die sich erst im Flug entzünden, kurz vor Erreichen des Ziels. Damit rechnen Mogons Leute nicht, das wird sie hoffentlich demoralisieren. In deiner Hexenküche kannst du doch bestimmt einen chemischen Zeitzünder brauen. Eine verzögerte Reaktion. Kaliumpermanganat mit Glycerin zum Beispiel.“

Kal-jum-perma-gnat“, flüsterte Noreia ehrfurchtsvoll. „Du weißt eine Menge mächtiger Zauber, scheint mir.“

Diesen kenne ich zwar nicht, aber ich habe etwas anderes. Das werde ich hinbekommen“, versprach Calatin. „Gib mir zwei Stunden.“

Reichen zwei Stunden?“, wandte sich Roland an Noreia. „Wann müssen wir aufbrechen?“

Kurz nach Sonnenuntergang. Das schaffen wir.“

Krieger der Lichtwelt! Ruht euch aus und sammelt eure Kräfte. Wir brechen nach Sonnenuntergang auf!“

Hoch lebe Roh-Land!“, erklang ein vielstimmiger Ruf. Ich hasse es, dachte Roland.

Kapitel 5

Sie stellten die Armee Mogons auf einem Gebirgspass, wenige Meilen vor der Grenze zur Dunkelwelt. Die Zeit hatte gereicht, um sich den Ort des Kampfes aussuchen zu können. Dieser war besonders geeignet, da der Gegner nicht zur Seite ausweichen konnte. Die Fackeln, die Mogon und seinen Leuten den Weg erhellten, waren weithin zu erkennen, und der Fürst der Dunkelheit rechnete nach erfolgreichem Feldzug nicht mehr mit einem Zwischenfall. Sie führten beladene Wagen ebenso wie Gefangene mit sich.

Noreia hatte ihm erklärt, dass die Reichweite der Bogen hundert Klafter betrug, wenn man noch sicher das Ziel treffen wollte. Daraus hatte Roland errechnet, welche Verzögerung der Brandsatz haben musste. Endlich war Mathe mal zu etwas gut.

Vom Rücken des Drachen aus gab er das Zeichen zum Angriff. Die Fackeln gaben gute Ziele ab. Das Schwirren der Pfeile ging in dem Lärm unter, den die Krieger Mogons verursachten. Dann entflammten die Pfeile, so kurz vor dem Gegner, dass ihm gerade noch Zeit zum Erschrecken blieb, aber nicht mehr zum Reagieren. In die gegnerischen Linien kam Unordnung. Wer über die gefallenen Krieger nach vorn drängte, wurde Opfer der nächsten Salve. Wer durchkam, wurde von den Schwertkämpfern empfangen, denen Ardux mit seinem Feueratem beistand und Roland, von dessen Rücken aus, mit Hafgan. Zur Seite auszuweichen war nicht möglich. Schreie, Flüche, dazwischen Mogons Stimme, die zum Durchhalten aufrief. Die ersten Gegner ließen ihre Fackeln fallen und wandten sich zur Flucht. Dort stellten sich ihnen ihre Gefangenen entgegen, die ihre Chance erkannt hatten. Es war ein unbeschreibliches Durcheinander.

Noreia wies zum Horizont, wo der Sonnenaufgang dämmerte. „Wir müssen nur noch kurze Zeit durchhalten.“

Das fahle Licht der Morgendämmerung enthüllte das Schlachtfeld. Der Gegner war noch nicht besiegt, und jetzt fiel der strategische Vorteil weg, die Pfeile aus der Dunkelheit heraus abschießen zu können. „Sammeln! Es sind nur wenige! Macht sie nieder!“, schrie Mogon.

