Eine Rezension von Uwe Lammers
Anti-Eis
(OT: Anti-Ice)
von Stephen Baxter
Heyne-TB 4891
München 1997
320 Seiten
Übersetzt von Martin Gilbert
ISBN 3-453-12672-6
Was ist das doch für eine schöne neue Welt, in der man bequem mit den Einschienenbahnen zügig die Britischen Inseln bereisen kann und auch mit komfortablem Luxus die Hauptstadt Manchester zu erreichen imstande ist. Es gibt sogar die Pontonbrücken, mit denen die Schwebebahnen nach Frankreich hinüberreisen können. Die britische Hegemonie beherrscht weitgehend die Welt und kann sich zurücklehnen, wenn andere Mächte auf dem Kontinent sich zanken, wo noch „Mittelalter“ zu herrschen scheint, beispielsweise im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, das de facto seit 1806 nicht mehr besteht, wo aber immer noch alles in eine Vielzahl von kleinen Staaten zersplittert ist.
Jedenfalls meinen die Engländer, sich zurücklehnen zu können, um die neuen technischen Wunder zu genießen. Bis sie leider selbst in einen Konflikt hineingezogen werden, der auf der Schwarzmeerhalbinsel Krim tobt …
Eine Fiktion der nahen Zukunft? Mitnichten. Man schreibt das Jahr 1855, und das britische Empire ist durch den Fund einer außerirdischen Substanz nahe dem Südpol, die man Anti-Eis nennt und eine unglaubliche Energiequelle ist, zur weltbeherrschenden Supermacht aufgestiegen. Der geniale Wissenschaftler Josiah Traveller, verantwortlich für eine Vielzahl von Anti-Eis-Erfindungen, ist es auch, der den Gedanken hat, die erfolglose Belagerung von Sewastopol relativ unblutig zu beenden, indem er sich eine spezifische Eigenschaft von Anti-Eis zunutze macht: Die Substanz ist nahe dem absoluten Nullpunkt supraleitend und wird ständig von magnetischen, hochfrequenten Feldern durchströmt. Sobald man diese Substanz geringfügig erhitzt, brechen die Felder unter unvorstellbarer Energieentfaltung zusammen. Leider verschätzt sich Traveller, und die Anti-Eis-Granate ebnet Sewastopol mit einer nuklearen Explosion ein, was ihn zeitlebens traumatisiert.
Von da an versucht er, diese Kräfte nur noch friedlichen Nutzungen zuzuführen. Im Jahre 1870 wird der junge Diplomat Ned Vicars, der Fürst Bismarcks Delegation in London die Errungenschaften britischer Technik zeigen soll, zufällig in diese Verwicklungen verstrickt. Die Vorstellung des neuesten Wunderwerks, des Landkreuzers PRINCE ALBERT, in Belgien gerät zum Fiasko, weil französische Freiheitskämpfer, die Franktireurs, einen Sabotageakt verüben. Ned Vicars und sein Begleiter Holden kommen nur deswegen mit dem Leben davon, weil sie zufällig auf dem Landkreuzer den genialen Traveller getroffen haben, der ihnen die allerneueste Errungenschaft vorstellt: ein projektilförmiges Gebilde, das er Phaeton nennt: ein Luftschiff. Während er ihnen diesen Prototyp noch zeigt, werden sie jedoch von einem Franktireur entführt und finden sich unversehens in prekärer Lage wieder – im Orbit um die Erde, mit zur Neige gehenden Treibstoffreserven und keiner Möglichkeit, ins Cockpit vorzudringen.
Derweil eskaliert auf der Erde, ausgelöst von der Emser Depesche, der Krieg zwischen Frankreich und Preußen, und er nimmt sehr bald dramatische Formen an. Schlimmer jedoch ist der Existenzkampf im All, weil sich das einzige ansteuerbare Ziel sehr rasch als menschenfeindlich entpuppt – der Mond …
Stephen Baxter, der neue Shooting-Star der SF in England, hat mit diesem Parallelweltenroman ein kenntnisreiches, sehr faszinierendes Buch verfasst, das für mich als Student der Geschichte besonderen Reiz entfaltet, weil viele seiner Prämissen, die er ausdefiniert, zu alternativen Szenarien führen, die von einer bestechenden Plausibilität sind. Es gibt hier und da einige logische Schwächen, zugestanden, im Ganzen aber ist es ein beklemmendes Panorama einer Welt, wie sie vielleicht hätte sein können, wenn es diese Substanz oder Traveller bzw. beide je gegeben hätte. Das größte Vergnügen ging für mich weniger von der „Actionhandlung“ aus als vielmehr von dem historischen Umfeld und den liebevollen Details. Für Parallelwelt-Fans durchaus ein Gewinn.
© 1997 / 2005 / 2025 by Uwe Lammers
Braunschweig, den 14. November 1997
Abschrift am 21. Juli 2005
Neuformatierung am 3. März 2025