Das fantastische Fanzine

Eine Sache der Beständigkeit

Phantastik-Story von Uwe Lammers

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Der alte Landrover wühlte sich auf- und nieder zuckend wie ein unheimliches Urtier auf der wilden Jagd durch die Niederungen des sumpfigen Waldweges, und irrlichternde Lichtreflexe, die durch das schüttere Dach des Dschungels drangen, huschten über das teilweise staubige, teils auch rostige Metall.
Die beiden Insassen des Fahrzeugs wurden beständig hin und hergeschleudert. Diese Fahrt durch den Urwald erwies sich zusehends als nicht weniger anstrengend als ein Ritt auf einem störrischen Gaul, stellte der Fahrer fest. Bei ihm handelte es sich um einen abgezehrten, stoppelbärtigen Mann Ende Dreißig. Dass er schon ein wenig älter aussah, kümmerte ihn wenig. Das lag an den Lebensumständen, die ihn sichtbar gezeichnet hatten.
Mark Fatum war von seiner Ausbildung her eigentlich ein Ingenieur, den es aus Alabama hierher verschlagen hatte. Auf der Suche nach Schätzen war er vor fast zehn Jahren hier geblieben und hatte seine Geldreserven aufgezehrt. Und schließlich richtete er es sich hier in Yucatan leidlich ein, nicht glücklich, aber wenigstens besaß er das, was er zum Leben brauchte. Für den Moment wenigstens. Der große Vorteil dieser Weltregion bestand darin, dass man mit minimalen Finanzreserven vergleichsweise gut über die Runden kam – vorausgesetzt, man besaß ein gewisses handwerkliches Geschick, das hier gefragt war.
Fatum setzte also einen gebrauchten Landrover instand und fuhr seither durch die Gegend, um Reparaturen vorzunehmen. Da er mit aus der Landwirtschaft gekommen war, kannte er sich mit jeder Menge großer Maschinen aus, sowohl mit Benzinpumpen als auch mit Traktoren, Gabelstaplern, Zugmaschinen, Autos und Generatoren. Und es gab wirklich IMMER Bedarf! Auch wenn die Entlohnung zumeist in Naturalien, anfallenden Ersatzteilen und gelegentlich Antiquitäten bestand, die die Einheimischen aus im Urwald verstreuten, nie entdeckten Maya-Stätten holten und die er für sie dann an Zwischenhändler verscheuerte. Dabei machte er natürlich auch seinen Schnitt, selbstverständlich.
Alles in allem konnte man bei solch einem Lebenswandel vielleicht nicht weit kommen, aber es bewahrheitete sich so die alte Lebensweisheit: Zum Leben zu wenig, zum Sterben zuviel. Er hatte keinen Schimmer, wo er das mal aufgeschnappt hatte, aber auf seine Situation traf das recht gut zu.
Nur manchmal wünschte er sich, er wäre nicht so gottverdammt hilfsbereit.
Dann nämlich hätte er diesen ausgesprochenen Scheiß-Auftrag gar nicht erst angenommen. Aber es war leider schon zu spät für einen Rückzieher.
»Was ist das noch mal für ein Scheißkaff, zu dem wir hier unterwegs sind, Pedro?«, schrie er jetzt über den Fahrlärm seinem Beifahrer zu. Dieser war ein Indio, der wenig mehr als eine ausgefranste, verschmutzte Jeans und ein schweißdurchtränktes Poloshirt trug, das an diversen Stellen nicht geflickte Risse hatte. Das öligschwarze Haar mit dem leichten Blauschimmer hing ihm in wirren Strängen über die Schultern und ins Gesicht, es bebte gleich einem lebendigen Organismus im Rhythmus des Wagens. Auf obskure Weise passte Pedro viel besser als Mark Fatum in diese gottverlassene Dschungelregion, fand er. Er stellte gewissermaßen eine Art Zwischenstufe der Zivilisation dar: Nicht mehr völlig der urwüchsige Indigene, aber auch noch nicht der vollkommen assimilierte Bewohner der Küstenstädte. Er schien zwischen den Welten hin und her zu pendeln und sich darum zu bemühen, das Beste aus beidem zu machen.
‚Irgendwie ganz so wie ich selbst auch’, überlegte der Ingenieur flüchtig.
»Chiracotl«, antwortete der Indio in seinem mühsamen, stockenden Englisch. »Die letzte Gemeinschaft, Sir. Sie sagten, es sei dringend. Sehr dringend. Lebensdringend.«
»Lebenswichtig, meinst du wohl!«, knurrte Fatum zornig. Die Auskunft half natürlich in ihrer diffusen Inhaltslosigkeit rein gar nicht weiter. Er sollte etwas reparieren, ja, das wusste er selbst. Aber was? Pedro schien das selbst nicht zu wissen.
Der Abenteurer fluchte, als ihm von einer Bodenwelle fast das Lenkrad aus den Händen geschlagen wurde. Nur mühsam bekam er wieder Gewalt über das Fahrzeug. »Teufel, nichts ist so wichtig, dass man mich so hetzen müsste!«
Pedro, der hier in den Orten als Dolmetscher fungierte, hatte heute früh auf einmal vor der Hütte in dem kleinen Dorf Santa Marta gestanden, in dem Mark Fatum wohnte, wenn er nicht über die mäßig ausgebauten Dschungelpisten unterwegs war zu den zahllosen verstreuten Farmen und Siedlungen, um Reparaturen auszuführen und das zu verdienen, was er seinen Lebensunterhalt nannte. An diesem Morgen hätte er lieber Neune gerade sein lassen. Aber Pedro bettelte regelrecht. Er hatte Fatum eindringlich gesagt, es sei sehr, sehr dringend, dass er in den Dschungel käme zu einem Ort namens Chiracotl, um dort etwas zu reparieren. Jetzt. Jetzt sofort! Sie dürften keine Zeit verlieren!
Ja, Betteln traf es recht gut.
Mark Fatum hatte auf einer Karte nachgesehen, aber der Ort war nicht eingezeichnet. Es schien ihn überhaupt nicht zu geben, in dem Bereich, auf den er deutete, existierten offenbar nicht mal Straßen!
Also gab es jeden Grund, dieser seltsamen Offerte zu misstrauen. Allerdings kannte er Pedro jetzt schon seit über zwei Jahren, weil er ihn hin und wieder als Dolmetscher einsetzte … und er wusste, dass Pedro niemand war, der ihn irgendwie in die Pfanne hauen wollte. Was sollte das auch für einen Sinn ergeben? Fatum wusste, dass bei ihm nichts zu holen war, er hieß schließlich nicht Rockefeller oder Bill Gates oder so … also war das vielleicht echt ein Notfall in einer unkartierten Hinterwäldlerenklave. Konnte er nicht ausschließen. Angeblich hatte ein Waldläufer die Nachricht an Pedro übermittelt und war dann gleich wieder zurück in den Urwald geeilt.
Auch das ergab durchaus Sinn. Wenn man schon mit einem motorisierten Fahrzeug kaum durchkam, würde ein Läufer Stunden mehr an Zeit benötigen. Der Kerl hatte jetzt also schon ziemlichen Vorsprung, aber der Abenteurer beneidete den armen Hund nicht um die Schinderei, in seine Heimat zurückzulaufen. ‚Hätte ums Verrecken keinen Fußmarsch in diese gottverlassene Einöde auf mich genommen’, dachte er finster und prügelte den Wagen weiter durch die düstere Dschungelwildnis, während er weiter dem kaum erkennbaren Pfad folgte.
Er dachte an all die verrückten Geschichten über Jaguare und andere Raubtiere des Dschungels, die es hier und da noch geben mochte. Selbst in Kanada kam es vor, dass Leute, die an Bushaltestellen nahe an den Wäldern warteten, von Raubtieren angefallen wurden … hier im urwüchsigen Dämmer der Wildnis Yucatans ließ sich das noch sehr viel besser vorstellen. Hier waren die Mythen und Legenden der Maya noch sehr präsent, und der Urwald versteckte womöglich noch ganz andere Geheimnisse als nur versunkene Metropolen und jadereiche Gräber der Vorfahren.
Die heutigen Maya dachten jedenfalls so. Und diejenigen, die sich Respekt vor der Natur bewahrt hatten, blieben lieber in ihren erschlossenen Gebieten und mieden den tiefen Wald … Tja, daran konnte er sich jedenfalls nicht halten, nicht heute.
Pedro hatte sich als Führer angeboten, ihn in die von Problemen geplagte Siedlung zu bringen. Er leitete nun Fatums Fahrzeug schon seit Stunden durch den irrwitzig dichten und verfilzten Dschungel. Teilweise waren die Wege kaum mehr als größere Wildwechsel, und manches Mal war ihm schon der Gedanke gekommen, Pedro habe ihn in die Irre geführt.
Auf faszinierende Weise fand er dennoch immer die Fortsetzung dieses teilweise ziemlich zugewucherten Pfades. Er zeigte überdeutlich an, dass diese Ortschaft wirklich äußerst abgelegen sein musste. Vielleicht war sie deshalb nicht auf den Karten zu finden. Das war in dieser Weltgegend nur halb so überraschend, wie es vielleicht klang. Denn selbst in der heutigen Zeit bei all den GPS-, Satelliten- und LIDAR-Techniken, die die moderne Wissenschaft zur Verfügung hatte, wurden immer noch versunkene Maya-Stätten gefunden, die von der Zeit vergessen worden waren. Und dabei fahndeten Archäologen weiß Gott seit fast 200 Jahren danach.
Der Urwald machte es ihnen allen nicht einfach. Den alten Maya nicht und den neuen ebenso wenig.
Die Frage nach den Bewohnern des Dorfes hatte Pedro nur ausweichend und mit spürbarem Unbehagen beantwortet. Sie sprächen noch das klassische Nahuatl, hatte er gesagt. Es handele sich bei diesen Leuten um einen kleinen Splitterstamm der Azteken, die 1521 von Hernando Cortez geschlagen worden seien. Und sie hätten »ihre Eigenarten bewahrt«.
Was immer das nun genau heißen mochte.