Noreia schleuderte einen Blitz aus ihrem Zauberstab, aber der verästelte sich und zersplitterte, ehe er den Fürsten der Dunkelheit erreichen konnte. Mogon musste über einen Abwehrzauber verfügen. Sie schwang sich hinter Roland auf den Rücken des Drachen. „Greif ihn an!“

Roland riss sein Schwert hoch und ließ Ardux den Hang hinabgleiten. Der Gegner empfing ihn mit gezogener Waffe; die Klingen prallten klirrend aufeinander. Die Abwehr ist miserabel, hatte Efnisiën gesagt. Recht hatte er. Mogons Klinge traf sein Gesicht und verletzte ihn an der Wange. Das war knapp, und Roland erkannte, dass er sich nicht mehr lange behaupten konnte. „Flieh“, rief Noreia, „aber landeinwärts!“

Da Roland es ebenfalls für ratsam hielt, den Kampf nicht fortzusetzen, gehorchte er. Ardux wendete und strich im Tiefflug an Mogon vorbei. Jetzt erkannte jener, wer hinter ihm auf dem Rücken des Drachen saß. „Verrat!“, brüllte er, riss sein Pferd herum und verfolgte sie.

Jetzt haben wir ihn“, jubelte Noreia. Roland verstand nicht ganz, was sie meinte. Oder eigentlich verstand er es gar nicht. Sie rief dem Drachen etwas zu, woraufhin dieser seinen Flug verlangsamte und Mogon aufholen ließ. Den Pass hinunter ging es, zurück in die Lichtwelt, den Fürsten der Dunkelheit immer eine Pferdelänge hinter sich.

Die Gipfel röteten sich im Licht der aufgehenden Sonne, und Mogon begriff erschrocken, dass seine Zeit ablief. Er wendete und trieb sein Pferd an. Aber während zwischen den Felswänden noch die Nacht lag, war auf dem Pass die Sonne schon zu sehen. Als Mogon die Anhöhe erreichte, schien sie ihm unvermittelt direkt ins Gesicht.

Mit einem grauenvollen Schrei riss er die Hände vor die Augen, stürzte vom Pferd und war tot. „Ich dachte nicht, dass es so schnell geht“, stellte Noreia emotionslos fest.

Der Tod ihres Anführers lähmte die Kampfkraft von Mogons restlicher Truppe. Die Krieger der Lichtwelt hatten leichtes Spiel.

Roland tastete nach der Wunde im Gesicht und fand Blut an den Fingern. „Es ist nur ein kleiner Kratzer“, beruhigte ihn Noreia.

Aber meine Eltern werden fragen, wie das passiert ist.“

Normalerweise tragen Helden ihre Narben als Trophäen. Aber wenn das in deiner Welt ein Problem ist…“ Sie griff nach ihrem Zauberstab. „Ich kann es wegmachen.“

Nein, lass es. Ich werde mir schon etwas ausdenken.“

Also auf zur Burg! Befreien wir die Königin!“, rief Noreia. Auf dem Rücken des Drachen war es ein Weg von weniger als einer halben Stunde.

*

Die restlichen Wachen, die in der Burg noch anzutreffen waren, fielen Noreias Zauberstab zum Opfer. Die Posten vor der Zelle huschten als Ratten davon. Ein Blitz aus dem Zauberstab öffnete das Schloss, ein weiterer ließ die Ketten von der Gefangenen abfallen. Sie hob den Kopf. „Endlich!“, hauchte sie.

Roland erstarrte. Die Königin sah ihn an. Und er blickte in Noreias Gesicht. „Habe ich jetzt … den Anschluss verpasst?“, stammelte er. „Bist du … Verzeihung, Majestät … seid Ihr ihre Schwester?“

Fast“, sagte Noreia. Sie trat auf Königin Onomaris zu – und in sie hinein. Dann war sie verschwunden. Roland riss die Augen auf.

Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte die Königin mit Noreias Stimme. „Noreia ist ein Teil von mir. Oder ich bin ein Teil von ihr. Sagte sie dir nicht, dass sie ein Avatar ist? Ich konnte sie abspalten, ehe mich Mogon in dieses Loch warf. Während ich hier saß, hat sie meine Befreiung betrieben. Und sie hat eine gute Wahl mit dir getroffen, Roh-Land.“ Daher also hatte Mogon, als er Noreia erkannt hatte, jegliche Vorsicht vergessen und war ihnen nachgejagt. Er musste geglaubt haben, die Königin sei schon befreit worden.

