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Maman
„Echt jetzt, Maman? Océane und Anais warten bereits auf mich“, versuche ich meine sture Mutter mit einem besonders genervten Tonfall umzustimmen, doch noch gehen zu dürfen. Es ist nahezu aussichtslos, aber manchmal geschehen selbst auf Auriverde Wunder.
Gleichzeitig halte ich die abgewetzte Terraforming-Drohne in die Höhe und wedel mit ihr herum. Als sich ein paar Lackreste lösen und langsam zu Boden segeln, höre ich besser auf und schicke ein rasches Stoßgebet zu den Sternengöttern, dass sie das nicht bemerkt. Ein kritischer Blick auf den glänzenden und dazu klinisch rein wirkenden Steinfußboden aus unregelmäßig geformten Makazien-Blöcken, die nicht weit von Boavista Nova in einem tief gelegenen Steinbruch abgebaut werden, belehrt mich schnell eines Besseren.
Sie wird es bemerken. Höchste Zeit, in die Offensive zu gehen. Auch wenn die überall im Apartment vorhandenen Blitzis den Dreck flugs entfernen, reagiert sie darauf eher … äh … ungehalten. Es ist zumindest nicht förderlich für mein Herzensanliegen. Daher setze ich noch einen darauf und schenke ihr ein einnehmendes Lächeln. Meiner bescheidenen Meinung nach geht soeben eine zweite Sonne neben Solalto auf. „Ich will das Innenleben und die technische Geschichte der alten Drohne im Rahmen eines Schulprojekts dokumentieren und dann vorstellen. Wir nehmen die Besiedelung von Auriverde und die damit verbundenen Herausforderungen durch. Meine Freunde und ich haben uns dabei das Terraforming herausgesucht. Davor soll es ja noch heißer gewesen sein, als so schon. Man stelle sich das mal vor. Nun ja, hauptsächlich Océane weiß viel über die Botanik und Anais möchte ihren Uropa ausquetschen. Der ist einer der letzten Terraforming-Ingenieure. Der muss echt uralt sein.“
Ich schaudere innerlich, als ich mir einen so alten Mann vorstelle. Graue zerfurchte Haut, weiße dünne Haare, gebrechlich wackelnd auf seinen HoverRoller zuwankend. Die Besiedelung von Auriverde fand vor Hunderten Jahren statt. Wie alt muss der dann sein? 150 Jahre? Mindestens. Gruselig.
Als keine unmittelbare Reaktion von Maman erfolgt, vor allem nicht die gewünschte, schiebe ich meinen letzten Trumpf hinterher. Hoffentlich nicht zu früh. „Du möchtest doch immer, dass ich mich mehr in die Hausaufgaben hineinknie und für die Schule engagiere. Jetzt will ich mal und darf nicht.“
Zusätzlich sehe ich meine Mutter mit großen, bittenden Augen an. Papa meint immer, der Blick ist zum Steinerweichen. Nur funktioniert er nie bei Maman. Mögen die Sternengötter herabsteigen und mir Inspiration schenken. Irgendwie muss ich es doch hinbekommen, diesen Eisschrank zu knacken, der mit unter der Brust verschränkten Armen am Küchentisch gelehnt steht und mich kritisch aus ihren schiefergrauen Augen ansieht. Eventuell hilft ja die Mischung aus lieb schauen und Unverständnis zeigen. Gewürzt mit ein wenig Theatralik.
„Du weißt genau, dass heute unser Familiennachmittag ist“, kommt die erwartete schneidende Antwort und ich muss mir Mühe geben, nicht umgehend die Augen zu verdrehen. Das wäre für mein Anliegen nicht förderlich, da Maman darauf allergisch reagiert. Den Tonfall kenne ich außerdem schon. Er ist reserviert für: „Komm mir nicht so Bürschchen“ oder besser: „Du tust, was ich sage, bevor ich dich so zusammenfalte, dass du bequem in die Tasche passt, mit der du die Drohne transportierst.“ Immerhin scheint sie die Lackreste am Boden nicht bemerkt zu haben. Man soll die kleinen Siege feiern.
Bevor ich in der Lage bin etwas zu sagen, fügt sie zu ihrem für sie berechtigten Hinweis, dass heute unser Familientag ist, hinzu: „Es ist ja nicht so, dass dieser überraschend kommt. Jede Woche am Mittwochnachmittag. Man kann also von einem wiederkehrenden Termin sprechen. Er steht im Terminkalender an der Tür deines Zimmers und im Handheld-Kalender ist er ebenso eingetragen.“
Seufz. Wie ich ihre herablassende Art manchmal hasse. Es passiert automatisch. Ich kann mich gar nicht wehren. Meine Augen führen ein Eigenleben und bewegen sich wie von selbst.
„Lucien Carvalho. Unterstehe dich, die Augen zu verdrehen.“
Empört stößt sie sich vom Tisch ab, entfaltet wie ein Zusar-Schmetterling ihre Arme, nur um pfeilschnell ihren Finger auf mich zu richten. Ich bin immer wieder erstaunt, wie sie das hinbekommt. Ob doch Uschander-Gene bei ihr um ein paar Ecken mit beigemischt sind? Aber das würde ja bedeuten, dass ich auch … obwohl laut den Lehreinheiten in Genetik muss es nicht unbedingt weitervererbt werden. Es wäre allerdings ziemlich cool, schnellere Reflexe als der Rest aller galaktischen Menschen zu haben. Ich sollte Papa dazu befragen. Als Forensiker weiß er garantiert mehr darüber.
„Findest du das so komisch, junger Mann?“, fragt sie mit einer Schärfe in der Stimme, die sämtliche Alarmglocken bei mir klingeln lassen.
Entmutigt geben meine Schultern der Schwerkraft nach und das Kinn folgt nur einen Moment später. Winseln und fluchen werde ich nur im eigenen Zimmer.
„Ist ja gut, Maman“, sage ich … oder will es sagen. Denn eine andere Stimme platzt dazwischen.
„Lass ihn laufen, Maman. Es macht ohnehin mehr Spaß, wenn der Kleine nicht dabei ist. Der kann eh nicht verlieren. Abgesehen davon genießt er es viel zu sehr, von seinen Mädels angehimmelt zu werden.“
Mein Kopf ruckt herum und ich blicke zu Shalia, die mich erst süffisant angrinst und dann zuzwinkert. Ich weiß zunächst nicht, wie ich reagieren soll. Erst beleidigt sie mich und unterstellt mir Sachen, die überhaupt nicht wahr sind. Andererseits springt sie mir bei, nicht an diesem dusseligen Familiennachmittag teilnehmen zu müssen, bei dem wir nur wieder irgendwelche blöden Spiele spielen, auf die Maman Wert legt. Angeblich, weil sie den Familienzusammenhalt stärken.
Was auch stimmen würde, wenn nur nicht alle aus der Familie Carvalho notorische „ich explodiere, wenn ich verliere“ Gene hätten und es ein absoluter Krampf ist, diesen Drang zu unterdrücken. Andererseits ist es witzig, wie Maman passiv-aggressiv wird und Dad aus Versehen Gegenstände vom Tisch fegt. Aber selbst als er einmal eine sündhaft teure Vase den Abflug beschert hat, hat dies seine Frau nicht umgestimmt, auf diese Nachmittage zu verzichten.
„Was habe ich da gehört? Meinem Sohn werden schöne Augen gemacht? Von wem denn?“
Oh nein, Papa. Wie immer leichten Fußes tänzelt er in den Raum hinein und gibt Maman einen Kuss auf den Mund. Kurzfristig entwickele ich ein starkes Interesse für ein scheußliches Porträt von einem unserer Urahnen, das links neben mir an der Wand hängt.
Innerlich stöhne ich dagegen wegen seiner Frage auf und werfe meiner breit grinsenden Schwester einen vernichtenden Dankeschön-Blick zu, als die beiden endlich fertig sind. Shalia trägt eines ihrer üblichen luftigen Sommerkleider, bei denen ich immer schnell wegsehe, wenn sie sich vorbeugt, weil da etwas herausfallen könnte, was besser an Ort und Stelle bleibt. Für den Hauch einer Sekunde schiebt sich ein anderes Gesicht, mit so wunderbar weichen und harmonischen Gesichtszügen dazwischen, sodass ich fast irritiert blinzele. Dazu erscheinen orangerote, stark geschwungene Lippen, die feucht glänzen und mir leider viel zu selten ein feines Lächeln schenken. Garniert wird das Ganze mit grasgrünen Augen, die oft verschämt zur Seite oder nachdenklich in die Ferne sehen. Dabei mag ich den dunkelgrünen Ring um die Iris so gerne. Dieser zeigt sich immer dann, wenn sie bemerkt, dass ich sie ansehe und sich ihre Pupillen weiten.
Shalias Kleid ist heute mal in dunklem Rot gehalten, das mit hellgelben diagonalen Streifen durchsetzt ist. Das sei der letzte Schrei in ihrem Freundeskreis wird sie nicht müde zu betonen. Ich für meinen Teil bekomme davon Augenkrebs. Wie gut nur, dass dies in jedem besseren MediCenter heilbar ist.
„Na von wem wohl, Océane und Anais. Er hängt doch andauernd mit den beiden ab“, lästert Shalia und schnappt sich eine gefrorene Amilas-Kirsche aus der kleinen dampfenden Schüssel vom Küchentresen, die Maman eigentlich für den Familiennachmittag vorbereitet hat. Das empörte „Hey!“, von ihr quittiert sie frech grinsend.
„Die beiden sind Schulkameraden von mir und wir hängen öfter mal ab. Mehr nicht. Ihr kennt sie doch“, erwidere ich entnervt und rolle jetzt bewusst mit den Augen. Maman schaut schließlich gerade nicht hin. Dafür Papa, der es sich auf einem der Stühle am Küchentisch bequem macht und sich einen der vielen Newsfeeds öffnet. Über dem Tisch wird eine der austauschbaren KI-News-Sprecherinnen sichtbar, die etwas von der Kalmerischen Liga und dem weit entfernten Krieg gegen die Solare Planeten-Union faselt. Es sei angeblich eine versprengte Flotte der Spusis in der Nähe gesichtet worden.
„Na na, junger Mann“, tadelt er mich und wirft mir kurz einen undefinierbaren Blick von der Seite zu, bevor er sich den News wieder widmet. Zumindest wäre es einer, wenn er dabei nicht hörbar schmunzeln würde. Sein Gesicht spricht eh Bände und ich grinse zurück, was ihm gleich einen zurechtweisenden Blick von Maman einbringt, den Papa wie immer gekonnt ignoriert.
„Du meinst die beiden hübschen jungen Damen, die letztens bei uns waren?“, hakt er unerfreulicherweise nach und schafft es, seine Aufmerksamkeit wieder mir zuzuwenden. Das scheint ein Thema zu sein, das ihn mehr als die News interessiert und das muss etwas heißen.
Grimmig beschließe ich, das Spiel mitzuspielen. Immerhin sind jetzt zwei Akteure anwesend, die es gemeinsam vermögen, den Eisklotz zum Schmelzen zu bringen.
„Wenn du Océane und Anais meinst, dann ja.“
Erneut halte ich die Drohne hoch, ohne damit allzu heftig herumzuwedeln. Man soll sein Glück nicht überstrapazieren.
„Wir haben unser gemeinsames Schulprojekt besprochen und wie wir vorgehen wollen. Das ist alles.“
„Dafür haben die beiden aber ziemlich viel gekichert“, grätscht Shari grinsend dazwischen und fängt sich einen vernichtenden Blick von mir ein.
Ich zucke unschuldig mit den Schultern. „Das sind Mädchen. Muss so in ihrer Natur liegen.“
„Na na“, sagt Maman mahnend und blickt streng in die Runde. Sie mag es nicht, wenn pauschal über Geschlechter oder ihre klischeebehafteten Rollen gelästert wird. Ich kann da nicht so mitreden, aber Jungs habe ich nie kichern gehört.
„Welche von beiden findest du denn hübscher?“, startet Papa den Frontalangriff und ich ächze unwillkürlich. Dass sich jetzt wieder ein Gesicht vor mein geistiges Auge schiebt, vereinfacht es nicht. Aber davon weiß er zum Glück nichts.
„Ich wette Anais“, spekuliert Shari und beißt genüsslich in die nächste Kirsche.
Ach, möge doch ein Kern darin sein und sie daran ersticken.
Erschrocken halte ich inne. Nein, so weit soll es nicht kommen. Ich hasse es zwar, wenn sie mich so vorführt, aber das wünscht man keinem. Nicht einmal der vorlauten großen Schwester. Innerlich seufzend leiste ich ihr Abbitte. Auch wenn ich sie manchmal am liebsten würgen würde. So lange bis es mir besser geht, und das kann eine Weile dauern. Trotzdem liebe ich sie. Schon komisch.
„Sie sind einfach nur Schulkameraden“, versuche ich einen so neutralen Tonfall wie möglich, um das Thema schnell abzuschließen. Doch den Gefallen will mir Shari nicht tun.
„Bist du dir da sicher Brüderchen? So wie ich das gesehen habe, schmachten die beiden dich ja regelrecht an.“
Das geht eindeutig zu weit. Selbst für meine Schwester. Ich liebe sie, aber es wird Zeit, die Anti-Materie-Bombe zu zünden. Für einen kurzen Moment frage ich mich, ob das zwischen uns nicht etwas verdirbt, aber dann zucke ich innerlich die Schultern – sie hat angefangen.
„Du meinst so wie du den dunkelhaarigen Schönling, der dir letzten bei Mamans Empfang hinter einem der schweren Vorhänge im Salon so genüsslich in den Ausschnitt gegriffen hat? Es schien ihm zu gefallen, was er in den Händen hatte und dir noch viel mehr, als sie tiefer wanderten.“
Ich habe meine Worte so neutral wie möglich vorgebracht. Keine Anklage, keine Vorhaltungen. Einfach einen Tatsachenbericht und genauso fassen ihn Maman und Papa damit auch auf. Das kann ich zumindest an ihren empörten Blicken ablesen, während sie sich langsam Shari zuwenden, die erst jetzt realisiert, was ihr blüht.
Als ich sicher bin, dass sich meine Eltern auf sie konzentrieren, führe ich grinsend eine leichte Verbeugung aus. Es macht schon Spaß, die Gesichtsentgleisung von ihr mit anzusehen, auch wenn es mir in einem hinteren Winkel leidtut. Es wechselt zwischen Unglauben, dann zu Verlegenheit, während sie Maman und Papa ansieht, dann zu bösartiger Wut, währenddessen sie mir hasserfüllte Schattendolche aus ihren dunklen Augen zuwirft.
Nun gut. Papas Segen hatte ich eh, so neugierig wie er gefragt hat. Er gibt komischerweise immer nach, wenn es um das Thema Mädchen geht. Und Maman?
Tja. Ihr Fokus hat sich jetzt auf ein anderes Ziel verschoben und ich habe damit freie Bahn. Die Lösung meines kleinen Problems ist nicht elegant, aber effektiv.
