Das fantastische Fanzine

Der Flug der Kolonie Arut-203

Science-Fiction-Story von Alexander “Tiff” Kaiser

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Endlich war es soweit. Der große Flug stand bevor. Die letzten Arbeiten gingen dem Ende entgegen, die Vorräte waren aufgestockt, die Mannschaft trainiert und bereit für ihre Aufgabe, eine neue Kolonie zu bilden. Wir warteten jetzt nur noch auf zwei Dinge: Darauf, dass die Kolonie Arut-203 von Arut-299-001-020 abgedockt werden konnte, und dass der Äther sich mit jener magischen Strömung füllen würde, die uns in unser Abenteuer tragen würde. Auf auf zur Verbreitung unserer Art, und viel wichtiger, zu deren Erhaltung.

Die Sphäre, in der wir lebten, war fruchtbar und energiegeladen. Arut-299-001-020 hatte geradezu störungsfrei errichtet werden können und seine Aufgabe bei der Sammlung der Ressourcen für die künftige Kolonisierung vollauf erfüllt. Noch besser, die uns umgebenden Kolonien, mit denen wir natürlich in Kontakt standen, waren noch lange nicht so weit wie wir. Unser Standort gab uns einen Zeitvorteil von zwei, vielleicht sogar drei Tagen. Was bei der Besiedlung neuer Lebensräume ein unschätzbarer Vorteil sein würde. Denn wer zuerst kam, siedelte auch zuerst.

Derart mit Verheißung erfüllt, während wir die neidvollen Stimmen aus anderen Kolonien hörten, weiteren Arut, aber auch Kemp, Ziza oder Momm, bereiteten wir uns auf den Start vor, um die Kolonie Arut-001-020-203 zu gründen.

Unsere große Reise begann mit einer derben Enttäuschung. Arut-299-001-020 hatte mit dreihundertfünf nicht nur außergewöhnlich viele neue Keimzellen zur Kolonisierung erschaffen, die Kolonie schaffte es auch tatsächlich, die meisten drei Tage vor allen anderen abzustoßen. Sie gingen auf die Reise, um fruchtbare Länder zu finden, den Ruhm der Arut zu mehren und unser Volk zu erhalten. Alle, bis auf uns. Kolonie Arut-203 konnte nicht abdocken. Die Aufregung war groß, sowohl in der Kolonie als auch bei uns in der 203.

„Was ist los?“, fragte Herm, unser Kommandant. „Es herrscht bester Äther! Wieso fliegen wir nicht ab?“

Korum, unser Bio-Ingenieur, erwiderte kleinlaut: „Ein Abdocken ist noch nicht möglich, obwohl alle Bereiche der Kolonie fertig sind. Wir verrichten noch letzte Arbeiten an den Andockklammern. Ich versichere, es kann sich nur noch um Stunden handeln, Kommandant.“

„Wie viele Stunden? Ich will nicht während der blinden Phase fliegen müssen“, entgegnete Herm.

„Ist das nicht egal?“, erwiderte ich. „Hauptsache, wir fliegen ab.“

„Man merkt dir an, dass du noch jung bist, Olym“, entgegnete Lyos, zuständig dafür, die künftige Kolonie Wurzeln schlagen zu lassen. „Sicher, während dem Flug in der Sphäre sind wir der Laune des Äthers ausgesetzt. Aber wenn wir nicht blind sind und erkennen können, wo wir landen, können wir uns auf das künftige Umfeld vorbereiten. Das ist ein großer Vorteil.“

„Das halte ich für übertrieben“, erwiderte ich, nicht überzeugt. Es war der Lauf der Dinge, dass der Äther die Kolonien dahintrieb, wohin immer er wollte. Die chaotische Ausbreitung war Teil unserer Lebensphilosophie und die Keimzelle unseres Überlebens. Und jetzt sollte das nachteilig sein? Das wollte ich nicht glauben.

„Sieben Stunden“, sagte Korum. „In sieben Stunden sind wir abflugbereit. Dann haben wir noch genug Sicht, bevor das Medium sich trübt.“

Halbwegs besänftigt dankte der Kommandant dem Ingenieur.

Und so kam es auch. Nach sieben weiteren Stunden dockten wir ab, und die Sicht war noch weit und klar. Doch der Äther kam nicht. Es blieb weitere lange Stunden ruhig. Erst als die Blindheit über uns kam, erfüllte sich das Medium mit dem Äther. Herm überlegte, den Flug zu verhindern und zu warten, bis die nächste lichte Phase eintrat, aber letztendlich setzten sich jene durch, die unbedingt abfliegen wollten.

