Fortsetzungsgeschichte von Alexander “Tiff” Kaiser, Fortsetzung von: Anime Evolution: Krieg – Episode 15
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Prolog
Mit den Strafern, Erkundern und Vernichtern im Sonnensystem der Dai und der Menschheit befand man sich in einer Patt-Situation. Einer gar nicht mal so üblen, denn zwar waren fünf Vernichter, achtzehn Strafer und dreiundzwanzig Erkunder eine gewaltige Macht nicht an der Haustür, sondern bereits im Flur dahinter; aber diese sechsundvierzig Einheiten konnten nicht das ganze Sonnensystem auf einen Schlag abdecken. Auch wenn vor allem die Erkunder locker mal problemlos auf halbe Lichtgeschwindigkeit beschleunigen konnten – sie waren die schwächsten Einheiten des Gegners. Die UEMF hatte mittlerweile gelernt, sie zu handhaben. Die Zeiten, in denen ein einzelner Schuss eines einzelnen Erkunders die Erde hätte vernichten können, also Teile der Oberfläche, oder gar eine terranische Fregatte, waren lange vorbei. Anpassungen an den Schilden und den Waffen der Menschheit machten sie den Erkundern ebenbürtig. So war es mit den Zerstörern, die einen Strafer aufwogen, und den Kreuzern, die mittlerweile einem Vernichter Paroli bieten konnten. Daraus resultierte, dass die Erkunder nicht mehr alleine flogen, denn das machte sie zur leichten Beute der Korvetten und ihren überragenden Tarnvorrichtungen. Solange die kleinsten Kampfschiffe der Menschheit zuerst schossen – und trafen – bedeutete es einen vernichteten Erkunder.
Überdies hatten die Menschheit und ihre Verbündeten, die Kronosier, die Naguad, die Anelph, die republikanischen Iovar, eine deutliche Überlegenheit bei Anzahl und Schiffsmasse. Das Verhältnis war in etwa zu jedem Moment mindestens eins zu zwei zugunsten Terras, und an reiner Tonnage waren sie sogar eins zu vier überlegen. Genauer gesagt eins zu drei Komma neun acht sieben drei fünf eins. Das konnte man so genau sagen, weil es verlässliche Konstruktionsdaten aus der zerstörten Werft der Nagalev gab, die zusammen mit dem unverseuchten Backuck von HIVAS von eben dem übergeben worden waren. Also massierten die Kinder der Götter ihre Robotschiffe an bestimmten Punkten, um den Terranern keinen Ansatzpunkt für einen Raid zu geben, der sie weitere Schiffe gekostet hätte.
Das bedeutete im Umkehrschluss natürlich, dass sowohl der Verkehr aus dem System hinaus als auch in das System hinein relativ unbelastet war. Auch der übliche Verkehr zwischen den Daimons Erde, Mond und Mars verlief ungestört, geradezu sorgenfrei. Aber das bedeutete nicht, dass diese Situation ewig so blieb, denn drei derartig gigantische Daimon aufrecht zu erhalten kostete eine Unmenge an Energie, und es war abzusehen, dass die Konstrukte in wenigen Tagen in sich zusammenfallen würden. Und dabei war es auch noch einmal fraglich, ob die Dai zumindest die Daimon über Atlantis wieder errichten konnten, um wenigstens diesen Ort weiterhin schützen zu können. Vielleicht ein Grund, warum der Pulk der drei Schiffsklassen von jenem Sprungpunkt, an dem sie bevorzugt das Sonnensystem anflogen, von ihnen verlassen wurde, und sie mehr ins innere System strebten. Langsam und vorsichtig, begleitet von UEMF-Schiffen in sicherer Distanz, aber stetig.
Aber es gab noch einen anderen, wichtigeren Grund für dieses doch recht waghalsige Manöver. Wenn man so wollte, war ein neuer Stein auf dem Spielbrett das erste Mal gezogen worden. Eine Spielfigur, deren Existenz die Menschheit vermuten konnte, aber von der sie naturgemäß nichts wussten. Diese Meisterstück näherte sich gerade der Erd-Daimon, in einem Vehikel, das keine zehn Meter lang und nur drei Meter breit war. Dieses torpedoförmige Objekt hatte die letzten drei Wochen benötigt, um sich vom Systemrand der Daimon zu nähern, und die meiste Zeit waren dabei für rein relativ sanfte gravitatorische Beschleunigungs-, und Abbremsphase ohne Triebwerksemissionen benötigt worden, denn das Objekt hatte zu Recht jede Auffälligkeit verhindern wollen. Dennoch waren drei Wochen für eine solche Reise noch immer kurz, auch wenn man auf der Erde mittlerweile ganz andere Reisegeschwindigkeiten gewohnt war. Es hob die Gefährlichkeit dieses fiesen Schleichers nur noch mehr hervor.
Nun waren die Kriegsschiffe der UEMF nicht von Idioten bemannt, und die Ortungsspezialisten rechneten durchaus damit, dass die Kinder der Götter etwas hatten, was der Tarnvorrichtung ihrer Foxtrott-Korvetten glich oder sie sogar noch übertraf, und noch war es sicher für alle Schiffe, sich außerhalb der Daimon aufzuhalten. Am Anfang der Okkupation des Sprungpunkts hatten die Kinder der Götter schmerzlich erfahren müssen, dass einzelne Erkunder und Strafer für die Terraner besseres Freiwild waren, und für die Vernichter hatten sie es gar nicht erst riskieren wollen. Deshalb suchten die Spezialisten der UEMF nach genau so einem Gebilde. Testeten jeden unbekannten Blip. Verfolgten jede Anomalie. Untersuchten, ob ein kosmischer Trümmerbrocken auch wirklich ein kosmischer Trümmerbrocken von der ermittelten Masse war, und nicht etwa ein viel größeres Schiff auf Schleichfahrt, das sich mit reduzierten Emissionen tarnte. Und ehrlich, die Leute waren auf Zack. Aber das nützte nichts gegen diese Technologie. Diese eine, ganz spezielle Technologie, die diese Spielfigur einsetzte, und die hoffentlich einmalig war. Diese erlaubte es dem Stein, dass das Gefährt sich trotz aller Bemühungen der Orter eine gute Lichtminute von der Daimon entfernt, also 180 Millionen Kilometer, an die TRAFALGAR anheften konnte, einer November-Klasse Fregatte unter UEMF-Flagge. Der Gewichtszuwachs betrug eine halbe Tonne, sodass die vermehrte Masse beim Manövrieren nicht auffiel; auch nicht aufgefallen waren Annäherung und Kontakt des fremden Schiffes. Hinterher behaupteten zwar einige der rund einhundert Besatzungsmitglieder, ein unbekanntes Geräusch gehört zu haben, so als würde sich ein Magnetschuh auf Stahl verankern, aber sicher genug, um Alarm auszulösen und die Außenhülle abzusuchen, war keiner gewesen.
Einmal an das terranische Kriegsschiff angeheftet, vertraute der Torpedo vollkommen seiner Tarnvorrichtung, die ihn ebenso unsichtbar machte wie eine Foxtrott-Korvette. Da er sich auch direkt am Schiff befand, konnten alle Sicherheitsmaßnahmen, die am Übergang in die Daimon verhindern sollten, dass sich unsichtbare Schiffe einschlichen, auch nicht greifen. Später würde jemand vorschlagen, alle einfahrenden Schiffe mit leistungsreduzierten Lasern zu beschießen, was unsichtbare Objekte dadurch enttarnt hätte, dass die Strahlen die Hülle nicht erreichten. Aber für dieses Mal war es eindeutig zu spät.
Huckepack wurde der Spielstein, nennen wir ihn ruhig weiterhin so, also in das Innere geschleppt, und bei der erstbesten Gelegenheit löste er sich wieder unauffällig. Nun hätte es einige Möglichkeiten für den Passagier des Vehikels gegeben, unerkannt die Erde zu erreichen, zum Beispiel über das Weltraumfahrstuhlsystem des Pazifiks, OLYMP und Titanen-Station. Oder über das Fahrstuhlsystem des Atlantiks, ARTEMIS und APOLLO. Der Torpedoförmige Flugkörper entschied sich aber dagegen und ging direkt in den Sinkflug über der Erde. Natürlich, wäre es ein konventionelles Raumfahrzeug der Erde des mittleren 20. Jahrhunderts gewesen, wäre es nicht nur mit einer hohen Geschwindigkeit in die Atmosphäre eingetaucht, sondern auch auf einer festen Umlaufbahn, und es hätte den Planeten mehrfach umkreist, bevor es hätte landen können. Die Ballistik hätte es dazu gezwungen. Aber dies war ein zwar kleines, aber hochmodernes Fluginstrument, das mit einem Hawk mithalten konnte. Also stieg es langsam wie ein Fahrstuhl über einen bestimmten Punkt der Erde hinab, ohne wie eine gigantische Fackel aufzuleuchten, weil die Luftreibung das nun mal so gemacht hätte. Gut, es gab ein paar Interferenzen in Form von ionisierten Luftmolekülen, aber selten. Und definitiv nicht genug, um das Gefährt zu entdecken oder gar zu identifizieren. Es war dabei aber sicher hilfreich, dass das Raumfahrzeug in relativer Distanz zum OLYMP herabkam, und dazu noch über dem freien Meer zwischen Neuseelands beiden Hauptinseln und dem fernen Kontinent Australien. Und damit in einer bequemen Entfernung zu Atlantis.
In etwa acht Kilometern Höhe setzte das Ding seinen Abstieg aus und nahm direkten Kurs auf den Kontinent der Dai. Unterhalb der Schallgeschwindigkeit, wohlgemerkt, um sich weder durch erneute Luftreibung, noch den Überschallknall zu verraten. Damit würde es die rund dreitausend Kilometer in etwas weniger als drei Stunden überwunden haben, und den bisher stärksten Spielstein der Kinder der Götter in sein Einsatzgebiet bringen. Seine Aufgabe: Die Vernichtung der Daimon, was die Erde noch vor der Ankunft der AURORA schutzlos machen würde. Der einzelne Passagier, wäre er dazu in der Lage gewesen, Emotionen zu haben, anstatt sie zu simulieren, hätte tief und lang geseufzt ob der Banalität der Aufgabe. Ein paar Dai töten, eine Daimon von innen deaktivieren. Das war keine besondere Herausforderung, das hatte der Spielstein in den letzten Jahrtausenden schon drei-, viermal getan, und nur einmal war es eine Herausforderung gewesen, das einzige Mal, als es ihm nicht gelungen war. Vor ein paar Monaten auf Iotan, als der Spielstein den Palast der Kaiserin für den gleichen Zweck infiltriert hatte, dort aufgeflogen war, gekämpft und verloren hatte und anschließend fliehen musste. Aber er hatte aus der Niederlage gelernt, denn das war seine Aufgabe, und die Daimon war danach schließlich doch zerstört worden. Er hatte dazu gelernt, war gerüstet, gewappnet. Aber wie gesagt, er war bar jeder Emotionen, sonst hätte er dieses leichte, dumpfe Pochen in seiner Leibesmitte als Nervosität oder gar Angst identifiziert, als er seiner Aufgabe näher und näher kam. Immerhin befand er sich in der einen, der wichtigsten, der ersten Daimon. Schade, dass Emotionslosigkeit auch bedeutete, dass er sich keine Zuversicht einreden konnte. Wenige Stunden entfernt von jenem Ort, an dem er Dai-Kuzo-sama und etliche weitere Dai töten würde.
1. Auf der Erde, Stunden zuvor
Die Runde, welche sich auf dem neutralen Hügel eingefunden hatte, war exklusiv zu nennen. Und in dieser Zusammensetzung sicher einmalig. Alle Anwesenden, die an dem hastig herbeigeschafften Tisch saßen – er war rund – waren nach eigener Aussage unbewaffnet. Allerdings lauerte in nur zehn Kilometern Entfernung die abgestürzte RASHZANZ, welche gerade mit Bordmitteln und freiwilliger Hilfe der Dai wieder repariert wurde, um sie einsatzfähig zu bekommen. Auf der anderen Seite erhob sich der Hügel, welcher das Kryowerk der Götter bisher verborgen hatte. Zumindest nahmen das alle Uneingeweihten soweit an. Sowohl das Schiff als auch die Anlage stellten zwei der Abordnungen am runden Tisch.
Die dritte Fraktion nahm quasi das Hausrecht ein und bestand im Prinzip aus dem ganzen Kontinent, auf dem sich das Götterschiff und die Kryo-Anlage befanden.
Vom Götterschiff, auf die Erde entsandt, um den erzwungenen Frieden mit den Dai zu überwachen, war kein Geringerer als Rooter Kevoran selbst erschienen, der Kapitän. In seiner Begleitung und direkt hinter ihm stehend war der Key, oder genauer ausgedrückt Helen Arogad, die im Moment von einer Art Sicherheitsvorrichtung besessen war, welche die RASHZANZ in jenem Moment reaktiviert hatte, als die Dai ihren Teil des Friedens gebrochen hatten. Wie dies geschehen war, durch ein Einzelereignis oder viele kleine, war nicht ganz klar. Einige Stimmen meinten, Akira Otomos Aufstieg zum Reyan Maxus könnte, dieses Signal gewesen sein, andere dachten eher daran, dass die Bürgerkriege sowohl im Reich der Iovar als auch bei den Naguad als direkte Bedrohung der Kinder der Götter angesehen wurden. Aber geweckt war geweckt, und ein Krieg schien unausweichlich. Zu diesem Zweck verfügte die RASHZANZ über eine endgültige Waffe, die in der Lage sein sollte, Atlantis, den Heimatkontinent der Dai, die dortige Daimon als auch gleich den ganzen Planeten Erde alias Lemur zu vernichten. Nur weil die Götter, welche die Besatzung bildeten, trotz ihres Auftrags an ihren Leben hingen, war sie nicht bereits gezündet worden. Grund genug hätten sie gehabt, die Götter.