Instinktiv weiß ich, dass mich Shari dafür büßen lassen wird. Auf die eine oder andere äußerst unangenehme Weise. Doch damit beschäftige ich mich später. Zuerst wird es Zeit, sich mit meinen Freunden im Lichten Feld zu treffen. Sie warten sicher schon ungeduldig.
So leise wie möglich mache ich mich grinsend aus dem Staub, während Shari mit Fragen bombardiert wird. Die Apartmenttür schließt sich zum Glück absolut geräuschlos hinter mir.
Beschwingt laufe ich zur Expresskabine und lasse mich aus dem 102. Stock unseres Wohnturmes auf die Bodenebene bringen. An einer Wand im weitläufigen Foyer, die zahlreiche deutlich voneinander getrennte Fächer aufweist, öffnet sich auf Handabdruck mein persönliches Fach und gibt den Schwebebord frei. Da fällt mir etwas siedend heiß ein und ich reiße den Rucksack mit der kleinen Terraforming-Drohne vom Rücken. Das Aufreißen der Magnetverschlüsse knallt wie leise Hiebe auf den Oberschenkel durch das Foyer und hallt wieder zurück.
Beruhigt starre ich für einen Moment auf die dunkelgrüne Folie, die ich vorsichtig aus dem schmalen Seitenfach ziehe. Ob es ihr gefallen wird? Ich hoffe doch sehr. Immerhin hat es mich einige Mühe und das Taschengeld eines halben Monats gekostet. Da fällt mir ein, dass ich ihnen mal mitteilen sollte, dass ich unterwegs bin. Nicht dass sie ungeduldig werden und abhauen, wenn sie das nicht eh schon sind.
Eilig hebe ich meinen ovalen ArmCom vor den Mund. „Nachricht an Océane und Anais“, weise ich die integrierte Servor-KI an. „Hey. Hab’s gedeichselt bekommen und bin auf dem Weg.“
Das genügte vollkommen. Romane können andere erzählen.
„Eingehende Kommunikation“, schallt es mir aus dem ArmCom entgegen. Durch die abgesetzte Nachricht habe ich den Nicht-Stören-Modus automatisch abgeschaltet.
„Deine Maman hat dich gehen lassen? Wie hast du das denn jetzt wieder geschafft? Du musst uns unbedingt davon erzählen, aber nur keine Eile. Ich bin auch noch unterwegs“, ertönt die raue und wie immer leicht aufgeregt klingende Stimme von Anais durch das Foyer. Langsam gehe ich in Richtung des Ausgangs, durch den sich bereits Solalto mit ihren reinweißen Strahlen ihren Weg bahnt und von einem weiteren heißen Tag auf Auriverde kündet.
Zum Glück bin ich alleine und keiner hört mit. Sonst wäre es mir doch etwas peinlich. Was jetzt aber auch nicht so ungewöhnlich ist. Die meisten Apartmentbewohner des höchsten Wohnturmes von Boavista Nova verlassen oder erreichen diesen normalerweise per Floater oder Gleiter. Der Begriff für die schwebenden elegant geschnittenen Fahrzeuge variierte je nachdem, ob man sich auf einer Welt der Liga oder der Union aufhält. Papa hatte mir mal erzählt, dass der Begriff Floater von der Hauptwelt der Liga, Uschandor, stammt und sich damit auch hier durchgesetzt hat.
Er hatte es so merkwürdig betont, als ob der Unterschied wichtig sei. Für mich ist es einerlei. Beides bezeichnete ein und dasselbe. Warum also so ein Aufheben für eine abweichende Begrifflichkeit machen? Manchmal verstehe ich die Erwachsenen und ihre Spitzfindigkeiten nicht.
„Eingehende Kommunikation“, ertönt es erneut lautstark aus dem ArmCom und ich stöhne innerlich auf, während ich mich hektisch umsehe. Zum Glück ist weiterhin keiner da.
Ich Idiot habe bei meinem spontanen Aufbruch, na gut, man kann auch Flucht dazu sagen, die In-Ears vergessen. Sie liegen jetzt auf dem Schreibtisch und gönnen sich eine Pause.
Nun muss ich mich notgedrungen vom ArmCom anplärren lassen und jeder neugierige dahergelaufene Auriverda kann die Ohren spitzen, um zu lauschen.
„Bin bereits im lichten Feld und warte auf euch – mal wieder.“
Im ersten Moment habe ich mich gefreut, die glockenhelle Stimme, die mich immer so an den weiten sonnendurchfluteten Himmel von Auriverde erinnert, von Océane zu vernehmen. Die für sie überraschend offene Kritik am Ende lässt die Mundwinkel dann doch eher im unteren Drittel liegen. Der breite Eingang öffnet sich vor mir leise zur Seite gleitend. Zugleich flutet der typische Lärm der Stadt herein und Solalto gibt sich aufrichtig Mühe, die Oberfläche als eine einzige flimmernde Fläche zu gestalten.
Dabei habe ich es schon gut. Die vorherigen Generationen hatten laut Papa echte Anpassungsschwierigkeiten und mussten durchgehend Sonnenbrillen tragen. Ich sei da wesentlich besser dran, dank des genetischen Langzeitprojekts unserer Urahnen. Sollte ich mal Nachkommen haben, werde ich das schon sehen. Er faselte etwas von tieferen Augenhöhlen und dunkleren Augenfarben.
Pah, als ob ich jemals Kinder bekommen würde. Mich schüttelt es bei dem Gedanken.
Ich beschließe, nicht zu antworten. Meine Aussage gilt, schließlich bin ich unterwegs und Océane wird warten, wie immer. Da bin ich mir sicher.
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Abflug
Der ausladende Schatten der hohen Amberbäume ist mir äußerst willkommen. Solalto meint es wieder besonders gut. Laut den aktuellen Wetterdaten ist heute der wärmste Tag des Jahres, was ich nur bestätigen kann. Meine Schweißdrüsen leisten Überstunden.
Dafür sollen sich am Abend dichte Wolken und damit schwere Unwetter bilden. Der schönste Tag des Jahres tritt mit einem herrlichen Knall ab, hatte Papa heute Morgen am Frühstückstisch gewitzelt.
Wann sagt ihm mal jemand, dass er nicht witzig ist?
Bis dahin will ich zumindest wieder zu Hause sein. Es dürfte uncool sein, auf dem Schwebeboard von einem Blitzschlag gegrillt zu werden.
Das, was mir an Insekten und Staub von dem trockenen Feldweg ins Gesicht fliegt, ist nicht feierlich. Die Schutzbrille trinkt derzeit zusammen mit den Kopfhörern ein kühles Getränk auf mein Wohlergehen und ich ärgere mich über die eigene Nachlässigkeit.
Normalerweise riskiere ich gerne einen Blick auf die zwischen den breiten Baumstämmen hervorlugenden goldgelben Kornfelder, deren Ähren sich im Wind wie am Meer in Wellen hin und her wiegen. Die starke Sonnenstrahlung lässt sie wie eine einzige weite Fläche illuminieren, weswegen sie von allen „die lichten Felder“ genannt werden.
Jetzt muss ich allerdings die Augen so weit zusammenkneifen, dass die Augenbrauen nahezu einen durchgehenden dunkelblonden Balken bilden.
Nicht, dass sich doch noch etwas in meine Augen kracht. Bei der aktuellen Geschwindigkeit kann ich gut darauf verzichten.
Fast hätte ich die kaum sichtbare Abzweigung verpasst, die sich rechts zwischen zwei hohen üppig blühenden Büschen auftut. Die Ackerfläche mit dem wachsenden goldgelben Meer endet wie abgeschnitten und brandet gegen eine lang gezogene dunkelgrüne und violettfarbene Oase aus Bäumen und Gestrüpp an.
Fluchend lege ich mich weit nach rechts zur Seite und ziehe das linke Bein hoch. Instinktiv strecke ich den Arm aus, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Fliehkraft und die beständig wirkende Vorwärtskraft des Schwebeboards lassen mich jedoch zufrieden grinsend eine nahezu perfekte Neunzig-Grad-Kurve fliegen. Kurzzeitig berühren meine Fingerspitzen den Boden. Als ich merke, wie hitzig sich die Reibungswärme anfühlt, ziehe ich sie fluchend ein, nur um anschließend durch die abrupte Bewegung, um die Balance zu kämpfen. Für einen Bruchteil einer Sekunde sehe ich mich als Dekorationsobjekt um den nächstbesten Baum gewickelt, da reißt mich der Vorwärtsschub nach oben. Bei allen Sternengöttern, ist das geil.
Automatisch begebe ich mich mit pochendem Herzen in die Knie und verringere die Geschwindigkeit, indem ich ein wenig Druck auf die rechte Verse gebe. Nicht dass ich ungebremst in die völlig überwucherte Kuppel krache, die in den Schatten der Bäume und Büsche vor mir hervorragt. Die ursprünglich sandfarbene Oberfläche ist kaum auszumachen. Auch die Fensterfront hat schon einmal bessere Tage gesehen. Wenn meine Maman dies so sehen würde, wäre sie angesichts des Schmutzgrades der gesamten Umgebung nicht sehr amüsiert. Dessen bin ich mir sicher und muss dabei grinsen.
Umso mehr, als ich kurz einen hellbraunen Schimmer in der Dämmerung hinter dem Fenster verschwinden sehe. Dass ich mit meiner Vermutung richtig liege, dass Océane wie versprochen gewartet hat, verrät mir ihr dunkelgrünes Schwebeboard, das wie immer sorgfältig abgestellt ist und an der Wand der Anlage aufrecht lehnt. Sie hat echt ein Faible für diese Farbe, stelle ich mal wieder fest.
Als sie wie aus dem Boden gewachsen auf einmal zwischen hohen Gräsern steht, wirken ihre schlanken und ungewöhnlich hellen Beine, die in hellblauen Shorts enden, wie Fanale im Dickicht. Dazu trägt sie ein rostrotes ärmelloses Oberteil, das sich in den vergangenen Monaten im Brustbereich immer weiter vorgewölbt hat.
Mit einem Kopfschütteln verscheuche ich den Gedanken, der eine gewisse Wärme in mir auslöst. Es ist so schon heiß genug. Zum Glück funktioniert die Eigenkühlung meines cremefarbenen Shirts und lässt mich dadurch nicht so schwitzen.
Sie winkt mir mit einem Arm zu und hält mit dem anderen ihr über alles geliebtes Handheld an den Körper gedrückt. Unwillkürlich muss ich an mein Mitbringsel denken und der Gedanke lässt mich lächeln … und leichtsinnig werden.
Ich winke zurück und springe besonders lässig vom Schwebeboard. So wie man das halt macht, wenn das andere Geschlecht auch nur den Anschein erweckt, in der Nähe zu sein. Es hätte zumindest lässig aussehen sollen, wenn nicht die verdammte Wurzel eines unweit stehenden Baumes meint, genau hier ans Tageslicht zu kommen.
Der Gleichgewichtssinn, der mich noch kurz zuvor so souverän durch eine schnelle Neunzig-Grad-Kurve getragen hat, lässt mich schmählich im Stich. Ich gerate ins Straucheln. Statt elegant auf das Ende des Schwebeboards zu treten, sodass es cool in die Hand fliegt, macht es einen Satz nach vorn und ich lerne auf äußerst schmerzhafte Weise, dass ein Spagat einfach nicht mein Ding ist. Die ruckhafte Dehnung der Sehnen in den Beinen lässt mich aufschreien und wie eine kaputte Drohne zur Seite fallen.
„Scheiße!“, brülle ich auf und schlage die Faust auf den Boden. Aufgrund des sandigen Untergrunds, der mit vielen Blättern und kleinen Ästen garniert ist, ertönt nur ein dumpfes „Pfump“. Dafür klettert ein Insekt gleich den Daumen hinauf und macht es sich auf dem Handrücken bequem.
Für eine Sekunde starre ich auf den winzigen schwarz-violettfarbenen Naturfreund und schüttele ihn dann unwillig von der Hand. Wie ich mein Glück kenne, brennt sein Biss in der Haut – bestenfalls.
Dafür werde ich neben dem Rauschen des Windes durch die unzähligen Äste und Blätter der kleinen Landzunge auf das glucksende Lachen aufmerksam, das von der Stelle zu kommen scheint, an der Océane zuvor stand.
Mein Kopf ruckt hoch und ich versuche sie zu entdecken, während hoffentlich bald das Feuer in meinem Schritt gelöscht wird.
Ich erspähe sie wie vermutet noch an der gleichen Stelle. Sie krümmt sich vor Lachen und drückt ihr Handheld wie ein Schutzschild gegen den Bauch.
Ich funkele sie böse an. Wie kann sie es wagen, mich auszulachen? Ich habe hier einen Unfall und erleide die fürchterlichsten Schmerzen und sie lacht einfach nur.
Dann denke ich ein paar Momente zurück und muss zugeben, dass meine Aktion wohl etwas komisch aussah. Über eine gute Vier kommt die Haltungsnote nicht hinaus, stelle ich selbstkritisch fest.
Dennoch … kann ich nicht anders und lache herzhaft mit, so ansteckend ist das. Auf dem Rücken rollend höre ich endlich dumpfe Schritte näher kommen. Sie beugte sich immer noch lachend über mich. Ihre Silhouette wird vom Sonnenlicht umrandet, das durch das Blätterdach strahlt und goldene Reflexe in ihr hellbraunes Haar malt. Es fällt glatt und seidig auf ihre Schultern, ein paar Strähnen wehen ihr leicht ins Gesicht.
„Na, ausgerutscht, Held?“, lacht sie. Ihre Stimme klingt hell und verspielt, wie das Glucksen eines klaren Baches.
Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so herzlich gelacht hat. Mehr als einmal habe ich versucht, sie dazu zu bringen. In der Not griff ich sogar auf einen von Papas Scherzen zurück, was ihr zu meiner schweren Verwunderung ein Schmunzeln abgerungen hat.
Da es so selten ist, gestatte ich mir, einen winzigen Moment länger ihr wunderschönes Gesicht zu betrachten. Ich blinzele, geblendet von Licht und Lächeln. Sie ist so nah, dass ich jede Einzelheit sehen kann. Die grasgrünen Augen, die mich mit amüsierter Neugier mustern, die ovalen, weichen Züge, die an ein Gemälde erinnern, das jemand mit Liebe und Geduld gemalt hat.
Und dann sind da ihre Lippen; orangerot, stark geschwungen und gleichzeitig mit feinen Linien versehen, die nun von einem belustigten Grinsen verzogen sind.
Ich sage nichts, kann es einfach nicht. Mein Blick hängt an ihr, wie das Licht an den Tautropfen in den Zweigen über ihr. Für einen Moment vergesse ich den Fall, die feuchte Erde unter mir, sogar mein eigenes Herz, das unruhig in der Brust pocht.
„Du siehst mich an, als hättest du noch nie ein Mädchen gesehen“, neckt sie sanft und sieht verlegen weg.
