Fortsetzungsgeschichte von Alexander “Tiff” Kaiser, Fortsetzung von: Anime Evolution: Krieg, Episode 14: Homecoming

Zum Inhaltsverzeichnis von World of Cosmos 115

Alternativ kann die Story auch in den Formaten mobi, ePUB und PDF heruntergeladen werden, um die Geschichte bequem auf dem eigenen eBook oder dem eReader gelesen zu werden:


Prolog

Auf der Ebene, die Arhtur, der Bordrechner der ADAMAS, für die Künstlichen Intelligenzen der AURORA-Expedition erschaffen hatte, war mittlerweile einiges los. Ursprünglich hatte Arhtur die Ebene nur eingerichtet, um ein erstes Treffen mit Father, dem Fragment des Nagalev-Rechners HYVAR zu absolvieren, ohne seine Systeme der Gefahr auszusetzen, sich mit dem zu infizieren, was Fathers Kernrechner infiziert hatte. Das hatte sich als unnötig erwiesen, denn das Backup hatte aufzeigen können, dass nicht ein virtueller Virus dessen Ende gewesen, sondern dass zuerst eine Infektion durch Naniten erfolgt war. Seitdem man das wusste, waren die Kerne der Künstlichen Intelligenzen gegen eine nanitische Infektion noch einmal neu abgesichert worden, zumindest jene mit biologischen oder pseudobiologischen Rechenelementen, also Arhtur und die drei Bordrechner der AURORA. Als sich die schnelle Vernichtung der Ebene als nicht notwendig herausgestellt hatte, waren die K.I.s zu dem Schluss gekommen, dass man die Ebene doch weiter nutzen könnte. Und seither tummelten sich die Avatare der Schiffscomputer, der Mechas und der anderen, zu eigenständigem Denken fähigen Rechner auf der Ebene, auch, um dem nachzugehen, was die Biologischen „Vergnügen“ nannten. Seither ergaben sich die Avatare der verschiedenen Computer in allerlei sinnlosen Aktivitäten, um „Spaß“ zu haben. So zum Beispiel führten einige von ihnen gerade ein Bogenschützenturnier aus, andere hatten sich einen Fußballplatz erschaffen und spielten auf einer Hälfte mit kleinen Toren fünf gegen fünf plus Torwart. Aber das waren alles Aktivitäten, die nicht viel Rechenleistung benötigten. Auch die Avatare, die hier scheinbar unbedarft herumtollten, vergnügten sich nur nebenbei. Alle stellten sie ihre Hauptkapazitäten zur Verfügung, um die vielen Daten zu sichten, die Father aus dem Werftmond der Nagalev mitgebracht hatte, in der Hoffnung, mehr über den unbekannten Angreifer zu erfahren, der nicht nur die Werft übernommen hatte, sondern auch versucht hatte, sämtliche Bewohner auszurotten, was ihm auch beinahe gelungen wäre. Mother und Arhtur beteiligten sich selbstverständlich ebenfalls an diesen Auswertungen. Und alle hofften sie, ihren Menschen entscheidend helfen zu können. Wenngleich vieles hier neue Erfahrungen waren, vor allem für Father.

„Und das ist sicher?“, fragte Father erstaunt. „Ja.“
Die Antwort von Mother ließ ihn die Stirn runzeln. „Virtuell? Über das Paradies der Daina und Daima? Einfach mal eben so, weil der Core mit Robotkörpern vor Ort ist?“ „Ja.“
„Sofort nach der Prüfung? Und da will er jetzt kämpfen?“ „Ja.“
„Junge, Junge, ich weiß nicht, ob euer Akira spinnt oder keine Zurückhaltung kennt. Ich, wäre ich ein Mensch, wäre nach so einer wichtigen Prüfung erst mal zur Ruhe gekommen und hätte das Ergebnis abgewartet. Aber Akira nicht. Der sucht sich gleich die nächste Aufgabe. Ist er immer so?“
Diese Frage ließ Mother schmunzeln. „Du kennst ihn länger“, wandte sich Arhtur an Mother. „Ist er immer so?“
„Nein“, antwortete sie. „Natürlich nicht.“ Als sie sah, wie sich die anderen beiden Avatare sichtlich entspannten, wandte sie sich einem weiteren Avatar zu, der sich hinzugesellt hatte. „Oder, Blue Lightning?“
Der große schlanke Avatar mit den blauen Akzenten lachte laut auf. „Nein, er ist nicht immer so. Er muss ja auch mal schlafen, was essen und andere biologische Bedürfnisse zufriedenstellen. Aber eigentlich ist er es die meiste Zeit. Wenn er etwas tun kann, und wenn er denkt, es ist eine gute Sache, könnt Ihr sicher sein, dass er es tun wird. Und er ist ein Biologischer mit erstaunlichen Möglichkeiten, und das nicht erst, seit er Reyan Maxus geworden ist.“
„Ja, das fasst es doch ganz gut zusammen“, sagte Mother lächelnd. Es lag viel Wohlwollen auf ihren Zügen. „Ist ja nicht so, dass mich keiner vor ihm gewarnt hätte“, murmelte Father. Dafür erntete er zustimmendes Gelächter.

1.

Da saß ich also in einem Shuttle, auf dem Weg nach Lorania, in einem Offizierskörper, den der Core für mich bereit gestellt hatte, umgeben von sechs meiner Freunde und in Begleitung meiner Schwester, um auf dem Hauptkontinent die dortige Daimon aufzusuchen.
Nachdem ich gegenüber der abgesetzten Kaiserin der Iovar angedeutet hatte, kriegsverändernde Informationen zu besitzen, hatte ich dafür ein vierstündiges Zeitfenster bekommen, in dem sie und ihre Verbündeten von Haus Logodoboro und Haus Koromando darüber entscheiden würden, ob sie mich anhörten oder nicht. Ich riskierte dabei nicht sehr viel, denn immerhin lag ich in meinem Pod an Bord der ADAMAS und war darüber mit dem Paradies der Daina und Daima verbunden – und von dort führte im wahrsten Sinne des Wortes eine Leitung ins Kanto-System, in dem ich, meine Schwester Yohko, meine Verlobte Megumi, mein bester Freund Yoshi, die Anführerin der Slayer Hina sowie drei ihrer besten Slayer, namentlich Ami, Akane und Sarah diese Expedition begingen. Da wir im gewissen Umfang unsere KI-Kräfte auch in den Robotkörpern einsetzen konnten, war es ein Vorteil, von einigen der mächtigsten KI-Meister der AURORA begleitet zu werden. Warum flogen wir nicht mit den Hawks und dem Eagle, die Eskender Khaleed für uns bereit hielt? Nun, von der Zeit, die wir uns versprachen, also den vier Stunden Frist, die sich Arac erbeten hatte und von den zwei Stunden, von denen Rogan annahm, das die Flotte brauchen würde, um wieder in Angriffsformation zu kommen, waren jetzt etwa fünfzehn Minuten vergangen. Bis wir auf dem Planeten waren, würden noch mal zehn Minuten vergehen, vielleicht mehr. Dann mussten wir die Daimon aufsuchen, eindringen und mit irgend jemandem reden. Dafür waren vier Stunden plus zwei viel zu wenig, das war mir klar. Aber mit Mechas zu landen und wieder zu starten war zeitaufwändiger als ein Shuttle zu nehmen. Die eingesparte Zeit würden wir in der Daimon einsetzen können. So hofften wir zumindest.

Unmerklich berührte mein Androidenkörper den Megumis, meine Rechte berührte ihre Linke. Auch wenn wir nicht wirklich hier waren, gab es mir Sicherheit, sie neben mir zu wissen. Und das nicht nur, weil wir unsere Beziehung endlich zementiert hatten. Noch nicht ganz, aber das würde nach der ersten Geburt in unserem engsten Freundeskreis sicher auch bald kommen. Sobald die Situation uns ein wenig mehr Ruhe ließ als für meine Oberstufenabschlussprüfung, die wir auf der AURORA schlicht Abitur nannten, nach deutschem Vorbild. Apropos Abitur, wann würde ich denn erfahren, ob ich bestanden hatte? Nein, das war falsch formuliert. Ich war mir sehr sicher, dass ich irgendwo zwischen neunzig und siebenundneunzig Prozent erreichen würde. Aber wenn ich unter zweiundneunzig Prozent blieb, war es „nur“ eine 2 oder ein B bei den Amerikanern und ein E in Japan. Ich spekulierte aber durchaus auf eine 1, oder auch A oder im Japanischen F, also die Spitzennote. Und ich fand auch, dass ich mir eine solche Abschlussnote verdient hatte. Verdammt verdient hatte, nach all dem, was ich in meinem Leben schon hatte durchmachen müssen. Kurz zog ein Teil meiner Erlebnisse vor meinem inneren Augen vorbei. Die zwei Marsangriffe, die Expedition nach Kanto – Aria, wie ging es Aria? Das Letzte, was ich gehört hatte, war, dass Oma sie unter ihre Fittiche genommen hatte – meine Erlebnisse auf Nag Prime und dann die Entführung meines Bewusstseins in den Core. Vom Rest wie dem Kampf gegen das ganze Kaiserreich Iovar und unseren beschwerlichen, gefährlichen Rückweg unter dem Feuer der Götter mal gar nicht zu reden. Und dann war da noch meine ganz persönliche Schwierigkeit, ein Reyan Maxus geworden zu sein und zu begreifen, was das überhaupt für mich und andere bedeuten würde. Leicht hatte ich es nicht gehabt, und ich gedachte, mich mit einem Einser-Abitur zu belohnen. Immerhin hatte ich jede Frage beantwortet und mich in der mündlichen Prüfung gut geschlagen. Na, wenn ein ehemaliger Colonel der United Earth Mecha Force nicht sicher im Umgang mit Worten und Fakten war, dann wusste ich es auch nicht.

Ich sah zu Akane herüber, die so nett gewesen war, meine Prüfung zu leiten, aber nicht Teil des Prüfungsausschuss war. Ehrlich, ich wusste das Privileg sehr zu schätzen, dass es einzig für meine Prüfung zusammengetreten war. „Pst, Akane-chan“, wisperte ich in ihre Richtung.
Sie zuckte zusammen, als sie meine Stimme hörte, oder vielmehr die meines Robotkörpers, die sich trotz Modifikationen noch immer reichlich fremd anhörte. Sie saß mit Hina in der Reihe direkt hinter mir, und das war jetzt mein Vorteil.
„Was willst du, Akira?“, fragte sie reichlich unfreundlich. „Wenn du Vorabinformationen zum Ergebnis deiner Prüfung haben willst, kann ich dir nicht helfen. Es hat seinen Grund, warum ich nicht Teil der Prüfriege bin.“
„Aber du…“ „Nein.“ „Aber kannst du nicht wenigstens…“ „Nein.“ „Würdest du dann wenigstens…“ „Nein, nicht mal für dich, Akira. Aber ich kann dir etwas anderes sagen. Die Auswertung deiner Bögen erfolgt auf der ADAMAS in der beschleunigten Realität. Das bedeutet, noch in dieser Stunde müsste uns eine Nachricht erreichen, ob du bestanden hast.“
Entgeistert sah ich sie an. „OB ich bestanden habe? OB?“ All meine Zweifel kochten wieder in mir hoch, und sie waren zahlreich. „Weißt du was, was ich nicht weiß, Akane-chan?“
Ich wusste nicht, wie sie es schaffte, aber sie brachte den Mund ihres Offizierskörpers dazu, die schmalen Lippen, die genauso aussahen wie die meines Aktionskörpers und daher zu so etwas eigentlich nicht in der Lage sein sollten, zu einem spöttischen Lächeln zu verziehen, dass ich genau so auch von ihr im Original kannte. „Sagen wir es mal so, Akira Aris Arogad Otomo. Wir haben sehr klare Anweisungen von der obersten Schulbehörde der AURORA bekommen, dich weder zu schonen, noch dich mit Samthandschuhen anzufassen. Das tun wir alleine schon deshalb, damit wir uns nicht dem Verdacht aussetzen, den Sohn von Eikichi Otomo zu bevorzugen. Aber zugleich haben wir auch die Anweisung, nicht zu streng zu sein, und im Zweifel eher für dich zu votieren, immerhin will keiner den größten Mecha-Piloten der Erde wegen einer kleinlichen Auslegung seine erste von zwei möglichen Abiturprüfung versemmeln sehen. So viel sind deine Orden und dein Rang dann doch wert, Commander.“
„Na danke“, murmelte ich. „Wenn es nach mir geht, habe ich mindestens mit zwei bestanden.“
Akane runzelte die Stirn und legte den Kopf schräg. „Du hattest jetzt nicht wirklich Gelegenheit, dich auf die Prüfung vorzubereiten. Und die Fragen waren Top notch, das kann ich dir versprechen.“ Sie machte eine abwehrende Geste, als ich aufbegehren wollte. „Ich weiß, Mathe kam dir leicht vor.“ Ihr Lächeln wurde ein klein wenig bösartig. „Kam. Hat dich das nicht gewundert?“
Hätte ich in diesem Moment in meinem eigenen Körper gesteckt, ich hätte vermutlich gespaltet, mein Über-Ich von meinem Es gelöst, so sehr erschrak ich mich. „A-aber in der mündlichen Prüfung habe ich doch…“ „Viel gesagt, zugegeben. Aber es kommt nicht darauf an, wie gut sich jemand ausdrücken kann, sondern nur, wie viele Fragen er richtig beantwortet, Akira Otomo.“ Ihre Miene wurde wieder neutral. „Habe keine Sorge. Du hast ja noch einen zweiten Versuch. Aber auf den würde ich mich dann besser vorbereiten, Commander.“
Ungläubig wandte ich mich wieder um, nach vorne, in Flugrichtung. Trotz Robotkörper fühlte ich ein verdammt flaues Gefühl im Magen.