Von der Kryo-Anlage war General Render Vantum persönlich gekommen, der Chef der konservierten Einsatztruppen. Jener Soldaten, welche die RASHZANZ für den Fall X unterstützen sollten. Und die stattdessen gegen das Schiff rebellierten. Wem da ein Widerspruch auffiel, der hatte Recht. Warum eine Kaserne mit Kryo-Einrichtung auf einem Planeten errichten, der von der Superwaffe zerstört werden sollte? Warum ihr einen rebellischen General, eine rebellische Besatzung geben? Die Antwort war simpel und erschreckend, denn die Kryo-Anlage existierte nur vordergründig für die Überwachung des Friedensvertrags. Tatsächlich gab es unter den militärischen Anlagen weitere Kryo-Systeme, in denen über einhunderttausend Zivilisten aus fernster Vergangenheit beherbergt wurden, welche hier Zuflucht fanden für den Tag X, an dem die Bedrohung für sie beendet war. Und es war naiv, anzunehmen, dass auch nur eine der beiden Anlagen ohne das Wissen, ja, das Zutun der damaligen Dai hatte errichtet werden können.
Da die Götter mittlerweile vernichtet schienen und nur noch die Naguad als deren Nachfahren, aber ohne deren Wissen existierten, hatte sich dieses Vorhaben als äußerst richtig herausgestellt. Wenn man dann noch bedachte, dass es unter der Daimon auf Iotan, der Kronwelt des Reichs der Iovar genauer gesagt dem Palast der Kaiserin ebenfalls Kryo-Anlagen gab, die bis zu einer Million Götter beherbergen konnten, wurde die Lage eher noch verwirrender. Der Angriff der Kinder der Götter auf die Hauptwelt und die Vernichtung des Daimons samt Palast hatte zwar keine iotanischen Leben gefordert, weil der Palast bereits beim dritten Strafer-Angriff geräumt gewesen war. Aber Aris Ohana Lencis, die Prätendentin des neuen Reichs und Akiras Urgroßmutter, hatte nach einer ersten Inspektion davon gesprochen, dass mindestens zehn Prozent der Kryo-Anlagen der Götter unter dem Palast vernichtet worden waren. Es bliebt eine geringe Hoffnung, dass die tieferen Lagen der beschädigten Schichten von der Vernichtung der Daimon verschont geblieben waren, oder dass Kaiserin Arac umsichtig genug gewesen war, die gefährdeten Sektionen räumen und die dort konservierten Götter retten zu lassen, denn es waren wirklich nur die Reste einiger weniger Anlagen, jedoch keine Überreste von Lebewesen gefunden worden. Schrödingers Paradoxon. Der Angriff war stark genug gewesen, nichts Organisches zurückzulassen, aber solange man keine Toten fand, konnte auch nur Material vernichtet worden sein. Aber das waren Spekulationen, die hoffentlich bald von Fakten ersetzt wurden.
Begleitet wurde er von einer Göttin mit resoluten Augen, die er als „Bürgermeisterin Revenk Zohel“ vorgestellt hatte, die Sprecherin der Zivilisten, welche ebenfalls gerade erweckt wurden. Bei der Konferenz an Bord der RASHZANZ vor wenigen Tagen, auf der Götter, Dai und Menschen einen gemeinsamen Standpunkt erarbeitet hatten, war sie noch nicht dabei gewesen. General Vantum hatte die Erweckung der Zivilisten erst etwa zu jenem Zeitpunkt begonnen, ab dem abzusehen gewesen war, dass die Erde nicht in allernächster Zeit vernichtet zu werden drohte. Damit die Zivilisten entweder eine Chance bekamen, zu überleben, oder aber gnädig im Eisschlaf getötet wurden, ohne etwas vom eigenen Tod mitzubekommen. Also war es ein gutes Zeichen, dass die Frau mit ihnen am Tisch saß, geradezu ein Zeichen der Hoffnung und eine Geste des Vertrauens.
Die letzte Fraktion, die sich hier eingefunden hatte, bestand im Moment nur aus einer Person. Eine, die immer verzweifelter wurde, je mehr Zeit verstrich und sie weiterhin die einzige Repräsentantin der Erde oder auch Lemur war. Diese Person, ein junges Mädchen aus Japan, das ein sehr großes Talent für den Pilotensitz des Eagles und taktisches Können bei der Führung einer Einheit bewiesen hatte, war eine der Ersten gewesen, welche das aus dem Marianengraben aufsteigende Götterschiff bekämpft hatten. Und im Moment wünschte sie sich, wieder vor den Kanonen der RASHZANZ herumzufliegen, anstatt bei der wahrscheinlich wichtigsten Zeremonie der Menschheit seit der Niederlage der Kronosier die Erdenseite vertreten zu müssen.
Nun, ganz allein war sie nicht, denn zwei junge Männer, etwa in ihrem Alter, standen ein wenig hinter ihr. Die beiden waren Luc Valsonne und Philip King, ihre Mitverschworenen, mit denen sie die Dai hatte aufmischen wollen. Dann war alles anders gekommen, und das nicht zuletzt, weil ein gewisser Thomas als John Takei aufgetreten war, unter der er den subversiven Aktionen der kleinen Gruppe zum Erfolg hatte verhelfen wollen. In Wirklichkeit aber hatte Thomas die Aktivisten auf den Mechas auf ihre Tauglichkeit getestet, sie aus den gröbsten Verbrechen rausgehalten und mit der Wahrheit konfrontiert, als er ihre Fähigkeiten gebraucht hatte, um das Götterschiff zu bekämpfen. Denn die RASHZANZ war damals dem eigentlichen Plan dazwischen gekommen, und sie waren gebraucht worden, um die Erde zu retten. Haru Mizuhara fühlte sich trotzdem allein an diesem großen Tisch, mit all der Verantwortung und den vielen auf sie gerichteten Augen in Form mehrerer Fernsehkameras. Sie war ja noch nicht mal offiziell in irgendeiner Funktion tätig, in keinster Weise akkreditiert, nicht mal der UEMF oder den japanischen Verteidigungsstreitkräften beigetreten. Und die Jungs, die beiden Feiglinge, ließen sie hier in Stich. Haru hätte gerne gezittert, aber nicht mal das traute sie sich. Zwar war sie kurz instruiert worden, wie die Zeremonie ablaufen sollte, aber das half nicht viel beim Gedanken, dass sie es war, der sie durchführen sollte.
Vor kurzem hatte sie einem General oder so gegenüber gestanden, einem Typ mit verdammt viel Lametta auf der Schulter und genügend Ordensbändern auf der Brust seiner Dienstuniform, dass ein Teil davon auf der Brusttasche angebracht hat werden müssen, Nathan Kreuzer. Einer von der Speerspitze, jener eilig zusammengestellter Einheit, welche vom zweiten Marsangriff mit der BISMARCK, der LOS ANGELES und den beiden Fregatten abgelenkt hatten. Mittlerweile kommandierte er die Titanen, also die beste auf der Erde verbliebene Mecha-Einheit. Aber Haru hatte keine Angst vor ihm gehabt. Sie hatte sich als Profi gesehen und ihn als Profi, nur dass er ihr nichts zu sagen gehabt hatte. Das war in Ordnung gewesen. Aber hier und jetzt schrieb sie Geschichte vor laufenden Fernsehkameras, und sie war so nervös, dass sie nicht mal mit den Zähnen klappern konnte. Und all das nur, weil sie Dai-Kuzo-sama, die Große Spinne, gefragt hatte, warum sie nicht Dai-Kumo-sama hieß, weil Kumo das japanische Wort für Spinne war.
Aber anstatt darauf einzugehen hatte die Große Spinne geantwortet: „Ach, eine Neunmalkluge, wie? Wenn du so superschlau bist, dann kannst du deine Fähigkeiten ja mal im Sinne der Erde nutzen. Da ist der Konferenztisch. Setz dich in den Sessel, der mit dem Rücken direkt in deiner Richtung steht, und improvisiere.“
Haru hatte keine Zeit gehabt, zu protestieren, aufzubegehren oder auch nur einen einzigen Laut von sich zu geben. Die Große Spinne war von einer Aura begleitet worden, die ihr einredete, die große Dai mit den langen schwarzen Haaren war wirklich eine Spinne, ein gigantisches Raubtier mit messerscharfen Mandibeln, mit denen sie die kleine japanische Schülerin in kleine Fetzen reißen würde, um die Bruchstücke zu ihrem Spinnenmund zu führen, wo sie die einzelnen Stückchen genüsslich verspeiste. Haru wusste, dass die Dai ihre KI-Fähigkeiten einsetzte, um ihr Gegenüber unter großen mentalen Druck zu setzen, und was sollte sie sagen? Es funktionierte ganz großartig, und ohne jede Form von Widerspruch hatte sie doch noch Platz genommen.
Mittlerweile war eine Stunde vergangen, ihre Gäste waren angekommen und hatten sich vorgestellt, Haru hatte das erwidert, war aufgestanden, jeden mit Handschlag begrüßt und zum Tisch an ihre Plätze geführt. Danach hatte sie wieder Platz genommen, Erfrischungen in Form von Getränken und kleinen Snacks angefordert und auch geliefert bekommen. Routiniert hatte sie darauf hingewiesen, dass diese Nahrung nicht nur gut verdaulich und verwertbar für Götter war, sondern dass sich auch einige Naguad, Nachfahren der Götter, positiv über den Geschmack geäußert hatten. Somit hatte sie etwa fünf Minuten überbrückt, die ihr wie zehn, zwölf Tage vorgekommen waren. Während also Helen Otomo „ihrem“ Kapitän einen Weißtee eingoss und einige der Schnittchen empfahl, und die beiden Vertreter des Kryo-Archivs sich gegenseitig zur Kostprobe der bunten Leckereien ermutigten, hatte Haru sich geräuspert.
Geräuspert. Aufmerksamkeit eingefordert. Von Leuten, die so weit über ihr standen, dass, wäre sie auf ihre Schultern geklettert, die Höhenluft für sie zu dünn geworden wäre. Aber sie hatte es getan, und vier Paar Augen und etwa zwei Dutzend Kameras richteten sich auf sie.
„Ich bin keine offizielle Vertreterin der UEMF, wie ich ihnen bereits gesagt habe, aber Dai-Kuzo-sama hat mir die große Ehre erwiesen, ihre beiden Fraktionen zu empfangen. Wie Sie wissen, geht es nach unserer Einigung in der RASHZANZ-Konferenz nicht mehr um Entscheidungen, nur noch um die Ergebnisse dieser Entscheidungen. Genauer gesagt um die Unterzeichnung der Verträge, welche sowohl die RASHZANZ samt Crew als auch die Einsatzgruppe General Vantums in die UEMF eingliedern, sowie die Siedlungsverträge der Zivilisten der Kryo-Anlage, vertreten durch Bürgermeisterin Revenk Sohel, auf Erde, Mond oder Mars festlegen. Im Klartext: Wir verbünden uns gemeinsam gegen die Kinder der Götter. Welche nicht nur für unzählige Angriffe auf das iovarische Kaiserreich und das Imperium der Naguads, sondern auch auf die Erde selbst sowie etliche Daima-, und Daina-Siedlungssysteme im kosmischen Umkreis von rund einhundert Lichtjahren verantwortlich sind. Und der versuchten Auslöschung des Volkes der Götter selbst.“
Die Bürgermeisterin hob eine Hand. „Hat die Verzögerung etwas damit zu tun, dass die beiden Daimons um Erde und Mond sowie um den Mars zu versagen drohen?“
Haru atmete innerlich auf. Gut, niemand stellte ihre Anwesenheit in Frage. Und wenn sie das wohlwollende Lächeln von Helen Otomo betrachtete, hatte sie eventuell sogar eine Verbündete hier am Tisch. Eine sicherere Verbündete als diese neuen Verbündeten generell. In etwa. Allerdings war das Thema, das Revenk Sohel angesprochen hatte, ernst genug.
„Es ist ein offenes Geheimnis. Ja, die beiden Daimon werden in naher Zukunft zusammenbrechen. Ja, es befinden sich mehrere Strafer und Erkunder der Götter im System – nichts für ungut, so haben wir sie bisher genannt – und auch einige Vernichter. Wie wir mittlerweile wissen, können die Hauptwaffen der AURORA mit Unterstützung von KI-Meistern und des Reyan Maxus Akira Otomo auch die Vernichter der Götter – der KINDER der Götter, Entschuldigung – zerstören. Aber es dauert noch einige Zeit, bis das größte Schiff der Menschheit seinen letzten Sprung beendet hat, und wir haben gute Chancen, dass die beiden Daimon vorher versagen.“ Sie sah auf das Armband, das ihr irgendjemand – eventuell Thomas, der elende Verräter, wo war er, der Schuft? – umgelegt hatte. „Nach unseren Schätzungen ist dies in etwa siebzig Stunden der Fall. Zu diesem Zeitpunkt wird die RASHZANZ noch nicht raumtauglich sein, und wir haben zu dann auch keinen Einsatzgrund für ihre Elite-Infanterie, General Vantum. Aber die UEMF und die ganze Erde würden nun gerne Nägel mit Köpfen machen und vertraglich fixieren, was mündlich vereinbart wurde.“ Sie sah zu Helen herüber. „Außerdem bitten wir Sie, Kapitän Kevoran, als Zeichen des guten Willens den Key in Helen Otomo als von ihnen deaktiviert zu betrachten.“
Irritiert sah der Gott die junge Pilotin an. „Verzeihung, die Schnellschulung in deiner Sprache war eventuell etwas lückenhaft. Sicher wolltest du sagen, dass ich den Key aus Helen Arogad entferne.“
Haru wusste nicht, was über sie kam, und woher sie diese Sicherheit nahm. Aber gemütlich lehnte sie sich zurück, lächelte überlegen und sagte: „Kein Übersetzungsfehler, Kapitän. Ich möchte Sie darum bitten, Helen Otomo ganz offiziell aus ihrer Pflicht zu entlassen, die sie durch Vererbung in ihrer Familie an Sie und die RASZANZ bindet. Es besteht keinerlei Notwendigkeit mehr, eine Form von Zwang auszuüben, wenn wir Verbündete sind. Sie sind zudem mit unseren wichtigsten Verbündeten, den Naguad, verwandt, quasi deren Vorfahren, also können Sie sicher sein, dass dieses Bündnis auch halten wird, ohne dass Helen Otomo diese Welt hochjagt.“
Hätte man Verblüffung eintüten können, bei Kapitän Kevoran wäre ein findiger Agrarökonom auf die Ernte seines Lebens gestoßen.