Ich lächele nur. Vielleicht habe ich das auch nicht. Nicht so jedenfalls.
Da erreichten meine Ohren ein nur zu vertrautes hohes Summen aus der Richtung, aus der ich vor dem peinlichen Abflug gekommen bin. Es bedeutet genau das, wofür ich es halte, als ich den Kopf entsprechend drehe.
Die Silhouette von Anais auf ihrem Schwebeboard kommt rasch näher. Heute trägt sie zur Abwechslung mal ein sommerliches Top, das mit vielen gelben Blumen gemustert ist. Wesentlich eleganter, als ich es vermocht habe, landet sie auf ihren Füßen. Sie verzichtet aber auch darauf, ihr Board hochzukicken und hebt es ganz schnöde einfach auf.
„Hi Anais“, begrüßt Océane sie zurückhaltend. Ihrem Blick sehe ich an, dass sie das Blumenmuster mag.
„Was macht ihr denn hier?“ Die neu Hinzugekommene sieht uns nacheinander kritisch an. Zumindest soll der Blick so wirken, doch ihre zuckenden Mundwinkel verraten ungeniert etwas anderes.
Bevor ich eine Erwiderung formuliere, kommt mir Océane zuvor. Lässig deutet sie mit dem Daumen auf mich herunter.
„Luce hat mal wieder versucht, cool auszusehen, und eine Baumwurzel hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das Ergebnis liegt hier auf dem Waldboden.“
Umgehend spüre ich, wie mir das Blut in die Ohren schießt und sie aufglühen lässt.
„Hey!“, protestiere ich sofort, werde von den beiden jedoch gekonnt ignoriert.
„Ich verpasse doch immer das Beste“, beschwert sich Anais. „Sah der Abflug wenigstens stylish aus?“
Océane setzt ein schiefes Grinsen auf und sieht mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir hinunter. „Ein einmaliger Anblick“, bestätigt sie, hält dann aber kurz inne. Jedes Lächeln verschwindet aus ihrem Gesicht. „Allerdings sah es schmerzhaft aus.“
Oha. Höre ich da etwa Mitgefühl heraus? Na immerhin.
„Echt jetzt? Alles okay mit dir?“, fragt Anais, wendet sich zu mir um und hockt sich neben mich.
Ich beeile mich, den Oberkörper hochzuheben und ein breites Lächeln aufzusetzen. „Klar doch. Alles halb so wild“, beschwichtige ich, während die Sehnen zwischen den Beinen und Leisten empört neue Schmerzimpulse durch den Körper jagen.
Sie sieht mich zweifelnd an und akzeptiert wohl stillschweigend, dass ich erneut versuche, den Helden zu spielen.
Noch während sie aufsteht, blickt sie zu unserer gemeinsamen Freundin hinüber, die uns nachdenklich beobachtet. Wieder einmal fällt mir der unterschiedliche Teint zwischen den beiden auf. Anais olivbraune Haut mit den langen nachtschwarzen Haaren, die sie wie immer offen trägt, kontrastiert zu der Hellen von Océane, die auch die intensive Einstrahlung von Solalto nicht zu einer gewissen Bräune verhilft. Ein Blick auf meinen Handrücken beweist mir, dass ich mich zwischen den Mädels bewege. Zu dritt ergeben wir schon fast eine Farbleiter.
„Komm Oci. Lass uns den Helden hier mal auf die Beine helfen“, fordert Anais Océane auf und streckt mir ihre Hand entgegen. Die zögert kurz und wirft mir einen undefinierbaren Blick zu.
„Nun komm schon. Alleine packe ich es nicht, den schweren Sack hochzuhieven“, setzt sie einen nach und ignoriert mein empörtes „Hey!“ mit einem breiten Grinsen.
Jetzt gibt sich Océane scheinbar doch einen Ruck oder einfach nur geschlagen. Zumindest streckt sie mir ihre Hand entgegen. Gemeinsam hieven sich mich mit Mühe auf die Beine, was diese nur unter Protest mitmachen.
Energisch klopfe ich mir festhängende Erde vom Hintern. „Also, ein Spagat gehört nicht zu meiner liebsten Leichtathletikübung“, gebe ich dann doch mit etwas Offenheit zu. Es bringt nichts, es zu verbergen. Am abgehackten Gang bemerken sie es eh. Außerdem sind sie meine besten Freunde und die belügt man nicht.
„Hui, das kann schmerzhaft sein. Vor allem so plötzlich. Geht es, oder sollen wir lieber eine Medi-Drohne rufen?“ Sie wackelt mit ihrem ArmCom und ich schüttele schnell den Kopf. Das ist jetzt das Letzte, was ich will. Bei einem solchen Einsatz werden immer gleich automatisch die Eltern informiert und das möchte ich dann doch vermeiden.
„Geht schon. Ich werde keinen Sprint im Moment hinlegen können, aber das ist auch nicht meine Absicht“, erwidere ich und grinse sie schief an.
„Wie du möchtest. Lass uns hineingehen.“
Ich bestätige nickend und sie hakt sich lachend bei mir unter. „Komm, alter Mann. Ich führe dich.“
Zunächst will ich protestierend stehen bleiben, beuge mich dann aber doch ihrer ansteckenden guten Laune und genieße dabei die Berührung ihres Arms.
„Hier bitte“, ertönt die Stimme von Océane seitlich von uns. Sie hält mir mit ausgestrecktem Arm den Rucksack hin, den ich bei meinem unfreiwilligen Abflug verloren habe, und sieht dabei zur Seite. So als ob sie es tunlichst vermeiden möchte, uns so gut gelaunt zu sehen.
Nicht zum ersten Mal frage ich mich, was sie hat. Warum sie es nicht mag, wenn sich zwei Menschen berühren, und beschließe, Anais mal zu passender Gelegenheit zu befragen. Eventuell vertraut sie sich ja ihr an.
„Danke dir“, sage ich und bin betrübt, dass ich ihr Gesicht nicht richtig lesen kann, während ich den Rucksack entgegennehme. Er hat ein wenig Gewicht durch die Drohne und …
Siedend heiß fällt mir ein, dass ich ja noch etwas zusätzlich dabeihabe. Nicht, dass dies beschädigt wurde. Abrupt winde ich mich aus dem Arm von Anais, was diese mit einem überraschten Ausruf quittiert.
Dafür hocke ich mich hin und öffne mit fliegenden Fingern die Magnetverschlüsse. Vorsichtig ziehe ich die Folie heraus, halte sie vor mir in die Höhe und betrachte sie kritisch von allen Seiten in dem durch das Blätterdach fallenden Licht.
Erleichtert atme ich tief aus. Es scheint unbeschädigt zu sein.
„Was ist denn das?“, vernehme ich die neugierige Frage von Anais. Sie hockt sich neben mich und betrachtet das, was ich in den Händen halte. Verlegen blicke ich sie von der Seite an und bewundere nicht zum ersten Mal ihre wie mit der Schnur gezogene Nase. Der kleine Knubbel, der die Spitze ziert, stört den ansonsten harmonischen Aufbau überhaupt nicht. Als ich sehe, wie sich der Nasenflügel langsam rhythmisch bewegt, wird mir bewusst, dass ich sie anstarre. Schnell blicke ich zur Seite und hoffe, dass sie es nicht bemerkt hat. Dafür nehme ich wahr, dass sich Océane neben mich gestellt hat und forsch ansieht. Ihre zusammengezogenen Augenbrauen und dass sie auf der Unterlippe herumkaut, zeigen mir eindeutig, dass sie etwas missbilligt. Mir entzieht sich nur, was dies sein könnte.
‚Was habe ich denn jetzt wieder falsch gemacht?‘
Für einen kurzen Moment überlege ich verärgert, die Folie einzupacken. Noch ist nichts ausgesprochen. Andererseits habe ich sie doch speziell für sie angefertigt.
Mit einer „jetzt erst recht“ Haltung richte ich mich für beide überraschend auf, drehe mich zu dem verkniffenen Gesicht von Océane um und strecke ihr mit einer energischen Bewegung die Folie vor die Nase.
„Bitte. Für dich“, sage ich und sehe ihr trotzig entgegen. Einen Lidschlag lang behält sie ihren Ausdruck bei, dann werden die Augen groß und ihre so wunderbar geschwungenen Lippen öffnen sich überrascht.
Als sie nicht reagiert, gehe ich einen Schritt auf sie zu und wedel mit der Folie einmal hin und her.
Eventuell wäre es hilfreicher, wenn ich selbst nicht so ein verkniffenes Gesicht aufsetzen würde, doch ich bin verärgert und möchte es jetzt einfach nur hinter mich bringen. Ihre Haare, leicht zerzaust vom auffrischenden Wind, werfen Schatten auf ihre geröteten Wangen. Nur eine Nuance bewegen sich ihre Augen nach oben und blicken direkt in meine. Grasgrün und unglaublich klar.
Da ist etwas zwischen uns, schwer wie ein Wort, das keiner von uns auszusprechen wagt. Für eine Sekunde glaube ich, sie wird endlich etwas sagen. Nur ein Satz, aber dann beißt sie sich auf die Unterlippe und sieht wieder nach unten.
Da wird mir die Folie geschickt aus den Händen gewunden und Anais hält sie triumphierend in die Höhe.
„Was haben wir denn da?“, fragt sie lachend und grinst mich dabei so frech an, dass ich ihr dafür nicht böse sein kann.
Bevor ich auch nur einen Hauch halbherzigen Protests formuliere, spricht sie die eigentliche Empfängerin des Geschenks an.
„Hey, Oci. Was ist los? Ich vermute mal, das ist eine holografische Folie für deinen geliebten Handheld. Die Farbe und Größe passen zumindest perfekt.“
Sie sieht mich fragend an und ich bestätige nickend, während ich die Hände in den Hosentaschen versenke.
„Siehst du. Gib einfach mal her.“
Ohne weiter abzuwarten, entwindet sie Océane genauso geschickt wie schon mir zuvor das Geschenk, ihr Handheld und kniet sich hin, positioniert die Vorderseite auf ihre Knie und zieht die holografische Folie aus ihrer schützenden Hülle.
Jetzt kommt endlich Leben in Océane und sie ruft halb überrascht und halb verärgert: „Hey. Lass das!“
Jedoch zu halbherzig, als das ihre Freundin von ihrem Tun lässt. Sie kennt uns halt beide zu genau und weiß, wie weit sie gehen kann.
Ich kann Océane verstehen. Anais traut sich schon etwas, wenn sie ihr den Handheld entwindet, mit der sie sorgfältig alle möglichen Arten von Pflanzen auf die sie trifft, dokumentiert. Als ich ihr einmal aufgrund einer längerfristigen Infektion die Hausaufgaben gebracht habe, um ihr Zusammenhänge in den Aufgabenstellungen zu erklären, hatte sie in ihrem Bett gelegen und gerade gezeichnet. Ich weiß noch, dass ich innerlich über das Muster der Bettwäsche geschmunzelt hatte. Es war von unzähligen rötlichen Blättern des Jakar-Baumes gemustert, sodass der Eindruck entstand, in einem regelrechten Blättermeer zu liegen.
Mit verquollenen Augen hatte sie mir entgegengesehen und dabei versichert, dass dies nicht von zu wenig Schlaf herrührt, sondern der Krankheit geschuldet ist. Ich fand ihren Gesichtsausdruck witzig und irgendwie niedlich. Schließlich betraf es lediglich das Außenrum, und nicht das kühle Feuer, das sonst immer, wenn teilweise auch sehr versteckt, in ihnen glimmt.
Bedauernd hatte sie gesagt, dass sie bis jetzt nicht kräftig genug für die Hausaufgaben sei. Da meinte ich nur lapidar, dass ich ihr dann doch einfach über die Schulter sehen könnte, was sie da macht.
Erst hatte sie kurz gezögert und dann zu meiner Überraschung mit einem schüchternen Lächeln zugestimmt. Sie deutete zuerst auf einen Stuhl, den ich mir heranziehen soll, doch ich habe mich einfach neben sie auf das Bett gelegt. Natürlich ganz behutsam.
Noch heute kann ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, wenn ich an ihren überraschten Gesichtsausdruck zurückdenke. Die geweiteten Augen, mit denen wir uns das erste Mal für mehr als einen flüchtigen Moment auf dem tiefsten Grund unserer Seele sahen, bevor sie mir zeigte, was sie da tat.
Sie zeichnete ein Blatt. Was so ordinär wie öde klingt, hat bei mir das Kinn um einige Etagen nach unten sinken lassen. Obwohl es nicht fertig war, sah es so unglaublich plastisch und lebensecht aus. Zugleich sah man, dass es ein künstlerisches Motiv war, was ich hauptsächlich an den verspielten Linien und der teilweise exzentrischen Farbgebung festmachte. Alles in allem aber, ein echtes Kunstwerk.
Wir unterhielten uns angeregt darüber und so erfuhr ich von ihrem Faible für die Pflanzen aller Art auf Auriverde. Auf meine Nachfrage, ob sie sich auch für die von anderen Planeten der Kalmerischen Liga interessierte, verneinte sie dies. Unser Heimatplanet besitzt alleine schon eine kaum zu zählende Flora, die bereits vor der Besiedelung durch die ersten Siedler existierte. Mit der Einfuhr von hauptsächlich irdischen Pflanzen und deren genetische Anpassung an die hier herrschenden Bedingungen explodierte die Zahl regelrecht. Vor allem, wenn man einbezog, dass sich Arten miteinander verbanden oder verdrängten.
Wir unterhielten uns so angeregt, dass wir gar nicht merkten, wie die Zeit verging und mich ihre Maman freundlich fragte, ob ich nicht mitessen möchte. Im ersten Moment war ich gerührt, weil ich das nicht erwartet habe. Meine würde nie auf die Idee kommen, einen meiner Freunde zum Essen einzuladen. Dennoch lehnte ich höflich ab, obwohl ich viel lieber geblieben wäre. Der Anstand gebot jedoch anderes.
Ab diesem Moment suchte ich sie in den Stundenpausen in ihrer schattigen Nische auf dem Schulhof auf, die sie immer aufsuchte, um weiter ungestört an ihren Bildern von Pflanzen und Blättern zu zeichnen. Später meinte sie einmal zu mir, dass ich der netteste Störenfried von allen sei, und ich fasste es als herzlich gemeintes Kompliment auf.
Als sie mit ihrem Tun fertig ist, blickt Anais auf und hält ihrer Freundin triumphierend das Handheld entgegen und sagt zu ihr: „Bitte!“, und an mich gewandt, fügt sie anerkennend hinzu, „Nicht schlecht!“.
Océane reißt Anais ihren größten Schatz geradezu aus den Händen und funkelt sie dabei so böse an, dass ich befürchte, eine neue Eiszeit bricht an. Der warme Wind, der über meinen Nacken streicht und damit einen Schub an frischem Schweiß triggert, belehrt mich schnell eines anderen. Dabei ist es hier zwischen den Bäumen und dem Schatten, den die ausladenden Kronen spenden, wesentlich besser auszuhalten.