„Zwei Minuten bis zum Aufsetzen“, sagte der Pilot, ein Anelph im Rang eines Majors. „Ich bringe Sie direkt da runter, wo Kitsune-sama einen Zugang zur Daimon geschaffen hat. Wir haben ihn nie gefunden, aber für Sie, Sir, wird er doch leicht zu entdecken sein.“ Er lächelte mich erwartungsvoll an. Eigentlich sah er mich an, als wäre ich Joan Reilley und er wollte ein Autogramm von mir. Das erinnerte mich daran, dass ich im Moment andere Probleme als mein Abitur hatte. Ich räusperte mich. „Nun. Ja. Ich denke schon, dass einer von uns acht den Zugang finden wird. Darum habe ich sie ja mitgebracht.“
„Und was wird Sie auf der anderen Seite erwarten, Admiral?“, fragte der Major.
Die Frage saß. Ich hatte sie mir selbst schon gestellt, und einige Daten hatte ich von Kitsune ja schon bekommen, die als Erste versucht hatte, in die Daimon zu kommen und die dortigen Bewohner zu kontaktieren. Es war zum wüsten Kampf gekommen, bei dem die Fuchsdämonin gerade so hatte fliehen können. Also, eine nette Aufnahme erwartete ich nicht von den Dämonen. Dämonen, klar. Wenn alles ganz, ganz schief lief, wussten die Bewohner der Lorania-Daimon nicht einmal mehr, dass sie gar keine Dämonen waren, sondern Dai, Wesen, die in der Lage waren, ihre eigene Körpermaterie zu beeinflussen. „Ärger wahrscheinlich. Eine Menge Ärger. Aber wir haben die hiesige Daimon schon viel zu lange ignoriert. Das wird sich jetzt ändern.“
Die Fähre setzte auf. Der Pilot, sich kurz seiner Aufgabe widmend, wandte sich wieder uns zu. „Dafür drücke ich beide Daumen, wie Ihr Terraner sagt. Sie können sich jetzt abschnallen und von Bord gehen. Mein Funker und ich warten hier mit aufgewärmten Triebwerken auf Sie, Sir.“
„Danke“, erwiderte ich, löste meinen Sicherheitsgurt und erhob mich. Ich war nicht der Erste, der die Fähre verließ, aber das musste ich auch gar nicht sein. Vor allem nicht mehr, seit Akane meine Ängste geschürt und mir einen richtig heftigen Dämpfer versetzt hatte. „Wir sehen uns in ein paar Stunden“, versprach ich der Besatzung. Dann trat ich hinaus.

* * *

„Wonach suchen wir?“, sagte Akane, nur eine Handbreit neben meinem rechten robotischen Ohr entfernt. Ich fuhr so erschrocken zusammen, mein Robotkörper antwortete mit einem einprogrammierten Reflex und sprang fast zehn Meter von ihr fort. „Wow. Heftige Reaktion. Hast du jetzt Angst vor mir? Man stelle sich vor, der legendäre Blue Lightning fürchtet sich vor einer Lehrerin“, spöttelte sie. „Es ist der Körper. Er hat einprogrammierte Reflexe, die ich nicht sofort übersteuern… Heyyyy!“ Erneut sprang mein Körper, aber dabei hatte mich nichts erschrocken, nicht einmal Akanes Aussicht darauf, dass ich meine erste Abiturprüfung versemmelt haben könnte. „AUSEINANDER!“, rief ich, während der Offizierskörper wieder fast zehn Meter weit sprang. Mein Team reagierte sofort, sie sprangen in Richtung Shuttle zurück und streuten sich dabei ein wenig. Wir hatten alle unsere militärische Ausbildung, und die Slayer mehr als genug Kampferfahrung. Da, wo ich eben noch gestanden hatte, trat eine Säule Elektrizität wie von einem Blitz hervor und schoss in den Himmel. Ein noch viel stärkerer Blitz kam vom Himmel zurück und fuhr in den Boden. Auch dort, wo Yoshi gestanden hatte, ging so ein Blitz in den Himmel. Aber das war es dann auch.
Ich registrierte das mit Hilfe der Sensorik und Rundumsicht des Robotkörpers, noch bevor ich das zweite Mal landete. Dies tat ich nur einen Meter von Akane und Megumi entfernt. „Wir suchen nach so etwas“, sagte ich. Nicht unbedingt nach einem direkten Angriff auf uns, zugegeben, jedenfalls nicht schon kurz nach unserer Landung. Ich suchte mit den Sensoren nach der Ursache der Blitze. Mein Gespür für KI half mir gerade wenig. Wäre ich persönlich hier gewesen, hätte es vielleicht anders ausgesehen. Yoshi sagte: „Sie verbergen sich, aber ich kann die Realität sehen, aus der sie sich entfernt haben. Es ist eine ähnliche Phasenverschiebung wie bei der Daimon selbst. Mit der gleichen Methode machen sich die Dai unsichtbar, wenn sie es müssen.“ Er deutete auf eine Position etwa hundert Meter vor uns, mitten im Grasland. „Schätze, wir haben ihre Reichweite verlassen, sonst wäre es nicht bei zwei Attacken geblieben.“
„Okay“, sagte ich, markierte die ungefähre Position der Angreifer auf der virtuellen Karte in meiner robotischen Sicht und versuchte, den unbekannten Gegner selbst zu erkennen. Es gelang mir nicht. „Wer sieht sie noch? Beziehungsweise erkennt ihre Position?“
Die Hände der sechs Mädchen gingen hoch. Verblüfft fragte ich: „Bin ich echt der Einzige, der sie nicht lokalisieren kann?“
„Himmel, Akira, du kannst nicht immer der Beste und der Besonderste sein!“, tadelte Ami.
„Darum geht es doch gar nicht. Ich würde mich nur wohler fühlen, würde ich ihre Positionen auch bestimmen können.“ Zumindest hoffte ich, dass ich die Wahrheit sagte und dass hier nicht mein gerade frisch verletztes Ego gesprochen hatte.

Ich breitete die Arme aus und ging langsam bis zu jener Stelle zurück, an der ich gestanden hatte und in die der Blitz gefahren war. Das heißt, ich hielt ein paar Meter Abstand, denn eventuell war dies die Reichweite für den Angriff mit dieser Waffe oder Methode. Ich hielt die Handflächen so, dass unsere unbekannten Gegenüber sehen konnten, dass sie leer waren. „Nicht angreifen!“, rief ich auf Nag-Alev. „Wir haben im Moment keine feindlichen Absichten!“ Ich hätte auch den Anelph-Dialekt sprechen können, aber ich war mir sicher, besser damit zu fahren, wenn ich gleich klarmachte, dass ich kein Hiesiger war.
Gelächter, abgehackt und rau, klang mir entgegen. „Im Moment. Immerhin ist das Ding da ehrlich“, sagte eine heisere Männerstimme. „Verschwinde wieder dahin, wo du her gekommen bist!“
„Yoshi, wie viele sind es?“, fragte ich über den eingebauten Funk. Ehrlich, diese Offizierskörper waren praktisch.
„Fünf. Vielleicht sechs, aber dann stehen zwei von ihnen nahe beieinander“, klang seine Stimme in meinem Ohr auf.

„Ich habe eine Frage!“, rief eine Frauenstimme.
„Ich beantworte jede Frage, die ich beantworten kann!“, rief ich zurück.
Vor mir schälte sich eine Frau aus dem Nichts. Sie war groß, aber nicht zu groß, jung, dunkelhäutig wie ein Pygmäe, hatte aber eher die Gesichtszüge eines Indianers. Inklusive Hakennase, wenngleich nicht so sehr, dass ich dies als unattraktiv empfunden hätte. Sie hatte langes, weißes Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte, und auf ihrem Rücken entspannten sich zwei wirklich schöne Falkenflügel, die sie gerade benutzte, um sich in die Luft zu versetzen, ein paar Meter zu fliegen und etwa auf halber Strecke zu mir wieder zu Boden zu kommen. Als sie näher kam, bemerkte ich, dass die dunkle Haut aus Schuppen bestand. Auch züngelte eine Reptilienzunge aus ihrem Mund, während sie flog. Ich erinnerte mich an Kitsunes Bericht über diese Daimon und dass die meisten Bewohner Schimären waren. Die Frage war halt, traten sie so auf, oder glaubten sie, Schimären zu sein? Immerhin, Akari hatte Jahrhundertelang geglaubt, ein toter Mensch zu sein, der zum Oni geworden und in einen Schrein verbannt worden war, den ich versehentlich zerstört hatte. Bis zu ihrer Menschwerdung dauerte es dann noch ein wenig. War das wirklich erst ein paar Jahre her?
„Ich bin Akira“, sagte ich. Die Schimäre zeigte ihre leeren Hände. „Ich bin Kunox aus der Traumfalle.“
„Es freut mich, dass du mit mir reden willst, Kunox aus der Traumfalle.“
„Es freut mich, dass du zuerst mit mir redest.“ Sie deutete auf meine Begleiter. „Die da. Du hier. Bedeutet das, die Daimon wird zerstört werden?“
„Ja, was zum… Nein! Nein, warum sollten wir?“, fragte ich verblüfft.
Dies schien sie zu verwirren. „Ihr benutzt doch Aktionskörper des Cores, oder nicht?“
„Offizierskörper!“, rief jemand, und ich glaubte, Sarahs Stimme zu erkennen.
„Offizierskörper. Also seid Ihr ranghöher.“
Ich zuckte die robotischen Achseln. „Wenn man es genau nimmt, sind wir hier in Aktionskörpern des Cores. Und ich bin zufällig in genau diesem Moment der Oberbefehlshaber seiner Streitkräfte. Also glaube mir, ich müsste wollen, dass die Daimon zerstört wird, damit die Raider es versuchen, und dann ist es noch lange nicht gesagt, dass es klappen würde.“
„Hat sich etwas geändert?“, fragte sie erstaunt. „Arbeitet der Core nicht mehr für die Götter? Sucht Ihr keine Daimons mehr, die Ihr zerstören könnt?“
„Äh. Ja, nein und nein. Es hat sich was geändert, der Core arbeitet schon seit einiger Zeit nicht mehr für die Götter und wir erkunden auch keine Daimons mehr für sie. Aber ihre Schiffe der Straferklasse könnten eine Daimon zerstören, das ist richtig.“ Sollte ich die RASHZANZ erwähnen? Nun, vielleicht sollte ich nicht zu viele Informationen auf einmal hergeben.
Misstrauisch sah die Schimäre mich an. Nicht, dass ich nicht auch schon exotischere Dais gesehen hätte. „Du sagtest, du bist Oberbefehlshaber des Cores? Jetzt im Moment?“
„Und sicher auch danach noch eine ganze Zeit lang.“
„Aber du gehörst nicht zum Core. Nicht in dem Sinne. Ihr anderen auch nicht. Ihr habt begrenzte AO-Fähigkeiten.“
Wieder zuckte ich die künstlichen Schultern in der Hoffnung, dass Kunox diese Geste richtig deutete. „Ja, wir haben alle AO-Fähigkeiten. Wenn wir in unseren eigenen Körpern stecken, sogar erhebliche AO-Fähigkeiten.“ Ich beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. „Ich selbst bin ein Reyan Maxus. Wahrscheinlich der einzige in der ganzen Milchstraße.“
Erschrocken flog Kunox auf und flatterte ein paar Meter zurück, bevor sie ihre heftigen Emotionen im Griff hatte und wieder landete.
Gelächter erklang von der versteckten Gruppe. „Lass dich doch nicht so leicht hoch nehmen, Kunox!“, rief die raue Männerstimme. „Gut, sie wissen von den Reyan, aber ausgerechnet dieses Würstchen mit der AO-Fähigkeit eines Kindes will ein Reyan Maxus sein?“
„Wir werden sehen, Sokal, wir werden sehen.“ Sie wandte sich wieder mir zu. „Akira ist dein Name, sagtest du? Akira…“ Sie rollte den Namen wie Wein auf der Zunge. „Akira Otomo?“
Ich verbeugte mich leicht. „Ich bin erfreut, dass man mich hier kennt.“
„Und du bist Oberbefehlshaber des Cores?“
„Eine lange Geschichte“, bestätigte ich. „Und du kommandierst die Naguad-Flotte, die gerade dabei ist, Lorania zu verteidigen?“
„Äh, nein, das macht Admiral Achander. Aber ich werde an der Schlacht teilnehmen. Ein terranischer Banges steht für mich bereit, ebenso für meine Begleiter.“
Triumphierend sah Kunox nach hinten. „Akira Otomo! Ihr habt von ihm gehört, Leute!“
„Ein Terraner. Schön und gut. Aber weißt du, wer uns jetzt helfen würde, wer uns wirklich helfen würde?“, rief die raue Männerstimme. Eine Gestalt schälte sich aus dem Nichts. Sie erinnerte mich spontan an Ganesha, den Elefanten-Mensch-Hybridgott. Allerdings war Ganesha nicht gelb. „Aris Arogad, der wäre uns jetzt eine Hilfe!“

Hinter mir raunten meine Freunde auf. Mehrere Finger zeigten auf mich, was unhöflich war, aber jetzt war nicht die Zeit, um darüber zu lamentieren. „Aris Arogad“, sagte meine Schwester. Sie zeigte auf sich. „Jarah Arogad.“ Dann auf Megumi. „Solia Kahlis von den Daness. Falls euch das interessiert.“
Der Elefantenhybrid rieb sich die Stirn. „Junge, Junge, das muss ich erst mal verdauen. Ich schätze, wir brauchen einen besseren Ort als diesen für unsere kommende Unterhaltung. Stimmst du zu, Kunox?“
„Natürlich stimme ich zu.“ Sie flog auf, bis zu mir, landete und kam mir so nahe, dass nur noch eine Hand zwischen uns gepasst hätte. Senkrecht, nicht waagerecht. „So, so. Du bist also auch noch Aris Arogad. Akira Otomo, Oberbefehlshaber des Cores, Erbe des Hauses Arogad, AO-Meister, und jetzt auch noch Reyan Maxus. Gibt es noch etwas, was ich wissen sollte?“
Ich dachte einen Augenblick nach. „Mit ein wenig Glück kriege ich auch noch meine Zulassung für ein freies Hochschulstudium.“
„Ein was?“
„Okay, das ist vielleicht tatsächlich nicht relevant für euch. Gehen wir dann?“
„Wohin?“
„In die Daimon. An einen bequemeren Ort. Wir könnten es eilig haben, weil Kaiserin Arac, Haus Logodoboro und Haus Koromando in etwas mehr als drei Stunden entschieden haben werden, ob sie uns angreifen oder nicht. In spätestens fünfeinhalb Stunden sollten wir alle in unseren Banges sitzen.“
„Ich denke, das wird reichen. Für eine erste Erklärung beider Seiten. Dass Ihr den Krieg nicht direkt zu uns bringen wollt, ist klar. Aber solltet Ihr uns als Söldner haben wollen, wird unser Preis sehr hoch.“
„Ich brauche keine Mammonsöldner ohne Mitspracherecht. Ich brauche gleichberechtigte Partner, die aus Überzeugung mit mir ihre Leben riskieren“, sagte ich, bevor ich richtig über meine Worte nachgedacht hatte. „Gut reden kannst du ja, Akira Otomo.“ Sie machte eine Geste, und zwischen uns beiden und der Gruppe um Sokal entstand ein Energiewirbel, der mich stark an die Portale aus Stargate erinnerte. Tolle Serie übrigens, und hätte mehr als zehn Staffeln verdient gehabt. „Kommt. Ihr auch, AO-Meister. Wir reden auf der anderen Ebene weiter.“
Ich folgte Kunox ohne zu zögern. Wenn sie von mir gehört hatten, würden sie wissen, dass man mit mir keine Dummheiten machen sollte. Auf dem Rundumsichtdisplay in meinem Kopf sah ich, dass meine Freunde zu mir aufholten und sich drei weitere Schimären aus dem Nichts schälten. Alle strömten wir dem Wirbel entgegen.