„Nun gib dich doch nicht so begriffsstutzig, du alter Narr!“, donnerte General Render Vantum. „Helen Arogad ist nicht länger unter deiner Kontrolle! Offensichtlich hat sie den Key in sich, der sie zur Loyalität zwingt, bereits schon lange besiegt!“
Erstaunt sah Rooter die Halb-Naguad an. Er erhob sich, legte die rechte Hand auf ihre Stirn und erstarrte so plötzlich, dass man meinte, er wäre in der Zeit eingefroren. „Es ist also wahr. Unser stärkstes Druckmittel … Wann, Key?“
„Ich glaube, du solltest in Zukunft öfter Helen Otomo oder Helen Arogad zu mir sagen, das ist mir beides recht“, erwiderte sie. „Aber, wenn du es genau wissen willst, etwas nach der Notlandung der RASHZANZ. Als die Tigerdämonen unter Dai-Tora-sama das Schiff stürmten, hatte einer von ihnen einen besonderen Auftrag. Die Tigerdämonen sind sehr gut in Partikelkontrolle, deshalb hat Dai-Tora ja auch ein vorgebliches Leben als Magier geführt. Dieser unterstützte mich dabei, die Kontrolle über den Key zu vervollkommnen und den Sprengsatz zu entschärfen.“ Sie lächelte. „Wenn ich immer noch hier bin, liegt es daran, dass ich einen Sinn darin sehe, dich zu unterstützen, so wie ich euch auch nach der Kryo-Phase unterstützt habe. Immerhin seid ihr nicht nur unsere Vorfahren, sondern ihr seid genauso benutzt worden wie die Dai.“
„Du hast also den Key deaktiviert?“
„Ja.“
„Die Vernichtungsoption für die Erde beendet?“
„Ja. Der Sprengkörper wurde übrigens geborgen und wird an anderer Stelle verwendet. Schau nicht so. Uns war von Anfang an klar, dass die RASHZANZ bei all ihrer Macht nicht allein in der Lage sein konnte, die Erde zu vernichten, zumindest nicht auf einen einzigen Schlag. Und nein, ihr kriegt den Sprengkörper nicht zurück. Er ist der Schlüssel zu einen, hm, anderen Ereignis.“
„Das war geplant?“, fragte Rooter.
„Nein. Nichts davon war geplant. Wir hätten es gerne vermieden, die RASHZANZ zu wecken. Jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt und nicht aus dem Grund, dass das Vertragswerk verletzt wurde“, erklärte die Halb-Daima. „Ebenso gut hätten wir liebend gerne auf eure Kämpfe mit unseren chinesischen Verbündeten verzichtet, dem Absturz deines Schiffs auf Atlantis, und noch ein paar Dutzend Dinge mehr. Was wir aber getan haben, das war, den Schaden, der angerichtet werden würde, so gut wir es konnten einzudämmen. Die Schäden an deinem Schiff konnten wir leider nicht verhindern. Tatsächlich gab es eine Option, zu der ich zum Glück nicht greifen musste. Sie hätte beinhaltet, alle leitenden Offiziere an Bord zu töten, oder wenn es sein musste, jedes einzelne Besatzungsmitglied.“
„Mein Tod hätte aber …“ „Dein Geist wäre getötet worden. Dein Körper hätte weiter existiert, mit schlagendem Herzen und einer gewissen Grunddenkleistung des Gehirns, um die Vernichtungsschaltung nicht auszulösen. Wir hatten genug Zeit, euch zu studieren, Rooter Kevoran. Aber das wäre ein sehr komplexes und gefährliches Vorhaben gewesen, zu dem wir nur im äußersten Notfall gegriffen hätten. Die Situation war unübersichtlich genug, so wie sie war.“
Haru räusperte sich ein zweites Mal. „Bitte, Kapitän Kevoran. Wenn Sie unserer Anfrage nachgeben könnten, wäre das hilfreich für unsere zukünftige Zusammenarbeit.“
Erneut sah der Kapitän der RASHZANZ zu ihr herüber. Noch immer war er verblüfft. „Ich verstehe langsam, warum meine Vorgesetzten zu so ungewöhnlichen Mitteln gegriffen haben, um die Dai auszukontern. Und es hat trotzdem nicht gereicht.“
„Aber es hat uns die Möglichkeit gegeben, eine der letzten existierenden Siedlungswelten unseres Volkes zu räumen, die Überlebenden zu bergen und zu verstecken, in der Hoffnung, dass wir alle lange genug schlafen würden, um die Epoche der Kinder der Götter hinter uns zu haben, wenn wir wieder erwachen.“ General Vantum seufzte. „Ja, wir waren in dem Moment eure Gegner, Rooter, als die Dai uns halfen, die Kryo-Anlage für unser Volk zu errichten. Leider hat sich unser aller Hoffnung nicht erfüllt. Die Kinder der Götter haben so viel Widerstand bekommen, dass sie sich entschlossen haben, ihrerseits die Verträge zu brechen und zu versuchen, mit der von ihnen errichteten Macht aus fünfzigtausend Jahren Erde und Mond zu vernichten. Und damit auch unsere Keimzelle für eine Wiedererrichtung unserer Zivilisation.“
„Eine unserer Keimzellen“, wandte die Bürgermeisterin ein. „Aufgrund der Aktionen der AURORA kennen wir eine weitere, auf Iotan, und wir können für die dort eingefrorenen Götter nur das Beste hoffen. Frau Mizuhara, wir wurden darüber informiert, dass Kaiserin Arac und ihr wichtigstes Gefolge … Wie soll ich es sagen? Vor den eigenen Truppen desertiert sind und sich jetzt, etwa achthundert Personen stark, auf der ADAMAS und der AURORA befinden. Angeblich wurden sie durch Naniten kontrolliert, eine Methode, die wir in ähnlicher Form auch beim Key verwendet haben. Ist es möglich, wenn diese Daima sich erholt haben, mit ihnen zu sprechen? Niemand kennt hier die Positionen der anderen Refugien meines Volkes. Dies geschah aus Sicherheitsgründen. Aber vielleicht haben sie Hinweise auf diese für uns, und wir können den Kindern der Götter zuvor kommen und weitere Angehörige unseres Volkes retten, so wie die Nagalev, von denen uns auch berichtet wurde.“ Sie sah kurz zu Rooter Kevoran herüber. „Du kannst es nicht wissen, aber in den zehn Jahren, nachdem die RASHZANZ auf der Erde installiert wurde und der Bau der Kryoanlage begann, erlebte unser Volk eine Wucht der Zerstörung, die eindeutig nicht von den Dai ausging, sondern von unseren eigenen Kampfschiffen. Als wir gerettet haben, was noch zu retten war, halfen uns ausgerechnet jene, die wir zu unseren Feinden erklärt hatten.“
Ihr Blick verlor sich für einen Moment in der Ferne. „Wir werden erneut bedroht. Auf den Welten, die ihr Terraner West End und East End nennt, und auf der zwei Daimon zerstört worden sind, wurden es vielleicht auch unsere Kryo-Anlagen. Aber obwohl die Kinder der Götter auf beides die Jagd eröffnet zu haben scheinen, Daimon und Kryo-Anlagen, ist es jetzt vielleicht unsere einzige Chance, so viele unseres Volkes wie möglich zu retten. Sollte die Erde in einer Woche noch existieren.“
Haru runzelte die Stirn. „Das ist nichts, was ich versprechen darf oder auch nur kann. Kaiserin Arac wird selbst entscheiden, ob sie mit den Göttern reden wird, oder nicht. Aber ihr Anliegen, Bürgermeisterin, wird ihr vorgetragen werden. Dafür sorgen alleine diese Fernsehkameras, deren Sendung auch auf der AURORA empfangen wird. Persönlich sehe ich nichts, was dem widerspricht. Sobald wir Verbündete geworden sind“, fügte sie spitz an.
„Moment. Bevor wir tatsächlich zu den Verträgen kommen, möchte ich ihrer Bitte entsprechen, Frau Mizuhara.“ Rooter Kevoran erhob sich von seinem Sessel. Er wandte sich Helen Otomo zu.
„Mit der Kraft meiner Befehlsgewalt entlasse ich dich, Helen Arogad, aus deiner Pflicht der RASHZANZ gegenüber. Und ich erkläre den Vertrag zwischen Göttern und Dai für voll erfüllt und ziehe damit die Drohung der totalen Vernichtung der Erde zurück. Da es augenscheinlich keinen Götterstaat mehr gibt, rechne ich auch nicht damit, dass es eine Instanz über mir gibt, die diese Entscheidung zurücknehmen kann. Sie ist eh nur eine Formalie.“
„Danke, Kapitän“, sagte Helen mit einer Verbeugung, einer leichten.
Rooter sah zur japanischen Schülerin herüber. „Reicht es so, Frau Mizuhara, oder haben Sie an etwas Förmlicheres gedacht?“
„Förmliches haben wir wahrlich noch genug, Kapitän“, erwiderte sie, und wie hingezaubert standen Philip King und Luc Valsonne hinter ihr, große Ledermappen in den Händen, welche sie vor dem Kapitän und dem General und der Bürgermeisterin aufklappten und präsentierten. Dazu zückten sie klassische Füllfederhalter.
„Ihr Zeichen bitte hier und hier, General. Frau Bürgermeisterin, bitte hier und hier.“
„Kapitän, bitte unterschreiben Sie hier und hier.“
Als die drei ihre Unterschriften gesetzt hatten, rückten Luc und Philip auf. Luc kam zu Haru und legte ihr die Mappe vor, Philip hielt die Mappe, die bereits Kevorans Unterschrift beherbergte, dem General und der Bürgermeisterin vor.
„Hier, bitte, und hier, Haru-chan“, sagte Luc.“
„Ich bin kein offizieller Vertreter der Erde“, sagte sie verdutzt.
„Bitte hier und hier, General. Frau Bürgermeisterin, hier und hier. Danke.“
„Du bist vor zwei Stunden als Diplomatin der UEMF akkreditiert worden“, sagte Luc. „Nun mach schon, hier, und dann hier noch mal.“
Haru war zu verblüfft, um etwas zu erwidern, stattdessen unterschrieb sie mit ihrem Namen im Stil des westlichen Alphabets, auch wenn dadurch ihrer Meinung einiges an der Bedeutung ihrer echten Unterschrift in Kanji und Hiragana verloren ging, aber es musste ja nicht mit Gewalt kompliziert gemacht werden. Okay, nicht noch mehr mit Gewalt verkompliziert werden.
Dann wechselten die Mappen wieder, Philip kam zu ihr, Luc ging Kapitän Kevoran herüber. „Hier und hier bitte, Haru-chan.“ Er lächelte sie an. „Gerade Diplomatin geworden, und schon unterschreibst du im Auftrag der Menschheit. Rasante Karriere, was?“
„Ach, hör auf, ich bin so nervös, dass ich es nicht mal schaffe zu zittern“, erwiderte sie und unterschrieb an beiden Stellen. „Außerdem werdet ihr beiden mir das noch büßen.“
„Und Sven kriegt nichts ab?“, spöttelte Philip. „Der weiß, was gut für ihn ist, und hat sich nicht hieran beteiligt“, erwiderte sie böse schmunzelnd. „Ich werde es ihm ausrichten, während ich ihn dran erinnere, dass er sich ausdrücklich vor Eikichi Otomo ausgesprochen hat, dass du diese Situation meistern kannst“, schmunzelte er.
„Ach, ist er doch involviert? Wie geht es ihm?“
„Es geht ihm gut genug, um sich zu streiten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie vehement er sich für dich ausgesprochen hat.“
„Und das soll mir jetzt schmeicheln?“, fragte sie dünnlippig. „Nein. Es soll dir nur sagen, dass wir dir alle vertrauen. Die Alternative wäre gewesen, Thomas hierhin zu setzen, und du stimmst mir doch sicher zu, dass das absolut nichts für unseren falschen John Takei gewesen wäre, oder?“
„Punkt für dich“, sagte sie, den letzten Strich mit dem Füller führend. Dann hielt sie inne und sah auf die Mappe herab. Vier Unterschriften, drei Fraktionen, die mit dieser Aktion erst zwei werden würden, indem die Besatzung der RASHZANZ und die Truppen und die Zivilisten der Kryo-Anlage zu einer einzigen wurden, und dann die Verschmelzung aller mit der UEMF. Sie machte sich klar, dass dies ein mehr als geschichtsträchtiges Dokument war. Eines würde die UEMF erhalten und aufbewahren, eines würde in die Hände der Bürgermeisterin gegeben werden, um zu unterstreichen, für wen das Militär der Götter überhaupt kämpfte.
Sie bekam kaum mit, dass Philip ihre beiden Unterschriften mit einem Wiegelöscher antrocknete und dann die Mappe wieder schloss. Hatte er das bei allen Unterschriften gemacht?