So langsam komme ich mir doof vor, so in der Gegend herumzustehen. Es scheint sie nicht zu interessieren, was mich doch mehr enttäuscht, als ich mir selbst zuzugeben, bereit bin.
Verärgert nehme ich eine Haarsträhne von mir in die Hand, die bisher auf der Stirn festklebte und betrachtete sie für einen Moment. Sie werden bereits wieder viel zu lang und es wird Zeit, sie zu kürzen. Eventuell sollte ich mal eine andere Farbe ausprobieren. Das helle Blond ist zwar praktisch, aber auf Dauer langweilig.
Mein Blick fällt auf die beiden Mädchen. Es ist wie immer. Anais redet auf Océane ein und diese verfällt in dumpfes Brüten, während sie ihr Handheld an die Brust wie einen Schutzschild gedrückt hält.
Mir ist das zu doof. Daher gehe ich einfach los, marschiere an den beiden Streithammeln vorbei und sehe bewusst nicht zu ihnen hin. Im Vorbeigehen meine ich noch zu hören: „Mir schenkt er so etwas zumindest nicht“, was mir doch ein flüchtiges Lächeln entlockt. ‚Wenigstens eine, die es zu würdigen weiß.‘
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Würdigung
Das Innere der alten Terraforming-Anlage und seit ca. einem Jahr das inoffizielle Hauptquartier unserer kleinen Gruppe, präsentiert sich so unaufgeräumt wie eh und je. Wobei ich einschränken muss, dass lediglich die Bereiche, in denen sich Anais und ich uns aufhalten, diesen Eindruck vermitteln. Océanes Ecke, deren Interieur hauptsächlich aus einer abgewetzten, aber äußerst bequemen Liege und einem daneben stehenden schlichten Beistelltisch besteht, ist frei von irgendwelchem Krimskrams.
Mit Schwung will ich den Rucksack in meine Ecke befördern, in der sich schon allerlei technisches Gerät stapelt, besinne mich aber eines Besseren. Der Drohne kann nichts für meine Laune und sie wird garantiert weiter in den Keller rauschen, wenn ich sie beschädige und reparieren muss, weil ich meine Gefühle nicht unter Kontrolle habe.
Seufzend lege ich sie daher auf den runden Tisch, der vor der halbrunden Couch steht. Dabei rutschen ein paar Bauteile zur Seite, an denen ich in den vergangenen Tagen gearbeitet habe, und fallen scheppernd zu Boden.
Na super. Die Augen ungestört verdrehend, beschließe ich, das später aufzuheben und anzusehen.
Die dunkelbraune Polsterung der Couch weist etliche Flecken auf und ächzt angestrengt, als ich mich auf das halbrunde Möbelstück auf den Rücken fallen lasse. Den rechten Arm drapiere ich als Kopfkissen darunter. Solange sich nicht grober Schmutz oder gar Schimmel darauf bildet, sehe ich keinen Handlungsbedarf. Ein Blatt hat sich auf die Polsterung neben mir verirrt. Ich hebe es vor die Augen und erkenne es sofort.
Tief ausatmend starre ich an die Decke, an der sich die Weinrebe mit ihren typisch geformten Blättern wie das in meiner Hand, als eine grün-violettfarbene Wand ausbreitet. Sie stammt ursprünglich von der alten Erde, der Hauptwelt der Solaren Planeten-Union und wurde wie so ziemlich alles auf die Verhältnisse von Auriverde angepasst. Daher der tiefe, violettfarbene Einstich. Schon verrückt, dass jetzt unzählige Kolonialwelten einen Krieg gegen die Heimatwelt aller Menschen führen. Der Grund soll laut Papa eine Mischung aus Unabhängigkeitsbestreben, territorialen Streitigkeiten und der angeblichen Ausbeutung der Kolonien durch die Zentralwelt zunächst zur Gründung der Kalmerischen Liga und danach zum Krieg zwischen den beiden Machtblöcken geführt haben. Für mich sind die Gedankengänge dahinter zu hoch, allerdings bekommt man selbst am Rand des Liga-Raumes von dem Konflikt mehr mit, als einem lieb ist. Die meiste Zeit versuchen meine Freunde und ich alles weit von uns zu schieben, doch ganz können wir dem nicht entkommen. Alleine schon durch unsere Familien, die über fast nichts anderes reden. Vor allem Océane scheint dies mitzunehmen, was aber kein Wunder ist. Ihr großer Bruder ist Offizier auf einem Ligaschiff. Die ständige Angst um ihn hängt schwer wie ein nasses Tuch über der Familie, hat sie mir mal anvertraut. Als ob man nur noch flach atmen kann und langsam den Eindruck bekommt, zu ersticken.
Mich hat es gegruselt, als ich versucht habe, das Gefühl nachzuempfinden.
Ich vermute ja, dass ihre manische Zeichenlust ein Ausdruck dieser tiefen Sorge ist, weiß es aber nicht genau. Es ist schwierig, mit ihr darüber zu reden. Immer dann, wenn sich ihr Blick ins Unendliche verschiebt, verschließt sie sich wie eine Panzertür und öffnet erst wieder, wenn ein innerer Schalter kippt. Anais meinte mal, als ich sie darauf angesprochen habe, dass wir nicht mehr machen können, als gute Freunde für sie zu sein, und ich denke, sie hat recht. Innerlich quält es mich aber, so hilflos zu sein.
Ich halte das Blatt zwischen den Fingern, als wäre es ein Fundstück. Es ist breit wie eine kleine Hand, nur grüner und kühler. Die Oberfläche fühlt sich rau an, ein wenig wie feines Schleifpapier. An den Rändern ist es gezackt und in der Mitte verläuft eine dicke, dunkelviolette Ader, von der sich dezente Linien in allen Richtungen verzweigen wie ein ausgebreitetes Netz. Kurz ziehe ich es an die Nase und schnuppere. Kein Duft und, ich wende es, um die andere Seite betrachten zu können, kein Glanz. Enttäuschend!
Aber was erwarte ich auch? Es ist nur ein Blatt. Aber es gehörte zu einer der drei Reben, die wir alle zusammen letztes Jahr gepflanzt haben. Als symbolischen Akt haben wir diese alte Terraforming-Station gewissermaßen in unseren Besitz genommen.
Ich muss lächeln, wie Anais und ich uns angesehen haben, als Océane uns den Vorschlag unterbreitet hat. Erst hielten wir es für eine spinnerte Idee, aber als wir darüber sprachen und weiter nachdachten, enthüllte sich wie eine Schicht nach der anderen die Großartigkeit, die darin liegt. Drei Pflanzen, die langsam emporwachsen und sich dabei ineinander regelrecht verhaken, wie unsere Freundschaft. Nur zusammen schaffen sie es, die Wände und die Decke nahezu lückenlos zu begrünen.
Verklärt blicke ich auf das Blatt, gebe diesem schließlich einen sanften Kuss und lass es aus meiner Hand fallen. Langsam gleitet es zu Boden und verharrt schlussendlich neben dem Bauteil, das ich zuvor heruntergeworfen hatte.
Stimmt, da war ja was. Schluss mit den schweren Gedanken.
Ächzend drehe ich mich zur Seite und hebe die Platine auf. Hin und her drehend checke ich mit kritischem Blick, ob eine Beschädigung vorliegt. Oberflächlich gesehen nicht, aber das muss nichts heißen. Erst wenn ich sie an den Prüfer anschließe, habe ich Gewissheit.
Doch das kann warten. Zuerst hat etwas Besonderes Priorität. Behände öffne ich die Magnetverschlüsse des Rucksacks und hole behutsam die eiförmige Drohne heraus. Das widerspricht ein wenig meiner vorherigen, man kann sagen, gröberen Behandlung, aber da waren auch Emotionen im Spiel.
Schon echt beknackt, wie die einen handeln lassen können, obwohl der Verstand etwas anderes schreit.
Den Rucksack pfeffere ich hinter mir auf die Couch und lege die Drohne vorsichtig auf den Tisch. Nachdem ich mich versichert habe, dass sie sicher steht, strecke ich mich rechts zur Seite und fingere aus einem Fach über der Lehne eines der vielen Energiepacks, die dort verstreut herumliegen. Mit den Fingerspitzen bekomme ich eine zu fassen und ziehe sie mit einem Ruck zu mir. Elegant landet sie in meinen Händen, wenn man von dem am Ende des Kabels befindlichen Universalkuppler absieht, der schmerzhaft auf einen Fingerknöchel kracht.
Autsch, tut das weh. Mit zusammengepressten Zähnen ziehe ich zischend die Luft dazwischen ein.
Das scheint heute nicht mein Tag zu sein. Erst der Abgang draußen, dann das undankbare Gehabe von Océane, und jetzt das.
Und für all das habe ich meine Schwester bloßgestellt und einen persönlichen Racheengel gezüchtet? Eine Flut von Bedauern und Reue durchströmt mich. Das war es einfach nicht wert.
Ich schüttele den Kopf und beschließe, heute Abend bei Shari zu Kreuze zu kriechen und mich aufrichtig zu entschuldigen. Hoffentlich ist es dafür nicht zu spät.
Für einen Moment blicke ich auf mein ArmCom und überlege, ihr eine Nachricht zu schicken. Océane und Anis entheben mich einer Entscheidung, da sie hereinkommen und ihr Lachen den dämmrigen Raum erfüllt.
Betont starre ich auf die vor mir liegende Drohne und hantiere mit der Universalkupplung an ihr herum, nur um dabei die Ohren zu spitzen, damit mir nichts entgeht.
Ich will schließlich nur vorgeben, dass es mir egal ist, was die beiden machen.
Umgehend erlöscht ihr Lachen. Hmpf. Wohl als sie mich bemerken, und da ist ein solches Verhalten natürlich ungebührlich. Na gut, das Spiel kann ich auch spielen.
Während ich mit einem sanften Fingerdruck ein Stück der Verkleidung der Drohne zur Seite schiebe und das Kupplungsstück freilege, höre ich, wie die beiden ein paar Schritte durch den Raum gehen. Ansonsten herrscht Schweigen.
Aber nicht für lange. Alles andere hätte mich bei Anais auch schwer überrascht.
„Wie kommst du voran mit der Drohne, Luce?“
Erst überlege ich, nichts zu sagen, aber das kommt mir dann doch kindisch vor. Abgesehen davon bin ich im Grunde meines Herzens ihnen und vor allem ihr ja nicht böse. „Ganz gut“, brumme ich. Als ein paar Sekunden vergingen, ohne dass etwas zurückkommt, füge ich hinzu: „Ich versuche herauszufinden, ob der Universalkoppler wirklich so universal ist. Immerhin hat das gute Stück“, ich klopfe ein paarmal mit der Hand auf die Hülle, was jedes Mal ein dumpfes metallisches Geräusch entstehen lässt, „schon ein paar Jahre auf dem Buckel. Die ist älter als unsere Eltern. Mal sehen, ob sie sich besser gehalten hat.“
Ein Kichern hallt durch den Raum. Jetzt blicke ich doch kurz hoch und bemerke, wie Océane sich die Hand vor den Mund hält und mich erst erschrocken ansieht, nur um dann schnell zur Seite zu sehen. Hey, dabei habe ich nur ein schmales Lächeln aufgesetzt.
Was habe ich ihr nur getan?
Eventuell sollte ich an meinem Lachen üben. Oder stehen die Zähne schief? Kleben Essensreste dazwischen? Ich beschließe, das heute Abend zu kontrollieren, obwohl ich mir sicher bin, dass dies nicht der Fall ist.
„Halte mich auf dem Laufenden, Luce. Ich muss noch einmal los und komme später wieder.“
Mein Kopf ruckt hoch und ich fixiere Anais herzförmiges Gesicht, das mir ernst entgegenblickt. Ich meine so etwas wie Belustigung, aber auch einen undefinierbaren Hauch von Trauer über ihre Züge gleiten zu sehen.
„Wieso denn das?“, frage ich und kann die Enttäuschung nicht aus der Stimme zurückhalten. Mit den Augen weise ich erst auf die Drohne und sehe dann sie wieder an. „Wir wollen doch zusammen die hier starten lassen und du dokumentierst die Abläufe, die sie ausführt.“
„Ich weiß“, seufzt Anais theatralisch. „Meine Maman bringt mich um, wenn ich nicht auftauche. Du weißt doch, heute ist …“
Da dämmert es mir und ich nicke schnell. Wie konnte ich das nur vergessen?
„Aber natürlich. Der VisoCall mit deinem Papa hat immer Vorrang. Bitte entschuldige.“
Sie winkt lässig ab. „Mal sehen, ob er stattfindet. Wenn sich sein Schiff nicht in passender Position aufhält oder der Kapitän aus Sicherheitsgründen jede private Kommunikation unterbindet, bin ich schneller zurück, als euch lieb ist.“
Bei den Worten dreht sie sich kurz zu Océane um und widmet sich dann wieder mir.
„Ich möchte später nur eine Erfolgsmeldung hören, dass das verdammte Ding hier stabil fliegt. Das ist das Wichtigste. Die Dokumentation können wir nachholen. Noch haben wir Zeit.“
Ich möchte schon einwenden, dass dies großzügig gesprochen ist, schweige aber, da ich genau weiß, dass bei ihr der VisoCall immer an erster Stelle steht. Mir würde es genauso gehen, wenn es mein Papa wäre, der in einem Kreuzer der Liga durch die kalte Leere des Weltraums fliegt.
„Alles klar. Du kannst dich auf uns verlassen. Grüße ihn schön!“
Anais strahlt mich an und nickt bestätigend. „Das mache ich. Versprochen. Bis später, ihr zwei.“
„Bye“, ertönt es von Océane aus dem hinteren Teil. Sie hat sich mittlerweile auf ihrer Liege bequem hingelegt und den Handheld vor der Nase. Die holografische Folie zeigt ihr Motiv stolz in den Raum hinein. Zu schade, dass es die neue Besitzerin nicht ebenso zu würdigen weiß.
Ich hebe die Hand und winke Anais zu, während ich beobachte, wie sie mit federnden Schritten den Innenraum verlässt und durch die immer offen stehende Tür ins Freie gelangt. Eine Ranke der Weinrebe, die in der Öffnung herein hängt, verfängt sich kurz in ihrem Haar, bevor sie diese energisch zur Seite schlägt.
Die Gleiche hat mich vorhin auch schon gestört.
Ein kleines Ärgernis, aber ein guter Aufhänger.
„Océane?“, rufe ich durch den Raum und sehe zu ihr hinüber.
Sie schiebt ihr Handheld ein wenig zur Seite und sieht zu mir. „Ja? Hast du ein Problem mit der Drohne?“
Ich schüttele verneinend den Kopf. „Nee. Ich möchte dich nur etwas fragen.“
Jetzt habe ich ihre Aufmerksamkeit und sie legt das Gerät flach auf ihren Schoß. Auf den Unterarmen gestützt, sieht sie gespannt zu mir rüber.