2.

Kunox aus der Traumfalle führte uns durch den Wirbel. Auf der anderen Seite erwartete uns ein weites Hügelland, das rein gar nichts mit der Ebene zu tun hatte, auf der wir den Eingang in die Daimon gesucht hatten. Ich schätzte die Entfernungen ab und kam auf einen soliden Durchmesser von gut einhundert Kilometern. Bevor ich kläglich in Kopfrechnen scheitern konnte, lieferte mir der Offizierskörper eine Flächenberechnung bis zur neunten Nachkommastelle, wenn von einem exakten Durchmesser von einhundert Kilometern ausgegangen werden musste – und Daimons neigten dazu, kreisrunde Kuppeln zu sein, weil diese am einfachsten aufrecht zu erhalten waren. Damit hatte das Ding hier eine Fläche von mehr als siebentausendachthundert Quadratkilometern. Das reichte aus, um eine Stadt mit zwei Millionen Einwohnern zu beherbergen. Aber ich bezweifelte, dass es so viele Dai in dieser Daimon gab.
„Da hinten müssen wir hin“, sagte Kunox. Sie machte einen Step auf den Ley-Linien, zwei ihrer Begleiter folgten ihnen, wie natürlich schlossen Yoshi, ich und die Mädchen an, darauf folgten die letzten beiden Dai. Ich fühlte, wo Kunox die Ley-Linie verlassen hatte und trat ebenfalls aus. Auch meine Begleiter folgten, inklusive unseren Aufpassern. Wir standen vor einem Gebäude, das ich von außen als Amphitheater beschrieben hätte, und das es wohl auch war. Die Vogelhybride winkte uns zu einem Eingang. Wie groß war das Ding? Doch nicht größer als ein normaler Theatersaal, keinesfalls so groß wie das Ding in Rom, schloss ich. Wir betraten den Eingang, und als wir es taten, ging irgendwo eine Sirene los.
„Unsere Struktur ist anarchistisch“, erklärte die Hybride. Vor meinen Augen legte sie alle tierischen Züge ab und wandelte sich komplett zu einer Menschenfrau. „Das bedeutet, wir wählen kein Oberhaupt, sondern treffen alle Entscheidungen im Kollektiv. Das erfordert natürlich, dass jeder Einzelne dazu aufgefordert ist, für die gesamte Gemeinschaft Entscheidungen zu treffen und sich dann vor dem Kollektiv zu verantworten. Es ist kein sehr schnelles und sicher kein sauberes System, aber für uns funktioniert es. Eure Ankunft bedeutete, dass ich und meine vier Begleiter in die unschöne Lage versetzt wurden, mit der Situation umzugehen und uns anschließend dafür zu rechtfertigen. Unsere Entscheidung ist, euch mit in die Daimon zu nehmen, Akira Otomo. Dafür werden wir uns jetzt rechtfertigen müssen. Die Sirene dient dazu, alle Bewohner der Daimon zusammenzurufen.“ Sie lächelte ein verschmitztes Lächeln. „Es dauert ein paar Minuten, und einige werden nicht kommen. Aber wer nicht da ist, darf auch nicht mit entscheiden. Zumindest der Part hat die letzten Jahrhunderte immer gut funktioniert.“
Wir gingen durch einen langen, dunklen Gang. Als wir durch den Ausgang traten, hatten sich die Ränge des Theaters bereits gefüllt, etwa zu einem Drittel. Aber es kamen permanent neue Gäste an, und die meisten reisten über die Ley-Linien. Gut, einige flogen auch ein, und das nur teilweise mit Flügeln.

„Wie viele…?“, fragte ich. „Wir? Achthundertvierunddreißig. Allesamt Dai.“
Okay, das war eine erkleckliche Zahl. Ich kramte in meinem Gedächtnis, wie viele Dai meine Cousine Sakura auf East End im Hangar der ADAMAS aufgenommen hatte. Achthundert und ein paar. Dazu achtzigtausend Daina, die vor dem Bombardement, das East End zerstört hatte, im Hangar Zuflucht gefunden hatten.
„Daina oder Daima beherbergt die Daimon nicht?“, vergewisserte ich mich. Ich wusste nicht, ob rund achthundert Dämonen für eine Daimon üblich viel oder unüblich wenig war. Aber auf jeden Fall hatten sie eine Menge Platz. „Es gibt nur uns Dämonen“, erklärte Kunox. „Was sind Daina und Daima?“
Das brachte mich in Verlegenheit. Sie führte uns auf ein Podest, das vom Theater wie beim griechischen Vorbild halbkreisförmig von den Zuschauertreppen umrahmt wurde. „So nennen wir die menschlichen Nicht-Dai. Jene, die näher an Terra leben, sind Daina, jene, die weiter entfernt leben, Daima. Das habe nicht ich eingeführt, das waren die Daina und Daima selbst. Das geht so weit, dass sie sich im virtuellen Paradies des Cores auch in Daina und Daima aufteilen. Quatsch, wenn du mich fragst, aber wo freier Wille im Spiel ist, gibt es neben den guten Aspekten eben auch immer etwas Unsinn.“
„Ich verstehe.“ Ihr Äußeres veränderte sich. War sie nach ihrer Umwandlung von der Hybride zur Menschenfrau nackt gewesen, aber ohne primäre Geschlechtsmerkmale auszubilden, entstand nun ein bauschiges Kleid aus weißen Federn, das in ihrem Nacken einen großen, weißen Fächer bildete. Alles in allem wirkte das Kleid, als käme es aus dem Barock und hätte ein Untergestellt und ein Dutzend Unterröcke. Sie musste es leicht anheben, um darin gehen zu können.
„Nervös?“, fragte ich. „Ich meine, wegen dem pompösen Kleid.“
„Ja, etwas“, gestand sie. „Es war vor allem meine Entscheidung, euch reinzulassen. Es kann nichts schaden, sich etwas aufzuhübschen, um die Anderen unterschwellig für mich positiv zu stimmen.“
Ich grinste, soweit meine Mimik dazu in der Lage war. „Das ist vollkommen verständlich.“

Kunox und ihre vier Begleiter, die sich ebenfalls aufgehübscht, aber nicht alle zu Menschen gewandelt hatten, dirigierten uns in die Mitte der Bühne. Auf den Rängen war nun kaum noch ein Platz frei, und ein allgegenwärtiges Raunen lag über dem Theater.
Die Frau im weißen Federkleid hob beide Arme. Sofort trat fast so etwas wie Stille ein. Nur noch einige wenige Dai tuschelten untereinander, und das auch nur, bis sie Kunox‘ wütenden Blick auf sich spürten. Als alles still geworden war, nahm sie die Arme wieder ab. „Ich bin Kunox aus der Traumfalle, und ich habe euch zusammengerufen, weil es meine Entscheidung war, diese acht Fremden einzulassen.“
Hinter ihr wurde leise gemurrt. „Nun gut, es war unsere gemeinschaftliche Entscheidung.“ Das stellte ihre Dai-Begleiter zufrieden.
„Ihr seht hier acht Robotkörper des Cores, genauer gesagt Offizierskörper mit besonderen Fähigkeiten. Unter anderem hat es die Bewusstseine, die sie gerade steuern, dazu befähigt, auf den Ley-Linien zu reisen.“
Lautes Raunen auf den Rängen setzte ein. Jemand, ein bulliger Bursche, der wie ein wrestlendes Kaninchen aussah, rief eine Frage. „Heißt das, die Trägerbewusstseine sind AO-Meister?“
„Ja. Alle acht sind AO-Meister. Das ist einer der Gründe, warum ich sie einließ. Die Schlacht, die bald über Lorania beginnen wird, ein anderer Grund.“
„Was geht uns die Schlacht da draußen an?“, rief ein schlankes Mädchen mit Krokodilkopf. Junge, die alten Ägypter hätten am vielfältigen Anblick dieser Dai ihre helle Freude gehabt. „Hier drin sind wir sicher, egal, was draußen passiert! Meinetwegen können deine AO-Meister hier drin Schutz suchen, so nett sind wir dann doch!“
Ein paar zustimmende Worte klangen auf, aber eine Mehrheit war das nicht.
„Es gibt da etwas, was unsere Gäste wissen müssen“, sagte Kunox. Von ihrem Platz in der Mitte des Theaters trug ihre Stimme ohne großen Aufwand bis zum höchsten Rang hinauf. „Viele hier halten den Krieg, der uns den Core auf den Hals gehetzt hat, für ein Märchen, für eine böswillige Legende, mit der man Kinder erschreckt. Ich tue das nicht, aber das weiß jeder hier. Fakt ist, dass er für uns nicht relevant ist, solange der Core unsere Heimat nicht aufgespürt hat.“
„Was du ja gerade erfolgreich torpediert hast!“, rief jemand, der aussah, als wären zwei Echsen und drei Säugetiere in einen Mixer geraten, und jemand hätte sich die Mühe gemacht, zwei Augen, ein Maul und eine Nase herauszusuchen und miteinander zu einem Gesicht zu kombinieren, unabhängig davon, ob die Teile zusammenpassten oder nicht. „Dazu muss ich sagen, dass der Core nicht länger Dämonenwelten sucht und sie der Vernichtung preis gibt!“, sagte sie lauter. Die Wirkung trat beinahe sofort ein. Ein sehr erfreutes Raunen ging durch die Menge. Das waren definitiv gute Nachrichten.
„Beweise es!“, rief das Krokodil.
„Später. Ich muss erst meine Erklärung fortsetzen. Jedenfalls verbargen sich unsere Vorfahren in dieser Daimon und blieben für sich. Fünfzigtausend Jahre lang. Denn wenn wir draußen entdeckt worden wären, wäre die Daimon entdeckt worden, und wäre die Daimon entdeckt worden, hätte nicht nur die Gefahr bestanden, dass sie ausgelöscht worden wäre. Lorania wäre sicher nicht die letzte Welt gewesen, die die Götter sicherheitshalber bis zur Sterilisation gebombt hätten.“
„Das ist richtig“, sagte Yoshi. Er hatte East End und West End mit eigenen Augen gesehen. Er wusste, wovon er sprach. Ich nickte ihm zu.
„Als die Naguad nach Lorania kamen und Streit mit den Anelph ausbrach und Elwenfelt und Logodoboro einfach so Tatsachen schufen, kamen ihre KI-Meister auch in diese Daimon. Was erstaunlich ist, weil niemand sie eingeladen, niemand sie hereingelassen hatte. Sie machten uns sehr heftig und sehr kurzfristig klar, dass die Naguad es nicht wünschten, dass wir in den Prozess der Kolonisierung des Kanto-Systems durch Haus Elwenfelt eingriffen. Es gab einen Vertrag, und dieser wurde bis zum heutigen Tag eingehalten.“
Zustimmendes Raunen und Nicken begleitete ihre Worte.
Als die Stimmen wieder abgeebbt waren, fuhr sie fort. „Dann, letztes Jahr, besuchte uns eine junge Dai von der Erde. Sie hieß Kitsune und nannte sich die Herrin der Fuchsdämonen. Sie war mit Akira Otomo und der Flotte der Menschen ins System gekommen und hatte die Aufgabe erhalten, mit uns Kontakt aufzunehmen.“
Ich hörte, wie mein Name wie eine Welle durch das Amphitheater ging. Der Tenor war grundsätzlich positiv, nur einige wenige sprachen ihn in einem negativen Tonfall aus.
„Sie erfragte von uns, ob wir bereit waren, die Anelph in ihrem Kampf um Unabhängigkeit zu unterstützen. Wir fragten sie, ob sie mit unserer Hilfe einen Sieg garantieren könne. Aber sie sagte, es ginge nur darum, die Evakuierung von ein paar Millionen Anelph sicher durchzuführen. Danach würden die Terraner wieder abziehen. Das war uns zu vage für den Preis, die Existenz der Daimon dem Core gegenüber zu verraten und unsere Vernichtung und die von Lorania zu riskieren. Also warfen wir Kitsune aus der Daimon raus. Nicht auf besonders nette Art, und hätten wir gewusst, dass die UEMF doch bleiben würde, hätten wir uns vielleicht anders entschieden. Aber mir scheint, mit der Ankunft dieser acht AO-Meister haben wir eine neue Chance erhalten, für Lorania und die Anelph im engsten Sinne aktiv zu werden. So wir dies wünschen.“ Sie sah mich an. „Erklärung genug?“
Ich nickte. „Jetzt kann ich einige meiner Erfahrungen besser einordnen und sehe mehr vom Großen und Ganzen, danke.“