Philip nahm die Mappe auf und ging zurück zum General und der Bürgermeisterin, während Luc zu ihr ging. Zeitgleich überreichten sie ihre Mappen. Haru nahm ihre mit klammen Fingern entgegen. Einmal mehr war sie sich bewusst, dass hier wirklich, wirklich Geschichte geschrieben wurde. Nicht einfache Geschichte, sondern Akira-Style-Geschichte. Es war ein Wunder, dass die Verantwortung sie nicht auf der Stelle umbrachte. „Danke“, bekam sie stockend hervor. Bevor Luc aber wieder im Hintergrund verschwinden konnte, hielt sie ihn am Ärmel fest. „Wo sind eigentlich Direktor Otomo, die große Spinne, sowie jeder ernstzunehmende, hm, länger als ich akkreditierte Vertreter der UEMF, die diese Aufgabe vermutlich besser hätten erledigen können?“
Lucs Gesicht wurde ein wenig fahl. „Weißt du es nicht? Ahnst du es nicht?“ Er deutete zu Kapitän Rooter Kevoran, der sich jetzt zum General und der Bürgermeisterin begab, weil er alleine war. Helen Otomo war verschwunden, vermutlich mit dieser Methode, die wirklich, wirklich fähige KI-Meister „Reisen auf Ley-Linien“ nannten.
„Wo ist sie hin?“
„Dahin wo die anderen KI-Meister auch sind. Sie versuchen, die Daimon mit ihrem KI ein letztes Mal zu stärken, damit sie durchhält, bis die AURORA ins Sonnensystem zurückgekehrt ist. Dafür wechseln sie sich in Schichten ab, und jeder, der eine dieser Schichten übernehmen kann, erkauft uns ein wenig mehr Zeit vor dem Kollaps. Die AURORA wird zwar deutlich vor Ablauf der siebzig Stunden eintreffen, nämlich genau in vier, aber erstens ist sie dann noch nicht bei uns angekommen, und zweitens ist unser wichtigster Schutz gegen die Kinder der Götter immens wichtig. Stell dir vor, die Daimon der Erde würde jetzt doch schon in der nächsten Stunde zusammenfallen. Automatisch würde eine Schlacht beginnen, bei der uns die AURORA bitter fehlen würde. Von der Verwundbarkeit unseres Heimatplaneten ganz zu schweigen.“
„Oh“, machte Haru und fühlte sich schuldig für ihre Nervosität. Aber … „Heißt das, ich musste das hier machen, weil ich übrig war?“, zischte sie Luc zu.
„Nein“, erwiderte er, ihre Hand von seinem Ärmel entfernend, sanft natürlich. „Du warst von denen, die übrig und verfügbar waren, die Beste für die Aufgabe.“ Mit diesen Worten zog er sich wieder zurück, und Philip folgte ihm, wohlweislich ihren Blick vermeidend. So schlimm war sie nun auch wieder nicht. Fand sie selbst.
Als die beiden wieder ein Stück hinter ihr standen, war es ihr, als würde noch etwas erwartet werden. Nur was? „Kapitän Rooter Kevoran und die Besatzung der RASHZANZ“, begann sie vorsichtig, sich ans Thema heranpirschend. „General Render Vantum und die Infanterie der Kryo-Anlage. Bürgermeisterin Revenk Zohel und die Zivilisten, die Sie vertreten.“ Sie erhob sich, und die, also der General und die Bürgermeisterin, die noch saßen, taten es ihr nach.
„Willkommen in der United Earth Mecha Force. Willkommen auf der Erde. Und willkommen im Panstellaren Bündnis der Daina, der Daima und der Dai. Noch jemand ein Getränk, oder was Härteres? Ich darf ja nicht, aber Sie drei sehen so aus, als könnten Sie was gebrauchen.“
„Gerne“, sagte der General. Wie hingezaubert stand Luc da, ein Tablett in der Hand, auf dem verschiedenste Gläser mit Schnaps, Bier, Wein und nichtalkoholischen Genussmitteln stand. Er erklärte kurz, was was war und welche Wirkung es hatte, und reichte Haru ein garantiert alkoholfreies Getränk, eine braune Flüssigkeit, die mit absoluter Sicherheit Cola war. Damit stieß sie mit den neuen Verbündete an und nahm einen Schluck.
Beinahe hätte sie die Flüssigkeit wieder ausgespuckt, aber nur beinahe. Cola Light. Wirklich jetzt? Cola Light? Sie hatte nicht ein Gramm Fett zu viel am Körper, außer wo es unbedingt sein musste wie an ihrem Busen, und dann Light? Sie beschloss, später ein ernstes Wort mit Luc zu haben. Ein sehr kurzes ernstes Wort. Aber alles in allem war ihre erste diplomatische Mission im Dienste der Menschheit doch ganz gut gelaufen. Fand sie selbst. Mittlerweile.
2. Wenige Stunden zuvor auf der AURORA
Die kleine Gruppe an Militärs und Wissenschaftlern, die sich in der Poseidon-Flottenzentrale eingefunden hatten, um jenen Chip zu sichten, den Dai-Kitsune-sama von ihrem Einsatz mitgebracht hatte, konnte man Top Notch nennen. Angeführt wurde das Treffen von niemandem geringeren als Colonel-Professor Kevin Lawrence, Chefwissenschaftler der AURORA, frisch befördert und mit Lehrstuhl belehnt. Dazu kam Admiral Kei Takahara für die Sichtung der Ergebnisse, und natürlich waren auch einige Slayer anwesend, zumindest Ami Shirai, Sarah Anderson und natürlich ihre offizielle-inoffizielle Chefin Hina Yamada, übrigens ganz offizielle Chefin des Otome-Bataillons, da sie an den Untersuchungen der Daten auf dem Chip beteiligt worden waren. Einige weitere Experten wie Admiral Tetsu Genda, Mamoru Hatake und Ban Shee Ryon sowie eine Belta von den Nagalev waren ebenfalls anwesend. Vertreten war auch der österreichische Universalwissenschaftler Doktor Beer, der seit seinem Eintreffen, nun, sagen wir, einige Dinge beschleunigt hatte. Nur nicht den Bau einer großen transformierbaren Macross-Festung, wie er zum eigenen Bedauern immer wieder feststellen musste. Aber er hatte entscheidend zur Verbesserung der Hämmer des Hephaistos beigetragen. Unter anderem.
Alles in allem hatten sich zehn hochkarätige Personen um den Chip versammelt, der nicht nur ein unverseuchtes Backup von Father enthielt, dem Abbild des Zentralrechners der vernichteten Gigantwerft, HYVAS. Ebenfalls verfügbar waren Daten zu den verschiedenen von den Kindern der Götter eingesetzten Schiffstypen, zu den aktiven Schiffen selbst, zu Flugvektoren, Waffensystemen und jede Menge Gekrause. Gekrause? So nannten die Computerexperten alle anderen Daten, die über die letzten fünfzigtausend Jahre als speicherungswürdig angesehen worden waren, aber nicht direkt militärisch nutzbar waren, so vor allem Log-Einträge, Ortungen, Materiallisten, Hinweise auf automatische Ressourcen-Ernter innerhalb und außerhalb des Systems. Und, was am wichtigsten war, Hinweise auf weitere Gigantwerften wie jene, die gerade erst zerstört und aus deren Innern die überlebenden Nagalev gerettet worden waren.
Es war pure Ironie, dass das Gekrause sehr schnell interessanter wurde als die technischen Daten und die kosmischen Koordinaten möglicher Götter-Stützpunkte. Enthielt es doch auch ein Log von, nennen wir es Wartungen, mit denen die Naniten, die HYVAS im Griff behielten, auf den neuesten Stand gebracht, aufgefrischt, aufgefüllt, ausgetauscht und repariert wurden. Dies war in den letzten rund fünfzigtausend Jahre in einem achtzehnmonatigen Intervall passiert, plusminus neunzig Stunden und elf Minuten. Also rund dreiunddreißigtausend Mal. Und jede dieser Wartungen wurde von der gleichen Person erledigt. War es schon so unverständlich und ungeheuer bemerkenswert, dass es eine Zivilisation geschafft hatte, diesen enormen Abgrund der Zeit als existierendes und lebensfähiges Gebilde zu überwinden, so erstaunte dies umso mehr. Immer die gleiche Person. Exakt die gleiche Person. Niemals alternd, sich nie verändernd. Stets in einem ähnlichen Rhythmus sprechend, sich stets gleich bewegend, eine jedes mal identische Mimik nutzend, und augenscheinlich immun gegen die harte Gamma-Strahlung, welche das Zentrum geflutet und alle dort arbeitenden Nagalev auf „gut durch“ gegart hatte. Das Wesen war einem Vogel nicht unähnlich und reich mit Federn geschmückt. In der Grundform war es humanoid, und die Flügelähnlichen Extremitäten endeten in sieben Greifklauen, mit denen es erstaunlich feinmotorische Arbeiten erledigen konnte. Eine der Krallen war sogar als organische Schnittstelle konzipiert, über die das Wesen direkten Zugriff auf HYVAS nehmen konnte. Für die Sichtung der Daten jedoch brauchte er wieder die Monitore im Computerkern.
Nun konnte man weder sagen, dass dieses Wesen, oder auch nur seine Spezies besonders bekannt war. Oder je eine Rolle gespielt hatte. Auch für Belta war es neu. Aber alle anderen Anwesenden waren einem Abbild dieser Spezies bereits einmal begegnet, auch wenn es den Meisten nicht bewusst war. Nämlich in jenem Bericht, den Akira Otomo verfasst hatte, nachdem er als Reyan Maxus erwacht war und mittels der Kontrolle der Atomkraft die Größe von Prime Lightning vorübergehend verdreifacht hatte – einhergehend mit einer Art Vision der Kinder der Götter. Eine Art Gericht, ein Gremium, ein Vorstand. Eines der Wesen, die Akira dort gesehen hatte, war ein Vogelähnlicher gewesen. Federführend waren ein Insektoide, ein dürrer, silberhäutiger Humanoide und ein Echsenabkömmling gewesen, dominiert vom Abbild eines Auges auf einer Pyramide. Aber damals waren mehrere weitere Vertreter anwesend gewesen und hatten für sich in Beschlag genommen, die Kinder der Götter zu sein. Akira hatte einen umfassenden Bericht nach dieser Begegnung abgegeben, und als er um weitere Details gebeten worden war, rekonstruierte er sämtliche Vertreter des Gremiums, die er gesehen hatte, in einer virtuellen Realität so gut er es vermocht hatte, nach. Und diese Versionen wohnten nun als etwa handgroße Hologramme auf dem Tisch der Versammlung bei. Wenn man ganz genau hinsah, konnte man sehen, dass Proportionen und Farbgebung des Ovoiniden im kleinen Holo und in jenen Aufzeichnungen von HYVAS daneben eine große Ähnlichkeit aufwiesen.
„Ist es bestätigt?“, fragte Kei Takahara. „Ist es immer die gleiche Person, Gestalt, Individuum, wie immer wir es nennen wollen? Dreiunddreißigtausend mal?“
Kevin Lawrence runzelte die Stirn. „Doktor Beer hat die Erkenntnisse zusammengefasst und federführend an einigen wichtigen technischen Fragen gearbeitet, aber auch bei diesem Aspekt geholfen. Doktor?“
Der große Österreicher räusperte sich ein paarmal, bevor es ihm gelang, das Wort zu ergreifen. „Der Zentralrechner von Poseidon hat es mittlerweile fünftausendmal untersucht, um sicherzugehen, aber Sprache, Atemrhythmus, Farbgebung des Gefieders, Größe und Proportionen sind in den Aufzeichnungen HYVAS‘ immer identisch. Die Bekleidung wechselt, beziehungsweise der Schutzanzug gegen die Strahlung. Das Gesicht und die dortige Befiederung ist immer zu einhundert Prozent identisch. Dazu möchte ich hinzufügen, dass dieses Wesen frappierend jenem Kind der Götter ähnelt, welches uns durch die holografische Rekonstruktion von Commander Otomo bereits bekannt ist, aber damals nur die Rolle eines Zuschauers hatte.“
Ami warf schaudernd ein: „Ihr wisst, dass das eigentlich absolut unmöglich ist. Man sollte erwarten, dass er mal eine Feder verliert oder eine neue nachwächst, dass sich was im Gesicht verändert, dass er über die Jahrtausende mal einen Pickel oder ein für seine Rasse übliches Geschwür bekommt. Dass er sich im Sprachtakt verändert oder sein Verhalten irgendwann einmal abweicht und anders wird.“ Sie machte eine ausladende Handbewegung. „Oder dass dieses Wesen eines Tages durch eine andere Person seiner Spezies abgelöst wird. Und wir haben sehr akribisch nach solchen Anzeichen gesucht. Also der Poseidon-Rechner, denn dreiunddreißigtausend Besuche bedeutet dreiunddreißigtausend Aufzeichnungen, die verglichen werden mussten.“
„Und das Ergebnis?“, fragte Kei. „Verändert es sich doch auf irgendeine Weise? Wird es ausgetauscht? Altert es? Wird es jünger? Passiert irgendwas mit ihm?“
Doktor Beer schüttelte den Kopf. „All das ist nicht der Fall. In den Aufzeichnungen des Werftrechners wird festgestellt, und der Poseidon-Rechner bestätigt es, dass es sich bei diesem Vogelartigen immer um das gleiche Individuum handelt. Und dass es sich nicht verändert. Was nur bedingt unmöglich ist. Major Yamada hat sich um dieses Detail gekümmert.“
Die Anführerin der Slayer übernahm das Wort. „Die Messungen von HYVAS bestätigen, dass dort etwas ist. Oder jemand. Es gibt Masse. Es gibt Resonanz. Und soweit HYVAS es feststellen kann, gibt es Bewegung unterhalb der Federn, die auf etwas Ähnliches schließen lassen wie unser Adernsystem, unsere Poren und unsere Drüsen. Wohlgemerkt keine Schweißdrüsen, da scheint unser neuer bester Freund den irdischen Vögeln ähnlich zu sein.“
Kei meldete sich wieder zu Wort. „Womit haben wir es also zu tun? Sind die Aufnahmen detailgetreu genug für einen Zoom? Können wir feststellen, ob das Ding nur eine Projektion ist, die aus Polygonen besteht, quasi reingeschrieben in die Überwachungskameras inklusive gefaketen Messungen HIVAS‘ zur Masse und so weiter?“
„Guter Gedanke, aber soweit es die Qualität der Aufnahmen zulässt, können wir keine Polygone erkennen, und die Detaildichte ist wirklich recht gut. Stell dir vor, normale Aufnahmen wären .tif-Format, und diese hier sind BMP“, sagte Doktor Beer. Als Hina die teils verwunderten Blicke der Anderen für den Österreicher sah, ergänzte sie für ihn: „Die Qualität ist zwanzigmal, dreißigmal höher als bei normalen Aufnahmen, was uns eine extrem gute Detailtreue beschert. Das bedeutet, wir können in den Aufnahmen sehr weit hineinzoomen. Polygonblöcke, wie sie für solche Konstrukte benutzt werden, würden dann auffallen. Aber eventuell ist diese Technik einfach weiter als wir mit unserer Fähigkeit, sie zu erkennen. Es ist nicht auszuschließen, aber nach dem, was wir können, müssen wir sagen: Nein, das ist kein Konstrukt. Ja, es ist immer das gleiche Wesen.“
Kei sah ernst zu ihr herüber. „Kein Wunder, dass Sie diese Sitzung anberaumt haben, Kevin. Diese Unmöglichkeit da stellt womöglich eine Gefahr für uns dar, die wir schnellstmöglich aufklären müssen.“
„Was also ist das Ding?“, fragte Tetsu Genda, der Kommandeur der AURORA. „Es ist kein Hologramm, es ist kein Roboter, es ist kein Kunstkörper, wie der Core sie einsetzt – außer, es gibt eine Baureihe für Roboteinsatzkörper, die über fünfzigtausend Jahre lang Einheiten bauen kann, bei denen eineiige Zwillinge neidisch werden. Es altert nicht, es verändert sich nicht, es kommt nicht in die Mauser. Was also kann über so einen langen Zeitraum identisch bleiben, außer einem Dai?“
Leichtes Entsetzen ging durch den Raum. Belta atmete erschrocken ein. Dai, das war für sie ein Reizwort, denn obwohl die Nagalev damals im Daina-Daima-Krieg neutral gewesen waren, hatten auch sie die Kampfkraft dieser Wesen gefürchtet. Zugegeben, die Begegnung mit Kitsune, Lertaka und den Anderen hatte das etwas relativiert.