Der brüllende Motor des Wagens vertrieb die Vögel und anderen Tiere dieser dichten Pflanzenwelt. Kolibris blitzten in den Lichtstrahlen wie Metallstücke, winzigklein wie Insekten und abgesehen von der schillernden Farbe genauso unscheinbar und unfassbar flink. Deutlich behäbigere und im Vergleich dazu geradewegs riesenhaft dimensionierte Papageien zeterten, und Affen kreischten irgendwo in den grünen Wänden der Bäume. Das wilde Leben des Urwalds eben … er kannte das alles wirklich zur Genüge.
Fatum kümmerte sich darum nicht. Er trieb den Landrover vorwärts.
Und auf einmal, fast von einem Moment zum nächsten, hörte der Dschungel schlagartig auf. Eine weite Lichtung öffnete sich unvermittelt vor dem Fahrzeug, und die unebene Straße, dieser bessere Maultierpfad, führte geradewegs durch die Mitte eines eher bescheiden dimensionierten Dorfes aus kleinen Holzhütten. Sie waren ringförmig um einen zentralen Platz angelegt, und Maisfelder lagen in asymmetrischen Formen über die Lichtung verstreut.
Der einstige Abenteurer betrachtete die Siedlung. Chiracotl, die letzte Gemeinschaft, war in der Tat nicht sonderlich groß und schon gar nicht beeindruckend. Er schätzte die Zahl der Hütten auf vielleicht dreißig. Die Kopfzahl konnte kaum hundertzwanzig übersteigen.
Aber was war das da am anderen Ende der Lichtung, direkt am hinteren Rand der kleinen Ortschaft …?
Unwillkürlich würgte er den Motor ab und ließ den Wagen stehen. Er stand im Sitz auf und stierte über die Windschutzscheibe hinweg. »Jesses!«, flüsterte er fast automatisch. Ihm rutschte der schlabbrige Hut in den Nacken, und hätte er nicht das Band gehabt, das er um das Kinn lässig geschwungen hatte, dann wäre der Hut auf den Boden des Wagens gefallen.

Am anderen Ende der Lichtung befanden sich zwei Erhebungen. Die eine war eine runde Anhöhe, zweifellos künstlich aufgeschüttet und von jedwedem höheren Pflanzenbewuchs wohl regelmäßig befreit. Darauf befand sich eine Art steinerner Scheibe. Näheres war von hier aus nicht zu erkennen.
Deutlicher war zu sehen, was auf der zweiten Erhebung vonstatten ging. Es handelte sich um eine steinerne Pyramide, in erster Linie gefügt aus groben Feldsteinen, aber auch mit Standbildern, die Jaguare, Falken und Schlangen darstellten und dergleichen. In fünf Stufen erhob sich die Pyramide, auf jeder Seite befand sich ein Treppenaufgang, flankiert von den aus rötlichem Stein gehauenen Figuren.
Und oben auf der Plattform stand eine Reihe farbenprächtig geschmückter Männer, von denen einer gerade ein funkelndes Messer in die Höhe hielt und niedersausen ließ.
Das musste einfach ein Albtraum sein!
Das hier, das war eine aztekische Pyramide. Und dort vorne wurde eine rituelle Opferung vollführt!
Er erinnerte sich unvermeidlich an das, was er vor Jahren, als er auf der Suche nach aztekischem Gold hierher gekommen war, über die Geschichte dieser Region gelesen hatte. Die Azteken hatten häufig solche Menschenopfer dargebracht, um ihre vielfältigen Götter zu besänftigen, das war auch von Archäologen empirisch nachgewiesen. Opfer waren in der Zeit, in der Cortez in Tenochtitlan ankam, dem heutigen Mexiko-City, gang und gäbe gewesen, um die hungrigen Götter zu besänftigen. Gegen Ankunft des Cortez waren diese Blutopfer schon ins Unglaubliche angewachsen. Aber das war vor über 450 Jahren gewesen!
Die letzte Gemeinschaft!, pochte ein Gedanke nachdringlich in seinem Kopf. Die letzte Gemeinschaft der Azteken?
Und das hier in Yucatan? Das klang einigermaßen absurd, auch wenn es gewisse abseitige Forschungsideen gab, dass gewisse Kultstrukturen zwischen den Maya und Azteken durchaus ähnlich waren. Von der alten Vorstellung, die Maya seien höchst friedfertige »Griechen Amerikas«, wie sie der Archäologe Thompson noch Mitte des 20. Jahrhunderts gehegt hatte, war nach der weitgehenden Entschlüsselung der Maya-Hieroglyphen nicht mehr viel geblieben. Inzwischen wusste man recht gut, dass die Maya-Herrscher sehr kriegerisch veranlagt gewesen waren und dass es solche Dinge wie Blutopfer, die denen der Azteken gleichkamen, auch hier sehr wohl gegeben hatte.
Zwar waren Forscher der Ansicht, dass Sitten und Gebräuche teilweise bis in die jüngste Vergangenheit überlebt haben könnten, insbesondere in sehr entlegenen Regionen … aber so etwas wie Chiracotl würde ohne Zweifel allgemein als undenkbar abgelehnt.
Mark Fatum wollte den Motor wieder anwerfen, durch die Siedlung fahren und dieses unmenschliche Opfer verhindern. Er hatte einen 38er dabei, und das würde wirklich reichen, sie zur Besinnung zu bringen, wenn sie wirklich so rückständig sein sollten …
Aber Pedro, der seine Absicht zu erahnen schien, hielt überraschend seinen Arm fest, ehe Fatum seinen Entschluss umsetzen konnte. »Nicht, Señor! Nicht!«
Er hatte guten Grund dazu.
Denn auf einmal waren die Krieger da! Wie aus dem Boden gewachsen standen sie unvermittelt direkt neben dem Landrover, auf beiden Seiten. Männer mit Lendenschurz, der ihnen bis zu den Knien reichte, aber farbenprächtig bestickt war, mit Symbolen aus der Tierwelt. Die Gesichter waren mit roten und braunen, grünen und dunkelblauen Stoffen, die aus Pflanzen und dem Boden gewonnen waren, musterartig bemalt worden. Alle hatten lackschwarze Haare wie Pedro, aber dem standen schier die Haare zu Berge.
Sie sahen aus, als seien sie geradewegs einem archaischen Historienfilm entsprungen, und ihre humorlosen Gesichter waren tödlich ernst. Die Speere, die sie auf die beiden Neuankömmlinge gerichtet hatten, zitterten nicht einen Moment lang.
»Nicht wehren, Señor! Nicht wehren! Bitte!«, bat der Dolmetscher.
»Was wollen die von mir?«, flüsterte der Abenteurer in seiner Lederjacke undefinierbarer Ursprungsfarbe. Er merkte deutlich, dass ihm der Schweiß am Körper herabrann. Und der kam nicht nur von der sengenden Hitze auf dieser Lichtung …
Der scheinbare Anführer der Azteken-Krieger sprach schnell in Nahuatl auf Pedro ein.
Der antwortete im gleichen Dialekt, wenn auch deutlich langsamer und bemühter – auch für Pedro schien diese Sprache nicht eben geläufig zu sein. Ein Zeichen dafür, dass diese Leute offenbar in jederlei Hinsicht zurückgeblieben sein mussten.
Tja, auch »zurückgebliebene« Speere waren bestimmt tödlich. Also … besser ruhig Blut bewahren. Das Beste hoffen.
Die Miene des Krieger-Anführers schien sich etwas zu entspannen. Dann prasselte der nächste Nahuatl-Wortschwall auf den indigenen Übersetzer ein, unterstrichen von lebhaften Gesten in Richtung des zweiten Hügels am Ende der kleinen Siedlung.
Gleich darauf wandte sich Pedro schweißüberströmten Antlitzes an den Ingenieur. »Señor, Sie sollen sich beeilen, zum Kalender zu kommen! Er … er ist wieder stehengeblieben …«
»Kalender?«, echote er ratlos. Was für ein Scheiß war das denn jetzt?

»Ja, Señor. Der Kalender! DER Kalender! Er … er lässt die Welt laufen, Señor. Wenn der Kalender lange stehen bleibt, dann hört die Welt auf zu sein …« Pedros Gesicht wurde nun erfüllt von tiefer Furcht, die eindeutig religiöse Grundlagen besaß. Dass die Situation klarer wurde, konnte man indes nicht behaupten.
Die Azteken-Krieger zwangen Fatum, auszusteigen. Er nahm von der Ladefläche aus der sorgsam verschlossenen hölzernen Truhe, die er selbst in mühsamer Handarbeit eingebaut hatte, seine Werkzeugtasche, während Pedro und der leitende Krieger immer wieder Worte wechselten.
Teufel noch mal, glaubte dieser dämliche Häuptling etwa, er würde – was auch immer – mit den bloßen Händen reparieren? Also bitte! Das war doch absurd! Pedro schien ihm das deutlich machen zu können, und so konnte Mark Fatum die lederne, abgewetzte Werkzeugtasche mit dem langen Schulterriemen herausholen. Dafür ließ er die Lederjacke hier und schob sich den Hut wieder auf das sonnengebleichte Haar. Es war so scheißschwül hier auf der Lichtung, da war die Lederjacke echt das Allerletzte, was er brauchen würde. Beim Arbeiten war sie ohnehin nur im Weg.
So wurden sie beide als von den Kriegern vom Wagen weg gelotst und hinüber zur kleinen Ortschaft. Mark Fatum war sich der Tatsache bewusst, dass vor ihm eine Aufgabe lag, die er beim besten Willen nicht einschätzen konnte. Er hoffte doch sehr, dieser verrückten Geschichte mit den Werkzeugen gewachsen zu sein, die in der Tasche während des Marsches vernehmlich klirrten und rumpelten.
»Pedro!«, zischte der Amerikaner seinem Dolmetscher auf dem Weg durch das ausgestorben wirkende Dorf zu, in dem die türlosen Eingangsöffnungen wie gierige Mäuler klafften. »Ich KANN keinen gottverdammten Kalender reparieren! Kannst du denen das irgendwie beibringen?«
Der Indio sah eindeutig verängstigt zu Mark Fatum auf und flüsterte: »Señor, wenn Sie den Kalender nicht wieder bewegen, werden Sie dieses Dorf nicht mehr lebend verlassen … der Kalender braucht Opfer …«
Ein Schrei klang von der Pyramide zu ihnen herüber. Dann wurde ein unmelodischer, guttural klingender Choral angestimmt, der durch eigenwillige Melodien auffiel und auffallend zu der Begleitung der Flöteninstrumente kontrastierte, die bemerkenswerte, durch Mark und Bein gehende, hohe Töne erreichten. Er konnte sich nicht entsinnen, solch eine Musik jemals schon gehört zu haben. Sie klang irgendwie … wie nicht ganz von dieser Welt.
