IVI (keine eigene Buchnummer)
400 Seiten, TB, 2012
Mythos Academy I
Aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch
ISBN 978-3-492-70249-2
Gwen Frost ist unglücklich. Damit fängt alles an.
Sie ist dem Anschein nach ein völlig normales Mädchen aus einfachen Verhältnissen, aber der Anschein trügt vollständig. Ein halbes Jahr nach dem Unfalltod ihrer Mutter, einer Polizei-Ermittlerin, für den sie sich die Schuld gibt, hat ihre Großmutter sie dazu bewogen, die Schule zu wechseln. Nun geht sie auf die so genannte Mythos Academy, und hier ist einfach rein gar nichts normal.
Das fängt mit den Schülerinnen und Schülern an, geht über die Lehrkräfte weiter bis hin zur Gestaltung des Schulcampus und zu den Themen, die dort gelehrt und behandelt werden.
Die Mythos Academy ist ein wenig wie das Hogwarts von Joanne K. Rowling. Hier werden nämlich die Nachfahren der Helden der Antike ausgebildet: Walküren mit übermenschlichen Kräften, Spartaner als Superkämpfer, Wikinger und andere Kinder, die allesamt auf einen jahrtausendelangen Abstammungspfad zurückblicken können und darüber hinaus noch diverse magische Begabungen haben, die allerdings meistens noch nicht vollständig erwacht sind und von den Lehrkräften entsprechend geschult werden. Hinzu kommt, dass sie aufgrund ihrer langen Familientradition einfach unfasslich reich sind, sodass die Mythos Academy wie ein Internat der Superreichen daherkommt.
Und dann ist da Gwen Frost mit ihrer Vorliebe für Schlabberpullover, Comics und der ständig wiederholt auftauchenden trübsinnigen Frage, warum um alles in der Welt sie nur hierher gehen sollte … aber ihre Grandma und auch die Rektorin, Professor Metis, waren der festen Überzeugung, sie gehöre hierher.
Gwen findet das gar nicht. Was ist sie schon? Ein Niemand. Okay, sie hat auch eine Begabung, das liegt gewissermaßen in ihrer Familie, alle „Gypsys“, wie sie genannt werden, hatten geringe übersinnliche Fähigkeiten. Ihre Mutter konnte Wahrheit erspüren, ihre Großmutter kann ein Stück weit in die Zukunft schauen und betätigt sich als Wahrsagerin. Aber Gwen empfindet ihre eigene Gabe eher als Fluch – sie ist in der Lage, Dinge zu finden, weil sie fähig ist, durch Berührungen Informationen aufzunehmen. Bei Gegenständen ist das eher unproblematisch. Aber bei Menschen? Unangenehm bis katastrophal.
So spürte sie etwa, dass eine Mitschülerin von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde, was sie so sehr zum Schreien brachte, bis sie ohnmächtig wurde … und als sie einen Jungen küsste, stellte sie höchst ernüchtert fest, dass er an ein anderes Mädchen dachte … da war natürlich sofort der Ofen aus! Seither hält sie sich nach Möglichkeit von Berührungen anderer Menschen fern und sondert sich ziemlich ab. Folglich gilt sie an der Schule einfach nur herablassend als „das Gypsymädchen“, die meisten Mitschülerinnen machen sich nicht mal die Mühe, ihren Namen zu merken.
Sehr aufbauend, gell? Genau, Mitgefühl ist programmiert.
Außerdem … mal ganz ehrlich, wer glaubt denn echt schon daran, dass es solche Dinge wie den Großen Magischen Krieg und die antiken Götter jemals gegeben hat? Ganz zu schweigen davon, dass die Schüler auf der Mythos Academy angeblich dazu ausgebildet werden, die Wiederkehr des Gottes Loki (!) zu verhindern und seine Anhänger, die Schnitter des Chaos, abzuwehren, die angeblich überall lauern und Loki befreien wollen.
Das klingt doch sehr, sehr abgehoben, findet Gwen. Sie hadert immer noch wegen des Verlustes ihrer Mutter, schleicht sich an den angeblich magischen Absperrungen des Academy-Geländes vorbei, um bei ihrer nahebei wohnenden Großmutter leckeres Zusatzessen zu bekommen. Und ansonsten hilft sie gegen einen Finderlohn Schülerinnen und Schülern, verlorene Gegenstände wieder zu finden. Schließlich ist sie nicht Kind superreicher Eltern, weswegen sie auch aushilfsweise in der Campusbibliothek unter dem strengen Bibliothekar Nickamedes arbeitet und sich immer weiter fragt, warum sie eigentlich hier sein muss.