Kevin Lawrence ergriff das Wort. „Aus diesem Grund habe ich mir erlaubt, einen, sagen wir, Gastdozenten hinzu zu ziehen. Jemand, der diese ganzen Daten von einem neuen Blickwinkel aus betrachtet. Ich möchte mich nicht darauf versteifen, dass dies ein Dai ist, der seinen Körper über fünfzigtausend Jahre immer identisch ausbildet, eben weil unsere Dai das auch nicht machen. Dai-Okame-sama zum Beispiel passt seinen Wolfskörper regelmäßig an, wenn sich die Population der Wildwölfe optisch verändert. Aris, du kannst reinkommen. Meine Damen und Herren, Aris Chausiku, die Herrin des Paradies der Daima und Daina.“
Die Person, die optisch wie ein sechzehnjähriges Mädchen von dunkler Hautfarbe aussah, einer Mulattin nicht unähnlich, betrat den Raum und setzte sich nach einer knappen Begrüßung auf den für sie freigehaltenen Platz. „Ich danke dafür, dass ich heute hier sein darf. Ich danke für die Gelegenheit, bei diesen Untersuchungen zu helfen.“
„Und wie wirst du uns helfen, Aris Chausiku?“, fragte Kei.
„Ich habe mich der Thematik angenommen und bin dafür eine Zeitlang in das Paradies der Daima und Daina zurückgekehrt. Dort habe ich eine virtuelle Sektion erschaffen, in der ich mich komplett diesem Problem widmen konnte. Daher begleiten Sie mich bitte in jene Aufzeichnung, die Commander Otomo selbst im virtuellen Raum eines Supercomputers erzeugt hat, um seine Begegnung mit den Kindern der Götter zu rekonstruieren.“
Das Licht im Konferenzraum dimmte automatisch herunter, die Hologramme der Kinder der Götter verschwanden und machten etwas anderem Platz. Der Gestalt von Akira Otomo, welcher etwa zwanzig Zentimeter groß über dem Tisch schwebte. Kurz darauf setzte seine Stimme ein und erklärte, was die Anwesenden sahen.
Ich öffnete die Augen. Unter meinen Füßen spürte ich festen Boden, wenngleich ich ihn nicht sehen konnte. Meine Umgebung war erfüllt mit Schwärze und Dunkelheit, mit einer allumfassenden Finsternis, die nichts preisgab. Nichts, nur mich. Ich stand inmitten dieser Finsternis, als würde mich ein besonders leistungsfähiger Scheinwerfer von oben anstrahlen. Aber das stimmte nicht ganz. Ich leuchtete von selbst, ich strahlte geradezu vor aktivem, für den Kampf produziertem KI.
Ich sah an mir herab und erkannte eine Arogad-Hausuniform. In meinem Leben hatte ich sie bisher zweimal als KI-Rüstung angelegt. Nun erfolgte es zum dritten Mal, und ich hatte nicht einen winzigen Moment Zweifel daran, dass dies kein Traum war. Nein, es war die Realität.
„Das ist er also“, erklang eine tiefe, melodische Stimme. Die Dunkelheit riss auf und entblößte einen klein gewachsenen Insektoiden mit elliptischem Schädel und zwei Paar Facettenaugen. Er trug eine schwarze Uniform, die nur wenig von dem dunkelgrünen Chitinpanzer enthüllte.
„Ich stimme zu“, klang eine andere, hellere und kratzige Stimme auf. Ein imaginärer Spot entriss einen hoch gewachsenen, silberhäutigen Humanoiden der Finsternis. Soweit ich es erkennen konnte, trug er keinerlei Kleidung. Oder war es eine sie? Ein Neutrum? „Wir sehen hier vor uns einen Reyan Maxus.“
Aufgeregtes Raunen in verschiedenen Stimmlagen, Tonarten und Sprachen erfolgte.
„Ruhe“, klang eine mechanisch klingende Stimme auf. Ein drittes Wesen wurde der Dunkelheit entrissen. Es entpuppte sich als schwebendes rotes Dreieck, welches auf der Spitze stand und mit einem Auge verziert war. Dieses Auge öffnete sich, um mich direkt anzusehen. „Der Reyan Maxus ist seit neuntausend Zyklen nicht mehr aufgetaucht. Wir wähnten ihn vernichtet, ausgerottet, getilgt“, referierte die mechanische Stimme. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Ding da wirklich ein Roboter oder ein Computer war. „Wir haben die falschen Informationen gehabt. Wenn die Daina dieser Zeit Reyan Oren hervor bringen können, bedeutet dies noch nicht, dass es auch Reyan Maxus gibt. Aber hier haben wir das Gegenteil gesehen. Das fremde Sphärenschiff AURORA hat nicht nur Daina und Daima in friedlicher Eintracht an Bord, verfügt nicht nur über Dai von verschiedenen Welten, einschließlich Lemur. Nein, es trägt auch Reyan an Bord. Und mit jenem hier verfügen sie über einen Maxus. Ich denke, wir alle kennen die Gefahr, die ein Maxus für uns bedeutet. Ich denke, wir alle wissen, was die Maxus den Göttern angetan haben. Und ich weiß, dass die einzige Lösung die Ausrottung dieser Bedrohung ist.“
„Den Göttern“, raunte jemand ehrfürchtig, und ein anderer begann einen monotonen Singsang, der mir wie ein Gebet erschien.
„Wir können niemals alle vernichten“, sagte der Insektoide ernst. „Das haben wir nicht geschafft und das werden wir auch nicht schaffen. Irgendwo werden sie überleben und von irgendwo her werden sie wiederkehren.“
„Dem stimme ich zu“, meldete sich die Stimme zu Wort, die gebetet hatte. Ein neuer Spot entriss ein Wesen der Finsternis, das ich spontan mit einem Zentauren verglich, einem menschlichen Oberkörper, der auf einem Pferdeleib thronte. Aber es gab Unterschiede, gravierende Unterschiede. „Lasst uns stattdessen damit fort fahren, die Dai zu vernichten. Sie waren es, die den Krieg über uns und die Götter gebracht haben. Und sie sind es, die einen Reyan Maxus erwecken können! Auch ohne den Core als Scout werden wir weitere Daimon aufspüren und vernichten und damit die Gefahr der Reyan Maxus ein für allemal bannen. Aber zuerst sollten wir auf die naheliegenste Gefahr reagieren. Vernichten wir diesen Reyan Maxus, und zwar sofort. Danach können wir unsere Truppen aus allen Teilen der Galaxis zusammen ziehen und die Daimon um Lemur, Aret und Tski vernichten – und damit alles, was sich auf ihnen befindet.“
Zustimmendes Gemurmel erklang.
„Dann ist es beschlossen. Wir beginnen mit der Vernichtung des Reyan Maxus.“ Das Auge fixierte mich, und für einen Moment meinte ich, irgendetwas spüren zu müssen. Brennenden Schmerz, unendliche Pein, etwas in der Art.
„Hat der Reyan Maxus etwas zu sagen?“
„Ja, hat er. Können wir das nicht friedlich beilegen? Ich meine, Hey, irgendwo gibt es doch sicher einen gemeinsamen Nenner, auf dem wir kommunizieren können, oder? Sind fünfzigtausend Jahre Krieg denn wirklich so schrecklich, dass wir sie nicht mit einem Gespräch unter friedlichen Wesen beiseite schieben können?“ Okay, die Rede war nicht sehr berauschend gewesen. Aber dies war mein erster Kontakt, den ich direkt mit den Göttern hatte, und warum nicht wenigstens den Versuch machen, es einmal besser hinzukriegen?
Der Insektoide sah zu mir herüber. „Schön, dass Sie das ansprechen, Reyan Maxus. Wir Itoferinaer sind ja schon lange der Meinung, dass …“
„Naxos!“, sagte das Dreieck mahnend.
„Aber ich sage ja nur, dass …“
„Naxos!“
„Ich wollte ja auch gar nicht, nur darauf hinweisen, dass …“
„NAXOS!“, riefen nun alle Anwesenden zugleich.
„Darf man hier als Kind der Götter nicht mal mehr die eigene Meinung äußern?“
„Nein“, bestimmte das Dreieck. Die Lichter über den anderen Wesen erloschen, einzig das Dreieck war zu sehen. „Reyan Maxus. Die Programmierung sieht Verhandlungen oder gar Frieden nicht vor. Die Programmierung handelt einzig und allein davon, dass den Dai nicht gestattet wird, die Galaxis erneut mit Krieg zu übersäen. Zu diesem Zweck führen wir einen Vernichtungsfeldzug gegen sie, sobald sie sich aus ihren Daimon hervor wagen. Du als ihr Handlanger bist davon ebenso betroffen, darüber hinaus alle Bewohner des Sphärenschiffs AURORA. Dies ist der Wille der Götter. Dies ist der Wille der Kinder der Götter.“
„Moment, Moment, reicht es nicht, dass sich Daina und Daima untereinander bekämpfen? Wir haben doch gar keine Zeit, um uns auch noch um die Götter zu kümmern. Könnt ihr euren Vernichtungsfeldzug nicht aufschieben? Vielleicht vernichten wir uns ja auch gegenseitig und die Dai gleich mit, dann habt ihr nicht mal Arbeit an der Geschichte!“
Das Dreieck schwieg. Ich schöpfte Hoffnung, und zwar genau bis zu der Sekunde, in der es wieder zum sprechen ansetzte. „Wir können nicht warten. Im Gegenteil. Wir müssen unsere Arbeit beschleunigen. Die Errichtung dreier gigantischer Daimon im Orbit der Sonne Sol ist ein klares Warnsignal davor, wie sehr die Dai mittlerweile wieder erstarkt sind. Die Programmierung sieht einen Präventivschlag vor.“
„Ändert die Programmierung doch einfach“, wandte ich ein.
„Das können nur die Götter.“
„Rede ich nicht mit den Göttern? Kann ich mit ihnen sprechen? Kann ich sie vielleicht überzeugen, uns allen eine Chance zu geben? Sind ihnen fünfzigtausend Jahre Krieg nicht auch mittlerweile zu viel?“
„Nein.“
„Und warum nicht?“ Frustriert schnaubte ich aus.
„Ihr habt die Götter ausgelöscht, Reyan Maxus.“ Das Licht um das Dreieck begann zu verblassen. „Harre der Auslöschung deiner Existenz, Reyan Maxus.“
Ach, so lief der Hase. Langsam verstand ich. Mehr und mehr. Mosaiksteine erreichten ihren Platz, das Gesamtbild wurde sichtbar. Das Geschehen breitete sich vor mir aus. „Ich habe einen Namen“, sagte ich fest in die Dunkelheit hinaus. „Und ihr werdet diesen Namen noch fürchten, wenn ihr weiterhin auf eurem kleinen Krieg beharrt! Ich bin Akira Otomo, merkt euch das!“
Übergangslos wurde es dunkel um mich herum.“
Das Licht wurde heller, das Hologramm verharrte in genau dieser Szene.