Verdammt, in dieser verrückten Kulisse wurde man noch ganz wunderlich!
»Wer war das denn?«
»Der letzte Oberpriester«, flüsterte Pedro kaum hörbar.
Fatum lief es kalt den Rücken herunter. Er hatte weiß Gott nicht vor, hier sein Leben zu beenden. Schaudernd sah er die Eskorte der Azteken-Soldaten an. Ihre Mienen waren wie aus Stein gehauen, sie sahen so gar nicht aus, als verstünden sie in irgendeiner Weise Spaß. Das waren ganz offensichtlich religiöse Fanatiker, die über Leichen gingen. Sie hatten ohne Zweifel ein fest gefügtes, rein religiös erklärtes Weltbild, ohne das ihre Ordnung keinen Bestand haben konnte. Oder wenigstens bildeten sich diese indigenen Trottel das ein (aber da sie nun mal in der Überzahl waren und über nicht wenige Waffen in Form martialischer Speere und bedrohlicher Keulen verfügten, wäre es höchst lebensgefährlich, diese irrationale Einstellung zu unterschätzen). Und ihrer Ansicht nach schien offenkundig eben dieser Bestand der Lebenswelt bedroht und deren Grundlage war vermeintlich dabei, ihren Dienst aufzukündigen. Mark Fatum fand das mehr als nur bedrohlich. Er wusste aus den Staaten nur zu gut, wozu religiös motivierte Fanatiker imstande waren, da musste man wirklich nur an diese verrückten Abtreibungsgegner denken, die Leben schützen wollten und dafür bereitwillig Abtreibungsärzte über den Haufen schossen und das völlig in Ordnung fanden. Warum sollte das hier anders laufen? Die Überzeugungen mochten verrückt sein, die diese Kerle für real hielten. Aber sie hebelten Rationalität und Logik kurzerhand einfach aus. Mit der Konsequenz, dass das hier schlimmer war als tiefstes Mittelalter. Hierbei handelte es sich recht eigentlich um Steinzeit mit einem Touch von Kultur! Die Waffen passten auf jeden Fall genau dazu. Als Mark Fatum einen Seitenblick riskierte, identifizierte er das Material, das in die Spitzen der klobigen Kampfkeulen eingearbeitet worden war, als Obsidian, vulkanisches, sehr hartes Glas, das scharfkantig behauen worden war – er kannte solche Dinger (ohne die Keulen dazu) aus Museen und wusste, dass die Klingen rasiermesserscharf waren. Die trennten ihm mühelos den Arm vom Körper, wenn er falsch zuckte.
Nicht zu unterschätzen, einwandfrei!
Also besser erst mal nachgeben und schauen, was für Verrücktheiten diese Wahnsinnigen von ihm erwarteten.
Sie näherten sich zügigen Schrittes ihrem Ziel. Dabei schienen die spärlich bekleideten Krieger die drückende Hitze kaum zu registrieren, ganz anders als Pedro und Mark. Es ging aber auch kaum ein Wind, der etwas Erleichterung verschaffte. Und Schatten gab es weit und breit auch keinen.
Um den Hügel mit dem Kalender dehnten sich nun, da sie die schlichten Hütten des Dorfes hinter sich ließen, unerwartet weite Flächen aus, über die sich niedriges Gewächs rankte. Zwischen den Ranken saßen bis zu knapp handtellergroße, undomestizierte Tomaten, die zum Teil blutrot schillerten. Es mochte sein, dass sie eine besondere religiöse Bedeutung hatten für dieses Volk, er wusste es nicht.
Das war Mark Fatum auch völlig egal. Eigentlich bereute er längst, sich auf Pedros Flehen eingelassen zu haben und wollte hier nur noch so schnell als möglich wieder weg. In der Gemeinschaft dieser Irren würde er nicht mal die Gastfreundschaft genießen können, wenn diese Kerle so etwas überhaupt kannten. Teufel, genau genommen verfluchte er seinen Scout im Stillen heiß und innig. Wie hatte ihn Pedro nur in dieses irre Abenteuer reinreiten können? Das war zweifellos der letzte Gefallen, den er ihm tat, das nahm sich Fatum fest vor.
Wenn er das hier überlebte, hieß das.
Wenn es ihm nämlich nicht gelingen sollte, dieses verfluchte Ding in Gang zu setzen, was immer es sein mochte, dann würde er wahrscheinlich sein Leben hier verlieren, vermutlich auf dem Opferaltar. Egal, ob es stimmte, dass die Welt aufhörte zu existieren, wenn dieser idiotische Kalender stoppte, oder nicht.
Das war doch alles archaischer, heidnischer Wahnsinn!
Er wünschte sich sehr, das sei nur ein lebhafter Traum … leider sprachen alle Indizien strikt dagegen.
Also … erst mal gute Miene zum bösen Spiel machen und schauen, was überhaupt die Aufgabe war. Anders ging es hier gar nicht voran.
Zum Kalender führten zehn Stufen hinauf. Mark merkte mit seltsam intensiver Aufmerksamkeit, dass diese Stufen kunstvoll aus einem Felsen geschlagen worden waren. Auf eine Art, die so gar nicht zu den anderen, eher schlichten Bauten auf der Lichtung passte. Der Granitblock, auf dem der Kalender ruhte, war von allen Seiten bis auf die Kuppe – und die Treppe – mit Feldsteinen beschichtet worden, und offensichtlich wurde hier häufig gejätet, jedenfalls gab es nur ein sehr trockenes Minimum an gewachsenem Wildkraut.
Die Azteken hatten vieles von den Maya übernommen, das war allgemein bekannt, denn die Maya, ein im Vergleich zu ihren nördlichen Nachbarn relativ gemäßigtes Kulturvolk Yucatans, hatte auch diverse Konflikte mit den Azteken ausgetragen und war dabei häufig in der unterlegenen Position gewesen. Durch die großen Distanzen zur Hauptstadt Tenochtitlan, dem heutigen Mexiko-City, kam es aber nie zu einer völligen Beherrschung der Maya durch das Aztekenreich. Stattdessen war die Kriegerkultur über kulturellen und auch religiösen Transfer von vielen Errungenschaften der Maya beeinflusst worden. Der Kalender stellte einen solchen Einfluss dar, wie es aussah.

Der Kalender, den Fatum nun vor sich sah, während seine Augen unweigerlich immer größer wurden, war eigentlich nicht einer, sondern er bestand aus zweien, die gewissermaßen wie ein Räderwerk ineinander griffen. Es handelte sich um eine große Scheibe aus Stein und eine kleinere. Die erste besaß etwa einen Durchmesser von drei Metern, die andere, die sich unmittelbar daran schmiegte, war kleiner und mochte rund zwei Meter messen. Beide besaßen an ihren Rändern exakt gleich große Zacken, die wie die Kränze von Zahnrädern ineinander griffen und sich so erkennbar sehr langsam bewegten. Der kleine Kalender bewegte auf diese Weise den größeren. Und er tat es sichtbar mit einem leisen Knirschen, das Mark Fatum durch Mark und Bein ging. Unter den beiden Kalenderrädern waren Einkerbungen auf dem glatt geschmirgelten Felsen zu erkennen. Die Eskorte blieb an der Treppe stehen und musterte Fatum, der nun seinerseits schwitzend die beiden Kalender betrachtete.
Eine seltsame Scheu und Beklommenheit erfasste ihn, und ein Kälteschauer durchrieselte den amerikanischen Ingenieur, während er so dastand und auf das archaische Relikt starrte, das »Kalender« genannt wurde und das auf irgendeine unergründliche Weise gestört sein sollte. Verdammt, für das Ding brauchte man vermutlich eher einen Steinmetz oder einen Uhrmacher, dachte er unbehaglich. Während er sich die Lage besah, wurde ihm immer mulmiger zumute.
Langsam ging der Amerikaner um den Kalender herum und untersuchte den Kalender weiter, soweit das von hier oben möglich war. Die Felsplatten, aus denen er gemacht war, schienen ebenfalls aus grauem, kaum verwittertem Granit zu bestehen. Das war, wie er wusste, eines der härtesten Gesteine, das es überhaupt auf der Erde gab. Und eines der beständigsten. Nicht umsonst hatten sich archaische Monumente wie etwa Stonehenge seit mehr als viertausend Jahren erhalten … okay, das war vermutlich eher Blaubasalt, also ein ganz anderes Gestein, aber abgesehen von der Bearbeitung schienen diese Felsen zumindest geomorphologisch ähnlich alt zu sein.
Er fragte sich, wie Granit hierher kam. Das Gestein kam hier traditionell gar nicht vor. Hatte man das über Hunderte von Kilometern aus Gebirgen hergeschleppt? Warum, in Dreiteufelsnamen? Er konnte sich das nicht mal ansatzweise vorstellen. Nichts hier ergab irgendeinen Sinn, weder historisch noch von den natürlichen Anlagen her.
‚Vermutlich würden mir diese Trottel hier erzählen, ihr Gott habe diesen Kalender exakt hierher gepflanzt, und deshalb hätten sie ihre rückständige Siedlung nirgendwo anders bauen dürfen als hier … Gott, das ist so eine verrückte, debile Rückprojektion, darüber darf man gar nicht näher nachdenken!’, sinnierte er, während er schwitzend langsam um den bizarren Kalender herumwanderte. Dabei war Mark Fatum sich immerzu bewusst, von etlichen scharfen Augen argwöhnisch beobachtet zu werden.
Das machte die Angelegenheit naturgemäß nicht einfacher.