Der ganze Campus ist übersät mit mythologischen Steinfiguren, die einfach überall herumstehen, auch in der Bibliothek gibt es zahllose Götterfiguren und Vitrinen mit allen möglichen Gegenständen, die angeblich ebenfalls magischer Natur sein sollen.
Doch wie gesagt … Gwen Frost hält von alledem nichts.
Das ändert sich dramatisch, als während ihres Bibliotheksdienstes auf einmal eine Mitschülerin bestialisch ermordet wird und ein gerade frisch ausgestelltes Artefakt – eine eher unauffällige Schale – spurlos verschwunden ist. Und Gwen ist so schnell zugegen, dass der Täter sie auch noch hinterrücks niederschlägt.
Bestürzt muss das Mädchen alsbald verstehen, dass Trauer und Verstörung unter den Mitschülern sich sehr in Grenzen halten. Alle denken unisono: Verdammt, da ist ein Schnitter irgendwie auf das Campusgelände gekommen, hat den Mord und den Diebstahl verübt und ist wieder verschwunden. Schlimmer noch: Ihr wird zunehmend deutlich, dass alle Schüler schon Freunde oder Familienangehörige an die Schnitter verloren haben und jederzeit damit rechnen, selbst erwischt zu werden.
Ermordet zu werden, zumal auf dem Campusgelände, gehört gewissermaßen mit zu den Risiken des Schulbesuches!
Das ist schon ziemlich schockierend, aber nur ein winziger Teil der Wahrheit.
Gwen Frost muss nämlich rasch entdecken, dass sowohl die Götter als auch deren Gegner höchst real sind … und so gerät sie sehr schnell in Lebensgefahr, als sie versucht, ganz die Tochter ihrer Mutter, der verstorbenen Polizeiermittlerin, den Hintergründen des Todesfalls nachzuspüren …
Ich kannte Jennifer Estep bereits von ihrer früheren Romanserie „Bigtime“ (die allerdings in Deutschland erst mit 10 Jahren Verspätung erscheint, lange nach der sechsteiligen, später geschriebenen „Mythos Academy“-Serie. Das ist deswegen ein bisschen schade, weil Gwen Frost Superheldencomics liest, und ein Poster in ihrem Zimmer gehört zu einer der Superheldinnen aus „Bigtime“. Wer also die Bücher in Deutschland in der Erscheinungsreihenfolge liest, anders als ich, sieht dieses kleine neckische Gimmick gar nicht. Ich musste schmunzeln.
Ein bisschen ist die Außenseiter-Schülerin Gwen Frost wie eine Raupe, die sich im Verlauf des Romans zu einem wirklich hübschen Schmetterling mausert. Die verschiedenen Ausprägungen ihrer Gabe erinnerten mich zudem sehr an eine Figur aus meinem Oki Stanwer Mythos (OSM), nämlich den Techno Torkeron, dessen Fähigkeit es ebenfalls ist, verschollene Gegenstände aufzufinden. Aber seine Gabe funktioniert völlig anders als die von Gwen Frost, die sehr viel pragmatischer ausgerichtet ist.
Die Schilderung der Akademie – selbst das ist ein antiker Name, der auf das antike Athen zurückgeht, wenn man mal ein wenig von der Historie Kenntnis hat – ist natürlich essentiell für die ganze Buchreihe, und so plastisch sie den Campus schildert und das Personal wie die Schüler gewissermaßen in Stellung bringt, erinnert das durchaus sehr an den ersten Band der „Harry Potter“-Serie, an den alles ohnehin ziemlich erinnert. Sehr viel wortreicher als J. K. Rowling baut Estep die Handlungsszenerie aus und bereitet so den Boden für die folgenden Bände.
Ich bin jedenfalls mit der Hauptperson schnell warm geworden und neugierig, wie sich die Geschichte weiter entwickelt … nicht zuletzt wegen dieses unverschämt gut aussehenden Spartaners Logan Quinn, dessen Hauptfähigkeit darin besteht, alles, was er in die Hand bekommt, als Waffe zum Töten verwenden zu können. Er ist halt, wie alle Spartaner, eine veritable Killermaschine, aber leider für Gwen auch einfach supersexy.
Ja, da knistert es schon, und nicht zu wenig. Wer allerdings dann auf den titelgebenden Kuss wartet, der wartet vergebens. Gwen Frost küsst ihn nicht, auch wenn sie manchmal kurz davor ist. Blendet einfach den unpassenden Titel des Bandes aus, ist besser so. Der Rest des Romans ist sehr viel lesenswerter, versprochen.
Klare Leseempfehlung!
© 2022 by Uwe Lammers
Braunschweig, den 6. Oktober 2022