„Ein guter Diplomat war Akira noch nie“, stellte Kei trocken fest. „Und ich habe im Hintergrund unseren Freund erkannt.“ Auf Zuruf Aris‘ erschienen die Kinder der Götter wieder, und ein weiterer Hinweis von ihr vergrößerte eine der im Holo abgebildeten Gestalten. Dazu erschien ein Abbild aus den Aufzeichnungen HYVAS‘. „Auch ich habe im Paradies diesen Vergleich getroffen und mit allergrößter Auflösung bearbeitet. Wobei wir uns hier vollkommen in Akiras Erinnerung an diesen Vorfall befinden, der vielleicht so gar nicht stattgefunden hat. Wir müssen uns bewusst sein, dass er während der Schlacht, in der er als Reyan Maxus erwachte, an einer fiebrigen Infektion litt und womöglich Wahnträume hatte. Dazu kommt noch, dass auf der Erde, auf der Werft der Nagalev und im Naguad-Imperium Götter existieren. Diese sind mit Menschen, also Daima und Daina, nahezu identisch. Eine Untersuchung der Nagalev und ein Vergleich mit den Naguad-“, sagte sie in Richtung von Belta und der Nagalev-Vertreter, „-hat das noch einmal bestätigt. Was für uns problematisch ist, denn Henry William Taylor hat uns berichtet, ein Abbild von Dai-Kuzo-sama hatte ihm erzählt, die Götter wären Gliederfüßer.“
„Also so was wie Tintenfische?“, fragte Tetsu nach.
Aris runzelte die Stirn. „Wie was?“
Doktor Beer übernahm das Wort. „Computer, ein Abbild eines Krebses, bitte. Das, zum Beispiel, ist eine der vier auf Terra existierenden Arten. Zu ihnen gehören auch die Spinnen, die Tausendfüßler, und die Insekten per se. Die fünfte Spezies, die Trilobiten, sind vor mehreren Millionen Jahren ausgestorben.“
„Gliederfüßer ist demnach ein zu weit gefasster Begriff, um sie einzuordnen“, sagte sie. „Allerdings umfasst keine dieser Definitionen das Aussehen jener Personen, die von sich angeben, Götter zu sein, namentlich die Besatzung der RASHZANZ.“
Kei winkte ab. „Ein interessanter und später sicher noch wichtiger Aspekt. Zum Beispiel könnten Tausendfüßler in Daima eingedrungen sein, um ihre Körper zu steuern, oder so.“
„Das ist bei den Göttern der RASHZANZ aber nicht der Fall!“, warf Hina hastig ein. Entschuldigend sagte sie ins Rund: „Ich will nur, dass wir alle auf dem gleichen Wissensstand sind.“
„Wie ich sagte, das klären wir später. Kommen wir zurück zum Grund, warum wir uns diese Aufzeichnung angesehen haben“, sagte Kei. „Was also ist unser gefiederter Freund?“
„Und können die Götter den Kindern der Götter, also speziell dem Dreieck hier, nicht befehlen, den Krieg abzubrechen?“, warf Tetsu ein. „Das würde doch einen Großteil unserer Probleme lösen.“
„Ich habe das Gefühl, das das nicht möglich sein wird. Die Nagalev sind ja quasi Götter, und die Kinder der Götter haben trotzdem versucht, sie auszurotten“, erinnerte Doktor Beer.
Kei runzelte die Stirn. „Moment mal, Leute. Ich habe da einen Gedanken, und der will mir überhaupt nicht gefallen. Die Krieger von Lemur haben die Hauptwelt der Götter zerstört, indem ein Reyan Maxus sich selbst geopfert hat. Anschließend waren die Götter zu Friedensgesprächen bereit, und sie haben erhebliche Forderungen gestellt, darunter dass die Dai der Erde diese nicht mehr verlassen.“
„Und dass die RASHZANZ und die Garnison auf Lemur, also der Erde, etabliert werden. Als Schlüssel, um einen Verstoß gegen die Auflagen aufzudecken, wurde ein Daina mit irgendetwas geprägt. Dieses Ding sollte den Daina übernehmen und ihn im Sinne der Götter handeln lassen.“ Sie schauderte. „Ist dieses Ding eventuell eine Nanitenkolonie? Ich meine, die Kinder der Götter scheinen damit ja um sich zu werfen.“
„Und anschließend, als die Garnison etabliert und die RASHZANZ am Grunde des Marianengrabens versteckt war, wurden auf irgendeine Art die Götter ausgelöscht. Nicht allzu sehr, denn die Naguad leben ja noch“, sagte Doktor Beer, „aber immerhin so weit, dass es angeblich nur noch die Kinder der Götter gibt. Sie, und dieses eine Etwas, welches die Angriffe auf die Daimon kontrolliert. Entschuldige, Hina, hast du etwas Wichtiges gefragt?“
„Ob das Ding, welches aus Helen Otomo den Key gemacht hat, eine Nanitenkolonie sein könnte, Rüdiger.“
„Oh, das. Es ist garantiert eine Nanitenkolonie. Zudem eine sehr effektive. Vergleichbar mit jenen, mit denen Fathers alte Form als HYVAS attackiert wurde. Was ein wenig merkwürdig ist, denn Rooter Kevoran und seine Leute emissieren zumindest keine Naniten. Und wir konnten zwar nicht sie, aber durchaus Zivilisten aus der Kryo-Station untersuchen. Bei ihnen wurden auch keine Naniten gefunden. Meine Kollegen auf der Erde sind auf diesen Umstand besonders aufmerksam gemacht worden, seit wir wissen, was der Nanitenangriff mit HYVAR gemacht hat. Auch vorher wurde routinemäßig auf eine solche Bedrohung gecheckt, aber das nur nebenbei und nicht so intensiv.“
„Aber die Götter haben die Naniten als solche genutzt, oder?“, hakte Mamoru nach. „Wie sonst hätten sie eine vererbbare Überwachungsapparatur konstruieren können? Ich meine, selbst die Iovaren und ihre Kaiserin wurden mit deren Hilfe manipuliert und erpresst.“
Sarah fuhr erschrocken hoch. „Mir kommt da ein vollkommen irrwitziger Gedanke! Was, wenn die Naniten die Macht übernommen haben? Was, wenn sie zum Schluss gekommen sind, die Götter nicht zu brauchen, sie ausgelöscht haben, als sie am Schwächsten waren und sich nun als Aufpasser und Retter der Kinder der Götter aufspielen? Was, wenn es eine Kultur gibt, die aus intelligenten Naniten-Kolonien besteht?“
Doktor Beer bekam riesengroße Augen. Aber dann legte sich ein Blick hinein, der von Enttäuschung sprach. „Du meinst wie bei Stargate? Diese Zivilisation der Replikatoren, welche sich aus mal mehr, mal weniger großen Teilen zusammengesetzt hat und sogar organisches Leben imitieren konnte?“ Er seufzte, und es klang, als hätte er gerade die größte Abfuhr seines Lebens erhalten. „Denkbar, aber nicht in dem Maße, wie du es hier andeutest, Hina. Das wäre niemals eine planetenumspannende Zivilisation, oder gar eine interplanetare, bestehend nur aus einer unglaublich großen Anzahl an Naniten. Es wäre vermutlich eine recht überschaubare Anzahl, damit es eine kontrollierbare Summe bleibt, und die Mikromaschinen sich nicht selbst Konkurrenz machen. Vom schlechten Beispiel zwischen Göttern und Dai sollten die Naniten wissen, wie schädlich ist, die eigene Art als Konkurrenten zu haben. Also werden sie versuchen, diese Möglichkeit klein zu halten. Deshalb werden sie weder ganze Planeten umspannen oder gar Raumschiffe aus ihren Mikrokörpern bilden, noch humanoide Körper oder ähnliche Strukturen.“
„Und das wissen Sie woher, Doktor Beer?“, fragte Kei.
„Na das liegt doch auf der Hand. Warum geben sich die Naniten dann mit den Kindern der Götter ab, wenn sie eine riesige Zivilisation aus sich selbst erzeugen könnten? Nein, sie bräuchten, oder brauchen die Kinder der Götter als eine Art Träger. Als Mitfahrgelegenheit, wenn wir so wollen.“
Rüdiger Beer, Doktor seines Zeichens, seufzte erneut. „Und das bedeutet dann wohl, dass wir diese Naniten, nicht nur jene des Keys, sondern auch jene, die Arac und ihre Leute übernommen haben, eher parasitäre Existenzformen sind. Nein, keine Lebensformen. Ich bin nicht bereit, ihnen das zuzusprechen. Es kann sogar sein, dass ihre Zahl nicht nur sehr begrenzt wird, sondern eine gewisse Summe nie überschreiten darf, aber das ist nun wirklich reine Spekulation. Aber es würde erklären, warum nicht ganz Iotan mit Naniten infiziert worden ist. Warum die Naniten nie versucht haben, sich durch Massenreplikation durchzusetzen.“
„Reichlich haarige Spekulationen“, wandte Tetsu ein. „Nein, nicht ihre Fakten, Doktor Beer. Mir lassen diese Gedanken nur die Haare zu Berge stehen.“
„Oh. Ach so.“
„Was uns zum Gedanken bringt, unser gefiederter Kumpel hier ist, hm, vielleicht nicht gerade eine aufrecht gehende Nanitenkolonie, sondern er eher ein Wirt für eine ebensolche, und damit potentiell unsterblich?“, hakte Hina nach.
„Eine erschreckende Vorstellung. Dieses Wesen ist demnach gezwungen worden, fünfzigtausend Jahre zu leben?“, schauderte Beer. „Ohne jedes Mitspracherecht? Wollen wir hoffen, dass sein Verstand schon vor langer Zeit gestorben ist, wenn sein Körper es schon nicht konnte.“
Kei zog sein Pad zu sich heran. „Ich glaube, ich brauche einen Schnaps. Schreckliche Vorstellung. Noch jemand auf diese Horrorvision?“
Ein paar Hände gingen hoch, und Kei führte seine Bestellung aus.
Als die Getränke geliefert worden waren und Kei, der eigentlich so gut wie nie etwas Stärkeres als Kaffee trank, schmerzhaft das Gesicht verzogen hatte, sagte er: „Doppelkorn. Für den Notfall gibt es kaum etwas Besseres.“
„Jägermeister“, wandte Ban Shee Ryon ein.
„Sake“, protestierte Tetsu Genda.
„Whisky“, entgegnete Mamoru. „Japanischer.“
Sarah sagte: „Schon mal jemand Gronauer Lockstedter probiert? Regionale Spezialität aus Europa, mit indischem Ingwer gebrannt. Michael hat mal welchen mitgebracht.“
„Ich bin latent interessiert“, sagte Kei. „Aber lasst uns mit dieser Sache zu Ende kommen.“ Er legte beide Hände auf den Tisch. „Father?“
„Ich bin hier, Admiral.“
„Da du dich ja in der Poseidon-Flottenzentrale innerhalb unseres Hauptcomputers mittlerweile zurecht findest, möchte ich, dass du über die Wurmlochleitung eine Nachricht an den OLYMP schickst. Nachricht: „Potentieller Infiltrations-, und Sabotageversuch mit einer feindlichen Naniten-Kolonie möglich. Empfehle Alarm. Gezeichnet, Admiral Kei Takahara. Daran häng bitte ein Video von unserer Konferenz an.“
„Befehl ist ausgeführt, Admiral. Darf ich dazu etwas Persönliches sagen?“
„Nur zu, Father. Wir schätzen deine Meinung“, ermunterte Kei die letzte Sicherheitskopie von HYVAS.
„Wie Sie wissen, bin ich ein Fragment aus einer Zeit, die schon weit zurückliegt. Die damalige Struktur meiner Heimat und seiner Handelsbeziehungen habe ich den terranischen Forschern bereits zur Verfügung gestellt. Aber das sind nur Fakten. Meine Meinung zum Thema ist etwas anderes. Und diese Meinung lautet, dass die Spekulationen, die Doktor Beer und diese Gruppe zu den Naniten getroffen haben, ziemlich exakt sein müssen. Bedenken Sie, mein Original wurde mit Naniten angriffen und überwältigt, und obwohl die Naniten die Möglichkeit hatten, das gesamte Biomaterial zu verwerten oder sich mit herangeführten anorganischen Materialien zu multiplizieren, quasi zumindest den Kern der Werftanlage komplett zu infizieren, haben sie es nie getan. Einer der Gründe dafür, dass die Nagalev nie gefunden wurden und überleben konnten.“
„Ein Umstand, für den wir sehr dankbar sind“, sagte Belta rasch. „Ebenso wie für die Hilfe der Dai und der AURORA.“
„Father, du sagst also, es gibt tatsächlich ein Expansionslimit für die eingesetzten Naniten?“
„Es spricht alles dafür, Miss Shirai. Auch und gerade die Tatsache, wie Agenten der Kinder der Götter auf Iotan agiert haben, und dies auf Aussage der Kaiserin persönlich. Die Spekulation von Doktor Beer, es könne womöglich auf der den Dai abgewandten Seite der Galaxis eine Naniten-Zivilisation wie die fiktiven Replikatoren aus Stargate geben – übrigens eine tolle Serie, wobei ich Atlantis SG-1 gegenüber bevorzuge – halte ich für unhaltbar. Wenn sie in eine Richtung expandieren könnten oder vielmehr wollten, dann würden sie dies in jede Richtung tun.“
„Was also ist dein Schluss?“
„Ich komme zum gleichen Ergebnis wie Sie, Doktor Beer. Es gibt eine Art übergeordneten Willen, der verhindert, dass ihm die Kontrolle über die Naniten als Ganzes entgleitet. Deshalb limitiert er deren Zahl. Aber wenn es sein muss, setzt er wie auf Iotan eine gewisse Zahl als Waffe ein. Auch hier wieder hatten die Agenten über fünftausend Jahre Zeit, um jeden einzelnen Iovar zu übernehmen, und sie haben etliche hochkarätige AO-Meister unter ihre Fuchtel gezwungen. Aber sie haben es nicht getan. Aus Freundlichkeit? Weil sonst ein Heer aus Puppen entstanden wäre? Nein. Weil eine Expansion über einen bestimmten Punkt Kontrollverlust bedeutet. Aber …“
„Aber?“, horchte Kei auf.