Also wurde die letzte Halteklammer gelöst, und Kolonie 203 erhob sich in den Äther, vertraute sich ihm an und ging auf die Reise in die Ungewissheit, wie es unsere Art ist. Und während wir abhoben, erreichten uns die neidvollen Glückwünsche der anderen Kolonien zum gelungenen Start, und absolut nicht neidische gute Wünsche für unseren Flug, denn jede Kolonie, die startete, erhielt auf lange Sicht unsere Art. Da war kein Platz für Neid. So also vertrauten wir uns der Blindheit an.

***

Als die blinde Phase endete, hatte der Äther uns bereits abgesetzt. Die Außenbeobachtung lieferte uns die neuen Reize, zeigte uns, wohin es uns verschlagen hatte. Das Entsetzen war groß. Wir waren vom Äther ins Tote Land getragen worden. Ausgerechnet ins Tote Land, wo nichts wuchs, nichts gedieh, wo es nur Leben in Form der reisenden Gigantkolonien gab.

„Ruhe!“, befahl Herm. „Wir haben unseren Flug beendet, aber nicht abgeschlossen. Ich erwarte, dass alle Abteilungen sich jetzt an die Arbeit machen und herausfinden, welche Möglichkeiten wir haben, hier wo wir gelandet sind. Selbst das Tote Land kann nicht derart unwirtlich sein, wenn es hier die wandernden Gigantkolonien gibt!“ Diese Worte ermutigten die Anderen, und jeder machte sich in seinem Teilbereich an die Arbeit. Für mich bedeutete das, die direkte Umgebung zu untersuchen, ob sich nicht ein fruchtbarer Boden finden ließe.

Tatsächlich entdeckte ich bald den Hauch einer Schicht, welche gerade so ausreichen würde, um hier zu ankern und Wurzeln zu schlagen. Enthusiastisch meldete ich das Ergebnis meiner Suche, während aber zugleich eine Stimme in mir mahnte, dass dies ein Standort mit einem sehr hohen Risiko war, der uns im schlimmsten Fall dabei behinderte, eines Tages einmal selbst Kolonien auszusenden. Denn nur einzig dies war der Sinn unserer Arut: Im Wettstreit mit unseren Geschwistern und den anderen Bewerbern in diesem weiten Kosmos, der uns umgab, neue Lebensräume zu finden, uns auszubreiten und weitere Kolonien auszusenden.

Als wir alle Daten zusammengetragen hatten, berief der Kommandant zur Konferenz.

Er sagte: „Nach den Daten, die mir vorliegen, und dank der harten Suche von Olym, erscheint mir eine Kolonisierung möglich. Aber wir befinden uns im Toten Land, und selbst wenn unsere Kolonie floriert und gedeiht, ist es nicht gesagt, dass wir einst Kolonien aussenden können. Oder wenn wir es können, dass diese Kolonien ebenfalls einen Ort zum Siedeln finden werden. Ich bitte um eure Meinungen.“

Lyos, der die sprichwörtlichen Wurzeln treiben würde, sprach zuerst. „Es ist das Tote Land, und wir haben die Chance, es zu besiedeln! Wem ist dies je gelungen? Wer war jemals so erfolgreich? Unter unseren Vorfahren gibt es jene, die in den kleinsten Lebensnischen auf unfruchtbaren Weiten siedelten und Kolonien entsandten! Haben die sich abschrecken lassen? Nein, sie fanden auf den unfruchtbaren Plänen jene Ecken, in denen sie sich niederlassen, wo sie sich ernähren konnten! Dort trieben sie aus, dort errichteten sie eine Kolonie, und von dort starteten die neuen Kolonien, um ihren Ruhm weiterzutragen! Stellt euch doch nur mal vor: Wir besiedeln das Tote Land, und wir entsenden unsere eigenen Kolonien! Und diese finden nicht nur im Toten Land weiteren Lebensraum, sie werden auch helfen, es zu revitalisieren! Wir würden etwas erbringen, was keiner je vor uns geschafft hat! Wir werden Helden, und unsere Kolonien werden gerühmt von allen anderen! Wir sind dabei, Großes zu tun!“

„Aber“, wandte Korum ein, „wenn auch nur ein Fehler passiert, war es das mit uns. Dann stirbt die Kolonie, bevor wir sie errichten konnten. Lange bevor wir in der Lage sind, neue Keimzellen zu errichten und sie abdocken zu lassen. Ich plädiere für den Weiterflug.“

„Feigling!“, zischte Lyos. „Hast du Angst, zur Legende zu werden?“

„Unser Auftrag, Jüngling“, erwiderte der Ingenieur in hartem, schroffem Ton, „ist es, eine Kolonie zu errichten und unsere Art weiterzuverbreiten! Nichts anderes! Hältst du das Risiko eines kompletten Scheiterns für angemessen?“