Während Fatum den Kalender untersuchte, stellte er fest, dass nachhaltig an der Oberfläche Veränderungen vorgenommen worden waren. Weitgehend hatte man ihn so belassen, wie er wohl ursprünglich erschaffen worden war, aber nachträglich angebrachte Kreise und Linien überzogen zusammen mit kryptischen Symbolen Stellen, die eindeutig weggemeißelt worden waren. Das bedeutete offensichtlich, dass der Kalender ursprünglich gar nicht aztekisch gewesen war, sondern vermutlich mayanisch. Durch das Wegmeißeln der Symbole hatte man vermutlich versucht, den eigentlichen Ursprung zu kaschieren … auch nichts historisch Neues. Mark Fatum entsann sich, mal eine Dokumentation von NATIONAL GEOGRAPHIC zu Ägypten gesehen zu haben. Da war auch davon berichtet worden, dass Pharaonen aus Zeitersparnisgründen einfach Monumentalstatuen älterer Herrscher durch neue Inschriften »umgewidmet« hatten, um sie sich anzueignen.
Wahrlich, wenn die Azteken also glaubten, sie könnten den mayanischen Ursprung dadurch zum Verschwinden bringen, indem sie charakteristische Zeichen wegmeißelten … fürwahr, das war nichts Ungewöhnliches. Auch wenn jeder, der beide Kulturen kannte, natürlich sofort erkannte, dass der Kalender an sich mayanischen Ursprungs sein musste.
Das Erkennen der Symbole wurde indes dadurch zusätzlich erschwert, dass beide Kalender zu einem guten Teil von einer schwarzen, widerlich riechenden Kruste bedeckt war, die auch in die Zwischenräume der Zähne gelaufen und dort zweifellos erstarrt sein musste. Ganze Schwärme kleiner Fliegen summten ekelhaft über dieser schwarzen Kruste und flogen alarmiert auf, während er sich dieses … scheußliche Szenario näher anschaute, um zu ergründen, worin eigentlich das Problem lag, das er beheben sollte.
Der Abenteurer ließ die schwere Instrumententasche von der Schulter gleiten und holte einen Schraubenzieher heraus. Wenn er verstehen wollte, was hier los war, musste er erst mal mehr von diesem verfluchten Kalender sehen …
Als Fatum etwas von der schwarzen Kruste abkratzen wollte, riss einer der Aztekenkrieger ihn jählings energisch zurück und sprach gehetzt in seinem kehligen Nahuatl auf ihn ein. Das war natürlich völlig witzlos, genauso gut hätte er Kanton-Chinesisch sprechen können! Was zum Teufel sollte das denn?
Fatum starrte den Indio wütend an, und Pedro war glücklicherweise sofort an seiner Seite. »Er sagt, Sie dürfen das nicht, Señor…«, übersetzte der Dolmetscher ebenso hastig.
»Zum Teufel, was ist das für ein Zeug?!«, fluchte Fatum verdrossen. Das wurde ja immer unmöglicher! Sollte er nun helfen oder nicht? Sollte er den Kalender vielleicht mit seinen Blicken hypnotisieren und so »reparieren«? Das war doch eine dämliche, vollkommen realitätsfremde Einstellung. Das erinnerte an einen tumorkranken Patienten, den der Arzt nicht aufschneiden durfte, weil die Angehörigen meinten, er dürfe physisch nicht verletzt werden … da war ja wohl klar, was passieren würde: Der Kerl würde einfach krepieren, moderne Medizin hin oder her! Und anschließend brachten womöglich die wütenden Angehörigen den Arzt um, weil er nicht geholfen hatte!
Verdammte Scheiße, in so eine Situation wollte er um keinen Preis der Welt geraten, das war ja wohl klar!
Er insistierte mit finsterer Miene: »Pedro – so geht das nicht! Ich kann ja überhaupt keinen Mechanismus erkennen, wenn ich das Zeug nicht abkratzen darf! Sag dem Kerl das! Ich will wissen, was diese widerliche Soße ist und warum sie das nicht weggemacht haben!«
Dass die Dörfler für diese Verunreinigung die Verantwortung trugen, lag ja wohl auf der Hand. Eine natürliche Patina war das auf keinen Fall.
»Ich fragen, Señor.«
Pedro redete mit den Kriegern, deren breite, unbedeckte und dunkelbraun schimmernden Brustkörbe sich unter den heftigen, erregten Atemzügen hoben und senkten. Es war offenkundig, dass sie sich mindestens ebenso fürchteten wie Pedro. Vermutlich hatte hier jeder Angst um irgendetwas, vermutlich sogar jeder um dasselbe. Nämlich um sein Leben. Aber wohl aus verschiedenen Gründen.
»Ich … habe gefragt, Señor«, unterbrach Pedro seine Gedanken. »Das ist Blut, Señor. Das Blut der Schuldigen!«
»Blut?« Fatum starrte die widerlichen schwarzen Krusten an. Ja, jetzt, wenn er genauer hinsah, konnte er sich gut vorstellen, dass das Blut war. Das würde auch die Fliegen hinreichend erklären, für die das natürlich ein Festmahl darstellte. Also war alles noch viel schlimmer, als er befürchtet hatte: Diese Idioten richteten Menschen ihrer Gemeinschaft hin. Und um ihre bescheuerten Götter zu besänftigen, begossen sie den alten mayanischen Kalender, der ja in ihrer verqueren Sicht der Dinge ein Zeichen für die Göttlichkeit war und offensichtlich mit dem Erhalt ihrer blutrünstigen Welt verbunden wurde, mit diesem Blut. Und das verkrustete alles.
Dann musste das Ding natürlich stehen bleiben!
Diese Vollidioten hatten sich also mit voller Absicht selbst sabotiert! Und er sollte jetzt die Sache richten, durfte aber die Ursache der Störung nicht beseitigen! Na, wenn das mal nicht nach der bestmöglichen Quadratur des Kreises aussah!
So eine verfluchte Scheiße!
Er sah Pedro finster an und wählte seine Worte mit Bedacht, damit ihn weder der Dolmetscher missverstand noch die eigentliche Message bei der Übersetzung verloren ging. Sonst war ihr Leben womöglich keinen Pfifferling mehr wert!
»Pedro – sag diesen Kerlen, dass dieses … dieses Blut das eigentliche Problem ist. Ich muss das Zeug runterbekommen, um den Kalender wieder gescheit zum Laufen zu bringen! Sonst geht bald gar nichts mehr! Dieses Zeug sickert ein und blockiert den Mechanismus des Kalenders!«
Die Soldaten gestikulierten derweil wild und zeterten mit ihrer unheimlichen, kehligen Sprache herum. Sie schwangen Obsidianmesser und die Speere mit den Feuersteinklingen. Ganz offensichtlich waren sie nicht bereit, auf ihn zu hören. Und Geduld gehörte spürbar auch nicht zu ihren Stärken.
Vermutlich lag das an dieser erdrückenden Aura der Angst, die über dem ganzen Lichtungsrund lag. Vielleicht hatten sie deshalb beim raschen Marsch durch den Ort auch keine Frauen und Kinder gesehen … die mussten sich alle vor Furcht in den Hütten verstecken, möglicherweise voller Angst, sofort ergriffen und geopfert zu werden, wenn sie die Hauswände verließen.
Verdenken konnte ihnen Mark Fatum das wirklich nicht.
In diesem Klima der zunehmenden Hysterie schien Blutrausch alles andere als unrealistisch zu sein. Aber er wollte wirklich verdammt sein, wenn ER hier sein Blut zu vergießen hatte! Das sollte echt nicht das letzte Wort sein!
»Sag ihnen, verdammt noch mal, dass ich ihnen nicht helfen kann, wenn sie mir das nicht erlauben!«, fluchte der Ingenieur erbittert. »Verdammte Kaffern!«
»Ich … ich versuchen, Señor.«
Pedro, dessen Hemd schon völlig durchgeschwitzt war, redete noch, als der neue Hohepriester von der Opferpyramide mit dem Priesterstab herankam und die Stufen zum Kalender hinaufstieg. Er trug ein farbenprächtiges Federkleid, das in erster Linie aus Federn des Quetzalvogels bestand. Eine Federkrone erhob ihn zu einem schier göttlichen Wesen, einer Verkörperung der fliegenden Schlange, des Gottes Quetzalcoatl. Mit seinem prachtvollen Federmantel sah er beinahe aus wie ein Paradiesvogel. Aber das falkenartige und zerfurchte Gesicht zeigte überdeutlich, dass auch er von der Sorge um den Bestand der Welt nicht unberührt geblieben war.
Noch jemand, der Angst hatte.
Aber leider ebenso jemand, der Macht besaß, in dieser rückständigen Gemeinde sogar die Macht über Leben und Tod!
Mark Fatum fand das überhaupt nicht mehr komisch. Es fühlte sich an wie ein grässlicher Alptraum. Aber einer von der Sorte, aus der man nicht erwachen konnte.
In seinen Händen hielt er eine Obsidianschale mit einem fast schwarzen Saft, der, als die Sonnenstrahlen ihn berührten, rubinrot schillerte.
BLUT!
Menschenblut, um es genau zu sagen!
Fatum spürte, wie es ihm die Kehle zuschnürte. Er musste sie erst gründlich freiräuspern, bis er heiser sprechen konnte. Ihm war klar, dass das leicht lebensbedrohlich sein mochte – aber er musste diesen Irrsinn irgendwie aufhalten! »Pedro! Sag dem Priester … sag ihm, dass ich dieses verdammte Blut entfernen …«
Ein schauriges Knirschen ertönte hinter ihm. Das Geräusch ging ihm durch Mark und Bein. Die Kriegereskorte fiel sofort erschrocken auf die Knie und warf alle Waffen in den Staub. Allein der Priester, Mark Fatum und der blasse Dolmetscher Pedro standen als einzige noch aufrecht. Aber Pedro war deutlich anzusehen, dass er sich ernstlich überlegte, ob er sich nicht auch hinwerfen sollte.
So zivilisiert Pedro auch sein mochte – tief in seinem Herzen war und blieb er eben ein indigener Maya, und die alten Impulse der Ahnen steckten zweifellos noch tief in ihm. Darauf, dass er weiterhin rational in seinem Sinne agieren würde, konnte Fatum eindeutig nicht bauen. Das wäre gewesen, als baute man auf Treibsand. Nutzlos.
Der alte Priester sprach nun dumpfe, gutturale Laute, die fast klagend-beschwörenden Klang besaßen und weithin über die Hügelkuppe und den archaischen steinernen Kalender hallten.