Ich deute mit der Hand nach oben und mache eine kreisförmige Bewegung. „Wie hast du es hinbekommen, dass sich die Weinreben so rasch ausbreiten? Soviel ich weiß, wachsen sie zwar schnell, aber nicht so schnell wie hier bei uns.“
Ein breites Grinsen erhellt ihr Gesicht und mein Herz beschleunigt bei diesem Anblick. Ein wenig bin ich stolz, dass ich es geschafft habe, sie aus ihrer Trübsal zu holen. Andererseits bin ich noch ein wenig angefressen, wegen ihrer Reaktion.
Ach egal. So ist sie halt und so mag ich sie ja im Grunde auch, wenn sie nur manchmal mehr aus sich herausgehen würde.
„Ich weiß gar nicht, was du meinst“, kokettiert sie und grinst mich weiter offen an.
„Doch, das glaube ich schon“, erwidere ich und fasse mir ans Kinn, nur um so zu tun, als würde ich nachdenken. „Du hast da garantiert etwas in die Erde gemischt.“
Das Fingerschnippen ist lauter als gedacht und hallt durch den Raum. Dennoch sehe ich sie an, als ob mir gerade die Erkenntnis des Jahrzehnts gekommen ist. „Ich habe es. Du hast einen Zaubertrank dazugegeben. Einen, aus dem abwechselnd grüner und violettfarbener Dampf herausgequollen ist. Dieser hat das Wachstum auf unnatürliche Weise enorm verstärkt und für die wundervolle Farbgebung gesorgt.“
Erst sieht sie mich für einen Lidschlag vollkommen entsetzt an, dann lacht sie laut auf. „Du Spinner!“ Ihr langes Haar fliegt ihr regelrecht um die Ohren, so sehr schüttelt sie den Kopf hin und her.
„Bitte was?“, fahre ich gespielt empört auf und bin mit ein paar schnellen Schritten um den Tisch herum. Dabei streife ich mit meiner Hüfte die Kante, sodass dieser einen kräftigen Schlag abbekommt.
Während ich mir fluchend an die Seite fasse, scheppert es mehrmals, als herumliegende Drohnenbauteile und Werkzeug zu Boden fallen. In letzter Sekunde gelingt es mir, die Terraforming-Drohne festzuhalten, bevor diese dem Weg der Schwerkraft folgt.
„Oh, bei allen Sternengöttern. Was machst du heute nur?“, brüllt Océane und kringelt sich regelrecht vor Lachen auf der Liege.
„Sehr witzig. Du könntest mal helfen, das Chaos hier zu beseitigen!“
Sie hält inne und deutet mit dem Zeigefinger, den sie hin und her tanzen lässt, auf meine Ecke mit der wunderschönen Couch. „Du meinst das Chaos in diesem Bereich, da, wo es so ähnlich wie in deinem Kopf aussieht? Nee, lass mal. Unmöglich.“
„Was soll das denn bitte heißen?“, fahre ich auf und blicke sie zunächst streng an. Dann kann ich einfach nicht anders und pruste drauflos.
Na ja, so Unrecht hat sie halt nicht.
Dennoch kann ich das nicht auf mir sitzen lassen. Kurz versichere ich mich, dass die Drohne sicher steht, und mache einen etwas größeren Bogen um den Tisch herum.
Océane sieht das Unheil kommen und kreischt auf. Schnell packt sie das Tablet auf den Beistelltisch und streckt mir dann die Arme lachend, abwehrend entgegen.
„Na warte“, rufe ich und halte ihre Hände mit einer von meinen fest, während die andere anfängt, sie zu kitzeln.
„Bitte nicht“, japst sie kreischend und versucht verzweifelt, von mir abzurücken. Doch so schnell gebe ich nicht auf und fahre bis unter den Arm. Japsend springt sie erst hoch, nur um sich dann zusammenzukrümmen.
„Bitte nicht. Ich mag das nicht“, ruft sie erneut aus und ich halte umgehend inne. Dieses Mal klingt ihr Tonfall anders, schneidender. Das muss ich respektieren, auch wenn ich den Moment lieber weiter ausgedehnt hätte.
„Tut mir leid“, stammele ich und ziehe die Hand dabei so schnell weg, als ob ich Lava angefasst habe. Automatisch rücke ich ein paar Zentimeter von ihr an den Rand der Liege zurück.
„Schon okay“, sagt sie leise und legt sich den Arm über den Bauch. Das macht sie nicht zum ersten Mal, wie mir erneut auffällt. Ich erwarte eine unangenehme Stille, die sich jetzt zwischen uns ausbreiten wird, und gehe gedanklich schon zurück in meine eigene Ecke, als sie doch weiterspricht: „Du hast nichts falsch gemacht. Ich bin es, die schwierig ist. Mir muss es leidtun, nicht dir.“
Ein feuchter Schimmer sammelt sich in ihren Augen. Solalto lässt sie glitzern, auch wenn die Sonne es kaum mit ihren Strahlen in den Raum hineinschafft.
Ein Gefühl von Schuld wallt in mir hoch, ungeachtet ihrer Worte. Sie zum Weinen zu bringen ist das Letzte, was ich will.
Langsam strecke ich meine Hand aus. Als sie diese nicht abwehrt, berühre ich mit aller Vorsicht, zu der ich fähig bin, ihre Wange. Fange die Tropfen auf, die sich bedächtig herab begeben, während sie mich undefinierbar ansieht. Ich habe das Gefühl, als würde sie mit sich ringen? Doch weswegen? Will sie mir etwas sagen und traut sich nicht?
Plötzlich neigt sie den Kopf, schließt die Augen und streicht mit der Wange aktiv über meinen Handrücken. Es ist ein so wunderbares Gefühl von Zuneigung, dass ich regelrecht erstarre. Überwältigt von dem, was in diesem Moment in mir aufflammt. Das ist so anders als alles, was ich zuvor empfunden habe.
„Was ist los, Océane? Was quält dich so sehr?“, presche ich vor und bereue es umgehend, da sie mit der Bewegung aufhört.
Ich Idiot! Wann zum Sternenabyss lerne ich es mal, meine verdammte vorlaute Klappe zu halten?
Statt mir eine Antwort zu geben, werden ihre Augen nur noch feuchter. Gleichzeitig sieht sie mich so eindringlich an. Wir verschränken den Blick geradezu miteinander und ich meine eine abgrundtiefe Verletzlichkeit, gepaart mit Unsicherheit zu sehen. Sie ist nicht mit sich im Reinen. Ganz und gar nicht.
Warum nur? Ich verstehe das nicht.
„Was ist los?“, wiederhole ich sanft, einen erneuten Versuch wagend. Mir ist klar, dass ich keine Antworten erhalten werde, wenn ich jetzt nachgebe.
Océane ringt sichtlich mit sich. Ihre Augen huschen hin und her. Erst zum Boden, dann zur Decke, wo sie eine Weile verbleiben, dann wieder zu mir zurück. Die ganze Zeit streichele ich sanft ihre Wange und ignoriere meine immer nasser werdenden Finger. Das ist jetzt nicht wichtig.
Sie atmet einmal tief durch. Sie scheint zu einer Entscheidung gekommen zu sein.
„Du bist das Problem“, flüstert sie beinahe unhörbar und reißt den Kopf nach hinten. Während sich meine Augen vor Schreck weiten, rutscht die Hand langsam hinunter. So als ob ich soeben jeden Kontakt mit ihr verloren habe.
Bevor ich dazu komme, sie wieder an den Körper zurückzuziehen, nimmt sie meine Hand in die Ihrige und hält sie fest. Gräbt dabei ihre Nägel so tief in den Handrücken, dass es schmerzt, den ich jedoch ignoriere.
Zu beschäftigt bin ich mit den unterschiedlichen Emotionen, die über ihr Gesicht branden. Scham, Angst und ganz zum Schluss, ja, Erleichterung.
Erneut macht sich Verwirrung in mir breit.
„Wie …“, weiter komme ich nicht, da sie sich nach vorn beugt und mit der freien Hand mir den Finger auf den Mund legt.
„Psst. Lass mich reden. Höre einfach nur zu.“
Ich nicke mechanisch und bin überwältigt von den Gefühlen, die sich alle in mir breitmachen. Ihr Finger ist so zart auf meinen Lippen, dass ich ihn am liebsten küssen möchte. Gleichzeitig ist ihr Gesicht tränenüberströmt und dennoch lächelt sie mich an. Ihre Augen schimmern wie ein sich hin und her wiegendes Meer aus weitläufigem Gras.
„Problem ist zu hart gesagt … es ist nur … ach verdammt. Warum kann Reden nicht so einfach wie Zeichnen sein?“
Océane atmet so tief ein, dass sich ihr Brustkorb unter dem rostroten ärmellosen Oberteil auffällig hebt. Schnell sehe ich woanders hin, auch wenn meine Augen am liebsten auf den sich abzeichnenden Rundungen unbedingt verweilen wollen.
„Nein, sag nichts“, ermahnt sie mich. Leider ohne dieses Mal den Finger auf die Lippen zu legen. Erneut atmet sie tief durch und endlich schafft sie es, das zu sagen, was sie möchte: „Ich liebe Anais …“
Jegliche Spannung verlässt auf einen Schlag meinen Körper und ich sacke regelrecht zusammen. Mein Gesicht muss ebenfalls in sich zusammengefallen sein, so erschrocken wie sie mich auf einmal ansieht.
„… Und dich“, fügt sie rasch hinzu. Ihre Wangen erfahren eine sichtbare Rötung, während sie schnell zur Seite sieht.
Für einen Moment kann ich nichts sagen. Es ist, als würde die Welt einen Takt aussetzen. Mein Herz pocht laut, viel zu laut, und ich spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt.
„Bitte, was?“, frage ich wie ein begriffsstutziger Idiot, als ich meine Stimme wiederfinde, während der Verstand mühsam versucht, das soeben Gehörte zu sortieren. Meine Gefühle dagegen sind auf einem wilden Ritt und wissen gerade nicht, was sie eigentlich widerspiegeln sollen.
Das muss mein Gesicht eindeutig zum Ausdruck bringen. Zumindest lacht Océane leise auf, als sie mich ansieht.
„Ich mache wohl gerade nicht so einen intelligenten Eindruck?“, versuche ich einen müden Scherz. Hauptsächlich, um die innere Sortieranlage am Laufen zu halten.
„Nein!“, bestätigt sie lächelnd zu meiner Überraschung und ich will lautstark protestieren. Jedoch sehe ich ihr deutlich an, dass eine ungeheure Last von ihren Schultern genommen wurde, als sie endlich das ausgesprochen hat, was ihr wohl schon lange auf dem Herzen liegt.
Erst jetzt realisiert mein Verstand, was sie da überhaupt geäußert hat. Sie liebt Anais und gleichzeitig mich. Das erklärt ihre innere Zerrissenheit … Moment. Mich?
Mit voller Wucht trifft mich ein Floater. So fühlt es sich zumindest an, wenn einem die Erkenntnis kommt, dass das Mädchen einen liebt, in das man selbst schon von Anfang an …
„Ich lie…“, setze ich an, werde jedoch von ihrem Finger erneut unterbrochen.
„Psst. Sag es nicht!“
„Warum nicht?“, frage ich wahrscheinlich so blöd wie offensichtlich. Im ersten Augenblick kocht die Wut in mir hoch, da ich das alles nicht verstehe. Sie hat doch gesagt, dass sie mich liebt und ich … ich empfinde so unglaublich viel für sie und will es ihr einfach nur zeigen.
Kurz halte ich inne. Genau. Die Zeit der Worte ist vorbei, doch ich fürchte mich. Habe es mir schon so oft von meinem geistigen Auge vorgestellt. Was ist, wenn sie sich verweigert? Mich gar auslacht? Ein kaltes Schaudern durchfährt mich.
Nein. So ist sie nicht. Ganz und gar nicht. Sie ist … ich muss es herausfinden.
Entschlossen rücke ich ein Stück näher und lehne mich ein wenig vor, kaum merklich, als würde ich prüfen, ob sie wirklich hier ist. Ihre Haare fallen weich über ihre Schulter, und sie macht keine Anstalten, zurückzuweichen. Ihr Blick bleibt an mir hängen, offen und erwartungsvoll, fast fordernd.
„Ich liebe dich auch“, flüstere ich, weil es das Richtige ist und ich verhindern will, dass sie mich wieder aufhält, es auszusprechen. Es ist das Einzige, was zählt. Alle anderen Fragen haben Zeit und sind jetzt nicht wichtig.
Dann ist da nichts mehr zwischen uns. Keine Unsicherheit, keine Angst. Ich beuge mich weiter vor, langsam, aber entschlossen. Mein Herz hämmert in der Brust, als würde es springen wollen. Ihre Lippen sind nur noch einen Atemzug entfernt.
Ich küsse sie.
Zuerst zögerlich, nur eine Berührung, weich, vorsichtig. Doch sie erwidert den Kuss, zieht mich ein kleines Stück näher zu sich, und plötzlich ist da nichts mehr zaghaft. Ihre Hand findet meine, unsere Finger verschränken sich wie von selbst, und ich verliere mich in dem Gefühl.
Der Kuss wird tiefer, wärmer, dringlicher. Ich spüre, wie sie bebt, wie ihr Atem schneller geht. Und ich weiß, dass das hier echt ist, dass es gerade nichts außerhalb dieses Moments gibt. Nur sie und ich, und das Feuer, das zwischen uns entfacht ist.
Als wir uns langsam voneinander lösen, bleibt ihr so wundervolles Gesicht ganz nah. Wir lächeln beide, atemlos, und ich weiß: Das ist alles, was ich immer wollte.
Aber etwas in ihren Augen zögert. Ich sehe es. Bevor ich etwas sagen kann, kippt etwas und ihr Ausdruck bekommt einen seidigen Glanz. Gleichzeitig schiebt sie ihre Hand in meinen Nacken und zieht mich erneut an sich.
Der zweite Kuss trifft mich wie ein Sturm.
Er ist kein Zögern mehr, er ist Verlangen. Unsere Lippen finden sich gieriger, tiefer, unsere Körper rücken enger zusammen. Ihre Hände gleiten über meinen Rücken, zittrig, als würde sie sich an mir festhalten müssen, und ich spüre, wie jede Grenze zu verschwimmen beginnt. Mein Puls hämmert in den Ohren. Ich wünsche mir nichts anderes mehr. Nur sie. Nur jetzt.
Aber dann, ein leiser Laut, kaum hörbar. Ein Atmen, das plötzlich andersartig klingt. Ihr Körper spannt sich unter meinen Händen. Der Kuss bricht ab, abrupt, fast erschrocken.
Ich sehe sie an. Ihre Augen sind weit geöffnet, glänzen. Nicht vor Glück, sondern vor Schuld.
„Es tut mir leid“, flüstert sie. Ihre Stimme bricht. „Anais ….“
Der Schlag trifft mich unvorbereitet. Für einen Moment sitze ich nur da, starre sie an, versuche zu verstehen.