„Wenn deine Erklärung beendet ist, Kunox“, rief das Krokomädchen, „dann sag uns, woher du weißt, dass der Core uns nicht mehr sucht!“
Sie deutete auf mich. „Weil dieser AO-Meister hier der Oberbefehlshaber der Streitkräfte des Cores ist!“
Tumultartiger Lärm klang auf. Einige Dämonen setzten zum Sprung auf mich an. „Es ist Aris Arogad!“, klang Kunox‘ Stimme kraftvoll bis in den letzten Winkel des Theaters. Wieder wurde es still, so still, dass man die sprichwörtliche Stecknadel hätte auf dem Boden aufschlagen hören können. Diejenigen, die auf dem Sprung gewesen waren, verharrten. Zwei von ihnen, die es bereits auf die Bühne geschafft hatten, hielten inne, einer hatte die rechte Hand mit einigen beeindruckenden Krallen nur noch Zentimeter von meinem Gesicht entfernt gestoppt.
„Es ist wahr!“, rief ich. „Ich bin Aris Arogad! Oder wenn Ihr es wollt, Akira Otomo. Das eine ist mein terranischer Name, das andere mein Naguad-Name! Und ja, es stimmt, ich bin Oberkommandierender des Cores! Der Core HAT mit den Göttern gebrochen, seine Stammwelten verlassen und flieht nun zusammen mit der AURORA in Richtung Terra! Wir verrichten nicht länger die Drecksarbeit für die Maschinenschiffe der Götter! Und wir helfen ihnen auch nicht, weitere Daimons zu suchen und zu zerstören! Das ist hiermit vorbei! Damit seid Ihr in der Daimon Lorania noch nicht sicher, aber sicherer als zuvor!“ Ich sah in aufgesperrte Münder, glotzende Augen und auf mich gerichtete Ohren in jeder Form und Farbe. „Und ich bin ein Reyan Maxus geworden“, fügte ich etwas leiser an.
„Was bedeutet das für uns? Abgesehen von dem „Wir sind sicherer, aber nicht außer Gefahr“-Part?“, fragte das Krokodilmädchen.
„Das, meine lieben Dai“, sagte ich und breitete die Arme aus, „müsst Ihr leider allein entscheiden! Ich kann euch nur die veränderte Situation schildern, und euch sagen, dass ich für den Core spreche, Erbe des Hauses Arogad bin und daher selbstständig einige Entscheidungen treffen und Versprechen geben kann, und dass ich als ranghoher Stabsoffizier auf für Terra spreche! In einem begrenzten Umfang darf ich sicher auch für das Kaiserreich Iovar sprechen, seit ich bei der Befreiung von Kaiserin Arac geholfen und einen Machtwechsel herbeigeführt habe!“
„Gibt es noch irgendwas Wichtiges? Zum Beispiel, dass du das Universum erschaffen hast, oder so?“, spöttelte jemand.
Für einen kurzen Moment dachte ich nach. „Nein, ich denke, das war so auf die Schnelle alles Wichtige!“ Ich deutete auf meine Begleiter. „Dies ist meine Schwester Yohko, auch bekannt unter dem Namen Jarah Arogad! Neben ihr steht meine Verlobte, Megumi Uno, die mit Naguad-Namen Solia Kahlis heißt und in der direkten Erbfolge für den Daness-Turm steht! Daneben steht Yoshi Futabe, hochrangiger Offizier der Hekatoncheiren! Und die vier anderen sind die Youma Slayer, besser bekannt als Hina Yamada, Sarah Anderson, Ami Shirai und Akane Kurosawa, alle vier wichtige und mächtige Wegbegleiter der AURORA-Expeditionen! Wir haben etwa drei Stunden Zeit, bevor wir uns auf die Schlacht vorbereiten müssen! In diesem Zeitraum steht jeder von uns acht euch für Fragen und Antworten zur Verfügung! Natürlich wäre mir eure Unterstützung mehr als recht, selbst wenn nur ein Teil von euch sie leistet! Aber eure Neutralität ist zumindest nicht negativ für uns! Ich frage euch, Dai von Lorania, wie soll unser Verhältnis in Zukunft ausschauen? Nehmt euch Zeit, aber nicht zu viel und lasst uns reden!“ Das bedeutete pro Nase etwas mehr als einhundert Dai, um die wir uns würden kümmern müssen. Kunox‘ Rechte legte sich auf meine Schulter. „Das war gut“, raunte sie mir zu.
„Man schnappt so einiges auf, wenn man ein paar hundert Lichtjahre durch die Galaxis reist“, raunte ich zurück. Aber das war vielleicht etwas untertrieben interpretiert.

* * *

Nach nicht ganz drei Stunden verließen wir acht die Daimon wieder. Aber diesmal hatten wir Begleitung. Als das Kollektiv der Dai von Lorania festgestellt hatte, dass der Vertrag mit den Naguad seine Gültigkeit verloren hatte und dass der Core nicht länger Daimons aufspürte, um sie vernichten zu helfen, wurden die Prioritäten der Dämonen neu gesetzt. Nachdem die größten Nachteile einer Einmischung aus der Welt geschafft waren, hatten sie entschieden, mit den Anelph und den Verteidigern Loranias zu kooperieren. Allerdings sollten dies nur jene tun, die sich freiwillig dazu bereit erklärten. Am Ende waren dies fast zwei Drittel gewesen, und jetzt im Moment begleiteten uns Kunox, Sokal und drei weitere Dai, die Holler, Lantagandabria und Notz hießen, um mit dem Oberkommando zu konferieren, um ihre Hilfe anzubieten. Es würde etwas spät sein, ihnen die Steuerung eines Hawks beizubringen oder die Steuerung eines Schiffs, geschweige denn seiner Waffensysteme. Aber sie waren Dai, und sie würden auf jeden Fall eine Bereicherung sein. Auf meinen Wunsch hin hatten alle fünf auf ihre Schimärenkörper verzichtet und traten als Menschen auf. Es war vielleicht unklug, mit Tierkörperteilen vom eigentlichen Sinn des Treffens abzulenken. „Unsere Gäste aus der Daimon“, erklärte ich dem Piloten, als wir die Fähre betraten. „Sie kommen mit uns auf die AROGAD.“
„Verstanden, Sir. Bisher liegt kein Signal von der Flotte vor, die Angreifer betreffend. Es scheint, als haben wir noch Zeit. Bitte anschnallen. Ich starte, sobald alle gesichert sind.“
Ich nahm meinen alten Platz wieder ein, Megumi setzte sich neben mich. Auch unsere Gäste setzten sich und bekamen von den anderen einen Crashkurs darin, wie der Sechs-Punkte-Gurt zu schließen und wieder zu lösen war. Als alle gesichert waren, zog der Major seinen Schlitten sofort vom Boden hoch und machte sich an den Aufstieg in Richtung Orbit.
Sein Funker sah auf. „Admiral!“ „Ja?“, antwortete ich automatisch. „Die AROGAD ruft uns. Es liegt eine Eilmeldung von der AURORA vor, adressiert an Sie persönlich, Sir!“
„Eine Eilmeldung? Stellen Sie durch.“ Statt aber Rogan zu sehen erschien meine Cousine Sakura auf dem Monitor, der die Kommunikation darstellte. „Akira.“
„Cousinchen. Ist was passiert? Sollen wir zurückkommen?“
„Das ist es nicht. Ist Akane-sensei auch in der Nähe? Ah, ich sehe deine Hand, okay.“
Ich fühlte, wie mir ein wenig kalt wurde, vor allem auf dem Rücken und am Magen. „Was ist es dann?“
Meine Cousine war bildhübsch, das stand außer Frage. Und selbst dieses wehmütige, bedauernde Verziehen ihres Gesichts, eingerahmt von ihrem goldenen, langen Haar, konnte diesen Eindruck nicht mindern. Aber ihre Mimik machte mir mehr als ein klein wenig Angst. „Akira, es geht um dein Abitur.“
„Ist was mit meinem Abitur?“, fragte ich, merklich nervöser werdend.
„Oh, ist das diese Fachhochschulreife, von der du erzählt hast, Akira Otomo?“, frage Kunox.
„Jetzt bitte nicht, Kunox“, wehrte ich ab.
„Es ist…“, begann Sakura, sah fort, sah wieder zu mir herüber. „Du hast da ein paar Fehler zu viel gemacht, Akira. Es… tut mir leid.“
Ich fühlte mich, als würde ich in ein bodenloses Loch stürzen, als wäre ich nicht einfach nur im freien Fall, sondern würde auch noch beschleunigt werden. Wäre ich in diesem Moment in meinem Körper, ich hätte mich vor Aufregung übergeben. Wahrscheinlich tat ich das auch, bekam es aber nicht mit, solange ich im Paradies steckte. Konnte das sein? War ich durchgefallen? Hatte ich meinen ersten Schuss aufs Abi versaut? War meine Vorbereitung doch zu schlecht gewesen? War ich doch nicht so schlau, wie ich immer gedacht hatte? Ein mitleidiger Blick traf mich, der größere Männer als mich zur Verzweiflung getrieben hätte. „Du hast leider nur eine Zwei Plus, Akira. Wie ich sagte, zu viele Fehler.“ Ihre mitleidige Miene wurde spöttisch. „Aber es gibt sicher schlimmeres, als seine Fachhochschulreife mit einer Zwei Plus zu erlangen, findest du nicht auch?“
Ich merkte, dass ich nicht atmete. Also nicht mein Ich im Robotkörper, sondern mein Leib in der Kapsel auf der ADAMAS. Also holte ich erst einmal Luft. „DU!“, sagte ich drohend in Richtung meiner Cousine. Dann wandte ich mich dem Sitz hinter mir zu. „Und auch du, Akane Kurosawa! Wie könnt Ihr mir das antun? Ich dachte echt, ich bin durchgefallen!“
Und dafür wurde ich ausgelacht. Ausgiebig. Von meinen eigenen Freunden. Toll.

„Ach du meine Güte“, rief ausgerechnet meine Schwester. „Der große Akira Otomo hat sein Abitur nur mit einer Zwei bestanden. Ob jetzt irgendein Sternenreich untergehen muss, weil du versagt hast? Weil du wie ein normaler Mensch mal nicht die Höchstnote erreicht hast?“
„Musst du darüber spotten? Eine Zwei ist mir egal, denn bestanden ist bestanden, aber die da und die da, die haben mich glauben lassen, ich wäre durchgefallen!“, sagte ich, mit der einen Hand auf Akane deutend, mit der anderen auf Sakura. Ich massierte meine Schläfen, auch wenn ich den positiven Effekt im Robotkörper nicht wirklich spüren konnte. „Und das war überhaupt nicht nett von euch.“ „Oh“, machte Akane. „Nett war es in der Tat nicht. Aber dafür lustig.“ Leises Lachen bestätigte ihre Worte. „Und sei doch ehrlich. Tut es nicht mal gut, nach all den Geschichten vom Commander der gesamten UEMF, Regimentschef der Hekatoncheiren, Erbe des Hauses Arogad, Oberbefehlshaber des Cores und Zerstörer des Kaiserreichs Iovar mal was schrecklich normales zu erleben?“
Verblüfft zog ich die Augenwülste hoch. Wenn man es so betrachtete… „Eventuell ja. Ich meine, bestanden ist schließlich bestanden, oder? Und das war doch all die Jahre nach dem zweiten Marsangriff immer mein Ziel.“
„All die Jahre, hört, hört“, spottete Ami.
„Und es erlaubt mir die Chance, mich bei euch beiden zu revanchieren“, sagte ich, das dämonischste Grinsen aufsetzend, zu dem der Offizierskörper in der Lage war.
„Und das aus Akiras Mund. Wer’s glaubt“, meldete sich Sarah zu Wort. „Du bist ja noch harmloser als Daisuke, und das will was heißen.“
„Das heißt aber nicht, dass ich keine Ideen für eine Retourkutsche hätte.“ Ich hoffte, dass das gut rübergekommen war. Denn wenn ich ganz ehrlich war, hatte ich absolut keine Idee, wie ich mich dafür würde rächen können.
Eine Hand langte nach mir. Sie gehörte Yoshi. Er musste nichts sagen, nichts in seinen Blick legen, nicht zwinkern. Ich wusste auch so, was die Geste bedeutete. Und das machte mich zufrieden. Auf meinen besten Freund war Verlass.
„Vergessen wir hierbei nicht was Wichtiges? Herzlichen Glückwunsch zur Hochschulreife, Commander“, sagte er.
„Danke, alter Freund.“ Nun hagelte es Gratulationen. Das machte mich verlegen, denn jeder meiner Freunde hatte die Hochschulreife lange vor mir erlangt, während ich mich nach einem missglückten Säureattentat in einer UEMF-Firma auf dem Mond als Testpilot versteckt hatte. Das war eine ruhige Zeit gewesen, in der Ai Yamagata meine gute Freundin geworden war. Eine Zeit, die mir eigentlich sehr gut getan hatte, bis die Ereignisse mich wieder überrollt hatten. Manchmal brauchte man einfach etwas Abstand, um wieder Nähe zulassen zu können. Und wenn ich daran dachte, dass diese Nähe den Namen Megumi trug, war die Zeit doch wieder viel zu lang gewesen. Ich konnte wahrscheinlich froh sein, dass sie auf mich gewartet hatte. An Verehrern hatte sie jedenfalls keinen Mangel gehabt.
Ich nahm also die Gratulationen entgegen und freute mich für den Moment. Meine Verlobte war auf dem Platz neben mir in der Lage, ihre Gratulation etwas körperlicher auszudrücken, wenngleich ein so langer Kuss mir vor meiner Schwester und den anderen irgendwie peinlich war. Verklemmt nannte man das, und ich hatte es definitiv.
„Zeit, bis wir wieder auf der AROGAD sind, Major?“, fragte ich.
„Sieben Minuten, elf Sekunden, Admiral. Auch, und, Admiral?“
„Ja?“ „Herzlichen Glückwunsch zum Bakkal, Sir.“
Ich stutzte einen Moment, bis ich begriff, dass der Pilot das französische Baccalauréat verballhornte, was Hochschulreife bedeutete. Die Naguad hatten das Wort relativ schnell adoptiert und verballhornt. Nagranisch nannten sie diese Mischworte. „Danke, Major. Es ist allerdings zweifelhaft, dass ich die Zeit haben werde, mich zu einem Studium anzumelden. Jedenfalls nicht in nächster Zeit.“
Er lachte rau. „Ja, das sehe ich ähnlich. Trotzdem, was Sie haben, das haben Sie.“
Und damit hatte er Recht. Sechs Minuten, bis wir wieder einschleusten.

3.