»Was sagt er?«
»Er … er sagt, der Kalender zürnt … Quetzalcoatl zürnt … er giert nach dem Blut, der Götternahrung …« Auf Pedros Stirn, die blasser war als sonst, stand der Schweiß in dichten Perlen.
»Scheiße!«, flüsterte der Abenteurer ordinär. »Verfluchte Scheiße!« Ihm wurde deutlich, dass seine Felle wegschwammen.
Wenn diese verbohrten Idioten weitermachten, ihren Kalender mit eintrocknendem Blut zu verkleben, würde hier sehr bald gar nichts mehr funktionieren. Und wem man dann daran die Schuld geben würde, lag ja wohl auf der Hand, auch wenn das total ungerecht war.
Im Zweifelsfall waren immer die Außenseiter oder Ortsfremden schuld.
Pedro und er.
Na, das war aber das Allerletzte, was er fühlen wollte – wie dieser knorrige Federtyp ihm die Brust aufschlitzte, um sein ängstlich pochendes Herz bei klarem Verstand aus dem Leib zu schneiden!
Darum sagte er, hastiger und drängender als bisher: »Pedro! Du musst dem Kerl sagen, dass er das nicht darf! Dass dieses Blut den Kalender verklebt und er dann nicht mehr funktioniert …«
»Sind … sind Sie wirklich sicher, Señor … dass es … ich meine … dass es daran liegt?«, wollte der Dolmetscher wissen. Seine Augen waren unstet wie das Flackern einer Kerzenflamme im Wind. Seine Angst war spürbar, fast konnte Fatum sie riechen. Und er verstand sie so gut. Ging es ihm doch nicht anders als dem armen Pedro.
Der Kalender stand.
Die völlig verängstigten Wachen pressten ihre Köpfe an den Boden, und die braungebrannten, muskulösen Rücken der vorher noch so energisch und resolut auftretenden Männer zitterten voller Existenzfurcht.
Mark Fatum wünschte sich, er hätte jetzt einfach davonstürmen können … aber auf bizarre Weise fühlte er sich ganz und gar versteinert. Abgesehen von der Distanz zum Wagen, die er kaum lebend würde überbrücken können, wenn er flüchtete, empfand er auch eine gewisse Verantwortung für den schlotternden Pedro. Den konnte er doch nicht hier bei den ausgewachsenen Killern zurücklassen! Das war das sichere Todesurteil für den armen Burschen.
Ringsum erstarben die Geräusche, so schien es ihm. Es war wirklich, als würde die Welt den Atem anhalten.
‚Das ist völliger Blödsinn! Lass dich nur nicht verrückt machen! Du bist doch ein aufgeklärter, zivilisierter Mensch!’, hämmerte er sich ein.
Aber dieser Appell an seine Ratio blieb vergebens.
Zu stark wirkte der unmittelbare Eindruck des Geschehens. Es handelte sich um einen jener seltenen Momente, in denen die Beteiligten glauben konnten, alles, aber auch restlos alles sei jetzt möglich.
Sicherlich, vernunftorientierte, aufgeklärte Philosophie und Forschung hatten bewiesen, dass es sich bei solchen Momenten lediglich um Augenblicke handelte, deren besondere psychischen Nebeneffekte letzten Endes aus hormonellen Reaktionen resultierten … aber in diesen paar sich ewig dehnenden Sekunden wankte Mark Fatums Überzeugung genauso wie die aller anderen um ihn herum. Solche Erklärungen taugten nämlich nur dann etwas, wenn man nicht selbst einen solchen Moment erlebte.

Der Priester trat nun vor und hob feierlich den Obsidiankelch mit dem Menschenblut, stieß einen schrillen, hohen Singsang aus, der für Fatum vollkommen unverständlich war. Aufgrund der atemberaubenden Stille war er wie erstarrt, gerade so, als gehöre er nicht zum Bild dazu, das er hier sehe, als sei er ein neutraler Beobachter.
Und dann ergoss sich das Blut auf den Kalender, spritzte hoch, verlief sich langsam und zäh in den zum Teil schon verkrusteten Kanälen auf der Oberfläche, tropfte über den Rand und versickerte teilweise.
Der Priester opferte Menschenblut, wie es seine Vorgänger vermutlich schon unzählige Male getan hatten. Und das war ohne Frage der Grund, warum der steinerne Mechanismus alsbald keinen Mucks mehr von sich geben würde.
‚Du verdammter Idiot!’, fluchte Fatum vor sich hin.
Im nächsten Moment … knirschte der Kalender zu seiner völligen Verblüffung dann wieder, geradezu so, als sei er TATSÄCHLICH durch das Blutopfer zur Aktivität stimuliert worden. Was völlig albern, irrational und animistisch war.
Einerlei – es ließ sich nicht übersehen: Der Kalender drehte sich einen Ruck weiter. Und weiter. Aber er schien langsamer geworden zu sein.
Der Priester nebst seiner Eskorte zog sich wieder zurück, aber nicht, bevor er Fatum über den Dolmetscher Pedro, dessen Hemd schweißnass am Körper klebte, noch einmal ermahnt hatte, den Kalender wieder störungsfrei zum Laufen zu bringen. Er sagte Fatum auch genau, was er zu erwarten hatte, wenn er es nicht schaffte, und Pedro bebte vor Furcht, als er das stockend übersetzte. Es ließ, so verklausuliert es sich auch anhören mochte, doch an Eindeutigkeit wenig Interpretationsspielraum. »Wenn die Welt endet, da der Kalender das Maß der Erde aufgibt und sich dem Willen der Götter verweigert, weil wir Menschen nicht imstande und würdig genug waren, ihn zu verwalten, so wird der letzte menschliche Diener des Kalenders den Tod des Gottes Quetzalcoatl sterben. Als letzte Opfergabe wird zuvor jedoch dein Herz den Altar des höchsten Gottes schmücken! Darum versage nicht. Dir wird eine Frist von einer Stunde gestellt!«
Und er meinte das zweifellos tödlich ernst!
Als er gegangen war, ließ sich Mark Fatum stöhnend auf die Stufen sinken und vergrub seinen Kopf in den Händen. Als er ihn wieder daraus auftauchen ließ, sah er seinen Dolmetscher einigermaßen verbittert an und fluchte: »Pedro! Du hast mich in diesen Schlamassel reingeritten! Nun tue, verdammt noch mal, auch was, damit wir beide da wieder rauskommen! Wenn ich dieses Scheißblut nicht abkratzen kann, wird der Kalender nie wieder funktionieren! Das ist ja wohl klar!«
Der dunkelhäutige Eingeborene starrte ihn aus großen Augen an. Er sah aus, als hätte er schon jede Hoffnung aufgegeben. Und so verzagt klang dann auch seine Rede. »Señor … es ist nicht möglich. Sie werden uns beide umbringen, wenn wir den Kalender nicht wieder … funktionierend machen.«
Er deutete auf den Landrover, der am anderen Ende der Ortschaft stand. Dort waren Aztekenkrieger gerade damit beschäftigt, die Räder mit Baumstämmen zu verkeilen. Selbst gesetzt den Fall, dass sie sich den Weg freischießen konnten (das klang eher unwahrscheinlich), würden sie Wagen nicht schnell befreien können, um hier wegzukommen.
Keine Chance, sie saßen in der Falle.
Fatum fluchte.
Also gut, verfluchte Scheiße noch mal, dann musste er eben in den sauren Apfel beißen und sich an diese verrückte Aufgabe machen. Im Geiste verwünschte er Pedro ein ums andere Mal, wusste aber, dass das leider gar nichts änderte.
Hilflos machte er sich daran, den mit verkrustetem, eingetrocknetem Blut verschmierten steinernen Kalender zu untersuchen.
Es dauerte nicht einmal eine halbe Stunde, bis er erkannte, dass etwas mit dem Kalender grundsätzlich nicht stimmte. Nicht stimmen konnte! Obwohl er ihn von allen möglichen Seiten und von allen denkbaren Perspektiven betrachtete, die ihm zugänglich waren, blieb ihm eins vollkommen verschlossen, das Wichtigste überhaupt: Nämlich herauszufinden, wie er funktionierte.
Und das konnte jeder Mechaniker sofort sagen: Wenn man nicht mal wusste, wie eine Maschine, ganz gleich welche, aufgebaut war und »tickte«, dann würde jeder Reparaturversuch vermutlich mehr zerstören als in Ordnung bringen. Das A und O eines jeden Reparaturversuchs war stets das Grundverständnis der Funktionsweise eines zu reparierenden Gegenstandes.
Also, wie sah das hier aus?
Es schien gleichsam so zu sein, als wenn der bizarre, archaische Kalender im Grunde lediglich aus zwei großen massiven und tonnenschweren, verschiedenartig geformten, aber doch sehr ähnlich behauenen Steinblöcken bestand. Ihre Ränder waren sorgfältig regelmäßig gezahnt und ihre Ober- und Unterseiten abgeplattet. Die gezahnten Ränder hakten dabei ineinander und bewegten beide liegenden Steinräder allmählich knirschend weiter. Dabei bewegte sich der kleine »Kalender« offenbar zügiger als der andere. Das mochte an den unterschiedlichen Massen liegen, sicherlich gab es da auch historische oder ideologisch-religiöse Gründe für eine solche Anordnung.
Aber ein wie auch immer gearteter Mechanismus, der das ganze Ensemble antrieb, ließ sich nicht erkennen.
Soviel war allerdings auch klar: Nur ein oberflächlich auch erkennbarer und zugänglicher Mechanismus konnte durch das verkrustete Blut sabotiert werden. Eine Achse etwa, die die Felsblöcke bewegte. Das hätte natürlich auch das Rucken erklärt und Mark Fatum einen Anhaltspunkt gegeben, wie er vielleicht gegenüber diesen Irren hier argumentieren konnte, damit die ganze Anlage gesäubert wurde. Dann, so schätzte er, würde sie bestimmt wieder funktionieren, und sie beide wären aus dem Schneider.
Zu dumm war nur, dass er ums Verrecken keine Achse entdecken konnte!