„Ja!“, schoss es aus Lyos hervor. „Wie viele Kolonien gehen verloren auf dem Flug durch den Kosmos? Wie viele finden keinen Platz zum Wurzeln schlagen? Wie viele, frage ich, fallen unseren Feinden zum Opfer und verwirken ihre Existenz, ohne auch je an den Aufbau einer eigenen Kolonie zu denken? Und hier sitzen wir, mit der Chance, in der fruchtbaren Krume, die Olym gefunden hat, Fuß zu fassen und die Kolonisierung des Toten Landes selbst zu betreiben! Das ist das Risiko wert, hier zu scheitern! So! Ich habe es gesagt!“

Der Kommandant sagte: „Dazu möchte ich Olym selbst befragen. Was ist deine Meinung?“

Bevor ich antworten konnte, bemerkte ich eine merkwürdige Anomalie. „Wartet kurz“, bat ich. Dann erkannte ich, was da registriert worden war. „Es gibt hier Altvordere!“, rief ich erstaunt aus. Ausgerechnet hier, im Toten Land. Altvordere! Altvordere existierten überall, wo auch wir existierten, und sie waren immer vor uns da. Sie stahlen unseren Lebensraum nicht, besetzten keine unserer Nischen, so wie wir die ihren nicht okkupierten. Wir lebten in friedlicher Koexistenz miteinander, und manchmal auch mehr.

„Wir sollten sie befragen!“, rief Lyos sofort. „Wenn es hier Altvordere gibt, ist dies ein klares Votum für die Kolonienbildung im Toten Land!“

„Ja, wir sollten sie befragen“, sagte ich, Lyos’ Enthusiasmus deutlich dämpfend.

„Nun gut. Wir nehmen Kontakt auf“, entschied der Kommandant.

Nun war es nicht so einfach, mit ihnen zu reden. Nicht unmöglich, aber schwierig. Immerhin waren sie von vollkommen anderer Art als wir. Aber der Austausch mit ihnen, sei es nun ein Handel oder nur ein Gespräch, waren immer wertvoll für uns, denn die Altvorderen verfügten nicht nur wie wir Arut über ein kollektives Gedächtnis, sondern ihres reichte Milliarden Jahre in die Vergangenheit zurück, viel weiter als unseres. Wobei man getrost annehmen durfte, dass sie längst nicht jedes Detail mehr kannten.

Also riefen wir die Altvorderen an. „Die Kolonie Arut-203 ruft die Altvorderen im Toten Land.“

Die Antwort kam prompt, was ungewöhnlich war. Aber ihre Ausdrucksweise war langsam und kryptisch wie immer, weshalb ich sie sinngemäß wiedergebe, nicht wortgemäß.

„Ein Arut-Samen, hier im Toten Land? Wir sind die Beng. Wir grüßen euch, Arut-203.“

Die Beng. Wir kannten diese Spezies. Oftmals kooperierten Arut und sie direkt miteinander, da wir voneinander partizipieren konnten.

„Beng! Hier gibt es Beng!“, rief Lyos triumphierend. Vermutlich bereitete er schon die Verankerung vor, weil er sich derart sicher war.

„Und wir grüßen euch!“, erwiderte der Kommandant unerschüttert. „Möget ihr noch viele Generationen erleben.“

„Generationen erleben?“ Der Beng, der mit uns sprach, klang ablehnend. „Dies ist das Tote Land! Das Leben hier ist rau, karg und hart. Schaut doch nur, wie weit es ist, und wie wenig wir davon für uns einnehmen können! Wir leben, ja, aber schon viele Beng-Kollektive wurden vernichtet, seit wir begonnen haben, hier zu siedeln. Euch wird es nicht anders ergehen, Arut-203.“

„Aber ihr seid hier! Wir sind hier! Wir können kooperieren! Zusammenarbeiten, wie in den fruchtbaren Weiten! Zusammen können wir das Tote Land in lebendiges Land wandeln! Wir können hier Großes erschaffen!“, mischte sich Lyos ein.

Da erklang etwas, was noch niemand von uns je gehört hatte. Ein langanhaltender, auf und abschwellender Ton, der von den Beng kam, vielstimmig, doch ähnlich. Sie lachten. Unglaublich, aber sie lachten!

„Ihr kleinen Kolonialen. Dies ist nicht irgendein Gebiet. Hier regieren die wandernden Gigantkolonien. Sie bewachen dieses Land. Sie formen es nach ihrem Willen! Sie sind es, die versuchen, uns auszurotten. Und alles, was wir dagegensetzen können, ist unsere Fruchtbarkeit und unsere Mobilität. Ihr, Arut-203, seid nicht mobil, wenn ihr Wurzeln geschlagen habt, und wenn ihr mobil bleibt, schlagt ihr keine Wurzeln. Angenommen, angenommen, ihr kolonisiert was immer ihr denkt sich im Toten Land zu kolonisieren lohnen würde. Die Gigantkolonien würden eure junge Kolonie, sobald sie ihrer gewahr werden, mit Stumpf und Stiel ausrotten.“

„Das ist eine harsche Prognose. Habt ihr die Zusammenarbeit unserer Spezies vergessen? Habt ihr vergessen, welche Großartigkeiten wir zusammen erreichen können?“, haderte Lyos.