Als wir wieder an Bord der AROGAD kamen, überschlugen sich die Ereignisse. Natürlich waren unsere Gäste avisiert, immerhin waren sie der Sinn unseres ganzen Ausflugs gewesen. Deshalb wurden sie auch mit diplomatischen Ehren, aber in aller Hast empfangen. Wieder übernahm Leekan Amada, die junge Daina, unsere Führung. Ehrlich, ich hatte nachgeschaut. Sie war in einem biologischen Alter von fünfzehn Jahren in den Core aufgenommen und entkernt worden, also Gehirn und Körper getrennt; seither waren über dreihundert Jahre vergangen, aber ich hatte mir vorgenommen, diesen Aspekt zu ignorieren. Dann hätte ich gleich vor jedem Soldaten des Cores in Ehrfurcht verfallen müssen. „Was ist passiert, Amada?“, fragte ich geradeheraus. Dass etwas im Busch war, dazu musste ich nicht Yoshis hochgezogenen Augenbrauen sehen, oder Amis unnatürlich groß geöffneten Augen.
Die Offizierin des Cores antwortete: „Antwort von Arac, Sir.“
Ich sah auf den Chronometer im Display meines Robotkörpers. „Da fehlen noch achtundzwanzig Minuten. Sind die Mechas der Terraner klar für uns?“
„Die SANSSOUCI steht bereit, die Maschinen zu übergeben. Sie hat von einer anderen Einheit weitere Hawks und einen Eagle übernommen, um acht Maschinen stellen zu können.“
„Erfreulich“, sagte ich, während wir durch die Gänge der AROGAD gehetzt wurden. Schließlich erreichten wir die Zentrale. Dort prangte bereits auf dem Hauptbildschirm das Gesicht von Kaiserin Arac von Iovar. „Sehr freundlich von Ihnen, Meister Arogad, sich dazu zu bequemen, mich jetzt doch empfangen zu wollen.“
Ich trat ein paar Schritte vor. „Sie sind etwas früh. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Für diesen Zweck gibt es ja Fristen und Termine.“
„Ach“, machte sie. „Stehe ich so weit unten auf der Prioritätenliste? Was war denn wichtiger?“
„Ein Bündnis mit den hiesigen Dai“, sagte ich, auf Kunox und ihre Begleiter deutend. Dies verschlug der ehemaligen Kaiserin doch ein wenig den Atem. „Sie haben mal eben so ein Bündnis geschmiedet?“
„Nein.“ Ich versuchte, ein möglichst ernstes Gesicht zu machen. „Ich habe den Erstkontakt herstellen geholfen und mit meinem Team eine Sondierung vorgenommen, ob grundsätzlich eine Zusammenarbeit ratsam und möglich wäre. Die Dai haben zugestimmt. Jetzt handeln wir ein Bündnis aus. Aber keine Sorge, die Dai werden einsatzbereit sein, bevor wir uns wieder miteinander prügeln.“
Die Kaiserin machte ein schnaubendes Geräusch. „Eventuell wird das nicht notwendig werden. Ich und meine Verbündeten sind zu dem Entschluss gekommen, dass es nicht schaden kann, Ihnen zuzuhören, Commander. Eventuell gibt es eine Möglichkeit, unseren… Streit friedlich beizulegen.“
Erneut machte sie dieses schnaubende Geräusch. „Kommen Sie an Bord meines Schiffes. Meinetwegen mit einem Ihrer Begleiter. Die Oberhäupter von Logodoboro und Koromando werden zu uns stoßen, und dann wollen wir hören, was Sie zu sagen haben.“
Ich hob die Hand in Richtung Rogan, bevor er auch nur ein Wort sagen konnte. Und ich war mir sicher, er wollte protestieren. „Einverstanden. Aber nicht zu Ihren Bedingungen, Majestät, sondern zu meinen. Ich werde eine unbemannte Foxtrott nehmen. Wissen Sie, um den Kontakt mit dem Offizierskörper zu halten. Mein Bewusstsein befindet sich nämlich nicht in diesem Roboter, sondern im Paradies der Daina und Daima, und ohne die Foxtrott und ihre überlichtschnelle Funkverbindung würde eine Unterhaltung zwischen uns sehr langsam erfolgen.“
„Eine Foxtrott?“ „Eine Korvette im Stil der Anelph.“
Ein ziemlich arrogantes Grinsen ging über Aracs zugegeben hübsches Gesicht. „Das kann ich schwerlich als Bedrohung auffassen. Einverstanden. Benennen Sie Ihren Begleiter und kommen Sie rüber, mit Ihrer… Foxtrott.“
Der Bildschirm wechselte vom Anblick der Kaiserin zu einer taktischen Flottenansicht. Eines der rot dargestellten Feindschiffe schob sich in diesem Moment an die vorderste Linie und begann zu pulsieren. „Feindliches Flaggschiff identifiziert“, meldete der Funk. Warum der Funk? „Flaggschiff identifiziert sich als AUGMATA und sendet Peilsignal.“ Ach, deshalb der Funk. Ich atmete kurz aus und hob erneut die Hand, als Rogan wieder etwas sagen wollte. „Nein, Vetter. Da mein Leben und das meines Begleiters nicht in Gefahr sein werden, ist das kein Grund. Ich kann weder sterben, noch verletzt werden, wenn dieser Körper vernichtet wird. Bestenfalls so sehr erschrecken, dass ich ein Trauma davon trage. Okay?“
„Es ist nicht so, als hätte ich Befehlsgewalt über dich“, gab er nach. „Und deine Erzählung klingt plausibel. Leekan?“
„Der Fünfsternträger lügt nicht. Genauso funktioniert das System der Offizierskörper, wenn wir die Bewusstseine nicht direkt hineinladen.“
Eskender Khaleed räusperte sich. „Ich mache eine Korvette bereit für den Flug und evakuiere die Besatzung. Wen werden Sie mitnehmen?“
Sieben Hände schossen hoch. Natürlich, nur diejenigen konnten mitgehen, die wie ich in Offizierskörpern steckten. Schnell traf ich meine Wahl. „Sarah.“
„Was? Warum ausgerechnet Sarah?“, fragte Yoshi empört. „Ich bin immer deine erste Wahl, oder?“
Megumi räusperte sich sehr lautstark. „In militärischen Dingen?“, bot er an, aber sie räusperte sich energischer. „Als Sidekick der ersten Wahl?“ Das ließ sie wohlwollend nicken. Und Yoshi reichte es anscheinend auch, denn er grinste zufrieden.
„Das hat zwei Gründe. Erstens ist sie die Einzige, die mich nicht mit meiner Prüfung aufgezogen hat, im Gegensatz zu euch allen“, sagte ich mit drohendem Zeigefinger. „Und zweitens brauche ich eine erfahrene Diplomatin, die auf dem neuesten Stand des Geschehens ist. Als Planungsoffizierin des Otome-Bataillons bringt sie all das mit.“
„Moment, seit wann bin ich Planungsoffizierin des Otome-Bataillons?“
Ich seufzte. „Weil du diejenige bist, die bei jeder Besprechung im Poseidon-Hauptquartier anwesend ist und die Gesamtsituation mit Kei abspricht. Du bist am meisten da und hörst mehr als die Anderen. Das teilst du ihnen zwar mit, aber du kriegst es aus erster Hand.“
„Das ist ja nur so, weil sie in der Zentrale ständig Daisuke trifft“, begehrte Ami auf. „Wenn Kei nicht so gut wie nie bei den Sitzungen dabei wäre, dann…“
Ich runzelte die Stirn. „Wieso Kei? Habe ich da was verpasst.“
„Das hast du nicht mitgekriegt? Ich habe ihn neulich aufgerissen. Das war so süß und niedlich. Ich habe ihm erzählt, ich will küssen üben, und er hat sich so angestrengt, und… Jedenfalls sind wir jetzt zusammen.“
Ach, richtig, da war ja noch was. Bei all dem Ärger und dem Abitur und dem Krieg hatte ich das nur am Rande mitbekommen und nicht wirklich abgespeichert. Aber Kei, mein Kei mit Ami? Der ewig kränklichen Ami? Ich sah den Robotkörper vor mir an und stellte mir die wirkliche Ami Shirai vor. Und bemerkte zu meinem Entsetzen, dass sie sich in den letzten beiden Jahren doch sehr zu ihrem Vorteil verändert hatte. Auf jeden Fall sah sie nicht mehr so aus, als wäre sie jede Sekunde kurz vor dem Herzinfarkt. Gut hatte sie schon immer ausgesehen, zugegeben. Aber es war weder die Zeit noch der Ort, um darüber nachzudenken, also fuhr ich in meiner Argumentation fort.
„Was auch immer. Es ändert nichts an meiner Entscheidung. Sarah geht mit mir mit. Wenn dann alle Klarheiten beseitigt sind, schaut, ob Ihr hier noch Arbeiten zu erledigen habt oder nicht. Wer nichts mehr zu tun hat, kann den Familienausflug beenden. Amada, danke für die Offizierskörper.“
„Gerne doch, Sir. Bringen Sie mir die beiden da auch wieder heile zurück?“, fragte sie, auf mich und Sarah deutend.
„Ich werde es versuchen. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass Arac ihr Angebot ehrlich gemeint hat.“
„Warum gehst du dann rüber, bei allen neun Türmen?“, fragte Rogan fassungslos.
„Weil die Informationen, die Sarah und ich bekommen können, dies eventuell wert sein werden. Das ist der dritte Grund, warum sie mitkommt. Sie ist eine gute Kombiniererin und wird aus dem, was wir erfahren, die hoffentlich richtigen Schlüsse ziehen.“
„Hoffentlich.“ Sie warf die Arme ihres Robotkörpers in die Luft. „Außerdem ist es ja auch mal wieder Zeit, etwas überaus Gefährliches mit wenig Aussicht auf Erfolg zu tun. Gehen wir, Akira.“
„Grund vier: Sie ist und bleibt eine Pragmatikerin“, sagte ich und ging ihr hinterher. Kurz sah ich noch nach hinten. „Megumi, du hältst hier die Stellung, bis ich zurück bin oder ins Paradies geschleudert werde. Für die Schlacht werde ich es hoffentlich dann noch rechtzeitig schaffen.“
„Verstanden, Commander“, schmunzelte sie.
„Ach, deshalb sollen einige von uns zurückgehen“, murrte Ami. „Damit er einen Offizierskörper haben kann, falls seiner vernichtet wird.“
Ami wäre auf jeden Fall meine nächste Wahl gewesen, wären mir zwei Begleiter zugestanden worden.

