Buchbesprechung von Uwe Lammers
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Die Schatten dunkler Flügel
(OT: The Cube Root of Uncertainty)
von Robert Silverberg
Goldmann 0203
München 1970
Aus dem Amerikanischen von Tony Westermayr
160 Seiten, TB
Die Zukunft ist das Land, in dem die Science Fiction-Schriftsteller immer schon daheim waren, sie sind gewissermaßen – mal mehr, mal weniger treffsicher – die Propheten und Orakel dessen, was kommt oder kommen könnte. Und manche dieser Visionen enthalten selbst nach Jahrzehnten noch Substanz und haben sich nicht restlos überholt. Das gilt namentlich für jene Autoren, die sich nach dem Zeitalter der klassischen Space Opera mit der Neubelebung der Phantastik befassten. Leute wie Philip K. Dick, Philip José Farmer, Brian W. Aldiss, Michael Moorcock oder eben auch Robert Silverberg warfen neues Licht auf alte Topoi oder schritten gleich zu ganz neuen Ufern, oftmals ausgehend vom so genannten „inner space“.
Als ich also jüngst zur Lektüre dieser wirklich recht alten Storysammlung schritt, die seit rund zwanzig Jahren ungelesen in meinem Besitz war, kann man sich vorstellen, dass ich gespannt darauf sein konnte, ob mich wohl altbackene Standardkost erwartete oder auch das eine oder andere Juwel darunter war. Nun, ich bereue die Lektüre nicht. Silverberg hat in der Tat die eine oder andere Überraschung zu bieten.
Diese Storysammlung enthält neun Geschichten unterschiedlichster Länge, und selbst wenn der Klappentext mal wieder in die Irre geht, macht man als Leser eine Reise durch unterschiedlichste Situationen der Zukunft. Schauen wir sie uns mal kurz genauer an:
Die Schatten dunkler Flügel beschäftigt sich mit einem klassischen Erstkontakt. Vorausgegangen sind interplanetare Reisen der Menschen, die auf Mars und Venus die Hinterlassenschaften früherer Besucher gefunden haben, namentlich der so genannten Kethlani, die eigentlich als ausgestorben gelten. Dr. John Donaldson gilt als Spezialist für dieses Alienvolk. Aber er ist nicht darauf vorbereitet, von der Regierung kontaktiert zu werden – weil ein leibhaftiger Kethlani in einem Raumschiff gelandet ist. Und dann gibt es dabei noch ein ganz besonderes Problem…
Absolut unerbittlich ist der Beamte Mahler, der in der fernen Zukunft auf der Erde lebt und ein ständig wiederkehrendes Problem hat: Zeitreisende aus der Vergangenheit. Das Prozedere ist eindeutig – Sensoren spüren jeden Zeitreisenden sofort nach seiner Ankunft auf, dann wird er zu Mahler gebracht und, unerbittlich, auf den Mond deportiert. Ende der Geschichte, könnte man sagen. Bis auf einmal ein Zeitspringer auftaucht, der behauptet, sein Gerät funktioniere in BEIDE Richtungen …
Der Eiserne Kanzler soll eigentlich ein Fortschritt sein. In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts ist die Robotik weit fortgeschritten, und Robotküchen gehören zum absoluten Standard. So auch in der Familie von Sam Carmichael, allesamt sehr … nun, sagen wir, sehr gute Futterverwerter und etwas… stämmig. Sie überlegen schon lange, wie sie wieder ein wenig schlanker werden könnten, doch das Essen schmeckt einfach zu gut. Und dann gibt Sam Carmichael einer spontanen Eingebung nach und kauft einen modernen Robotkoch, der schnell den Namen „Bismarck“ weg hat. Aber das ist erst der Anfang des Alptraums …
Die Passagiere ist eine Geschichte, die uns in eine gespenstisch veränderte Zukunft führt. In eine Welt, in der es seit ein paar Jahren völlig normal ist, wenn Menschen sich jählings von einem Moment zum anderen verändern, manchmal tagelang eine bizarre Form von Dasein führen, das ihrem vorherigen Charakter völlig widerspricht. Diese Menschen werden von so genannten „Passagieren“ aus dem Kosmos „geritten“, man könnte auch sagen, sie sind besessen. Aber als Charles Roth nach drei Tagen der Besessenheit wieder erwacht, ist bei ihm irgendetwas anders als zuvor …