Sie zieht sich zurück, langsam, als würde jede Bewegung wehtun. Ihre Hand liegt noch kurz auf meinem Knie, dann nimmt sie sie fort.
„Ich … ich weiß einfach nicht weiter“, sagt sie mit brüchiger Stimme. Traurig sieht sie auf den Boden, während eine Träne nach der anderen ihre Wange hinunterläuft. „Ich liebe dich, ich liebe sie. Es ist, als würden zwei Herzen in meiner Brust schlagen. Jedes gibt einen anderen Takt vor. Jedes zerrt mich mit seinen Gefühlen in eine andere Richtung.“
Ich nicke stumm. Da sind tausend Fragen in mir, aber keine Worte. Nur das Brennen auf meinen Lippen und ein leises, schmerzhaftes Begreifen.
„Es zerreißt dich regelrecht von innen?“
Erschrocken reißt sie die Augen auf und nickt schließlich nur. Mehr bedarf es nicht.
Instinktiv rücke ich wieder vor und nehme sie in den Arm. Ziehe sie zu mir heran und drücke ihren Kopf sanft gegen die Brust, damit sie meinen Herzschlag hört. Gebe ihr, was sie benötigt. Keinen Kuss, keine Leidenschaft. Nur Nähe und Geborgenheit. Langsam wiege ich sie hin und her. Streichle ihren Arm zärtlich und lasse die Zeit an diesem wunderbaren Ort verstreichen, der für diesen kostbaren Moment nur uns beherbergt.
Währenddessen jagen sich meine Gedanken.
Sie liebt mich. Alleine, was dies an Gefühlen in mir auslöst. Eine regelrechte Flut und ich mittendrin, kurz vor dem Ertrinken. Ich paddle wie ein Verrückter und komme doch nicht von der Stelle. Dafür ist es gleichzeitig so warm und einnehmend, dass ich mich einfach nur treiben lassen möchte.
Doch ganz praktisch gefragt: Was bedeutet das alles für unsere kleine Dreiergruppe? Unsere Freundschaft? Wird sie jetzt zerbrechen, weil wir mehr als nur Freundschaft empfinden? Und erwidert Anais die Gefühle von Océane?
Eine Welle von Eifersucht durchflutet mich und ich schäme mich schon fast dafür. Eine Seite in mir verlangt sie nur für mich. Ich möchte sie nicht teilen. Mag es nicht mit ansehen, wenn jemand anderes sie im Arm hält, während sie doch bei mir sein könnte. Oder gar zärtlich zu ihr ist. Ihre so wundervollen Lippen spürt, währenddessen sie sich doch auf meine schmiegen sollten.
Hatten sich die beiden schon geküsst? Wie war es für sie? Anders als mit mir? Wenn ja, wie anders? Empfand Anais auch etwas für mich und ich hatte es bisher einfach nicht bemerkt?
Es schüttelt mich, angesichts der vielen Fragen, die sich vor mir auftürmen und auf die ich keine Antworten finde oder gar habe.
Océane muss es bemerkt haben, denn sie kommt mit dem Kopf hoch und sieht mich fragend an. „Alles okay“, sage ich schnell und gebe ihr einen Kuss auf die schweißnasse Stirn. Wie vertraut es sich schon nach so kurzer Zeit anfühlt. Nein, es ist nicht alles okay. Sie ist endlich ehrlich zu mir und ich möchte es genauso halten. Alles andere fühlt sich nicht richtig an.
„Na gut. Ich denke nur daran, was aus uns dreien wird. Ich habe Angst, dass jetzt unsere Freundschaft zerbricht.“
„Willkommen in meiner Welt“, flüstert Océane und lächelt mich traurig an. „Genau das ist es, wovor ich immerzu Angst hatte.“
„Weiß Anais von deinen Gefühlen für sie … und für mich?“
Endlich ist es heraus! Zugleich fürchte ich mich vor der Antwort. Unbewusst halte ich die Luft an.
Statt eine Antwort zu geben, sieht mich Océane lediglich für einen winzigen Moment an, nur um mir einen weiteren Kuss zu geben.
Überrascht schließe ich die Augen und erwidere ihn mit aufkochender Leidenschaft. Meine Hand fährt durch ihre so wundervoll seidigen Haare, die gleichzeitig dazu einladen, mit ihnen zu spielen. Doch danach ist mir in diesem Moment nicht. Sanft drücke ich ihren Kopf gegen meinen, sodass sich unsere Lippen noch inniger aneinanderpressen. Es fühlt sich an, als ob Wellen der Hitze genau von dem Punkt ausgehen, an dem wir uns berühren und direkt in meinem Schoß kulminieren.
Als sie zurückweichen will, lasse ich sie gewähren. Mit hochrotem Kopf, so kommt es mir zumindest vor, starre ich sie an und drehe die Beine ein wenig, damit sie nicht bemerkt, wie sehr sie mich erregt.
Ich möchte vermeiden, dass sie meint, ich würde nur das Eine wollen und sich schaudernd von mir abwenden. Daher denke ich rasch an die bevorstehende Matheprüfung und fange an, Beispielaufgaben im Kopf zu rechnen, um mir einen Fokus zu geben.
Ihre Lippen leckend, lehnt sie sich auf den Händen abstützend nach hinten und lächelt mich an.
„Du schmeckst auf jeden Fall anders!“
Da habe ich meine Antwort und ich kann derzeit nicht einordnen, ob sie mir gefällt. Oh dieser Widerspruch, der in mir tobt. Einerseits sind ihre Worte wie eine eiskalte Dusche, die mich vor Eifersucht erschaudern lässt. Andererseits ist die Situation prickelnd und Hitze brandet in mir auf. Das Gemisch, das mich erfüllt, verwirrt mich komplett und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.
„Vielen Dank übrigens noch für das tolle Geschenk und …“, ihre Stimme bricht und sie blickt verschüchtert zu Boden. Die Sekunden verstreichen und ich will schon etwas sagen, als sie eine Hand auf mein Bein legt und mir schließlich ein wenig traurig in die Augen sieht. Eben noch sah sie glücklich aus. Erleichtert gar und die roten Wangen zeugen davon, dass in ihr die gleiche Leidenschaft erblüht ist wie in mir. Jetzt schwingt das Pendel der Gefühle wieder in die andere Richtung.
„Es tut mir leid. Ich weiß, ich bin furchtbar zu dir gewesen. Dabei habe ich mich wirklich über dein Geschenk gefreut. Du hast eins meiner gezeichneten Blätter genommen. Mein Lieblingsmotiv. Ich …“, sie atmet einmal tief durch und kaut nervös auf der Unterlippe herum, „mir fällt es unheimlich schwer, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Umso mehr, wenn sie dich oder Anais betreffen.“
Erneut hält sie kurz inne und blickt an mir vorbei in die Ferne. Oder tief in sich selbst hinein? Ich kann es nicht deuten. Auf jeden Fall scheint sie bislang nicht fertig zu sein mit dem, was sie zu sagen hat, und ich spüre deutlich, dass es ihr wichtig ist und ich sie nicht unterbrechen darf.
Dann bricht es regelrecht aus ihr heraus. Geradezu wütend hebt sie dabei ihre Hände hoch, als ob sie jemanden würgen möchte, während erneute Tränen ihre Augen zum Glänzen bringen: „Warum muss das immer nur alles so kompliziert sein? Warum muss ich so kompliziert sein? Zuerst hatte ich mich in dich verliebt. Weißt du noch, als du bei mir warst, als ich so lange krank war?“
Ich nicke. Zu gut kann ich mich daran erinnern.
„Seitdem ist es um mich geschehen und ich wusste nicht, wie ich an dich herankommen soll. Du bist immer so unglaublich cool und steckst alles, was andere aus der Bahn wirft, mit einem Lächeln weg. Ich wusste nie, was du für mich empfindest. Nur die enge Freundin, die ich auch immer sein wollte? Oder doch mehr? Ich konnte dich einfach nicht lesen und das hat mich so enorm verwirrt. In meiner Not wandte ich mich an Anais und das machte das Gefühlschaos dann erst recht komplett. Ich verliebte mich auch in sie und frage mich bis heute, was nicht richtig mit mir ist! Man kann doch nicht zwei Menschen zugleich lieben und begehren! Das geht doch nicht!“
Wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht, sackt sie in sich zusammen und schlägt die Hände vors Gesicht. Leise weinend, der den Kloß in meinem Hals nur noch mehr zum Wachsen bringt.
Ich mag es nicht, wenn jemand weint und vor allem nicht sie. Behutsam lege ich erst die Hand auf ihre Schulter, und als ich merke, dass sie es zulässt, rücke ich näher an sie heran, um sie erneut an mich zu drücken. Dieses Mal erwidert sie dies und umfasst mit ihren Armen meinen Oberkörper. Ihre Finger krallen sich mir in den Rücken und ziehen so den Stoff des Shirts merklich zusammen.
Langsam fange ich an, über ihren Rücken zu streichen, und genieße die unglaubliche Nähe zu ihr. Auch wenn es so schon irre warm ist und ihr Körper seinen Teil zu der in mir herrschenden Hitze beiträgt, rutsche ich keinen Millimeter weg. Viel zu lange habe ich es mir ersehnt, sie wie jetzt in den Armen zu halten.
„Ich denke, es ist vollkommen normal, was du empfindest, Océane“, überwinde ich den Kloß in meinem Hals krächzend und muss mich räuspern. Als ich die Stimme wiedergefunden habe, füge ich hinzu: „Manche Menschen können das und sind nicht fixiert auf einen, auch wenn das für die meisten wohl so gilt. Wir sind soziale Wesen und unseren Gefühlen fast hilflos ausgeliefert. Ich denke daher, dass das völlig okay ist und wir uns eher die Frage stellen sollten, wie wir damit umgehen. Denn …“
Ihr Kopf ruckt hoch, als ich eine Pause einlege, um meine Gedanken zu sortieren. Mit traurigem, verschleiertem Blick sieht sie mich an, grinst jedoch dabei. Das verleiht ihrem Gesicht etwas sonderbar Zwiespältiges. Wie Licht und Schatten, die miteinander um die Vorherrschaft ringen.
„Die Ansprache klang jetzt ein wenig wie aus einer der Serien, die du immer schaust.“
Erst langsam, dann rasend schnell knallen meine Augenbrauen nach oben. Für einen Moment starre ich sie sprachlos an, während sie mich unverschämt angrinst. Wenigstens erreicht das Grinsen ihre Augen und vertreibt die Traurigkeit gleich einem Schleier, der zur Seite gewischt wird.
„Manchmal bist du ziemlich frech“, schmunzele ich und grinse zurück. Himmel und Erde. Es ist unmöglich, ihr böse zu sein, wenn man so angesehen wird. Selbst, wenn sie einen aus dem Konzept bringt und zugleich eine halbe Beleidigung an den Kopf bekommt.
„Manchmal? Wir kennen sie doch gar nicht anders“, ertönt jetzt eine wohlbekannte Stimme im Hintergrund.
Erschrocken drehe ich mich um und sehe Anais, wie sie mit verschränkten Armen an der Wand voller Weinreben lehnt und uns beide kritisch mustert.
Der Arsch geht mir auf Grundeis und ich fühle mich bei etwas Schrecklichem ertappt. Vor Schreck springe ich auf und stoße dabei mit den Waden so heftig gegen die Liege, auf der noch immer Océane sitzt und mich mit riesigen Augen anstarrt, dass diese nach hinten wegrutscht. Unangenehm laut, wie unter Protest kreischend, quietschen die vier Beine der Liege über den Boden. Das Geräusch ist so schrecklich, dass sich mir die Nackenhaare aufstellen und sich mit dem Gefühl vermischt, dass unsere Gruppe in diesem unsäglichen Moment zerbricht. Dass sich ein riesiger Scherbenhaufen auftut, der nicht mehr gekittet werden kann.
Es kocht immer höher. Schlussendlich kann ich es nicht aufhalten und merke beschämt, wie sich meine Augen füllen, während ich mir verzweifelt so sehr auf die Lippen beiße, dass sich der warme, metallische Geschmack von Blut im Mund ausbreitet.
Ich möchte nicht, dass es so endet!
-
Im weiten Licht des Feldes
Sie lachen mich aus.
Beide.
Oder lachen sie mich an?
Verwirrt blinzele ich und erkenne nur verschwommene Umrisse. Hektisch wische ich mit dem schweißnassen Handrücken darüber, was nur dazu führt, dass meine Augen umgehend, anfangen zu brennen.
Ein Knurren entfährt meiner Kehle und ich wünsche mir meine Augentropfen her, die natürlich ebenfalls zu Hause in meinem Zimmer liegen. Die spielen wahrscheinlich gemeinsam mit den In-Ears und der Schutzbrille gerade Karten. Dabei ablästernd, wie absolut vergesslich und dämlich ihr Besitzer doch ist.
Erst jetzt fällt mir auf, dass das Lachen abrupt aufgehört hat. Als ich endlich halbwegs geradeaus zu sehen vermag, blicke ich in Anais erschrockenes Gesicht.
„Bitte entschuldige, Luce“, beginnt sie hektisch zu sprechen und hebt sogar ihre Arme, als ob sie etwas beschwört. „Das war nicht so gemeint!“
Ich sehe sie mit grenzenloser Verblüffung an. Was sollte das denn jetzt? Da dämmert es mir und ich kann nicht anders als breit zu grinsen.
„Ein Schneewolf ist wohl nichts dagegen?“, sage ich und strecke dabei selbstbewusst meine Brust heraus.
„Der wird blass vor Neid, bei deinem Knurren“, bestätigt sie unumwunden und lächelt jetzt vorsichtig, während sie mich mit den Augen abcheckt. Wohl, ob nicht doch etwas von einem Wolf in mir steckt und ich sie gleich anfalle. Als ob ich so etwas bei einer Freundin machen könnte, obwohl … vielleicht gerade deswegen.
Rasch gehe ich einen Schritt auf sie zu, verzerre das Gesicht vor Wut und lasse das gleiche Knurren wie zuvor ertönen.
Die Wirkung ist phänomenal.
Schallend fange ich an zu lachen, als Anais erschrocken die Augen aufreißt, unkontrolliert einen Schritt zurück macht und auf ihren Hintern landet.
„Autsch“, schimpft sie und funkelt mich böse an. „Du bist und bleibst ein Schuft, Luce.“
Ich zucke entschuldigend mit den Achseln, gehe zu ihr hin und strecke die Hand entgegen, um ihr nachzuhelfen. „Brauchst gar nicht versuchen, unschuldig wie ein Welpe dreinzublicken. Das zieht vielleicht bei Oci, aber nicht bei mir“, tadelt sie mich, lässt sich dann allerdings doch hochhelfen.
Zumindest tut sie im ersten Moment so und zieht mich dann kraftvoll nach unten, sodass ich das Gleichgewicht verliere und mit den Knien schmerzhaft aufpralle. Mit der anderen Hand kann ich gerade noch verhindern, dass mein Gesicht die gleiche Bekanntschaft mit dem Boden macht. Dennoch zieht es im Gelenk. Rasch drehe ich den Körper und komme neben Anais zum Liegen, die sich bei der Aktion ächzend auf dem Rücken wiederfindet.