* * *

„Das bringt natürlich die ganze Schlacht durcheinander“, sagte Sarah schmunzelnd. „Ist das einer der Gründe, warum du angenommen hast?“
Ich sah nach draußen, in das eiskalte All, in dem nichts existierte außer Schwärze und kleiner Lichtpunkte, und das, obwohl wir uns im Kanto-System befanden. Um das Flaggschiff der Kaiserin zu erreichen, mussten wir nicht nur Kanto, sondern auch Lorania hinter uns lassen. Es war ein relativ kurzer Flug für eine Gesellschaft, die sich noch mit Feststoffraketen zum eigenen Mond begeben hatte, aber er war immer noch lang genug. Die gigantische Zahl gegnerischer Schiffe kam beunruhigend schnell näher. Okay, wir näherten uns ihnen, zugegeben. Aber auf dem Ortungsbildschirm wirkte es eben umgekehrt. „Sicher. Alles, was die Schlacht verzögert, nutzt uns bei unseren Vorbereitungen. Und wenn die Zeit gereicht hätte, hätte ich unsere Flotte umgeleitet und nach Kanto springen lassen. Aber das hätte zwei Wochen bedeutet, und zwei Wochen geben uns unsere Gegner nicht. Ich bezweifle, dass ich diesen Informationsaustausch zu Verhandlungen ausdehnen kann, die dann zwei Wochen dauern und uns Zeit genug geben, die Schiffe heran zu führen.“ Ich zuckte die Achseln, eine nervöse Geste, die ich mittlerweile übertrieb. „Bevor du fragst, ich hoffe, dass unsere Fakten tatsächlich etwas bewirken und Arac versteht, dass wir einen gemeinsamen Feind haben. Hätte sie nicht zuerst angegriffen, um die Familie Lencis zu zerstören, wäre sie wahrscheinlich immer noch Kaiserin und die Daimon auf Iotan noch immer unzerstört.“
Ich stutzte. „AROGAD, ich brauche eine Verbindung nach Iotan. Ich muss mit Prätendent Jonn Arogad oder meiner Uroma Aris Ohana Lencis sprechen.“ „Jetzt? Ich meine, jetzt wie jetzt sofort?“, fragte Rogan Arogad.
„Ich bin noch etwa vierzig Minuten von meinem Rendezvous entfernt. Es wäre wirklich nett, wenn die Verbindung vorher zustande kommen könnte.“
„Wir versuchen mit einem Relais über die AURORA Kontakt aufzunehmen. Was gibst du als Grund an?“
„Abgesehen davon, dass ich mit Kaiserin Arac reden werde? Ich brauche Informationen über den zerstörten Palast.“
„Akira, was hast du vor?“, fragte Sarah.
„Nur so eine Ahnung. Ein Gefühl, dass… Ich brauche einfach diese Verbindung zu Aris oder Jonn.“
„Jonn Arogad hier“, klang eine mir sehr vertraute Stimme auf.
„Jonn. Schön, von dir zu hören.“
„Würde ich normalerweise auch sagen, aber ich kenne dich mittlerweile zu gut, Akira. Wenn du dich mit einer Vorrangorder meldest, dann bedeutet das nichts Gutes.“
„Nun übertreib mal nicht. Ich brauche nur ein paar Informationen, weil ich in einer halben Stunde Kaiserin Arac gegenüber stehen werde.“
„Kaiserin Arac ist im Kanto-System?“
„Hat euch niemand informiert?“, fragte ich erstaunt.
„Sagen wir, die letzte Meldung, die mich erreicht hat, war, dass ihre Flotte im Naguad-Raum gesichtet wurde.“
„Dann wird es dich überraschen, dass sich Arac mit den beiden rebellierenden Naguad-Häusern Logodoboro und Koromando zusammengetan hat. Ihre Flotten haben sich vereinigt, um das Kanto-System zu erobern.“
„Um was zu tun?“ Das war keine Frage, weil er nicht verstanden hatte, es war eine Frage, die mich präzisieren ließ. Ja, warum wollten die Alliierten das Kanto-System erobern? Vielleicht, weil sie die Verteidigung für schwach gehalten hatten? Und dafür zogen sie von eigenen Welten Schiffe ab, anstatt sie vor den anderen sieben Häusern zu schützen? „Gute Frage“, sagte ich. „Vielleicht muss Arac ihre Loyalität beweisen.“
„Das wäre ein sehr schlechter Start für sie. Und dafür hat sie auch zu viele Schiffe mitgenommen. Wenn ich die Materiallisten richtig deute, ist auch genug Material mitgegangen, um ihre Flotte für ein gutes Jahr zu versorgen. Sie leidet nicht gerade Not. Dazu kommen Frachter mit automatisierten Schürfanlagen und Werftkonstrukten. Siehst du Frachter mit Schürfanlagen und Werftkonstrukten?“
„So wie ich die Daten interpretiere, stehen hier keine Iovar-Frachter, im ganzen System nicht.“
„Akira, kennst du die alten Geschichten, die von der Gründung des Cores durch die Villass erzählen?“
Ich dachte kurz nach. „Das Haus, das sich mit den Lencis angelegt und verloren hat? Die Villass haben daraufhin automatische Fabriken in Form eines Cores rausgehauen und neun Welten besiedelt und in Nachschubbasen verwandelt. Von dort stiegen dann die ersten automatisierten Kampfraumer auf. Früher noch alles von der Korvette bis zum Schlachtschiff, aber heutzutage setzt der Core nur noch auf die Korvetten, wegen der Masse. Und weil sie leichter zu ersetzen sind.“
„Und weil es den Auftrag der Götter, den alten Daima-Raum nach Dai zu erkunden vereinfacht“, fügte Jonn an. „Akira, jetzt in diesem Moment wissen nur wir, die Terraner und die Naguad, also auch die Anelph davon, was die Dai getan haben. Einen Werftmond entdecken, ihn mit Einsatzkräften der Dai infiltrieren und zu sprengen, nachdem sie die Überlebenden Nagalev evakuiert haben.“
„Ach. Das weißt du dann doch wieder.“
„Spotte nicht, junger Mann. Ich nehme stark an, dass der Aufmarsch im Kanto-System begann, lange bevor Kitsune ihr Unwesen getrieben hat.“
Ich dachte kurz nach, rechnete ein wenig. „Sie war da schon auf dem Mond, aber die Aktion dauerte einige Zeit. Dann der Rückflug mit Kontakt zur AURORA… Der Aufmarsch begann ein paar Tage vor der Vernichtung der Werft, schätze ich.“
„Hm. Dann stehen die Chancen gut, dass sie angefangen haben, Schiffe herzuschicken, bevor sie wussten, dass die Werft vernichtet war. Sonst hätten sie nicht derart viel Material riskiert.“
„Okay. Jonn, ich habe angerufen, um dich zu fragen, ob die Daimon, die vernichtet wurde, womöglich überhaupt nicht der Palast gewesen ist und ob Ihr auf Iotan eine zweite Daimon entdeckt habt oder eine weitere vermutet, weil mir das Auftauchen von Arac samt Flotte hier etwas zu plötzlich kommt. Aber es scheint, du hast ganz eigene Probleme mit der Situation.“
„Akira, hier ist Aris.“
„Hi, Uroma. Schön, deine Stimme zu hören.“
„Schön, deine Worte zu hören. Deine Stimme ist das nicht.“
„Ich stecke in einem Offizierskörper des Cores. Mein Körper ist auf der AURORA auf dem Heimflug. Ein Hopser noch, und wir sind daheim. Bis dahin wollte ich im Kanto-System aushelfen, indem ich mich ins Paradies versetze und von dort in diesen Körper.“
„Und du bist auf dem Weg zu einer Gesprächsrunde mit der Kaiserin, die dich an Bord ihres Flaggschiffs eingeladen hat.“ Ich konnte deutlich hören, wie sie heftig ausatmete und dann ihre Stirn rieb. „Nicht gut, gar nicht gut, wirklich nicht gut.“
„Soll ich abbrechen? Also abdrehen oder den Offizierskörper verlassen und ins Paradies zurückkehren? Du weißt, Uroma, ich höre auf deinen Rat.“
„Das löst nicht die Frage, warum Oma Arac ausgerechnet im Kanto-System ist, und das mit einem erheblichen Teil ihrer Hausflotte.“
„Äh, du hast sie jetzt Oma genannt, weil…“ „Weil der Lencis-Zweig ursprünglich von ihrer Linie abstammt, ja, aber bereits mein Vater hat daraus ein eigenes Haus gemacht, als er sich im Streit von der Kaiserin gelöst hat. Das ist so lange her und ich erinnere mich so ungern daran, dass ich wohl vergessen habe, es zu erwähnen.“
„Das ist etwas zu gewichtig, um es zu vergessen“, protestierte ich. „Also soll ich?“
„Sollst du was?“ „Abhauen.“
„Nein. Flieg rüber, schleuse ein und überbringe deine Informationen, Akira. Vielleicht ändert es tatsächlich was. Ach, stimmt es eigentlich, dass vor dem Abflug der AURORA ein Schwarm Strafer versucht hat, die Erde zu beschießen?“
„Ja. Das ist etwa zwei Monate her, wenn ich es richtig im Kopf habe. Damals war ich bereits in den Core entführt worden.“
„Das deckt sich etwa mit dem Angriff auf Haus Lencis. Damals wurden die ersten Truppen verschoben, die Anklage aufgestellt und Flotten in Position gebracht. Ja, da wird natürlich einiges klarer. Akira, sei ein guter Junge und mach dir klar, was in deiner ganz persönlichen Geschichte immer wieder passiert ist. Du hast einen Gegner, schaust hinter die Kulisse, und hinter dem steht dann ein anderer Gegner, der den vorderen lenkt, mit oder ohne dessem Wissen. Wieder und wieder und wieder. Der Letzte in diesem Reigen sind die Kinder der Götter.“
„Wohl eher die Computer der Götter, weil die Macht der Kinder der Götter rein robotisch ist. Ich bin ihrem Rat begegnet, und auf mich machten die Kinder der Götter mehr den Eindruck einer Scheinversammlung, den Eindruck von Haustieren.“
„Die vorgeschoben sind?“, fragte Jonn.
„Ja. Ja, irgendwie schon. Für die Zwecke der Götter. Beziehungsweise der Computer, die die restliche Zivilisation steuern.“
„Die Geschichte wird komplizierter, nicht klarer“, schnappte Uroma. „Akira, seit wir hier das Kommando übernommen und unter dem Prätendenten eine Übergangsregierung gebildet haben, bevor wir in der Lage sind, die Republik auszurufen, haben wir zu so viel mehr Informationen Zugang. Vor allem alten Informationen. Macht es dich nicht stutzig, dass jemand damals diese Nagalev-Werft angegriffen hat? Dass Haus Villass versucht hat, das Kaiserreich Iovar mit einem Staatstreich und später mit Robotkräften zu übernehmen? Dass Haus Logodoboro von innen versucht hat, das Reich der Naguad auszuhöhlen, und dass quasi aus dem Nichts ganz Haus Koromando die Naguad ebenfalls verraten hat?“
„Ich sehe ein Muster“, sagte ich. „Gibt es noch jemand oder etwas hinter den Kindern der Götter, oder haben wir uns von vorne herein mit den Richtigen gebalgt, konnten sie aber nie identifizieren?“

„Genau um das herauszufinden wälzt ein Team aus mehr als zweitausend Archäologen und anderen Spezialisten gerade die alten, ehemals verschlossenen Archive, um die spärlichen Spuren zusammen zu tragen. Fakt ist, dass wir immer mit Vertretern oder Untergebenen konfrontiert werden, und dass hinter denen immer noch eine andere Fraktion auftaucht. Nur diesmal nicht. Was kommt nach den Göttern? Oder vielmehr wer? Und wie lange ist dieser Jemand da? Und wen hat er noch infiltriert oder erpresst ihn?“ Uromas Stimme stockte. „Pass bloß auf dich auf, Junge, versprich mir das. Nicht jetzt bei der Konferenz. Das erscheint mir harmlos genug. Aber danach. Ihr habt Erde, Mond und Mars in einer Daimon eingeschlossen, richtig?“
„Ja. Um die drei besiedelten Planeten vor den Feinden zu schützen“, informierte mich. „Aber der Endpunkt der Daimon ist bald erreicht, weil wir dafür freies KI brauchen, und wenn wir die Barriere noch länger aufrecht erhalten, könnten Menschen sterben. Mit der AURORA werden weitere Schiffe, die wir in Reserve haben, ins Sonnensystem springen und mit den ganzen Strafern aufräumen. Dann lösen wir die Daimon auf.“ So war zumindest der Plan. „Was ist mit der Vanus?“ „Mit was, Jonn?“ „Der Vanus. Dem zweiten Planeten.“
„Venus.“ „Was auch immer.“ „Sie ist nicht in der Daimon, wenn du das wissen willst. Unwirtliche Hochschwerkraftwelt mit ultraverdichteter Atmosphäre, kein Leben, stark aufgeheizt, uninteressant.“
„Wenigstens eine gute Nachricht. Akira, Mutter und ich haben vor einiger Zeit ein Team schneller Schiffe der AURORA hinterher geschickt. Alles, was wir auf die Schnelle entbehren konnten und das eine Chance hatte, zumindest zeitgleich mit der AURORA-Flotte einzutreffen. Nimm sie als unseren Beitrag zum Aufbruch der Belagerung. Und für die Zeit danach.“
„Die Zeit danach?“, echote ich. „Das ist nichts, worüber wir hier und jetzt diskutieren sollten. Diese Leitung geht über zu viele Relais. Du wirst auf jeden Fall merken, wie hilfreich unser Beitrag für die UEMF noch sein wird. Bist du noch weit entfernt?“
„Etwa zwanzig Minuten bis zum Flaggschiff.“
„Okay. Konzentriere dich auf dieses Gespräch und vergiss nicht die Vernichtung des Werftmondes. Das ist spektakulär und erschütternd. Und es wird ein paar Figuren auf dem Schachbrett neu aufstellen, wie Ihr Terraner sagt.“
„Nein, wir sagen so etwas nicht, aber ich verstehe, was du meinst, Jonn.“
„Das reicht mir schon.“
„Akira, sei auf jeden Fall vorsichtig. Arac war nicht fünf Jahrtausende Kaiserin, weil sie nichts drauf hat, verstehst du das?“ „Ja, Uroma, ich verstehe. Und ich bin vorsichtig.“
„Kann sein, dass sie dich trotzdem überrascht. Wir melden uns wieder, wenn unsere Recherche was ergeben hat.“
„Was ist jetzt mit der zweiten Daimon?“, hakte ich nach, weil das doch arg nach Ende des Gesprächs klang.
„Nein, keine Spur einer zweiten Daimon. Wäre auch etwas viel verlangt, wenn wir den Palast schon seit fünftausend Jahren kennen. Akira, hier ist auch viel zu tun. Jonn und ich haben alles gesagt. Iotan Ende.“

Damit erlosch die Verbindung. Und sie hinterließ mehr Fragen für mich als Antworten. Verdammt.
„Hast du erfahren, was du erfahren wolltest?“, fragte Sarah.
„Leider sehr viel mehr, Sarah. Sehr viel mehr.“
„Okay, es gibt noch eine Macht im Hintergrund, die alles kontrolliert und manipuliert. Verstehe.“
Erstaunt sah ich sie an. „Du verstehst wirklich, oder?“
„Ja. Ja, ich denke schon. Deshalb habe sich die beiden Rebellenhäuser und Arac hier getroffen, richtig? Weil jemand, der nicht damit gerechnet hat, dass der Nagalev-Mond zerstört werden konnte, seine Karten etwas zu früh ausgespielt hat.“
„Etwa in der Art.“ Ich sah auf den Timer. Siebzehn Minuten bis zur Landung. Waren die Computer der Götter der letzte Gegner? Gab es mehrere Gegner? Stand noch jemand oder etwas dahinter? Oder war die Antwort viel einfacher, als ich glaubte?

* * *

Direkt nach dem Einschleusevorgang wurde der Hangar mit zwei Dingen geflutet. Zuerst aufgewärmter Atemluft, dann Soldaten. Grimmig dreinschauender Iovar beiderlei Geschlechts, Waffen in den Händen, und geschützt durch schwere Körperpanzer. Nicht raumtauglich, aber einen Laser oder ein paar Projektile hielten die Dinger bestimmt ab. Als Sarah und ich ausstiegen, hoben wir die leeren Hände so, dass jeder sie sehen konnte. Ich verkniff es mir, Dinge zu sagen wie „Wir kommen in Frieden“ oder „Bringt uns zu eurem Anführer“. Stattdessen wartete ich am Fuß der Rampe, bis jemand auf uns zutrat. Dieser Jemand war riesig für meine Begriffe, und ich war selbst nicht gerade klein. Dieser Typ, ein Iovar männlichen Geschlechts, maß bestimmt zwei Meter zwanzig und hätte sich im Basketball drauf verlassen können, nie als Letzter ins Team gewählt zu werden. „Aris Arogad und Sarah Anderson? Ich bin Kutoc Varnel, General im Dienste der Kaiserin. Sie und die Oberhäupter von Logodoboro und Koromando erwarten Sie im zentralen Konferenzraum. Folgen Sie mir.“ Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und schritt davon. Ohne zu zögern folgte ich. Sarah stockte, aber nachdem ich ihr gewunken hatte, holte sie auf.
„Feindliche Stimmung hier“, sagte sie zu mir.
„Verständlich, oder? Ich habe den Prätendenten dabei unterstützt, die Kaiserin zu stürzen und die Palastdaimon zu vernichten.“ Ich hielt einen Augenblick inne. „Nein, dabei habe ich nicht geholfen. Wenn ich mich recht entsinne, war Jonn das auch nicht. Sind die damals von allein gekommen?“ Möglich war es. Aber wahrscheinlicher war eben, dass jemand aus dem Haus Lencis hatte durchsickern lassen, dass und wo sich eine Daimon auf Iotan befand. Befunden hatte, korrigierte ich mich.
Der General derweil war unberührt durch unser Gespräch. Schweigend schritt er voran, durch einen Kreiskorridor, dann auf einen geraden, der uns in Richtung Schiffsmitte brachte. In Richtung Brücke, wie die Piktogramme an den Wänden erklärten. Und ehrlich, ich hatte ein paar Iovar-Schiffe von innen gesehen.
Es dauerte einige Zeit, bis wir die Brücke erreichten. Der ganze Weg war gesäumt von Bewaffneten, und auch vor und auf der Brücke wimmelte es von ihnen. Ich hatte das Gefühl, dass nicht wenige zu gerne ein Preisschießen auf mich veranstaltet hätten. Ich derweil hielt meine Augen und Ohren auf, um so viel wie möglich an Informationen mit nach draußen zu nehmen. Falls ich versagte und den Robotkörper zurücklassen musste, dann wollte ich wenigstens irgendetwas mitnehmen. Das Erste war die Information, dass mehrere Offiziere in Logodoboro-Uniform auf der Brücke waren.
Varnel führte uns nicht großartig durch die Brücke, sondern knickte sofort zur Seite ab und führte uns in einen peripheren Raum. Der Konferenzraum. Dort erwarteten uns etwa zwanzig Leute. Naguad und Iovar. Und natürlich Arac. Ich musterte die hübsche Person einen Moment verwundert. Sie war viel kleiner als es in meiner Familie eigentlich üblich waren. Aris Ohana war eins vierundsiebzig, und ihre und Orens Tochter, meine Großmutter Eridia war etwas über eins achtzig groß und Mutter, also meine leibliche Mutter Helen, übertraf sie noch um einen Zentimeter. Aber die Kaiserin war gerade mal ein Stückchen über eins fünfzig. Dann ging mein Blick zu den anderen, die nur teilweise die Farben von Iovar trugen, sondern die Hausfarben der Logodoboro und Koromando. Ich erkannte keinen von ihnen.