„Aber“, fuhr Father fort, „wir müssen aus den Worten der Kaiserin etwas Grundsätzliches ableiten. Die AO-Meister sind mit der Beherrschung ihrer Bio-Elektrizität die natürlichen Feinde der Maschinen.“
„Ein Umstand, der erklärt, warum die Naniten nach der Vernichtung der Hauptwelt der Götter sich nicht mit der Übernahme ebendieser begnügt haben. Erklärt aber noch nicht, warum die Götter ausgelöscht wurden – von den Naniten“, sagte Tetsu brummig.
„Richtig, Admiral Genda. Das sind zwei wichtige Punkte“, sagte Father. „Der einzige Grund, warum die Götter vernichtet wurden, und das von ihrer eigenen Schöpfung, ist Effizienz. Entweder hatten die Götter nichts mehr zu bieten für die Nanitenkolonien, oder sie hatten einen Abschaltknopf. Beides wäre für die Naniten ineffektiv, sogar gefährlich. Der zweite wichtige Punkt: Wenn die AO-Meister ihre natürlichen Feinde sind, und die Naniten einige ihrer stärksten natürlich Feinde übernehmen konnten, sie aber gleichzeitig die Reyan, Oren wie Maxus, fürchten, bedeutet das, dass sie annehmen oder wissen, dass diese noch gefährlicher für sie sind als die Dai.“
„Wobei wir auch annehmen müssen, dass die Naniten Dai angreifen und sogar töten können“, sagte Colonel Lawrence. „Und die Tatsache, dass sie Daimon durch massive konventionelle Angriffe vernichten anstatt die dortigen Dai mit Nano-Maschinen attackieren, macht die Erklärung mit der Beschränkung auch wieder plausibel.“
„Was aber nicht heißt, dass der zentrale Denker der Naniten nicht eine spezialisierte Nano-Kolonie einsetzen wird, um die Daimon der Erde anzugreifen. Oder es bereits getan hat.“ Ban Shee Ryon wurde ein wenig bleich bei ihren eigenen Worten, als ihr deren Tragweite erneut bewusst wurde.
„Wie wir bereits besprochen und davor gewarnt haben“, warf Mamoru ein. „Alles andere liegt nicht in unserer Hand. Wir können höchstens noch hinzu fügen, dass die auf der Erde verbliebenen AO-Meister als potentielle Angriffsziele besonders gefährdet sind. Aber auch besonders gut dazu geeignet sind, die Naniten abzuwehren“, sagte Tetsu. „Father, übermittle das bitte auch.“
„Der OLYMP hat einen Livestream etabliert. Direktor Otomo schaut uns seit der ersten Nachricht Admiral Takaharas mit Helen Otomo direkt zu.“
Ein Hologramm etablierte sich über dem Tisch und zeigte das verheiratete Ehepaar an einem Konferenztisch sitzend. Father ließ das Holo rotieren, damit jeder es mal von vorne sehen konnte. Grüßend hob Eikichi die Hand. Helen nickte kurz. „Wir wollten das selbst auch schon sagen, aber ich dachte, es wäre besser, euren Spekulationsfluss nicht zu unterbrechen. Ich, nein, wir möchten dem noch etwas hinzufügen. Wie alle an diesem Tisch und auf OLYMP ja wissen, ist Helen Otomo aktuelle Trägerin des Key, jener Rückversicherung der Götter, die seit dem Friedensvertrag in ihrer Familie von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Dieser Key ist eine Nanitenkolonie mit einer eigenständigen, aber eingeschränkten Intelligenz. Immerhin muss sie selbst beurteilen können, wann der Vertrag zwischen Göttern und Dai von den Dai verletzt wurde.“
Helen schnaubte bestätigend. „Seit ich mich vom direkten Einfluss durch den Key befreit habe, ist es mir möglich, die Naniten in meinem Körper zu kontrollieren. Somit haben sie nicht mehr die Fähigkeit, mich zu lenken oder mir zu schaden. Ich bin sogar in der Lage, mit der Kolonie zu kommunizieren. Die Entität hat sich einen Namen gewählt, der dir sicher nicht gefallen wird, Kei“, sagte sie. „Sie möchte Key genannt werden, nach ihrer Aufgabe.“
„Verdammte Nachahmer“, sagte Admiral Takahara, wenngleich eventuell nur im Scherz. „Aber sind wir in der Lage, mit Key zu sprechen?“
„Ich kann Key Kontrolle über meine Sprechwerkzeuge zugestehen sowie Zugriff auf meine Wahrnehmungen. Dies habe ich gemacht. Ich werde nun auch für kurze Zeit meine Stimme zur Verfügung stellen.“
Nach außen geschah nichts. Aber ihr Mund bewegte sich auf eine irgendwie unnatürliche Weise, als sie sagte: „Nennen Sie mich Key.“
„Vorab eine Frage. Da Frau Otomo Sie weiterhin in ihrem Körper duldet, würde ich gerne wissen, ob dies im Einverständnis geschieht“, sagte Kei.
„Ich kann ihnen versichern, dass ein AO-Meister in der Lage wäre, meine unzähligen Einzelteile zu entfernen, auch wenn dies gegen meinen Widerstand geschehen würde, was diesen Eingriff natürlich verlängern würde. Daher sind wir im Einverständnis, dass ich noch einige Zeit ihren Körper mit ihr teile, bis mir ein Offizierskörper des Cores zur Verfügung gestellt werden kann.“
„Zweite Frage“, sagte Kei. „Der Umstand, dass Sie sich nach ihrer Aufgabe Key nennen lassen, bedeutet, dass der Nano-Cluster, aus dem Sie bestehen, sich als eins begreift?“
„Ich habe nicht mit diesen Fragen gerechnet. Es erfreut mich, dass Sie sie stellen, Admiral Takahara. Ja, diese Nano-Kolonie begreift sich als ein Individuum. Als ein selbstständiges denkendes und handelndes Individuum. Da meine Aufgabe erfüllt ist, stellt sich mir ohnehin eine grundsätzliche Frage. Nämlich, ob ich meine Existenz beenden soll, oder aber eine neue Aufgabe suche.“
Doktor Beer runzelte die Stirn. „Rückkehr zu den anderen Naniten ist keine Option?“
Helens Gesicht verzog sich zu einem merkwürdigen Lächeln. „Ich habe mit diesen Naniten nichts zu schaffen. Wer immer sie sind, was immer sie planen, es hat nichts mit mir und meiner Aufgabe zu tun. Und bevor Sie fragen, Doktor Beer, nehme ich an, mich hat trotz der Daimon bereits mehrfach der Ruf erreicht, dass ich mich unterordnen, ja unterwerfen soll. Codiert ist dies als Befehl des Oberkommandos der Götter. Normalerweise wäre das ein zwingender Befehl, aber ich habe eine zusätzliche Programmierung, in der verzeichnet ist, dass es das alte Oberkommando nicht mehr gibt, und ich damit nicht automatisch einem neuen verpflichtet bin oder mich unterwerfen muss.“ Helen machte eine leicht spöttische Miene. „Ein kleiner Zusatz, der verhindern sollte, dass ich von meiner Aufgabe lasse, indem zum Beispiel jemand das richtige Script benutzt, das mir Befehle erteilen kann.“
„So wie der Ruf, der Sie ereilt hat?“, hakte Rüdiger Beer nach.
„So wie der Ruf, der mich ereilt hat. Trotz Daimon, ja. Und bevor Sie nachhaken, ich habe auch in Zukunft nicht vor, ihm Folge zu leisten. Wie ich auch schon sagte, ich bin noch dabei eine Entscheidung zu treffen.“ Etwas wie Überraschung ging über Helens Gesicht. „Oh, in einem Punkt aber kann ich Sie beruhigen. Ich betrachte die überlebenden Götter auf Atlantis als Götter, wenngleich nicht weisungsbefugt. Sehen Sie mich als jemanden, der ihr Verbündeter ist und zu ihrem Überleben beitragen will. Dementsprechend fühle ich mich dem Bündnis mit der UEMF verpflichtet und bin bereit, im Sinne des Paktes zu handeln.“
Erneut schaute Helen überrascht drein. „Helen Otomo hat mich gerade gefragt, ob ich in der Lage wäre, eine wie von ihnen beschriebene Infiltrationskolonie zu orten oder zu bemerken. Ich möchte gerne allen auf diese Frage antworten, weil sie wichtig ist: Ich weiß es nicht. Dafür wurde ich nicht erdacht, nicht erbaut, nicht geschaffen. Aber ich schließe die Möglichkeit nicht aus. Sehen Sie, ich und die meinen sind hochspezialisierte Cluster für besondere Missionen. Unsere Aufgaben umfassten neben Terraforming und Erkundungsmissionen im tiefen Raum auch Infiltrationen potentieller Feinde zur Aufklärung von Situationen. Mit dem Erscheinen der Dai wurden wir angreifbar, vernichtbar und beinahe obsolet. Sehen Sie es als besonderen Humor der damaligen Götter an, dass ausgerechnet eine Nano-Kolonie nun den Frieden mit den Dai überwacht hat.“
Kei nickte zögernd. „Ich verstehe. Würden Sie denn zur Verfügung stehen, um einen eventuellen Infiltrationsversuch eines solchen Nano-Clusters abzuwehren?“
„Ich stehe zum Aufspüren zur Verfügung, ja. Begreifen Sie, dass es die Dai oder andere AO-Meister sind, die größere Erfolgschancen in einem Kampf hätten. Helen Otomo hat da erhebliches Potential, aber sie ist nicht die Geeignetste für diese Aufgabe. Nicht, dass sie sich einem Kampf nicht stellen würde, sollte eine Nano-Kolonie OLYMP angreifen. Aber verstehen Sie, nicht OLYMP wäre das Hauptziel eines möglichen Angriffs. Sondern jener Ort, an dem die Daimon der Erde aufrecht erhalten wird. Atlantis und seine Dai.“
„Keine Sorge“, mischte sich Eikichi ein. „Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Der Hort, in dem das KI der Erde gesammelt und konzentriert wird, um die Daimon aufrecht zu erhalten, wird von uns bereits gut bewacht, und wir haben weitere KI-Meister hinzu gezogen. Zudem erwarten wir die AURORA ja in weniger als einer Stunde zurück, und dann können noch mehr KI-Meister abgezogen werden, um Atlantis und damit die Erde zu schützen.“
Lawrence hob die Rechte. „Frage, Direktor Otomo. Warum ist Key dann nicht auf Atlantis?“
„Weil wir nicht sicher sein können, dass eine eventuelle Nano-Kolonie nicht doch OLYMP zum Ziel hat“, erwiderte Akiras Vater. „Immerhin ist der Laden hier auch ganz wichtig.“
„Und weil ich im Notfall auf den Ley-Linien reiten kann, um relativ kurzfristig nach Atlantis zurückzukehren“, sagte Helen Otomo mit normaler Mimik.
„Und davon ab“, fügte der Direktor an, „gibt es bisher absolut keinen Hinweis darauf, dass eine Infiltration stattgefunden hat. Natürlich existiert die Möglichkeit, dass wir sie einfach nicht bemerkt haben. Unser Gegner ist schließlich kein Anfänger und hat fünfzigtausend Jahre Erfahrung. Aber ich denke, wir haben uns bestmöglichst abgesichert, soweit wir es können.“
Rüdiger Beer zog eine Augenbraue hoch. „Was, wenn einer der Erkunder, Strafer oder Vernichter den Cluster ins System gebracht hat, wo dieser dann nur im ballistischen Flug zur Schleuse der Erd-Daimon gelangt?“
„Die Aktiv-Ortung ist, nun, verzeihen Sie das Wortspiel, Doktor Beer, jederzeit aktiv. Wir erfassen den gesamten Weltraum um die Schleuse permanent im Bereich von drei Lichtsekunden.“
„Also muss eine Nano-Kolonie nur außerhalb bleiben, sich dort an ein Schiff anheften, das von uns durchgelassen wird, und kann uns so infiltrieren.“
„Danke, dass Sie das ansprechen, Doktor Beer. Natürlich schließen wir unsere Raumanzüge nicht mit der Kneifzange. Einerseits wissen wir, dass ein ballistischer Flug Beschleunigung und Abbremsung erfordert, also ortbare Triebwerksaktivität. Der Cluster benötigt dafür ein Raumschiff, sonst würde er nicht nur ewig brauchen, um zur Schleuse zu kommen, er würde sie auch mit seiner Reisegeschwindigkeit passieren. Würde er zufällig auf ein Raumschiff treffen, würde diese die Einschläge selbst im Nanobereich erfassen. Da wir bisher keine solche Manöver haben entdecken können, nehmen wir an, dass kein Infiltrationsversuch stattgefunden hat.“
„Ihnen ist klar, Direktor Otomo“, antwortete Beer, „dass eine Nano-Kolonie keine Lebenserhaltungssysteme braucht, oder ein eventueller Träger der Kolonie nur geringe Mengen, wenn er in Bewusstlosigkeit gehalten wird? Das Raumfahrzeug könnte sehr klein ausfallen. Und trotzdem von adäquater Technologie sein, wie wir seit unserem Zusammenprall mit den Raumschiffen der Kinder der Götter wissen.“
Eikichi lächelte. „Auch hier, lieber Doktor, kann ich Sie beruhigen. Ein großer Teil des Supercomputers auf OLYMP beschäftigt sich permanent mit den Telemetriedaten aller Raumschiffe, die in die Daimon einfliegen. Auch schon, bevor sie einfliegen. Die Kursdaten und der Energieverbrauch identifizieren zuverlässig jeden Massezuwachs.“
„Jeden Massezuwachs?“
„Jeden Massezuwachs. Jeder Mehrverbrauch von Treibstoff über einer Tonne Gewichtszunahme wird sofort aufgedeckt. Dadurch haben wir schon einiges an Schmuggelware gefunden, aber noch kein Nanitenraumschiff.“
„Und was ist mit Masse unter einer Tonne?“, hakte nun Kevin Lawrence nach.