Immerhin etwas.
„Du Biest“, stöhne ich.
„Das sagt der Richtige“, kommt es prompt zurück und ich meine einen Hauch von Gehässigkeit herauszuhören. Da ist sie wieder. Die gute alte Anais. Hältst du ihr eine Wange hin, haut sie dir genüsslich auf beide. Es soll sich ja lohnen.
Am liebsten würde ich mich gleich auf sie stürzen und ihr mal die Meinung geigen, aber da taucht ein Schatten über uns auf. Océane steht vor uns. Die Fäuste in die Hüften gedrückt, fällt ihr langes hellbraunes Haar wie ein Vorhang, als sie nach unten zu uns sieht.
„Sind wir hier im Kindergarten?“ Oh, wow. Der Tonfall ist wirklich vorwurfsvoll.
Ich drehe kurz den Kopf zur Seite und blicke Anais in die fast schwarzen Augen und erkenne am Zucken der Mundwinkel, dass sie genauso denkt wie ich.
„Jupp. Sind wir! Hier ist sogar das Hauptquartier, Frau Erzieherin.“ Ich deute mit einer Hand auf Anais, die neben mir liegt und versucht ein Lachen zu unterdrücken. „Können Sie bitte das freche Gör hier zurechtweisen?“
Es dauert keine Sekunde, bis ich von links und oben im Chor ein empörtes „Hey!“ höre, da stürzen sie sich schon gemeinsam auf mich.
Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht. So schnell kitzeln mich Hände, während andere meine festhalten. Ich brülle und winde mich. Flehe und winsel, sie sollen doch aufhören.
Alleine nur: Sie kennen keine Gnade.
Es kommt mir wie eine Ewigkeit der Agonie vor, als sie endlich innehalten. Das schmerzende Zwerchfell gesellt sich zu den etlichen anderen Körperstellen, die wehtun. Heute ist einfach nicht mein Tag und ich mag gar nicht daran denken, wie viele blaue Flecke ich wohl ab morgen aufweisen werde. Hoffentlich sieht Maman nichts davon.
„Ihr seid dermaßen unfair“, keuche ich auf dem Rücken liegend und muss dabei doch schmunzeln.
„Wir geben dir nur das, was du brauchst“, antworte Océane, die mit zusammen gefalteten Beinen neben mir sitzt und mich glücklich anfunkelt.
„Noch eine Runde?“, ertönt es da aus Anais Mund von der anderen Seite und ich hebe rasch die Arme hoch.
„Gnade ihr beiden. Ihr habt gewonnen … für heute!“
Océane sieht zu unserer Freundin rüber und sie scheinen kurze Zwiesprache zu halten. Es erstaunt mich immer wieder, wie Mädchen sich nur mit den Augen unterhalten können. Quasi einen Roman besprechen. Es ist ein Phänomen.
„Na gut“, lenkt Anais ein. „Wenn du allerdings erneut so frech bist, dann war das hier nur ein lauer Vorgeschmack auf das, was dich erwartet.“
„Zwei auf einen ist aber auch unfair“, verteidige ich mich, während ich den Oberkörper hochstrecke und auf den Ellenbogen abstütze. Bedächtig blicke ich von rechts nach links in nahezu das gleiche grinsende Gesicht. Na toll. Die beiden scheinen sich einig zu sein, dass das kein Problem für sie darstellt. Das kann ja noch etwas werden.
Erneut blicken sie sich an und wie auf ein geheimes Kommando legen sie sich auf einmal dicht neben mich. Im ersten Moment ist es mir unangenehm, dass ich nicht mit der Situation umzugehen weiß. Dass Océane mir ihre Hand auf den Brustkorb legt und ein Bein über meines zieht, genieße ich. Vor allem, da sich ihre Brüste zusätzlich gegen den Oberarm schmiegen, was sich einfach nur unglaublich anfühlt.
Anais ist dagegen etwas distanzierter. Sie bleibt wenige Zentimeter vor mir liegen, legt dafür ihre olivfarbene feingliedrige Hand auf die von Océane. Ich fühle auf der Brust, wie sich die beiden sanft streicheln und bemerke, wie sie einander zärtlich ansehen.
Erneut durchzuckt mich die Eifersucht und ich muss kurz tief ausatmen. Aber ist es wirklich so schlimm?
„Kommst du klar?“, flüstert Océane und haucht mir einen Kuss auf die Wange, was umgehend neue äußerst angenehme Wellen durch mich hindurch jagt.
Zaghaft nicke ich und versuche mich zu entspannen.
„Ich sagte dir doch, er wird es verstehen“, meldet sich jetzt Anais zu Wort und umklammert Océanes Hand, wie ich eindeutig auf der Brust mitbekomme.
„Was verstehen?“ Ich bin wohl ein wenig begriffsstutzig unterwegs.
„Anais hat mich dazu gedrängt, mich dir endlich zu offenbaren“, hilft Océane aus und drückt sich ein Stück enger gegen mich. Innerlich stöhne ich auf. Wenn sie so weiter macht, fällt es auf, was ich gerade empfinde. Hey. Wem würde es nicht gefallen, mit zwei hübschen Mädchen auf dem Boden zu liegen? Den Eisschrank möchte ich sehen, den das kaltlässt.
„Nur damit ich alles korrekt einordne“, sage ich schnell, auch um mich von den in mir aufsteigenden Hitzewallungen abzulenken, die einen Vulkan blass vor Neid werden lassen. Kurz wende ich den Kopf nach rechts zur Seite und sehe in die faszinierenden grünen Augen, die nun gänzlich klar sind und mir voller Wärme entgegenblicken. Océane scheint eine große Last von der Seele genommen worden zu sein. „Du hast dich in mich verliebt, wusstest aber nicht, ob ich genauso empfinde. Nach einiger Zeit hast du dich dann an Anais gewandt und dabei habt ihr festgestellt, dass ihr auch füreinander etwas empfindet. Deine Gefühle für mich hat es allerdings nicht beeinträchtigt und Anais hat dich dann sogar darin unterstützt, mir endlich näherzukommen?“
„So kann man das in männlicher Logik knapp zusammenfassen“, lacht Anais auf und nimmt jetzt ihre Hand herunter, um sie an mein Kinn zu führen, um meinen Kopf sanft zu ihr zu drehen. Die Berührung fühlt sich dabei merkwürdig an. Anregend, aber anders als bei Océane, wo irgendwie mehr dahinter ist. Als ob etwas Fundamentales fehlt, das die Berührung mit Bedeutung versieht.
Für einen kurzen Moment sieht Anais mich unergründlich aus ihren dunklen Augen an. Mustert mich scheinbar, dann zieht sie ihre Nase kraus und den Mund schief.
„Neee. Den behalte mal schön, Océane. Nicht mein Typ. Mach dir also keine Hoffnung, Luce!“
Ich muss einigermaßen verblüfft aussehen, denn sie lacht laut auf. „Hast du dir wirklich Hoffnung auf zwei Frauen an deiner Seite gemacht?“
Energisch schüttele ich den Kopf. Es ist mir egal, dass sich dabei Tropfen von den schweißnassen Haaren lösen und in alle Richtungen davon schießen.
„Hey, was machst du da?“, kreischt Anais auf und dreht sich rasch weg, sodass nichts in ihrem Gesicht landet.
„Nein“, widerspreche ich ihr und ignoriere dabei geflissentlich ihren Ausruf. „Das würde schon von meiner Seite aus nicht funktionieren. Sei mir nicht böse, ich mag dich.“
Für einen kurzen Moment blicke ich ihr fest, aber ernst in die Augen, um die Worte zu unterstreichen. „Ich mag dich sogar von ganzem Herzen, aber als gute Freundin. Da ist nichts Romantisches, wie ich … oder wir es für Océane empfinden.“
„Und es ist kein Problem für dich, dass ich dich und Anais liebe?“, fragt jetzt Océane leise hinter mir und ich drehe mich halb zu ihr um. Umgehend schmiegt sie sich wieder an mich und ignoriert dabei meine vor Schweiß und Dreck klebende Haut. „Das kann ich dir offen gestanden nicht zu einhundert Prozent sagen. Es ist alles neu für mich“, antworte ich nachdenklich, nachdem ich noch einmal kurz in mich gegangen bin. Als sie schon enttäuscht hochsieht, füge ich rasch hinzu: „Ich weiß jetzt nur, dass wir uns endlich gefunden haben, so verwirrt die Pfade auch waren. Zugleich will ich die Freundschaft zu Anais nicht aufs Spiel setzen. Wie wir das Ganze dann händeln wird die Zeit zeigen.“
„Hätte schlimmer kommen können, Oci. Ich denke, damit können wir leben, oder was meinst du?“
Hm, das hört sich so an, als ob die beiden sich schon vorher darüber einig waren. Was ja kein Wunder ist, wenn Anais ihre Freundin sogar darin bestärkt hat, mir ihre Gefühle zu offenbaren. Also hat sie mit der Dreieckskonstellation kein Problem!
Was mich ein wenig verwundert. So hätte ich sie nicht eingeschätzt oder zumindest gedacht. Anscheinend kenne ich sie doch nicht so gut, wie ich meine. Mir scheint: Wann immer man glaubt, man hat eine weitere Schicht vom Inneren eines Menschen freigelegt, schimmert eine zusätzlich darunter liegende hindurch. Eine, die einen dann wieder komplett zu verwirren vermag. Oder in den Wahnsinn treibt. Je nachdem.
Statt eine Antwort zu geben, kuschelt sich Océane erneut an mich und legt die Hand auf meine Brust. Es dauert nur ein paar Sekunden, in denen Anais folgt und ihre Hände das zuvor unterbrochene Spiel wieder aufnehmen.
Die Augenlider fallen mir von selbst zu und das Ausschließen eines Sinnesorgans verstärkt automatisch die weiterhin Aktiven.
Es fühlt sich zunächst merkwürdig an. Ganz und gar merkwürdig. Einerseits die schon fast schmerzhafte und klebrig süße Nähe von Océane, die ich so lange Zeit herbeigesehnt habe. Ihre von der Wärme ebenso aufgeheizte Haut reibt sanft über meine.
Andererseits die distanzierte Nähe, ich kann es nicht anders beschreiben, von Anais. Da fällt mir ein, dass ich sie noch fragen will, was aus dem VisoCall mit ihrem Papa wurde. Hatte sie das nur vorgeschoben, um Océane und mir Zeit zu verschaffen?
Zu hören ist lediglich der leise regelmäßige Atem der beiden und ich muss mich schon anstrengen, diesen zu vernehmen. Gerade dieses gleichbleibende Heben und Senken des Brustkorbes von Océane fühlt sich beruhigend an. Selbst auf der anderen Seite verspüre ich den Gleichklang, den mein Ohr vorgibt. Anais muss ein wenig dichter gerutscht sein.
Ich nehme zunächst den üblichen feuchten und modrigen Geruch der alten Terraforming-Station wahr. Sie hält die von Solalto aufgeheizte Luft ziemlich gut draußen. Wenn ich mich konzentriere, mischt sich daneben auch noch der Schweiß von uns dreien hinzu. Ich habe mal gelesen, dass dieser bei den Urmenschen von der Erde wesentlich intensiver ausfällt als bei uns Auriverda. Die ersten Siedler haben wohl genetisch etwas daran gedreht, damit der körpereigene Schweißgeruch nicht so penetrant ist. Ob nun die Zusammensetzung des Schweißes geändert wurde, damit die entsprechenden Bakterien diesen nicht mehr so toll finden, oder lediglich die passenden Geruchsrezeptoren manipuliert wurden, entzieht sich meinem Gedächtnis. Jetzt ärgere ich mich, dass ich nicht aufmerksamer aufgepasst habe, und beschließe, die fehlende Information später einzuholen.
Kurz lasse ich den bisherigen Tag Revue passieren und muss sagen, dass ich selten einen erlebt habe, an dem es so viele Hochs und Tiefs gab. Tiefs vorwiegend von der schmerzhaften Seite und Hochs …
Nun ja …
Eine ungewohnte Tonfolge unterbricht meine Gedanken, die von überall herzukommen scheint. Gleichzeitig vibriert der ArmCom. Erst sanft, dann immer heftiger.
Erschrocken reiße ich die Augen auf. Dadurch, dass die beiden Mädchen hochfahren, merke ich, dass sie es auch hören und ich es mir nicht nur einbilde.
Verwirrt sehen wir uns erst gegenseitig an, bevor jeder auf seinen eigenen ArmCom starrt. Wie üblich haben wir diese hier auf abwesend geschaltet, damit wir nicht gestört werden. Darauf haben wir uns schon zu Anfang geeinigt und eines Tages hatten es auch unsere Eltern akzeptiert, nachdem wir uns zum Ausgleich angewöhnt haben, zur vereinbarten Zeit zu Hause zu sein.
Das Innere der Terraforming-Station ist erfüllt von den gleichen auf und abschwellenden Tönen, die alle drei ArmComs im Gleichtakt abgeben.
„Das ist der systemweite Generalalarm“, kreischt Océane auf und blickt uns entsetzt an.
Nur langsam dämmert es mir. Stimmt. Da ist was. Eine Übung vom letzten Jahr in der Schule, bei der wir alle gehofft hatten, dass sie schnell vorbei ist, um wieder nach draußen zu gelangen.
Sämtliches Blut weicht mir aus dem Gesicht. Dass es den anderen beiden ähnlich ergeht, macht es in diesem Moment nicht besser.
„Ein Angriff der Spusis.“ Anais Augen weiten sich vor Angst und schlägt sich dabei die Hände vor den Mund.
„Das wissen wir nicht“, versuche ich zu beruhigen, während sich meine Gedanken jagen.
„Was soll es denn sonst sein?“, schreit Océane und beginnt, zu ihrer Liege zu laufen. „Wo ist nur der verdammte Handheld?“
Jetzt kommt auch Bewegung in mich. Automatisch begebe ich mich zu ihr und suche mit ihr zusammen. Es liegt auf dem Boden hinter dem Tisch, da es wohl hinuntergefallen ist, als ich die Liege verschoben hatte.
Sie umklammert das Gerät so stark, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortreten. Ob vor Angst, weil sie keine Ahnung hat, was sie tun soll, oder vor Erleichterung, dass sie es wiedergefunden hat, kann ich nicht sagen.
Ich bin nur froh, dass sie es wiederhat. Völlig kopflos können wir sie jetzt nicht gebrauchen.
Noch immer dröhnt der Alarm und das Vibrieren auf dem Handgelenk wird schon fast schmerzhaft. Erwartungsvoll sehen mich die beiden an, doch ich bin für das erste Mal in meinem Leben nahezu ratlos. Zumindest für einen flüchtigen Moment.