Verzweifelt suchte Fatum sich davon zu überzeugen, dass es vielleicht eine Art Stange gab, die von hier oben unter die Erde reichte, beispielsweise in eine Grotte hinunter, in der ein unterirdischer Fluss strömte. Solche Flüsse waren in Guatemala nicht selten, sie strömten in der Regel durch Höhlenlabyrinthe, die die Kalksteinmassen Mittelamerikas wie einen Schweizer Käse durchlöcherten. Auch in Yucatan sollte es sie geben, das war aber nicht hundertprozentig erwiesen. Leider war nur wenig von den Geologiekenntnissen der Schule haften geblieben, als er hierher aufbrach. Jetzt fluchte er im Stillen darüber, damals nicht aufmerksamer gewesen zu sein.
Aber, verdammt noch mal, wie hätte er auf die Idee kommen können, dass ihm dieses Schulwissen mal irgendwann nützlich sein werde? Bei Maschinen kannte er sich bestens aus, konnte Waffen mit geschlossenen Augen auseinanderbauen und wieder zusammensetzen, Fahrzeugmotoren am Klang identifizieren und auch ohne Stethoskop an den Lauten eines unrund laufenden Motors erahnen, wo er seine Macken und Probleme hatte. Gar kein Thema, da war er ein Crack!
Aber warum hätte er sich Informationen über die Geomorphologie von Mittelamerika merken sollen? Also wirklich! Er war doch kein Höhlentaucher oder so, da war das vermutlich eher von Vorteil.
Er sinnierte weiter, während er auf der Kuppe des Hügels die bizarre Kalenderstruktur abschritt: Die Vegetationsdichte hier oben widersprach jeder unterirdischen Formation, die solche Grotten hätte enthalten können. Dass er so angetrieben wurde, kam ihm zunehmend unwahrscheinlich vor. Abgesehen davon hätte sich der Kalender dann nicht gleichmäßig gedreht, weil sich der Strömungsdurchfluss von Regen- zu Trockenzeiten veränderte. Für einen regelmäßigen Taktgeber, und mochte er auch aus Stein bestehen, brauchte man eine konstante Antriebsquelle.
Es gab noch einen zweiten Grund, der diese Theorie bezüglich der Antriebsenergie ad absurdum führte: Angenommen, ein unterirdischer Fluss würde eine – mutmaßlich auch steinerne – Vertikalantriebswelle mit Energie versorgen und antreiben, dann hätte die Gewalt des Flusses auf jeden Fall verhindert, dass sich Blut festkrustete bzw. Blut hätte nicht ausgereicht, diesen Mechanismus in irgendeiner Weise zu behindern.
‚Na ja, hängt davon ab, wie lange sie diesen blutrünstigen Hokuspokus schon betreiben’, dachte er finster. Vielleicht hatten sie damit jahrzehntelang, möglicherweise über Jahrhunderte hinweg gute Erfahrungen gemacht, ehe die ersten Probleme auftraten – also, soweit man das so nennen konnte, denn das setzte einen schrecklichen Blutzoll voraus und machte Fatum klar, dass er sich hier möglicherweise in einer regelrechten Killer-Community aufhielt, für die ein oder zwei Tote mehr oder weniger überhaupt kein Problem darstellten …
Gott, darüber konnte man gar nicht gescheit nachdenken! Er merkte schon, wie ihm trotz der Tropenhitze vor Entsetzen die Nackenhaare zu Berge standen.
Wie er es auch ansah und wie sehr er auch grübelte – die Antriebsweise dieses bizarren Kalenders erschloss sich ihm einfach nicht. Sie war völlig unmöglich.
Verrückterweise knirschte der Kalender immer noch, bewegte sich in winzigen, erratischen Bewegungen vorwärts, wobei er aber irgendwie immer langsamer zu werden schien.
‚Hat vielleicht wieder Durst, das verfluchte Monster’, ging es ihm grausend durch den Sinn. Hier kam man echt auf irre Ideen.
Leider halfen sie in keiner Weise weiter.
Dieser verfluchte Steinkalender LEBTE nicht! Er war nicht irgendwie »magisch beseelt«, »hungrig« oder »durstig« oder dergleichen … da konnten diese Vollidioten der rückständigen Dorfgemeinschaft tausendmal daran glauben! Das waren einfach nur zwei dämliche riesige Steinzahnräder, die gegeneinander knirschten. Raffiniert gemacht, zweifellos, aber eben einfach nur steinerne Maschinen, zum Teufel noch mal!
Als die Priester mit einer verstärkten Soldateneskorte zurückkehrten, fanden sie Fatum, der auf dem Boden vor dem bebenden und stockenden Kalender hockte und ihn wie hypnotisch fixierte. Er konnte und wollte einfach nicht glauben, dass ein solch simples Steinzeitgerät seinen logischen Intellekt bezwang.
»Gib dein Geheimnis preis! Komm schon, du Mistding!«, flüsterte er befehlend, aber der Stein weigerte sich und strafte ihn mit Nichtachtung. Dieses Schweigen war schlimmer als ein Hohlgelächter, weil es eine solche Erhabenheit ausdrückte, einen Triumph, der so selbstverständlich war, dass er jeden Unterlegenen rasend machen musste. Und doch wusste der Unterlegene, leider handelte es sich dabei um Mark Fatum, in diesem Moment, dass er völlig hilflos gegen diese Art des Triumphes war. Das erwies sich auf eine menschenverachtende Weise als grausam und entwürdigend.
Mark Fatum fühlte sich, als er von den Armen der Soldaten ergriffen wurde, einen Moment lang noch hilflos, dann aber riss er sich los in einer letzten, heroischen Geste des Widerstandes. Er zog seinen Revolver, und doch … bevor er ihn auch nur einmal betätigen konnte, schlug ein harter Speerschaft ihm die Waffe aus der Hand und ließ sie den Hügel hinunterpoltern und zwischen den Tomatenpflanzen liegen bleiben.
Dem Abenteurer wurden die Hände mit rauen Pflanzenfasern auf dem Rücken gebunden, dann wurde er von der Plattform getrieben, hinüber zu der Pyramide. Auch Pedro war auf ähnliche Weise gefesselt worden, aber in seinen Augen las Fatum nur noch grenzenlose Angst, und dahinter, versteckt wie in einer transparenten Schatulle, den indigenen Fatalismus, die Schicksalsergebenheit, das Wissen, dass dieses Schicksal, das sie jetzt erwartete, unausweichlich war. Aber er las keine Reue. Nichts davon, dass es ihm irgendwie leid tat, Mark Fatum in diese Sache hineingezogen zu haben.
Fast vermeinte der Abenteurer, eine Stimme zu hören.
»Das ist die Entscheidung der Götter!«
Das war einfach nur dummes Zeug.
Götter!
Pah!
Götter stellten lediglich heidnischen Humbug dar, es gab dergleichen nicht. Es gab für deren Existenz nicht den geringsten empirischen Beweis. Mark Fatum hatte nie an diese naiven Vorstellungen geglaubt, schon in der Sonntagsschule nicht. Die Abschaffung der Götter, das Argument aus dem Geschichtsunterricht fand er sehr viel einleuchtender, stellte die Voraussetzung für wesentliche Verbesserungen des Lebens in der zivilisierten Welt dar. Auf diese Weise wurden auf Angst gegründete hierarchische Strukturen ausgehebelt und durch rationales Wissen und Naturwissenschaften ersetzt.
Man sah ja hier recht deutlich, wohin der fortwährende Glaube an die Götter führte: bis in die Steinzeit und nicht weiter! Alle Kulturen, die an Götter glaubten und ihnen Opfer darbrachten, nicht zuletzt Blutopfer, sie alle waren relativ schnell zugrunde gegangen, wenn die Bevölkerung erst aufgeklärter wurde. Nein, seiner Ansicht nach war die Welt durch die Entmystifizierung der Gesellschaft ein besserer und fortschrittlicherer Ort geworden. Heutzutage setzte man nicht mehr auf animistischen Mumpitz, sondern auf moderne Medizin, wenn man krank wurde. Man schloss Reiseversicherungen ab, statt dass man sich Zauberamulette andrehen ließ, wenn man auf gefährliche Reisen ging.
Die Religionen, die heute noch existierten, waren deshalb in Fatums Augen wenig mehr als religiöse Hüllen, verkappte Institutionen zur Bereicherung an den armen Bürgern auf Kosten ihrer Leichtgläubigkeit. Deshalb war Fatum auch schon lange in keiner Konfession mehr. Irgendwann hatte ihm dieses scheinheilige Getue zum Hals rausgehangen. Er brach einfach aus allen Konventionen aus und hatte seine Karriereziele aufgrund seiner eigenen Kraft erreicht, ohne irgendwelche spirituellen Hilfsgeister. Gut, er war schließlich hier in Yucatan gelandet, und hier hatte der Weg dann nicht mehr weitergeführt … aber das war ja lediglich eine momentane Situation gewesen, redete sich Fatum ein, eine Station auf dem Weg. Es würden schon noch wieder bessere Tage kommen.
Na ja, bis zu dem Moment jedenfalls, da er mit diesen verfluchten Azteken aneinander geraten war, einfach nur, weil er auf Pedros Drängen und sein verzweifeltes Gesicht reinfiel. Er verfluchte sich in diesem Moment für seine notorische Gutmütigkeit und diesen dämlichen Impuls, Leute einfach nicht im Stich lassen zu können, die sich selbst nicht zu helfen wussten.
Und wohin hatte es ihn gebracht? Hierher!
Auf den Opferaltar eines heidnischen Aztekengottes … als wenn er eine verdammte Zeitreise ins 16. Jahrhundert gemacht hätte!
Na toll.
Nun sah es ganz so aus, als sei sein Schicksal besiegelt.
Die Gruppe mit den beiden gefesselten Gefangenen hatte nun die fünf Stufen aufweisende Pyramide erreicht, und sie stiegen die Stufen hinauf über die Nordtreppe zur Spitze. Hier oben stand, wie der schweißgebadete Mark Fatum jetzt erkannte, ein steinerner, uralt wirkender Doppelaltar.
Blitzartig schoss ihm der alte Zahlenkult der Maya durch den Kopf. So ein dämlicher Zufall, höchst unwillkommen: Der heilige Kalender, der auf der Zahl der 52 Jahre basierte, sowohl bei Azteken wie Maya. Fünf Plattformen, die 10 symbolisierend, ergaben 50. Plus zwei Altäre. 52. War das plausibel? War es Zufall?
Vielleicht, vielleicht auch nicht.