Majestät…“ Niederknien? Verbeugen? Und wohin mit den Händen? Er hatte noch nie einer Königin gegenübergestanden.

Jene lächelte und reichte ihm beide Hände. „Ich danke dir, Roh-Land, mein Held und Befreier. Lass uns gehen. Du willst sicherlich wieder in deine Welt zurückkehren. Oder möchtest du bleiben?“

Roland überlegte. Er hatte tatsächlich die ganze Zeit über nicht daran gedacht, dass das Portal sich nur alle achtzehn Jahre öffnete. Wie sollte er jetzt zurückkommen? Würde er hier jetzt nicht für achtzehn Jahre festsitzen?

Die Königin schien seine Gedanken zu ahnen. „Keine Sorge. Das Portal steht noch offen. In deiner Welt ist nur eine Sekunde vergangen.“

Epilog

Für den Rückweg stellte Onomaris ihm noch einmal Noreia an die Seite. Sie passierten das Portal und fanden sich wieder in der südafrikanischen Landschaft. Dort bestiegen sie den Drachen und machten sich auf den Weg zurück nach Europa. Mit Überschallgeschwindigkeit. Sie landeten im Stadtpark, Noreia vollführte eine magische Geste mit dem Zauberstab, und Ardux wurde unsichtbar. Auf der Uhr am Schulgebäude waren rund anderthalb Stunden vergangen. Je 45 Minuten für den Weg und eine Sekunde für das Abenteuer. Es war unglaublich.

Die Ampel am Überweg erwischten sie diesmal bei Grün. „Jetzt sollte ich wohl Je-Si wieder zurückverwandeln“, lächelte Noreia.

Im nächsten Augenblick stand Jessi wieder neben ihnen und blickte etwas irritiert um sich. „Was war das jetzt?“, knurrte sie ungnädig. „Diese Tusse ist ja immer noch da.“

Sag nicht Tusse zu ihr. Das ist Königin Onomaris. Oder jedenfalls ein Teil von ihr.“

Hast du sie noch alle?“

Ich glaube, ich sollte mich verabschieden“, stellte Noreia fest. „Die Königin dankt dir und wird dich stets in Erinnerung behalten.“ Damit drückte sie ihm einen Kuss auf.

Aus meinen Augen!“, kreischte Jessi. „Ich disse dich! Und wage es nicht, mir noch mal aufs Handy zu schreiben!“

Kann ich sowieso nicht. Mein Akku ist hin“, erklärte Roland freundlich. Er wandte sich Noreia zu. „Ich frage mich, ob ich nicht wieder mit dir mitkommen sollte.“

Sie grinste etwas unglücklich. „Das Portal hat sich vor knapp einer Stunde geschlossen. Soll ich in achtzehn Jahren noch einmal nachfragen?“

ENDE

***

Und nun der Werbeblock: Die vorstehende Geschichte ist eine Auskopplung aus meinem Buch

Christian Eckhard: „Mathe für Helden – abenteuerliche Mathematik“, 252 Seiten, 8,99 €, ISBN 978-3-7519-5924-7.

Aus dem Klappentext: Zwei Abenteurer suchen die Orakelsteine König Davids; Sherlock Holmes enträtselt Moriartys letztes Geheimnis; ein FBI-Team untersucht einen Mord und entdeckt dabei einen Bauskandal; ein junger Mann soll in einer Parallelwelt eine Königin retten; ein Professor und eine Journalistin entlarven einen wissenschaftlichen Betrug; eine Dame tritt eine skurrile Erbschaft an; eine Ingenieurin stößt auf dem Mond auf einen Saboteur; ein Schmuggler trifft eine Piratentochter, die mit ihm einen Schatz heben will. Und jedes Mal sind dabei diverse Mathematikaufgaben zu lösen. Aber Achtung: Die meisten sind wirklich Oberstufenniveau – für Helden eben.

Die besagten Matheaufgaben habe ich euch jetzt erspart; wer sie wissen will, muss das Buch kaufen. Keine Panik, hinten im Buch stehen auch die Lösungen 🙂 .