Dann kommt mir eine Idee. Eigentlich ist sie absolut naheliegend und ich ärgere mich, nicht schon vorher darauf gekommen zu sein.
Entschlossen hebe ich das ArmCom vor das Gesicht und entsperre es. „Verbindung aufnehmen mit Maman, Papa oder Shari!“, weise ich die Servor-KI an.
„Keine Verbindung möglich. Das Netzwerk ist überlastet“, sagt die sanft modulierte Stimme und ich möchte am liebsten vor Enttäuschung aufschreien. „Ich versuche es weiter.“
Ich will mich schon an meine Begleiter wenden, die ebenfalls ihre Arme gehoben haben, als die Stimme aus dem ArmCom erneut ertönt: „Einkommende Nachricht des Ministeriums für Innere und Äußere Sicherheit. Alle Bürger haben sich umgehend in eine Schutzvorrichtung zu begeben. Das ist keine Übung.“
Gleichzeitig flammt ein kleines Holo über der Oberfläche auf und zeigt einen Lageplan der näheren Umgebung. Wir sind in der Mitte mit einem roten Punkt gekennzeichnet und eine weiße Linie führt mit etlichen Verzweigungen zu einer der angewiesenen Einrichtungen. Der Weg ist weit. Hoffentlich nicht zu weit.
„Scheiße. Ich bekomme auch keine Verbindung zu Maman“, ruft Anais und Océane schüttelt ihr ArmCom, als ob es dadurch möglich wird. Ihr scheint es genauso zu gehen.
„Wir begeben uns am besten schnell zum Schutzraum“, rufe ich den beiden zu und will mir schon meinen Rucksack holen.
Da flammt ein kleines Holo mit einem Kopf über Océanes ArmCom auf und ich denke zuerst, dass dies ihre Mutter ist. Da bemerke ich meinen Irrtum anhand eines Schriftzuges, der darüber schwebt: ANS-News. Ihr muss es gelungen sein, einen Newsfeed anzuzapfen.
„Mach mal lauter“, herrsche ich sie an und fange mir dafür einen bösen Blick ein. Immerhin kommt sie, ohne zu zögern, meiner Bitte nach. Anais und ich stellen uns neben sie und gemeinsam starren wir auf die Nachrichtensprecherin. Es scheint sich, um eine Echte und keine KI-Generierte zu handeln, die sichtlich bemüht ist, die Fassung zu bewahren.
„… große Flotte der Solaren Planeten-Union ist in das Auriverde-System eingedrungen. Unsere Streitkräfte sind sofort auf Abfangkurs gegangen und binden die Angreifer auf der Höhe des fünften Planeten Corsic. Zwei Schlachtkreuzern ist es jedoch gelungen, sich zu lösen. Sie befinden sich im direkten Anflug auf Auriverde. Die planetare Verteidigung hält sie unter schwerem Feuer, kann sie allerdings bisher nicht aufhalten.“
Leises Schluchzen dröhnt an mein Ohr, als die Sprecherin für einen kurzen Moment schweigt, als lausche sie einer eingehenden Mitteilung, die nur sie vernehmen kann. Ich kann nicht ausmachen, wer von den beiden weint. Zu sehr ist mein Blick auf das Gesicht der Frau gerichtet, die nun wieder anfängt, zu reden, und sichtliche Mühe hat, ihre Haltung zu wahren: „Soeben erreicht uns die Nachricht, dass einer der zwei Schlachtkreuzer der Angreifer schwerbeschädigt ist und keine Gefahr mehr darstellt. Der Zweite jedoch …“, sie stockt kurz und spricht dann den Tränen nah weiter, „… der Zweite hat einen kurzen Jump vollzogen und steht jetzt direkt in den oberen Atmosphärenschichten von Auriverde. Sein Flug führt den ersten Berechnungen zufolge über den Kontinent Aniash-Verse mit seinen großen Städten Buenos Verse und Boavista Nova.“
„Boavista Nova?“, flüstert Océane heiser und voller Angst.
„Schalte es aus“, fordere ich sie auf. „Wir haben genügend gesehen. Lasst uns aufbrechen.“
„Du hast recht“, sagt Anais und nickt mir zu. Auch sie hat Tränen vergossen, so wie wir alle. In ihren Augen blitzt jedoch Entschlossenheit. „Lasst uns los.“
Kurz sehen wir uns alle an und nicken schließlich wie auf ein geheimes Zeichen. Gemeinsam gehen wir mit schnellen Schritten hinaus. Ich will mir schon mein Schwebeboard nehmen, das die beiden neben das von Océane gestellt haben, als mein Ohr ein dumpfes, lang gezogenes Grollen erreicht. Ähnlich wie bei einem Gewitter, aber fremdartiger. Viel tiefer, vibrierender.
Erschrocken blicken wir nach oben und sehen doch nur das vertraute Blätterdach, das sich im Wind hin und her wiegt.
Das Grollen wird immer lauter und ist jetzt begleitet von einem lang gezogenen Fauchen, das sich weiter in den Vordergrund schiebt.
„Was zum Sternenabyss ist das nur?“, schreit Océane panisch und dreht sich einmal um ihre eigene Achse. Eventuell hofft sie, so die Quelle auszumachen.
Sie wird damit keinen Erfolg haben.
„Lasst uns an den Rand zum lichten Feld gehen. Von dort aus haben wir eine bessere Aussicht“, brülle ich, um das Getöse zu übertönen, und verschwende keinen Gedanken mehr daran, dass wir eigentlich aufgefordert worden sind, uns in einen Schutzraum zu begeben.
Für einen Moment bleibt Océane wie angewurzelt stehen, während Anais sich vor mir einen Weg durch das Dickicht bahnt.
„Nun komm schon“, rufe ich und winke sie zu mir. Gerade als ich zurückgehen will, um sie zu holen, hebt sie den Kopf und strafft die Schultern. Mit langen Schritten ihrer schlanken Beine kommt sie mir entgegengeeilt. Die Furcht ist ihr weiterhin deutlich anzusehen und sie greift umgehend nach meiner Hand, als sie mich erreicht.
Gemeinsam nehmen wir den Weg, den Anais vorgelaufen ist. Wir kämpfen uns durch tief hängende Äste von Bäumen und umrunden ausufernde Chamenow-Büsche mit ihren charakteristischen weißgelben üppigen Blüten, die in diesem kleinen Biotop besonders gut gedeihen. Ein paar der Blütenblätter verfangen sich überall auf mir, als wir rasch hindurcheilen und wenig Rücksicht auf alles nehmen.
Schwer atmend holen wir Anais endlich ein, die mit dem Rücken zu uns wie angewurzelt am Rand des lichten Feldes steht und nach oben in den blauen Himmel starrt, den mittlerweile einige dunkle Wolken zieren.
Durch den fehlenden Schutz der Natur ist das unheilvolle Grollen noch besser zu hören. Stumm zeigt Anais nach oben. Automatisch legen Océane und ich die Köpfe in den Nacken.
Der Himmel über dem Feld wird dunkler, als das Raumschiff durch die oberen Wolkenschichten bricht, die sich zwischenzeitlich aufgetürmt haben. Ein grellweißes Nachglühen zieht hinter ihm her, als es rasch sinkt. Schnell, viel zu schnell.
Das Grollen wächst zu einem Dröhnen an, so tief, dass mein Brustkorb zu vibrieren beginnt. Anais hält sich die Ohren zu, während sich Océane instinktiv duckt. Irgendwo schreit ein Tier.
Das Schiff gleitet schnell über uns hinweg, riesig wie ein wandernder Kontinent. Die Triebwerke röhren nicht wie bei alten Maschinen, es ist eher ein heulender Wind, der sich in das Kreischen von ionisierter Luft mischt.
Unsere Augen gleiten über das goldgelbe Weizenmeer, das nun nicht mehr sanft im Wind wiegt, sondern aufgepeitscht jeglichen Zusammenhalt zu verlieren scheint. Die Pflanzen werden niedergedrückt und entwurzeln teilweise. Wirbeln durch die Luft und werden wie an einem langen luftigen Schal der Urgewalt hinterhergezogen, der über sie hinwegfegt.
„Warum kommt keines unserer Schiffe und schießt es endlich ab?“, schreit Anais. Ihr ist deutlich die Verzweiflung in der Stimme anzuhören.
Ich will schon sagen, weil entweder niemand in der Nähe ist, der es damit aufnehmen kann oder bereits alle Verteidiger vernichtet sind. Doch das behalte ich lieber für mich. Ebenso das Klugscheißerische, dass der Angreifer viel zu dicht an Boavista Nova ist, um noch dort stationierte Abwehrwaffen zum Einsatz zu bringen. Damit würde die Stadt nur sich selbst gefährden. Falls es denn solche Waffen überhaupt gibt.
Jetzt streckt Océane den Arm aus und zeigt auf das Schiff, als ob sie die Vibrationen der Luft durchschneidet. „Da, es dreht ab. Es schwebt an BoNo vorbei.“
Ich erkenne, was sie meint. Es fliegt eindeutig eine Kurve und steigt dabei höher.
„Es flieht! Es versucht, vor unseren eintreffenden Streitkräften ins All zu entkommen“, jubele ich. Dabei frage ich mich sorgenvoll, was es so tief in der Atmosphäre zu suchen hat? Mir fällt kein Grund ein, was das für einen Vorteil bringt, aber ich bin auch kein Militärstratege und habe nicht vor, einer zu werden.
Gemeinsam treten Océane und ich vor und stellen uns neben Anais an den Rand des blühenden Weizenfeldes. Aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie sie nach der Hand unserer Freundin greift. Augenblicklich verringert sich das dumpfe Zittern, das von ihr bisher ausgeht.
Am Heck des gewaltigen Schiffes flammen in gleißendem Blau die Triebwerke auf und schieben den Titanen höher in den Himmel. Immer weiter weg von Boavista Nova und seinen Bewohnern.
Anais klatscht vor Begeisterung in die Hände und Océane bildet einen Trichter mit den ihrigen am Mund. Schreit dem fliehenden Schiff hinterher: „Verpisst euch ihr Spusis. Ihr habt hier nichts zu suchen. Auriverde ist unsere Welt!“
Jubelnd laufen wir in das lichte Meer und lassen die Spitzen der Ähren genussvoll über die Handflächen gleiten.
Nach etlichen Metern bleiben wir endlich außer Atem stehen.
Das hält die Mädels nicht davon ab, spontan miteinander zu tanzen. Ich klatsche lachend vor Freude einen Takt dazu, da bemerke ich in den Augenwinkeln eine Bewegung. Ruckartig drehe ich den Kopf hoch.
Das Schiff ist schon fast ins Weltall verschwunden, als sich etwas von ihm löst. Etwas Dunkles fällt in den prachtvollen blauen Himmel über der Metropole.
Ein letzter Gruß der Union.
Der Wind streicht warm über das Feld und lässt die goldgelben Halme sanft rauschen wie flüsternde Stimmen. Das Weizenmeer reicht mir fast bis zur Hüfte, endlos und flimmernd in der Sommerhitze. Ich spüre, wie der Boden unter meinen Füßen leicht vibriert, als ob er ahnt, was kommt. Vor uns liegt Boavista Nova. Weit entfernt und doch klar erkennbar. Glänzende, sich kühn in den Himmel empor windende Türme, Floater, die sich wie Libellen zwischen den Gebäuden bewegen. Sie wirkt irreal im Dunst, beinahe wie ein Trugbild. Océane steht jetzt rechts von mir und greift nach meiner Hand. Ihr feines Haar tanzt im Wind. Ihre grünen Augen verengen sich, starren auf denselben Punkt wie ich. Neben ihr Anais. Den Mund geöffnet vor Unverständnis und Unvermögen, etwas zu sagen.
Keiner von uns spricht. Wir warten. Und dann passiert es.
Ein gleißender Lichtpunkt reißt plötzlich den Himmel auf. Hell, unmenschlich hell. Für einen Sekundenbruchteil sieht es aus, als würde ein zweiter Stern direkt über der Stadt entstehen. Dann breitet sich das Licht aus, schneller als mein Verstand es erfassen kann, als hätte jemand das Universum selbst gesprengt.
Ich blinzele. Es ist zu grell. Und dann, wie aus dem Nichts, kommt der Donner. Kein normales Grollen. Es ist eine Wand aus Lärm, die über uns hinwegfegt, so tief und gewaltig, dass es mir den Brustkorb zusammenzieht. Der Boden bebt. Die Ähren biegen sich unter dem Druck. Océane schreit leise auf, Anais stolpert, und ich reiße instinktiv den Arm hoch, als könnte ich uns alle mit einer einzigen Geste schützen.
Dann sehe ich die Stadt.
Sie bricht auseinander. Türme knicken wie Halme im Sturm, Feuer schießt aus den Rissen der Erde, Trümmer steigen auf, glühend und rasend schnell. Eine Pilzwolke wächst in den Himmel. Erst schwarz, dann rötlich durchzogen, wie ein lebendiges, wütendes Wesen. Der Sternenabyss hat sich geöffnet. Alles, was die Stadt war, verschlingt sich selbst. Mir wird kalt. Eiskalt. Die Hitze des Tages ist verschwunden, als hätte die Explosion sie ausgelöscht. Ich starre auf das Chaos, unfähig zu atmen. Dort irgendwo … war meine Schwester. Waren Maman und Papa. Dort hinten, unter der glühenden Wolke.
Neben mir stößt Océane ein ersticktes Geräusch aus. Ihre Hand bedeckt ihren Mund, Tränen glänzen in ihren Augen. Anais steht ganz nah bei ihr, verzweifelt ihren Arm umklammernd.
„Sie haben es wirklich getan“, flüstert Océane. Ihre Stimme ist kaum hörbar, voller Schock und Schmerz.
Ich nicke. Unfähig zu sprechen.
Die feurige Walze, die alles verschlingende Walze des Abyss breitet sich rasend schnell aus – auch in unsere Richtung.
Ich blicke mit bleierner Traurigkeit zu Océane und Anais. Sie sehen dasselbe wie ich. Die gleiche Unabänderlichkeit. Das eigene Unvermögen, dem Inferno zu entkommen.
Stumm trete ich zu meinen Freundinnen. Lege erst einen Arm um die Schulter von Anais, dann um die von Océane. Die beiden küssen sich. Sanft und zugleich voller Verzweiflung. Dann küsse ich das Mädchen, das ich liebe. Ein letztes Mal berühren sich unsere Lippen. Ein letztes Mal fühle ich ihre zärtliche Wärme, schmecke die salzigen Tränen. Ein letztes Mal … verschlingt das sich unerbittlich ausbreitende Inferno alles in seinem Weg befindliche und macht dabei keinen Unterschied zwischen golden wiegenden Weizenfeldern, seit Jahrhunderten wachsenden Amberbäumen oder drei Freunden.
Drei Freunde, die an diesem Tag endlich wahrlich zueinander und die Liebe gefunden haben, nach der sie sich so lange gesehnt haben.
Die Sternengötter kennen kein Erbarmen und Menschen schon gar nicht.
ENDE