„Wir haben es gesehen!“, rief der Beng. „Wir waren dabei! Ihr seid nicht die erste Kolonie, die versucht, im Toten Land zu siedeln! Während mein Clan hier sein Leben fristet, was fünfzig Jahre in die Vergangenheit reicht, haben wir nicht nur Arut, sondern auch Kolonien der Vissam, Klay und auch Pahuli gesehen, um nur ein paar Beispiele zu nennen! Keiner von ihnen ist dazu gekommen, eine funktionierende Kolonie zu bilden, geschweige denn dazu, eigene Kolonien zu bilden! Dies ist das Tote Land, und es heißt nicht ohne Grund so!“

Daraufhin schwiegen wir, und auch die Beng. Schließlich fragte Herm: „Was also ratet ihr uns, Altehrwürdige?“

„Den nächsten Stoß des Äthers zu nutzen und zu versuchen, das Tote Land zu verlassen. Dies ist kein Ort, der Leben bringt oder birgt. Dies ist ein Platz nur für die Gigantkolonien, nicht für unsereins, nicht für Euereins!“

„Aber wenn wir es schaffen, wenn es uns gelingt“, ereiferte sich Lyos, „dann werden wir zu ewigen Legenden! Noch in tausenden Jahren wird man Lieder über jene singen, die den Grundstein legten, das Tote Land zu besiedeln!“

„Das Risiko ist nicht einfach nur zu groß“, erwiderte ich mit fester Stimme, „die Erfolgschancen sind viel zu gering!“ So standen wir mit unseren Meinung gegeneinander.

„Wir fliegen weiter“, sagte Herm schließlich. „Mit dem ersten Stoß des Äthers lösen wir uns und vertrauen uns erneut dem Zufall an.“

„Aber Kommandant, dies ist die Chance, besonders zu werden! Wenn wir weiterfliegen, werden wir womöglich nur … gewöhnlich!“, rief Lyos.

„Und es ist nicht unser Auftrag, besonders zu werden, sondern die nächste Generation an Kolonien in den Äther zu entsenden!“, rief er. „Das ist mein letztes Wort!“

Daraufhin antwortete Lyos lange Zeit nichts. Schließlich aber sagte er: „Ich füge mich.“

Und damit war das Seelenheil von Arut-203 wiederhergestellt.

„Altvordere, wir danken euch für euren Rat“, sagte Herm.

„Und wir wünschen euch eine gute Reise in ein fruchtbares Land, wo ihr vielleicht nur eine Kolonie unter vielen sein werdet, aber eine, die gedeiht und selbst dereinst Kolonien aussendet.“ Dann lachten die Beng erneut und meldeten sich nicht wieder.

Und dann kam der Moment, indem der Äther unruhig wurde und nach Arut-203 griff. Wir hoben vom Boden wieder ab, entfernten uns von jener Stelle, die ich für fruchtbar befunden hatte. Und, als hätte da Schicksal uns besonders im Auge, verließen wir schon nach den ersten Minuten Flug das Tote Land. Stunden, Tage des Fluges später setzten wir erneut die Kolonie auf einen Grund. Und es war ein guter Grund, fruchtbar und wie geschaffen für unsere Zwecke. Also beschlossen wir diesmal, und zwar allesamt, die wir da waren, dass dies der Ort war, wo wir tatsächlich Wurzeln schlagen wollten. So geschah es. Im nächsten Zyklus stand dann die Kolonie Arut 001-020-203. Und sie entsandte, als die Zeit reif war, ihre eigenen Kolonien per Äther in den Kosmos, ins Unbekannte, ins Ungewisse. Nicht ohne sie vor dem Toten Land zu warnen, jenem Ort der Gigantkolonien, die nichts anderem zu wachsen erlaubten, außer sich selbst. Mochten sie allesamt auf fruchtbaren Böden landen und siedeln.

So kam es, dass ein zufällig geöffnetes Fenster in der Werkstatt einem Windstoß erlaubte, in die Halle zu fahren, den Keimling der Pusteblume zu erfassen, hinauszutragen und auf eine fruchtbare Wiese zu tragen, wo er landen, austreiben und zum gesunden Löwenzahn werden konnte. Nur um später selbst zur Pusteblume zu werden und damit seine eigene Art zu erhalten.

ENDE

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