Die Kaiserin sah auf, als wir eintraten. „Majestät, dies sind Aris Arogad und Sarah Anderson“, sagte der General.
„Es ist gut, Kutoc. Kümmere dich jetzt um deine Aufgabe“, sagte sie.
Der General salutierte und schloss die Tür hinter sich. Irrte ich mich, oder wurde es daraufhin auf der Brücke des Flaggschiffs der Kaiserin hektischer? Man sah nichts durch das Fenster zur Brücke, aber ich spürte einen Hauch von… Aufregung?
Die Kaiserin musterte mich sehr lange und sehr ausdauernd. Schließlich piepste irgendwas an ihrem Leib. „Du bist also Aris Arogad. Es ist ein wenig schade, dass du in einem Offizierskörper des Core hier bist, und nicht persönlich. Ich hätte dich gerne kennengelernt. Aris Ohana hat mir leider nicht die Chance gegeben, dir zu begegnen, als sie gegen mich rebelliert hat.“
„Nachdem Haus Lencis und alle Verbündeten drohten, ausgelöscht zu werden“, sagte ich, bevor ich mich wieder im Griff hatte. „Und es wäre die Pflicht von Haus Lencis gewesen, gehorsam unterzugehen“, sagte die Kaiserin. Sie kam auf mich zu, musterte meinen Robotkörper, umrundete mich. Das Gleiche tat sie bei Sarah. „Interessant“, murmelte sie. „Sehr interessant.“ Als sie mich direkt ansah, konnten nur Sarah und ich ihr Gesicht sehen. Was wir sahen, war ein sehr konzentriertes Gesicht. Aber wir sahen auch die KI-Ebene, und genau in diesem Moment tat sie etwas mit ihrem KI. Ich konnte nicht erspüren, was es war, aber einen Vorteil bedeutete es sicher nicht für uns.
„Du hast Informationen für uns?“
„Die Götter betreffend, ja. Es ist uns gelungen eine Werft zu sprengen, die in einem etwa eintausend Kilometer durchmessenden, ausgehöhlten Mond verbaut war und in dem über achthundert Einheiten aller drei Klassen eingemottet waren. Soweit ich weiß, hat keine einzige Schiffseinheit die Explosion überstanden.“ Dass Kitsune acht Vernichter gekapert hatte, unterschlug ich wohlweislich. „Was das für die derzeitige Kapazität der Götter bedeutet, kann ich nicht sagen. Aber die zukünftige Kapazität sagt uns, dass die Zahl ihrer Schiffe erst einmal nicht steigen wird. Ach, außerdem wurde mein Schiff, die AURORA, während eines Wurmlochdurchgangs angegriffen. Unser Wurmloch wurde von einem anderen Wurmloch penetriert. Aber der Angriff schlug fehl und weder AURORA noch die Flotte trugen Schäden davon. Habe ich schon die acht Vernichter erwähnt, die wir bei der Gelegenheit zusätzlich, nun, vernichtet haben?“
„Nur mit der AURORA und ihrer Begleitflotte?“, schnaubte jemand. „Unmöglich!“
„Die ADAMAS hat auch eine Rolle gespielt. Ein Kommandoschiff der Dai-Ära, das wir unterwegs gefunden haben und reaktivieren konnten. Da ich ein Reyan Maxus bin, konnte ich seine Kampfkraft fast vollständig ausnutzen. Und das habe ich auch getan.“
Abwehrend hob ich die Hände, als die Ersten aufsprangen. „Keine Panik. Mein Leib ist auf der ADAMAS in einer Kapsel, während mein Verstand im Paradies ist und von dort aus diesen Robotkörper lenkt.“
„Akira…“, raunte Sarah mir zu. Irritiert sah ich sie an, dann in die Richtung in die sie blickte. Und ich begriff, dass ich einen gravierenden Fehler gemacht haben musste, denn obwohl sie sich sehr gut im Griff hatte, ich fühlte, dass Arac innerlich triumphierte. Ich musste ihr irgendetwas gegeben haben, dass… „RAUS!“, rief ich Sarah zu und kappte die Verbindung zum Robotkörper. Die Funkstrecke wurde sofort eingestellt, und meine nächsten visuellen Eindrücke hatte ich im Paradies der Daina und Daima. Und das befand sich materiell an Bord der AURORA. Aber auch das reichte mir noch nicht. Ich wartete, bis ich Sarahs Gegenwart spürte, dann befahl ich: „Wir gehen in unsere Körper zurück.“
„Wir gehen nicht sofort ins Kanto-System?“, fragte sie.
Ich konnte ihr nicht antworten, denn mein Geist wurde aus dem Paradies gesaugt wie durch ein Black Hole. Jemand öffnete meine Kapsel und holte mich mit Gewalt zurück!

4.

Als die Kapsel aus dem Boden der Zentrale der ADAMAS fuhr, ergriffen mich zwei erstaunlich zarte Hände mit nicht minder erstaunlicher Kraft und zogen mich raus, kaum dass sie sich geöffnet hatte. Ich stand auf dem Deck der ADAMAS, lange bevor ich überhaupt begriff, was passierte. Aber ich begriff, wer mich da so unsanft herausgeholt hatte: Arac. Das hübsche, fünftausend Jahre alte Gesicht sah mich sehr ernst und deutlich stressbeladen an. „Hör zu, Akira, keine Zeit für Erklärungen jetzt. Aber ich setze alles auf eine Karte. Wie wurde HYVAR übernommen und wie hast du davon erfahren?“
„Na-naniten“, haspelte ich hervor. „Father, das letzte unverseuchte Backup von HYVAR hat es uns verraten.“ „Father kennt die Naniten? Kann sie identifizieren?“ Ich nickte. „Besser noch, alle Computer mit biologischen oder pseudobiologischen Komponenten wurden gegen einen Nanitenangriff geschützt.“ „Wirklich biologische Komponenten?“ Ich nickte erneut. Sie ließ meinen Kragen los. „Schiffsrechner, bist du gegen diese Naniten geschützt?“
„Mein Name ist Arhtur. Und ja, ich habe einen Teil meiner Verteidigungsnaniten auf die Abwehr dieser Angriffsnaniten neu geeicht.“
„Ich brauche zwei Millionen dieser Einheiten in einer Hypospritze oder Tablette, und ich brauche sie sofort.“
„Sir, was ist…“
„Höre auf sie, Arhtur. Dies ist Kaiserin Arac von Iovar. Sie hat augenscheinlich meine Verbindung des Offizierskörpers zum Paradies zurückverfolgt und dann die Verbindung mit meinem Körper hier auf der ADAMAS. Und dann hat sie die Lokk-Linien genommen, um mir zu folgen.“
„Eindringlingsalarm, Sir?“ Ich schüttelte den Kopf. „Alarm für die Flotte, aber kein Eindringlingsalarm. Es kann sein, dass hier oder auf der AURORA weitere Iovar ankommen werden. Was ist mit den Abwehrnaniten?“
Ein Podest fuhr aus dem Boden auf und präsentierte eine Hypospritze, ein Gebilde, das ohne Nadel Medikation invasiv ins Muskelgewebe spritzen konnte. „Steht bereit.“
„Mach uns noch mehr solcher Einheiten, Arhtur. So viele, wie du kannst, ohne deinen eigenen Schutz zu vernachlässigen.“ „Achthundertsiebzehn Einheiten!“, sagte die Kaiserin.
„Ich muss die anderen Rechner bitten, mir von ihren Naniten abzugeben, aber gemeinsam kriegen wir diese Zahl zusammen.“
Ich griff nach dem Spray und drückte die Spitze an Aracs Hals. „Ich hoffe, es funktioniert so, wie du es dir wünschst, Großgroßmutter.“
„Mach schon. Ist mein Risiko“, erwiderte sie mit etwas zittriger Stimme.
Ich drückte ab, und die Wirkung war, als hätte ich sie mit einem Vorschlaghammer geschlagen. Sie wurde durch die halbe Zentrale geschleudert, allerdings nicht von externen Kräften, sondern von ihren eigenen Muskeln. Dort blieb sie liegen, wurde aber von Krämpfen geschüttelt. Eine spastische Reaktion des vegetativen Nervensystems. Aber die Dosis hatte ich komplett in ihr Blut geleert. Nun wurde der Inhalt, die Abwehrnaniten, mit jedem Schlag ihres Herzens durch den Körper verteilt. „Bist du eine Dai oder ein Mensch?“, fragte ich die Kaiserin, als ich näher hastete.
„Ein… Mensch…“, hauchte sie. „Eine… Daina…“
„Gut. Für einen Menschen kann ich was tun.“ Ich legte beide Hände flach auf ihren Bauch. Ihr KI war in hellem Aufruhr, und ihr Körper war das auch. Ich erkannte die Naniten in ihr wieder, die HYVAR angegriffen hatten, zumindest eine Form, die jenen ähnlich genug war. Sie bevölkerten ihren Körper, vor allem ihr Gehirn und die wichtigsten Organe wie Herz, Leber, Lunge. Sie war befallen, bis zum Anschlag mit diesen Naniten infiziert. Glücklicherweise gingen sie in den Kampf mit Arhturs Naniten, und die Energie, die dabei freigesetzt wurde, konnte ich als deutliche Echos identifizieren, sodass ich wusste, wo ich sie suchen und sehen konnte.
Ich tat, was ich konnte, indem ich mein eigenes KI nutzte, um ihren Kreislauf zu stabilisieren, denn auf diesem Schlachtfeld, das ihr Körper war, wurde keine Gnade erwartet und auch keine Gnade gewährt. „Alle medizinischen Teams in Bereitschaft! Wir erwarten achthundertsiebzehn Iovar, die auf die ADAMAS kommen werden. Arhtur, du und die anderen Rechner müsst die Impfdosen so schnell ihr könnt rüber schaffen. Oder aber ein Medozentrum zur Impfung auf der AURORA einrichten und dort medizinische Hilfe und KI-Meister bereit stellen!“
Unter meinen Händen bäumte sich der Leib meiner Vorfahrin auf. Sie litt erhebliche Schmerzen und war doch nur ein Kollateralopfer in dieser Schlacht. Ihre rechte Hand krallte sich in meinen linken Oberarm. Ihr Gesicht kam hoch, war Schweißbedeckt und zeigte alle möglichen Farben von Totenbleich bis Krebsrot. „Es… funktioniert…“, raunte sie mir zu. So etwas wie Triumph stahl sich auf ihr Gesicht. „Es klappt… Ich kriege… meinen Körper… wieder… Ich gebe jetzt das… Signal…“
Obwohl sie ihr KI selbst am allernötigsten hatte, verschwendete sie einen Teil ihrer Kraft auf eine Verbindung mit der nächsten Lokk-Linie. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Dutzende Iovar rematerialisierten auf der Brücke der ADAMAS. Zugleich fuhren weitere Kapseln aus dem Boden und auf einer weiteren Säule erschien eine neue Hypospritze, die allerdings mit mehreren Dosen geladen war. Yoshis Kapsel öffnete sich als Erste. „Weiß Bescheid!“, rief er mir zu, schnappte sich die Spritze und setzte sie dem Ersten an, der in seinem Wege war. Hina, die gerade aus einem Nebenraum hereingestürmt kam, versorgte den Mann in Militäruniform, der im Gegensatz zu Arac nur zu Boden gesunken war und nun das erlitt, was man einen spastischen Anfall nennen konnte.