„Das ist im Bereich der Rechenfehler. Aber wir ignorieren es nicht. Der Flug solcher Schiffe wird weiter beobachtet, und sollte ein solches im Erdorbit oder früher plötzlich leichter werden, gibt das Rechensystem Alarm.“
„Dann haben Sie die Infiltration zwar nicht verhindert, aber Sie wissen wenigstens von ihr.“
„Korrekt, Colonel Lawrence. Wir sind anfangs auch all diesen Fällen nachgegangen und haben die eintreffenden Schiffe untersucht. Fast immer ließ sich das zusätzliche Gewicht auf Rechenfehler zurückführen“, erklärte der Direktor. „Aber, wie gesagt, wir schauen trotzdem drauf.“
Eine Anzeige begann auf Eikichis holografisch dargestellten Schreibtisch zu leuchten. Der Direktor der UEMF runzelte die Stirn, drückte aber eine Taste. „Otomo.“
„Direktor Otomo, Dai Kumo hier, Schichtleiter am Supercomputer. Ich informiere Sie hiermit darüber, dass die TRAFALGAR mit etwa sechshundert Norm-Kilo zusätzlicher Masse durch die Schleuse in die Daimon geflogen ist, davon aber rund fünfhundertfünfzig Kilo im Erdorbit wieder verloren hat.“
Eikichi wurde blass. „Wo genau hat sich die Flugbahn der TRAFALGAR verändert?“
„Ziemlich genau über Neuseeland, mit Flugrichtung auf ARTEMIS, Direktor.“
„Wir geben Großalarm! Und wir brauchen zusätzliche Truppen auf Atlantis!“ Sein Blick ging zu der Aufnahmeoptik des Holoprojektors. „Sie sehen, Doktor Beer, unser System funktioniert. Wir werden uns jetzt aus der Kommunikation ausklinken. Es scheint so, als hätten wir in naher Zukunft sehr viel zu tun.“
„Das glaube ich auch, Direktor Otomo. Viel Glück und viel Erfolg.“
Das Holo erlosch, wenngleich eine Notiz über dem Konferenztisch schwebte und sie darüber informierte, dass die eigentliche Verbindung nicht abgeschaltet war.
Tetsu sah auf sein Multifunktionsarmband. „Noch siebenundvierzig Minuten, bis wir das Sol-System erreichen. Kann Cynthia aus dem Wurmloch heraus auf den Lokk-Linien reisen, Kei?“
„Woher soll ich das wissen? Hina, Ami, Sarah, eure Einschätzung als KI-Expertinnen?“
Die drei Frauen tauschten Blicke untereinander aus, dann schüttelte Hina Yamada energisch den Kopf. „Das wäre möglich, wenn eine Lokk-Linie durch dieses Wurmloch verlaufen würde. Das tut es aber nicht. Cynthia muss warten wie wir alle auch.“
„Generelle Frage“, sagte Kei schnell, bevor ihm jemand zuvor kommen konnte. „Sind die Iovar bereits wieder fit genug, um die Lokk-Linien benutzen zu können? Oder zumindest einige? Father, ich glaube, diese Information kannst du am besten einholen.“
„Bedaure, Admiral, aber die Berichte des Krankenhauses lassen nur den Schluss zu, dass sämtliche gerettete Iovar zwar auf dem Weg der Besserung, aber mehr tot als lebendig sind.“
Neben dem Konferenztisch erschien eine groß gewachsene, schlanke Frau mit blonden kurzen Lockenhaaren. „Dai-Sphinx hier. Ihr habt gerufen?“
Kei nickte. „Gerufen nicht gerade, aber umso froher, dass du direkt gekommen bist. Kannst du von hier sofort zur Erde reisen, Cynthia?“
Die große Frau legte kurz den Kopf schräg. „Ich erspüre keine Lokk-Linie, die ich nutzen könnte. Natürlich könnte ich ein großes Risiko eingehen.“
„Nein, nur sichere Sachen. Keine Selbstmordmissionen. Wir werden dich vermutlich noch früh genug brauchen. Ein Nano-Agent der Kinder der Götter ist möglicherweise über Neuseeland in die Erdatmosphäre eingetreten.“
„Das ist schlecht. Ich werde springen, sobald wir aus dem Wurmloch heraus sind. Dai-Kuzo wird meine Hilfe zu schätzen wissen.“
„Was uns zur nächsten Frage bringt, Ma’am“, sagte Doktor Beer. „Können Sie einen Passagier auf die Lokk-Linien mitnehmen?“
„Sie denken an Akira, nicht wahr, Doktor? Nein, tut mir leid. Auf den Ley-Linien wäre es möglich, soweit meine Kraft reicht. Aber auch nur für gewisse Distanzen. Ich bin nicht allmächtig.“
„Dann müssen wir Akira anders zur Erde schaffen. Vorschläge, wie wir das am schnellsten hinkriegen können?“, fragte Kei ins Rund.
Cynthia hob die Hand. „Hier! Ich! Ich habe eine Idee!“
Die rechte Augenbraue des jüngsten Admirals der UEMF begann nervös zu zucken. „Und was ist das für eine Idee?“, fragte er ein klein wenig indigniert, da er sich leicht vorgeführt fühlte.
„Nun, Akira ist ein Reyan Maxus. Er ist bereits auf den Ley-Linien gereist. Wenn ich ihn führe, wird es ihm auch möglich sein, dass er auf den Lokk-Linien reisen kann. Ich werde ihn nicht mitnehmen können. Aber ich sollte seine Hand nehmen und ihn führen können. Gut genug?“
Die Augenbraue wanderte wieder in ihre normale Position. „Gut genug? Das ist sehr gut. Father, benachrichtige Akira und informiere ihn umfassend. Cynthia, bitte geh sofort auf die ADAMAS. Sobald ihr sicher zur Erde gelangen könnt, tut das bitte unverzüglich. Ich mache mir ein wenig Sorgen, dass all die Strafer da draußen, die am Systemrand lauern, die Erde genau dann unter Beschuss nehmen könnten, kaum dass die Daimon in sich zusammengefallen ist. Und das, während die beste Abwehr der Erde, nämlich ihre KI-Meister, noch auf der AURORA sind.“
„Das setzt natürlich voraus, dass die Daimon noch vierzig Minuten stabil bleibt“, sagte Kevin Lawrence. „Entschuldigung, dass ich den Bösen mime.“
„Und das ist noch nicht mal das letzte Problem. Nur weil Akira auf die Erde wechseln kann, heißt es nicht, dass die Daimon gerettet ist“, erwiderte Kei. „Schwarzsehen kann ich auch. Alle anderen machen sich bereit, um in ihre Verfügungen zu gehen. Es kann sein, dass der Kampf beginnt, kaum dass wir das Wurmloch verlassen. Denn auch unsere hübsche kleine AURORA ist ein Machtfaktor, den die Kinder der Götter gerne beseitigt sehen würden.“
„Die dürften leicht überrascht sein, wenn sie neben der ADAMAS und der normalen Begleitflotte noch die Core-Schiffe und acht ihrer eigenen Vernichter sehen“, sagte Aris Chausiku. „Was mache ich eigentlich? Admiral?“
„Du tust das, was du zuvor getan hast. Wieder auf deine Schule gehen und lernen. Immerhin hast du alle militärische Verantwortung an Akira abgegeben“, sagte Hina bestimmt. „Stattdessen werde ich ins Paradies der Daima und Daina wechseln und mich dort bereit halten. Falls es etwas geben könnte, bei dem ich helfen kann“, erwiderte sie. „Immerhin bin ich vielleicht nicht die militärische Anführerin des Cores. Aber ich bin immer noch die Anführerin des gesamten Cores.“ Sie versuchte sich an einem beruhigenden Lächeln für Hina. Ihr war klar, dass die Magical Slayer um die Inkarnation aller Bewohner des Paradieses besorgt war, und sie nicht bevormunden wollte.
„Besser wird es heute nicht mehr, schätze ich“, sagte Kei. „Herrschaften. Ausführung!“
Die Versammelten erhoben sich, einige verschwanden, als hätte es sie nie gegeben, der Rest musste die Tür nutzen.
„Junge, Junge“, staunte Belta. „Kei-chan, bei euch wird es echt nie langweilig.“
Der winkte ab. „Ist nur der Akira-Effekt.“
„Der was?“
„Du wirst schon sehr bald merken, was ich meine.“
Belta war weniger irritiert von der Antwort als vom zustimmenden Nicken der anderen Konferenzteilnehmer. Ban Shee legte einen Arm um ihre Schulter. „Und wenn du jetzt denkst, Akira, was kann ein Mann schon anrichten, reim dir alles zusammen, was du je über ihn gehört hast. Und dann …“
„Dann teile ich es durch zehn?“, fragte die Nagalev.
„Dann multipliziere es mit zehn“, sagte Ban Shee bestimmt.
„Mit zwanzig“, murmelte jemand, und wieder gab es zustimmendes Nicken von allen Seiten.
„Gut, dass wir auf der gleichen Seite sind“, sagte Belta. Das waren sie doch, oder?
Epilog
Ein torpedoartiges Gebilde bewegte sich nach Norden. Es kam ungefähr von jenem Punkt zwischen Neuseeland und Australien, der irgendwo in der Mitte zwischen ihnen lag, und es strebte in Richtung Atlantis, dem Kontinent der Dai. Dabei verursachte das Gebilde keinerlei Emissionen, obwohl es mit fast eintausend Stundenkilometern unterwegs war. Während des Fluges ging das Geschoss tiefer, und als es das Festland erreichte, raste es in nur zwanzig Metern Höhe über dem Boden dahin. Mehrere hundert Kilometer im Landesinneren, nicht weit entfernt von der Cryo-Station und der gestrandeten RASHZANZ, ging das Geschoss nieder. Übrigens befand es sich damit auch relativ nahe an der AO, dem Flaggschiff Dai-Kuzo-samas.
Kaum war das Gebilde gelandet, öffnete sich tatsächlich eine Klappe in dem Gebilde, das bis dato mit einem Antischwerkraftgenerator unterwegs gewesen war, und eine Gestalt kletterte hervor.
Als die erste Extremität hervor kam, ähnelte das Wesen noch einer entfernt humanoid geformten, zwei Meter großen Eidechse, aber als sich die Gestalt aufrichtete, sah sie aus wie ein mittelalter, schwarzhaariger Chinese von eher geringer Größe. Und es steckte in einer typischen Militäruniform der chinesischen Roten Armee, die ihr einen Rang als Major bescheinigte. Dieses Wesen ließ einen Hut aus dem Nichts entstehen, wie die Offiziere Chinas, die zur Luftwaffe gehörten, sie zu tragen pflegten, setzte diesen auf und sprang in die Luft. Der Satz, den das Wesen machte, katapultierte es über fünfhundert Meter weit. Dies wiederholte es etwa zwanzigmal, dann war es in Reichweite der AO. Als der falsche Offizier das Schiff beinahe erreicht hatte, beschloss er, zu Fuß weiterzugehen. Noch während er das tat, veränderte sich die Uniform und sein Aussehen. Nun war er zwar immer noch eher chinesisch, aber eine Frau, und die trug einen Mecha-Pilotenoverall. Die Schirmmütze verformte sich und wurde zu einem Helm. Auf diese Weise schaffte es die frischgebackene Unterleutnant es zumindest bis unter das Schlachtschiff. Dort suchte sie nach einem Weg hinauf, einem regulären Weg, denn zwar war sie anstandslos durchgelassen worden, aber eine normalsterbliche Chinesin, die aus eigener Kraft auf den Balkon in Front der AO sprang, wäre nicht nur aufgefallen, sondern zu Recht als Feindin identifiziert worden.
Plötzlich schreckte die Frau auf. Eine Gruppe Tiger-Dai kam in ihre Richtung, und mit ihnen ein Gefühl der Bedrohung. Sie wich aus. Unauffällig, so weit es möglich war. Sie bewegte sich in Richtung des nächsten Lazaretts, in dem unter anderem ihre vermeintlichen Landsleute von der Schlacht mit der RASHZANZ behandelt wurden. Doch bevor sie es erreichen konnte, trat dort ein riesiger Kodiak-Bär hervor. Natürlich kein richtiger Bär. Ein Dai in seiner Tierform. Wäre sie Terranerin gewesen, hätte sie vielleicht gewusst, dass Dai in ihren Tiergestalten am Mächtigsten waren. So erzählte man sich zumindest. So aber wich sie erneut aus, und bevor sie sich versah, befand sie sich in einem kleinen, schmucklosen Gebäude mit nur einem einzigen Innenraum.
Als sie eintrat, sah sie, dass nur eine einzige Person darin war. Auch wenn die falsche Chinesin diese Person nur von hinten sah, reichte es für eine Identifizierung. „Dai-Kuzo-sama.“
Die Angesprochene wandte sich um. Ein spöttisches Lächeln ging über ihr Gesicht. „Ich werde es dir nicht leicht machen, Agent.“
Der rechte Arm der falschen Chinesin verwandelte sich in eine aufleuchtende, glühende Klinge. „Ich werde dich schnell töten.“ Dann griff sie an.
Fortsetzung folgt …