Falsch berechnet schickt den Leser in eine originelle Welt. Kennt jemand den Vertrag von Düsseldorf 1916, in dem der Sieg des Deutschen Reiches über Frankreich geregelt wurde und der Erste Weltkrieg endete? Nein? So ein Pech, dann seid ihr schon der zweite, der dieses Problem hat. Aber der andere wird von dieser Tatsache noch sehr viel ärger getroffen: Der Hethivar-Agent Karn 1832j4 hat nämlich bei seinem letzten Besuch 1916 auf der Erde diesen Vertrag ausgehandelt und damit den Krieg raffiniert beendet, woraufhin eine Phase von 70 Jahren Frieden eintreten sollte. Als er 1959 auf die Erde zurückkehrt, muss er schockiert entdecken, dass die Menschen, deren Entwicklung er im Auftrag des ehrwürdigen hethivarischen Imperiums unterdrücken soll, zwischenzeitlich die Nuklearenergie entdeckt haben und in den Weltraum vorgestoßen sind. Der Vertrag von Düsseldorf ist unbekannt, stattdessen hat Deutschland den Krieg verloren und ebenso den Zweiten Weltkrieg. Doch das ist leider noch lange nicht alles …
Der sechste Palast steht auf eine menschenleeren Welt unter dem roten Stern Valzar, und er enthält unendliche Schätze – und wird leider von einem unerbittlichen robotischen Wächter bewacht, der bislang noch jeden einzelnen Suchenden einer ausgiebigen Befragung unterzog und ihn dann niedermetzelte. Niemand hat jemals herausgefunden, was der Roboter von Besuchern hören möchte, um sie auch tatsächlich einzulassen. Nun versuchen die gewieften, intelligenten Schatzsucher Lipescu und Bolzano ihr Glück …
Der dunkle Stern ist der Überrest einer Supernovaexplosion und steht kurz davor, sich in eine Singularität zu verwandeln. Ein kleines Team von drei Forschern, bestehend aus Menschen, Kolonialmenschen und einem Mikrocephalon, soll den epochalen Moment erforschen, in dem der Stern endgültig in sich zusammenstürzt. Das Problem sind aber die internen Querelen, die die Mission nahezu unmöglich machen. Bis im allerletzten Moment eine dramatische Entscheidung getroffen wird …
Zwischenstation erzählt ebenfalls von der fernen Zukunft. Die Menschheit hat mit der Schaffung der „Plica“ einen dimensionalen Übergang geschaffen zu einem Ort, der als Zwischenstation bezeichnet wird. Dort treffen sich verschiedenste Sternenvölker, und Franco Alfieri hofft, hier eine Möglichkeit zu finden, seinen Kehlkopfkrebs heilen zu lassen – aber von dem Preis, der dafür zu entrichten ist, hat er keine Vorstellung …
Sonnentanz ist eine etwas transzendierende Geschichte. Tom Two Ribbons ist Teil eines Teams, das einen fremden Planeten auf die Ankunft menschlicher Siedler vorbereiten soll. Als Nachkomme von Sioux hat er mit der Aufgabe zunehmend ein Problem. Einmal, weil die Welt mit ausgedehnten Prärien seiner Heimat so bestürzend ähnlich ist, und dann, weil die Aufgabe des Teams darin besteht, die hier heimische Spezies der Esser auszulöschen. Das geschieht durch Abwurf von Neuralkugeln. Das sind Substanzen, die die scheinbar rein vegetativ lebenden Esser magisch anziehen. Doch wenn sie sie verzehren, bringen sie den Kreislauf zum Erliegen und lösen die Wesen binnen kürzester Zeit in Flüssigkeit auf.
Ein ungeheuerliches Verbrechen, wenn es sich um so etwas wie eine intelligente Spezies handeln würde. Aber dafür spricht rein gar nichts … bis Tom Two Ribbons Zweifel verspürt, die an ihm nagen, und er seinem Gewissen nachgibt, weil er einen Genozid wittert …
Man merkt deutlich an den Geschichten, die vielfältig Bezug auf die Themen Geschichte, Genozide, Zeitparadoxa, Erstkontakte, Tücken der modernen Technik und dergleichen nehmen, dass Silverberg ein vielseitiger Schriftsteller ist, der sich insbesondere auch viel mit innermenschlichen Konflikten auseinandersetzt. Und es ist vermutlich unbestreitbar, dass eben solche Themen quasi zeitlos sind. Das ist ein wesentlicher Punkt, der seine Geschichten auch heute noch lesbar und interessant macht. Und selbst wenn manche seiner Geschichten thematisch viel zu dicht an der Gegenwart angesiedelt sind (eine spielt im Jahre 1987, was natürlich längst überholt ist), sollte man sich daran nun fürwahr nicht festbeißen.
Wie schon erwähnt, ich habe die Storysammlung durchaus mit Genuss und Gewinn gelesen, und da es noch ein paar seiner Storysammlungen bei mir zu entdecken gibt, bin ich mal gespannt, was da auf mich wartet. Trotz des Alters also eine klare Leseempfehlung meinerseits!