Als er von den hünenhaften, halb nackten Kriegern schmerzhaft rücklings auf den Altar geworfen wurde, da schrie er noch einmal auf.
»Ihr seid verdammte Idioten!«, brüllte der Abenteurer. »Ihr habt ja gar keine Ahnung, was ihr hier eigentlich macht! Ihr könnt mich doch nicht einfach so opfern! Denkt ihr, ihr lebt noch im Mittelalter, oder was? Glaubt ihr, das ändert irgendwas an euren Scheißproblemen?«
Niemand ringsum verstand seine wütenden Schreie. Und es reagierte auch keiner darauf.
Fatum versuchte sich ein letztes Mal zu wehren, aber ein halbes Dutzend sehr muskulöser Aztekenkrieger banden seine Beine und den Oberkörper höchst versiert auf dem Altar fest, so dass er sich kaum regen konnte. Ein schneller Seitenblick zeigte Mark Fatum, dass mit Pedro auf dem zweiten Altar genauso verfahren wurde, nur war der schon stoisch und wehrte sich nicht mehr.
Er hatte sich offenkundig in sein Schicksal ergeben. Das klassisch fatalistische Verhalten eines friedfertigen Maya, leider. Jetzt hätte ein wenig mehr Widerstandsgeist vielleicht irgendeinen Nutzen gehabt.
Nun entspann sich eine längere Diskussion unter den Federkleid tragenden Priestern. Sie besprachen einiges miteinander in ihrer unmöglichen Sprache, die mit den kehligen und gutturalen Lauten, den Trillern und Pfiffen dazwischen, kaum auszusprechen war. Dann zogen sie schließlich ihre Obsidiandolche und schlitzten Fatums Hemd auf und das von Pedro, bis die Brustkörbe ihrer Opfer freilagen.
Der Abenteurer merkte, wie sein Herz heftig und fast schmerzhaft zu pochen begann. Das Blut rauschte im Kopf, er konnte es direkt hören. Fast vermeinte er, das Pulsieren des ausgeschütteten Adrenalins seiner Drüsen wahrzunehmen, was natürlich Unsinn war. Die Umgebung stand vor ihm mit fast fotografischer Klarheit. Kleinste Details fielen ihm plötzlich auf, Winzigkeiten, die schon Banalitäten gleichkamen. Da waren etwa die Falten im Gesicht des Hohepriesters, die ihn an zerknittertes Pergament erinnerten. Er registrierte das bösartige Funkeln der Obsidiangegenstände im Sonnenlicht, die schwarz waren wie Rauchglas und von denen er wusste, dass sie vulkanischen Ursprungs waren. Sie erwiesen sich zum Teil als höchst kunstvoll zugehauen, ungeachtet ihres blutrünstigen Nutzungszwecks, und sie besaßen Ornamente, die gefiederte Schlangen, Fische und Waldtiere zeigten, darunter Affen und Kolibris. Auf dem Kunstmarkt waren diese Stücke ohne Frage ein Vermögen wert … aber in dieser Situation blieb dieser Gedanke völlig absurd und nutzlos.
Niemand würde diese Stücke jenseits des archaischen Dorfes je zu Gesicht bekommen, und so, wie es aussah, würde er selbst ebenfalls keine Chance mehr erhalten, davon zu berichten.
Weil er gleich tot war!
Diese verrückten heidnischen Barbaren!
Die hatten doch echt nicht mehr alle Tassen im Schrank!
Die Hände des Oberpriesters näherten sich ihm, und Fatum spürte, wie eine stark riechende Substanz auf seiner Brust verrieben wurde, die seine Nasenschleimhäute reizte. Seltsamerweise kicherte er dabei nicht. Er musste in diesem Moment völlig unvermittelt daran denken, dass er bei den Freudenmädchen von Santa Tierra jedenfalls immer gekichert hatte, wenn sie seine Brust massierten. Da hatte es ihn gekitzelt. Nicht so bei diesem alten Priester, dessen Gesicht steinern und ganz humorlos blieb, konzentriert und hart wie die Vulkanglasklinge, die er gleich in Fatums Körper zu versenken gedachte.
‚Die letzte Ölung’, schoss es Mark Fatum finster durch den Kopf. ‚Das ist die verdammte letzte Ölung! Der Scheißknabe weiß offenbar nicht, dass ich ein Atheist bin, sonst würde er das womöglich nicht tun.’
Aber vielleicht eben doch. Möglicherweise war das hier Sitte, dass man die Opfer an die Götter besonders behandelte, ganz gleich, aus welchem Volk sie kamen.
Sonst schmeckte dem verfluchten Kalender sein Blut vielleicht nicht, hm?
Als dieses Einreiben beendet war, wusch sich der Priester in einer mit gehämmertem Gold ausgekleideten Holzschale, die offenbar klares Wasser enthielt, seine Hände und trocknete sie an einem kostbar bestickten Tuch ab. Dann nahm er von einem anderen Priester ein unterarmlanges Messer entgegen, das fast schon einen Säbel darstellte. Es sah so aus, als bestünde es zur Hälfte aus einem Hartholzgriff, zur anderen Hälfte aus einer messerscharfen, an der Spitze nadeldünn geschliffenen Obsidianklinge.
Der Priester reckte sich und hob das Kultgerät gegen die Sonne, die nun just wie auf ein göttliches Zeichen hin durch die trüben Wolken brach, und er beschwor mit lauten, klagend klingenden Worten und Tönen und Gesängen offensichtlich die Aufmerksamkeit des höchsten Gottes Quetzalcoatl, der gefiederten Schlange, die die Azteken zeit ihrer Existenz angebetet hatten.
Dann wandte er sich wieder um zu Fatum und nahm den Griff in beide Hände, so dass die Spitze auf Fatums Brust zeigte.
Die Abwärtsbewegung hatte gerade begonnen, da wurde ein ungeheures Knirschen hörbar, das auf eine subtile Weise endgültig klang.
Fatum wartete schweißgebadet.
Die Priester schienen ebenfalls zu warten, sie waren jedenfalls in ihren Bewegungen erstarrt.
Mark Fatum wartete weiter, weiter, immer weiter. Es gab verrückte Geschichten, dass man im Angesicht des Todes wahlweise alles in einer Art »slow motion« erlebte, unnatürlich verzögert und unglaublich kristallklar – oder dass das ganze Leben in einer Art Schnelldurchlauf an dem Delinquenten vorbeiraste.
Er selbst hatte nichts davon je erlebt und beide Darstellungen für absurde Übertreibungen gehalten … aber in diesem Moment wurde Mark Fatum in dieser Überzeugung mehr und mehr schwankend.
Nach einer bizarr lang andauernden Weile blickte er den Priester an, der über ihm stand, scheinbar in der Bewegung erstarrt. Und er sah in dessen Augen und merkte, dass sie nicht blinzelten! Dann erkannte sein Gehör, dass nicht ein einziges Geräusch an seine Ohren drang. Das unheimliche Fehlen aller Geräusche war ihm bisher nicht so aufgefallen. Wenn er ein einzelnes noch herausgehört hätte, wäre die Wirkung eine andere gewesen. Aber da war restlos gar nichts.
Die ganze Welt schien versteinert, den Atem anzuhalten.
Die Wolken, die er über sich am Firmament deutlich erkannte und die eben noch gemächlich über den Himmel gezogen waren, standen nun ebenfalls vollkommen still, sie schienen auf obskure Weise zur Regungslosigkeit verdammt. Eine Sache die eigentlich ausgeschlossen war.
‚Ich träume’, beschloss er kurzerhand.
Es gab keine andere Möglichkeit.
Das war alles ein verrückter Panikflash kurz vor dem Niederzucken des tödlichen Obsidiandolches. Der Moment, der ihm wie eine Ewigkeit vorkam, war nur einen Atemzug lang.
Aber warum, zur Hölle, fühlte er sich dann so lang an?
Das war doch unnatürlich!
Aber diese Annahme ließ nicht lange aufrechterhalten. Denn als er versuchte, selbst irgendetwas zu sagen, irgendeinen Muskel zu rühren … da geschah ebenfalls nichts. Er sah sich schlichtweg nicht in der Lage, irgendetwas zu tun oder zu sagen.
Und dann … dann begannen sich die Wolken aufzulösen.
Es war ein gespenstischer, lautloser Prozess. Eben diese unnatürliche Lautlosigkeit machte ihn so Furcht erregend.
Von oben, von der Spitze der fünfstöckigen Pyramide, konnte Mark Fatum auch aus seiner alles andere als optimalen Position recht gut erkennen, was ringsum vorging. Er blickte auf die grünen Pflanzendickichte ringsum, die die Lichtung begrenzten. Und während sich so langsam die Wolken am Himmel stumm zerfaserten, als würden sie von einem übermäßig starken Gebläse abgesaugt, begann sich auch der Rest der sichtbaren Welt zu verändern.
Der Himmel machte einen Farbwechsel durch. Von Blau zu Schwarz. Langsam schimmerten die Sterne durch das Schwarz. Aber gespenstischerweise stand noch immer der volle Sonnenball am Himmel.
‚Ich muss träumen! Das ist ein absoluter Albtraum!’, konstatierte der Abenteurer entsetzt. Aber auch dieses Entsetzen blieb eigentümlich oberflächlich, es drang nicht bis in sein Innerstes vor. Wahrscheinlich war es die aus der Lautlosigkeit resultierende Irrealität, die seinen Verstand dazu veranlasste, sich zu weigern, das, was er sah, anzuerkennen.
Er begann sich instinktiv zu fragen, was wohl in dieser Flüssigkeit gewesen war, mit der der Priester ihn eingerieben hatte … irgendeine Form von halluzinogener Substanz, damit ihm das Sterben erleichtert wurde?
Aber das klang wenig glaubwürdig … denn der Priester hatte ihn mit den bloßen Händen eingerieben. Wenn darin Substanzen enthalten gewesen waren, die solche verrückten Drogenträume induzierten, dann hätte er doch selbst völlig high sein müssen, oder?
Während ihm diese wirren, mühsam rationalen Gedanken durch den Kopf gingen, die aber absolut keine Kraft mehr besaßen, ging die bizarre Veränderung der Umwelt unverdrossen weiter und schien sich sogar noch zu beschleunigen.
Der Dschungel schien am Rande des Gesichtsfeldes geradewegs zu zerbröckeln. Die Bäume, so hatte es den Anschein, verloren Stück für Stück ihren festen Halt und kippten auf obskure Weise nach hinten, hinab in eine Art schwarze Unendlichkeit, aus der es keine Rückkehr mehr gab.
Dann erreichte die lautlose Armee der Finsternis, die wirklich nur aus Schwärze zu bestehen schien, die Ränder der Lichtung und fraß auch sie auf. Sie leckte wie eine Art von schwarzer Gischt, einer unaufhaltsamen Flut aus … irgendetwas Unergründlichem … über die Landschaft und verzehrte sie dabei zugleich lautlos, unverständlich. Und absolut gnadenlos.
Fatum spürte nun wirklich existenzielle Angst in sich aufsteigen. War dies auch wirklich nur ein Traum? Handelte es sich nicht vielmehr um Wirklichkeit? Wenn es auch eine Wirklichkeit sein mochte, die er mit seinem naturwissenschaftlichen Weltbild überhaupt nicht mehr in Deckung zu bringen vermochte?
Während sich die Schwärze mit bizarren Schlangenwindungen, zugleich aber auch unermüdlich über die Lichtung bewegte, Fatums Landrover ebenso auffraß und verschwinden ließ wie die Hütten des Dorfes, währenddessen rang Fatums Geist um Erkenntnis, suchte mühsam zu verstehen, wovon er hier gerade Zeuge wurde. War dies wirklich alles real? Hatte die aufgeklärte, zivilisierte Welt vielleicht tatsächlich nur deshalb Bestand gehabt, über all die Jahrhunderte, Jahrtausende, weil ein uralter mayanischer Kalender, der später von den Azteken entweiht und modifiziert worden war, seinen Geist nicht aufgekündigt hatte? War es ernstlich denkbar, dass all dies endete, wenn der Kalender stehen blieb? Das Ende der Welt – kam, weil ein verrückter steinerner Kalender erstarrte?
Es klang ungeheuerlich, wie ein verrückter, verschrobener Scherz.
Fatum hätte gerne kreischend gelacht, ja, er wäre sogar mit Vergnügen wahnsinnig geworden in diesen letzten Minuten der Existenz, aber nicht einmal das wurde ihm zugestanden. Eine nachgerade zynische Gnadenlosigkeit von Gottes Gnaden zwang ihn dazu, alles bis zum bitteren Ende mit beneidenswert klarem Verstand mitzuerleben.
Er erkannte, wie die Schwärze den Hügel hinaufwogte, auf dem der Kalender stand, und diesen dann gleich einer Eruption aus Finsternis kurzerhand verschlang. Nun also hatte der uralte Kalender endgültig seinen Dienst dieser verderbten Welt gegenüber aufgekündigt. Der Herzschrittmacher der Erde war stehengeblieben, und so fiel sie nach dem Willen archaischer Götter umgehend dem Verderben und der sofortigen Vernichtung anheim.
Es war das zweiundfünfzigste Jahr, die Zeit der fünf Untage im aztekischen wie mayanischen Jahr. Jene unheilvolle Zeit, in der alles möglich war und der Schutz der Götter allgemein als erloschen galt.
Gierig leckte die hungrige Schwärze gleich einer unbegreiflichen Gischt aus gefräßigem Nichts mit grenzenloser und erbarmungsloser Geduld an den Sockeln und Treppen der Pyramide empor. Sie verschlang steinerne Figuren ebenso gleichgültig wie die lebenden Krieger der Azteken in ihren bunt bestickten Lendenschurzen, die, einmal berührt, lautlos hinabsanken und bis zum letzten Moment ihrer Sichtbarkeit versteinert waren und nicht einmal zwinkern konnten. Die unterste Plattform verschwand, aufgesogen vom Willen Quetzalcoatls.
Der festgebundene Abenteurer fragte sich, ob die anderen Anwesenden, der Priester, die Wachen, die anderen Dorfbewohner … ob sie wohl alle so gelähmt waren wie er selbst, alles mit vollem Bewusstsein erlebten. Oder ob sie reine Statisten waren, bis in die tiefsten Tiefen ihrer Seele versteinert, eigentlich schon tot. Er wusste es nicht.
Aber er fragte sich, was seine Rolle hier in diesem wahnwitzigen Drama eigentlich war. ‚Warum ich?’, schrie Fatums Geist stumm. ‚Warum erlebe ich das alles bewusst? Warum nicht der Priester? Was ist der Grund für dieses Schicksal?’
Es kam keine Antwort in der allumfassenden, grässlichen Lautlosigkeit der fortschreitenden Auslöschung, aber er hatte auch nicht ernstlich eine erwartet.

Göttliche Zeichen waren stets die Einbildung von Menschengeist gewesen. Nie hatten sie reale Gestalt besessen. Warum auch? Die Götter besaßen keinen Grund, sich so herabzuwürdigen, um sich Sterblichen zu zeigen, die ja ganz offenbar nicht einmal die Funktionen kosmischer Uhren wie die des mayanischen Kalenders zu verstehen imstande waren.
Denn dass sie das nicht begriffen, lag auf der Hand – sonst hätten sie nicht mit dilettantischen Blutopfern versucht, den steinernen Kalender weiter in Betrieb zu halten. Ob das Blut von Menschen, die ihren Glauben an die alten Götter verloren hatten, vielleicht auch an Wirksamkeit für Rituale verloren haben mochte? War das ein Grund?
Ha, in diesem Fall wäre SEIN Tod sicherlich in gar keiner Weise von Nutzen gewesen.
Mark Fatum empfand allerdings keine Freude an dieser Erkenntnis, ganz gleich, ob sie berechtigt war oder nicht. Denn es sah ganz so aus, als würde er so oder so gleich sterben müssen, völlig egal, ob er an heidnische Götter glaubte oder nicht.
Die Schwärze waberte nun über den zweiten Absatz, über den dritten und vierten und ergoss sich schließlich gleich nichts anderem auf die obere Stufe. Das steinerne Material verschwand unter der bizarren schwarzen Gischt.
Der Effekt, der hier auftrat, war auch jetzt ungeheuerlich, aus der Nähe betrachtet noch schlimmer als bei den Wachen am Fuß der Pyramide. An wessen Füße die Schwärze leckte, den sog sie förmlich in die Tiefe, als handele es sich bei ihr um eine surreale Form von Treibsand.
Vor den Augen des Abenteurers sank der federkleidgeschmückte, versteinerte Oberpriester in die Tiefe, wurde dabei mosaiksteinartig aufgelöst. Er zerfiel direkt vor Mark Fatums aufgerissenen Augen, lautlos und vollständig. Selbst von dem Obsidianmesser blieb nichts übrig. Auch alle anderen Priester ereilte dieses Schicksal. In den erstarrten Mienen der mörderischen Geistlichen stand keinen Moment lang so etwas wie Erkennen oder Begreifen. Sie schienen ihre eigene Vernichtung nicht einmal zu registrieren.
In der Tat, in dieser Beziehung war Mark Fatum ganz offensichtlich auf ungeheuerliche, unmenschliche Weise privilegiert, dies alles mit anzusehen und miterleben zu können. Dankbarkeit empfand er dafür nicht. Da war nur noch Raum für Angst, unglaubliche Angst vor der finalen Auslöschung.
Und gleichzeitig – Fatum nahm es mit Entsetzen zur Kenntnis – lösten sich die hellen Lichtpunkte der Sterne am Firmament auf. Sie ließen nur eherne Finsternis zurück.
Und auch die Sonne verblasste langsam.
Es gab keine Sterne mehr.
Keine Sonne.
Dies war das Ende der Welt!
Seine letzten verstörten Gedanken galten der Tatsache, dass es offenkundig lediglich eine Sache der Beständigkeit gewesen war, die Existenz der Welt, die er in seinem rationalen Denken vollkommen anders verstanden hatte. Und jeder andere Mensch mit moderner wissenschaftlicher Bildung.
Die Dinge lagen in Wahrheit ganz anders, waren viel schlichter, weitaus archaischer.
Die Existenz der Welt an sich hing tatsächlich von der Existenz und steten Funktionsfähigkeit eines uralten steinernen Maya-Kalenders ab, der auf schier göttliche Weise im Dschungel von Yucatan verborgen war, in einem kleinen Nest, von der Welt ringsum vergessen. Ein Kalender, der seit Urzeiten konstant funktioniert hatte, ständig umgeben von barbarischen Menschen, die keine rechte Kultur unterhielten, sondern permanent im Blickfeld imaginärer, unvorstellbarer Gottheiten ihr Dasein führten, die die Menschen schon seit dem Altertum, seit der Frühzeit ihrer Existenz in Ermangelung eines passenderen Begriffes »Götter« nannten.
Und eben diese Götter schienen just in dem Moment, in dem Mark Fatum auf der Bühne des Schicksals erschien, begriffen zu haben, dass sowohl der eine Weg, nämlich der Weg des Glaubens, den die Maya und Azteken eingeschlagen hatten, wie auch jener andere, der Weg des Zweifelns an den metaphysischen Grundlagen des Kosmos, wie ihn die Menschen westlicher Industriestaaten praktizierten, die mehrheitlich an die Götzen des Fortschritts glaubten, in eine Sackgasse gemündet hatte. So entschlossen sie sich offenbar dazu, diesem Trauerspiel ein Ende zu machen.
Und sie taten es auf wahrhaft göttliche, unbegreifliche Weise. Das verstand Mark Fatum zuallerletzt dann gerade noch, ehe die Schwärze endgültig über ihm zusammenschlug und auch sein Dasein auslöschte.
Es blieb nur noch die Schwärze übrig.
Und niemand sah die sich aus der Sonnenscheibe, die am Firmament schon fast verblasst war, hervorwindende gefiederte Schlange, die sich nun aufmachte, die Zeitrechnung neu zu erdenken und eine Welt zu erschaffen, die besser war als die vorherige …

ENDE?

© 1992/2016/2018/2022 by Uwe Lammers Gifhorn, 31. Oktober 1992 – 25. November 1992
Abgeschrieben und neu bearbeitet:
Braunschweig, 30. März 2012 – 3. Januar 2016
Überarbeitung: Braunschweig, den 28. März 2018 – 5. Juni 2022

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