„Medozentrum auf der AURORA initiiert. In drei Minuten sind die ersten Impfungen bereit, in der gleichen Zeit nehmen die Mediziner ihre Arbeit auf. Die KI-Meister versammeln sich dort bereits, Sir. Aber wir brauchen jemanden, der die Iovar nach Poseidon geleitet.“
Erneut öffnete sich die Tür und Kitsune stürmte herein. „Ich übernehme das!“ Sie lief bis zu mir und Arac und sah auf die Kaiserin herab. „Lehre mich!“
Die Kaiserin nickte zustimmend, hob die andere Hand und berührte Kitsune an der Stirn. Irgendwann nickte die Fuchsdämonin. Sie verblasste vor meinen Augen und verschwand. „Sie ist in die Lokk-Linie gewechselt, oder?“, fragte ich. „Und dort dirigiert sie die nächsten ankommenden Iovar den Kapazitäten entsprechend auf die AURORA und die ADAMAS, weil dies die einzigen Schiffe sind, die über die Abwehrnaniten verfügen.“
„Weiß nicht“, hauchte Arac und versuchte sich an einem Lächeln, das leider wegen der Schmerzen missglückte. „Ist dein Plan, Akira.“
„Ein Teil davon, zugegeben.“
Arac übergab sich geräuschvoll auf den Boden der Brücke, und ich meinte, in der Mischung aus Wasser, Magensäure und dem letzten Mittagessen metallisches Schimmern zu entdecken. Wahrscheinlich konnte die Kaiserin sich glücklich schätzen, wenn ihre Verdauung nicht auch noch nachgab.
Weitere KI-Meister stürmten herein und kümmerten sich um die Iovar, die noch immer eintrafen. Hina hatte derweil auch ein Spray erhalten. Sie gab es an Ami weiter, die sofort mit der Impfaktion begann. „Ich erhalte Informationen über die Aufteilung der Iovar in meinem Leib, Admiral“, sagte Arhtur. „Ich teile die medizinischen Teams und die KI-Meister entsprechend auf.“
„Tu das. Das ist eine große Hilfe.“ Schweiß bedeckte nun auch meine Stirn, denn Aracs Kreislauf drohte zusammenzubrechen. Die Naniten in ihrem Leib wehrten sich bis aufs Blut gegen die Abwehrnaniten aus Arhturs Computersystem, und es waren viele, so viele. Aber es würde eine Frage der Zeit sein, nicht ein ob, die Naniten würden besiegt werden. Aber vorher versuchten sie noch, so viel Schaden wie möglich anzurichten. Ich steuerte dagegen, heilte die Beschädigungen der Mikroangriffe, reparierte an Arac, was immer ich entdecken konnte, aber es fühlte sich schon bald an, als würde ich versuchen, ein Fass ohne Boden aufzufüllen. Egal, wie viel KI ich hinein pumpte, es war nie genug. Neben mir erschien Kyrdantas von Elote, einer der Dai von anderen Planeten, die mit Kitsune den Werftmond und die überlebenden Nagalev gerettet hatten. Nach seinen eigenen Worten war er ein fähiger Pressor. Er legte mir eine Hand auf die Schulter und sagte: „Nimm die andere Kraft, Akira Otomo.“
Ich zögerte, nickte, und dann versuchte ich mich nicht länger an der Biochemie, sondern an der Atomkraft. Ich weiß nicht genau, was ich da tat, entweder machte ich instinktiv das Richtige, oder Kyrdantas leitete mich an. Aber für einen Moment sprudelte ich fast über vor Kraft, und diese Kraft ergoss sich in das Fass ohne Boden und ließ es sogar überschäumen, so sehr füllte ich es. Dann erschlaffte Arac und sackte hart zum Boden durch. Ich bewahrte ihren Schädel gerade so davor, hart aufzuschlagen.

Sie versuchte sich erneut an einem Lächeln. „Geschafft?“
Ich wusste es nicht, also sah ich Kyrdantas an. Der mittelgroße Dai berührte die Kaiserin auf dem Brustkorb und scannte sie für einen kurzen Moment. „Ja. Du hast es geschafft. Die Naniten wurden von Arhturs Abwehrnaniten besiegt. Du bist frei von der Legacy-Invasion, Arac.“
Dies ließ sie erleichtert aufatmen. „Und jetzt zahle ich… den Preis, scheint es…“ Übergangslos fiel sie in Ohnmacht. Ich begleitete ihren Fall, bereit, sie aufzufangen, sollte sie ins Koma abdriften, aber ihr Geist fing sich im Traumland, ohne ins Bodenlose zu stürzen. Ich nahm meine Hände von ihrem Leib und Kyrdantas tat es mir nach. „Nächstes Mal solltest du deine Hände nicht auf ihre Brüste legen, wenn du sie scannst“, raunte ich ihm zu. „Das könnte missverstanden werden.“
„Oh.“ Verlegen betrachtete er seine Hände. „Sie hat sich nicht beschwert, oder?“
„Zugegeben.“ Ich sah mich im Raum um. „Arhtur, hat noch jemand einen schweren Verlauf, der meinen Einsatz erfordert?“
„Messe zwei, Sir. Wenn Sie die Güte hätten. Drei hochrangige Mitarbeiter der Kaiserin, vermutlich fast so lange infiziert wie sie selbst. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Dauer des Nanitenbefalls und der Schwierigkeit, sie zu bekämpfen.“
„Messe zwei. Ich komme. Kyrdantas?“
„Natürlich. Ich leite dich erneut an. Arhtur?“
„Ja, Kyrdantas von Elote?“ „Stell kalorienreiche Nahrung zur Verfügung, möglichst frisch. Meister Otomo und die anderen AO-Meister werden sehr bald viele Kalorien brauchen. Und nein, nur Traubenzucker reicht nicht. Es muss auch was sein, was den Magen füllt und ein Sättigungsgefühl auslöst.“
„Ich werde Pizza backen und austeilen.“ „Pizza?“
„Ein Teigfladen“, erklärte ich. „Wird mit einer fruchtigen Masse bestrichen und dann mit Gemüse, Fleisch und fermentierter Milch belegt, also Käse, meist heiß serviert und gegessen, schmeckt aber auch kalt. Dazu vielleicht ungesunde, überzuckerte Limonade mit einem Spritzer Frucht und Vitaminen.“
„Ich sehe zu, was wir von der AURORA rüberschaffen können, Sir“, sagte Arhtur. „Ist Coca Cola recht? Mit einem Spritzer Zitrone.“
„Ja, das geht in Ordnung.“ Es war sehr lange her, dass ich das braune Zuckerwasser getrunken hatte. Heute würde es für einen guten Zweck sein, um die Leben von ein paar Dutzend Daima.

5.

Ein paar Stunden später war die Versorgungssituation auf der ADAMAS und der AURORA geklärt. Sechshundertundvier Iovar waren auf den Lokk-Linien auf der Poseidon-Station aufgenommen und erstversorgt worden, am zentralsten Punkt, an dem Naniten, medizinische Versorgung und KI-Meister den kürzesten Weg gehabt hatten. Nun hatte man sie auf verschiedene Einrichtungen aufgeteilt, in denen sie nachversorgt wurden.
Der Rest, vor allem die schwereren Fälle, waren auf der ADAMAS untergebracht worden. Ich dankte allen bekannten und unbekannten Sternengöttern dafür, dass ich meine Maxus-Fähigkeiten stabil im Griff hatte, denn über einhundert Ärzte und Pfleger waren auf die ADAMAS gekommen, um die zweihundertvierzehn Iovar zu versorgen. Dies verursachte so viel freies KI, damit hätte ich mich locker durch vier Decks der ADAMAS desintegrieren können. Aber wie gesagt, im Moment war ich stabil. Also saß ich mit Yoshi und Arno Futabe, den wir von der AURORA hatten rüber kommen lassen, am Krankenbett von Kaiserin Arac und General Kutoc Varnel. Arno scannte die Daima und schüttelte schließlich den Kopf. „Ohne Befund.“
„Und das heißt was?“, fragte die Kaiserin. Sie war mittlerweile wieder wach, aber noch immer stark geschwächt. Sie bekam zudem Kochsalzlösung und eine Zuckerlösung intravenös.
„Das bedeutet, dass die Naniten, die Euch, Majestät, vor fünftausend Jahren eingespritzt wurden und die Arhturs Abwehrnaniten heute vernichten konnten, zwar erhebliche Schäden angerichtet haben, aber nichts davon ist tödlich oder permanent. Ein paar Tage Ruhe und Aufbaukost, und Ihr seid wieder auf den Beinen.“
„Was ist mit meinen Leuten?“
„Der schlimmste Fall nach dir, Arac, war dein General, aber er ist stabil, jedoch noch bewusstlos. Andere sind komatös, aber ebenfalls außer Lebensgefahr.“ Ich beugte mich ein Stück vor. „Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für die Erklärung der Dinge, die ich mir nicht selbst zusammenreimen kann.“
Sie lächelte, und es war ein gelöstes, frohes Lächeln. „Was hast du dir denn zusammengereimt, Akira?“
„Dass du mich eingeladen hast, um über meine Verbindung zurück zur ADAMAS einen sicheren Weg auf den Lokk-Linien zu finden. Du und alle deine Mitgefangenen, die dazu fähig sind, auf Lokk-Linien zu reisen. Warum du das aber nicht schon früher gemacht hast, weiß ich nicht.“
„Vielleicht weil dies der einzige Ort ist, an dem es korrekt programmierte Abwehrnaniten hatte geben können? Oder wo sie am ehesten in ausreichender Menge produziert werden können?“
„Oh. Okay, das ist eine plausible Erklärung.“
„Ich habe diese Aktion schon länger geplant und mit denen, die mich begleiten können, abgesprochen. Als du in einem Offizierskörper an Bord kamst, ließ ich die Flucht sicherheitshalber vorbereiten. Als du dann vom Werftmond berichtet hast, habe ich wirklich, wirklich gehofft, die UEMF könne uns helfen. Als ich hier angekommen bin, haben deine Worte das auch bestätigt, aber ich musste sichergehen, dass wir auch Hilfe bekommen und ich die Leben meiner Leute nicht unnötig gefährdete. Ich musste es als erste testen. Es war die beste und vielleicht einzige Gelegenheit seit fünftausend Jahren für mich, meinen Bewachern zu entkommen und ihren Einfluss auf mich zu beenden.“
„Dann sollte ich vielleicht erwähnen, dass sich etliche der Iovar-Schiffe im Kanto-System aus dem Angreiferpulk abgesetzt und das System verlassen haben.“
„Sie haben Order, zur Flotte zurückzukehren. Die Flotte wird dann nach Iovar zurückfliegen. Bist du so gut, und sagst das Aris? Nicht, dass sie auf meine Schiffe schießen lässt.“
„Was ist mit denen, die geblieben sind?“, fragte ich.
„Von mit Naniten infizierten Iovar kommandiert, vermutlich, die ich nicht mitnehmen konnte, weil sie nicht auf den Lokk-Linien reisen können. Das betrifft auch die AUGMATA, und einen Großteil der Besatzung, befürchte ich. Aber ich musste sie zurücklassen, um wenigstens die anderen retten zu können. Endlich einen Schlussstrich ziehen, du verstehst, Akira?“
„Erzähl es mir ordentlich. Gerne die kurze Version.“

Sie sah mich an, ihre Miene wurde wehmütig, für einen Augenblick verletzt, und dann war das so jung aussehende Gesicht den Tränen nahe. Ich beugte mich vor und schloss sie in die Arme. Das erschien mir die einzige Sache, die ich in dieser Situation für sie tun konnte. Immerhin war ich ihr Nachfahre.
Es dauerte einige Zeit, dann schniefte sie und sagte: „Es geht wieder. Danke, Akira.“
Ich löste mich von ihr, sie wischte sich über die Augen und setzte sich ein klein wenig aufrechter hin. „Die Wahrheit willst du wissen. Ich kann dir nur jenen Teil erzählen, den ich selbst erlebt habe. Das ist die Tatsache, dass wir etwa zu jener Zeit, als die Naguad gerade ein paar Jahrzehnte auf Iotan Zuflucht gefunden hatten, von einer Gruppe Daima besucht wurden. Wir waren vorsichtig, aber ich war damals gerade erst ein paar Dutzend Jahre alt und noch nicht Kaiserin, und wir wollten wir es auch diplomatisch nicht versauen. Wir haben es trotzdem hingekriegt. Denn diese „Besucher“ waren Invasoren. Und sie waren nur die Ablenkung, denn die eigentlichen Invasoren waren schon einige Zeit vor Ort. Du hast bereits von Haus Villass gehört, nehme ich an. Nein, sie waren nicht die Invasoren, sondern diejenigen, die als erste gegen diese kämpften. Deshalb wurde auch das ganze Kaiserreich auf sie gehetzt, auf die vermeintlichen Aufständischen. Der Angreifer war nicht einmal ein Haus, es war nur eine Behörde, in der sich die Invasoren sammelten. Kein Geheimdienst, kein bedeutendes Ministerium, einfach nur die Behörde zur Einhaltung der Vorschriften zur Ausbildung von AO-Trägern. Und diese Behörde ist wohl auch unter Aris und Jonn noch immer der Hort der Invasoren.“
„Hast du gehört, Arhtur?“
„Ich habe diese Information bereits weitergeleitet, mehrfach verschlüsselt, und nur vom Prätendenten entschlüsselbar“, antwortete der Bordrechner.
„Jedenfalls wurden wir von den Besuchern abgelenkt, und zeitgleich infizierten die anderen Agenten ranghohe Iovar mit den Naniten. Diese waren bereits auf entscheidenden Positionen, oder wurden auf diese Positionen gehievt. Ich war damals noch eine Staatssekretärin am Anfang ihrer Karriere im höheren Dienst, gerade einmal sechzig Jahre alt mit Erfahrung im Militär und im Finanzamt. Aber als ich erfuhr, dass ich verseucht worden war, wurde ich nach und nach die Leiter hochgehievt, bis ich vor meinem hundertsten Geburtstag Kaiserin geworden bin. Weißt du, die Agenten mussten gar nicht alle übernehmen. Nicht die ganze Regierung, nicht jedes Ministerium. Das war auch gar nicht möglich, denn die Naniten sind auch als Schwarm nur bis zu einem gewissen Grad intelligent und programmierbar. Sie können nicht den Verstand einer Person übernehmen. Sie können eigentlich nur zwei Dinge: Schmerzen verursachen und jemanden verletzen oder gar töten. Auf mich hat das nie Eindruck gemacht, aber da ich nicht mit meinen Schmerzen erpressbar war, erpressten sie mich eben mit den Schmerzen der anderen, meiner Familie, meiner Freunde, meiner Arbeitskollegen. Am Ende des Liedes brauchte es nur einige wenige hundert Agenten, um das gesamte Kaiserreich zu dirigieren. Dabei gingen sie sehr subtil vor und erzwangen keinen abrupten Politikwechsel oder irgend einen anderen Unsinn, der aufgefallen wäre. An anderer Stelle gingen sie nicht so elegant vor, und Oren Arogad kann ein Lied davon singen. Denn als er versucht hat, Haus Villass und deren Raider-Angriffe abzuwehren, wurde er sehr lange ignoriert, weil ein Konflikt Villass gegen das Kaiserreich sehr im Sinne der Behörde für AO war. Überhaupt wurden wir ständig gegen irgendwen aufgehetzt, denn wenn wir uns unsere Ablenkung selbst suchten, schmiedeten wir keine Pläne, um der Kontrolle durch die Naniten zu entkommen. Auch die Naguad mussten dafür herhalten.“

Sie seufzte leise. „Das ist der Vorteil, dass sie quasi nur einen Schmerzknopf für mein Gehirn installiert haben, Akira. Ich war frei in meinen Gedanken, und wenn ich sicher sein konnte, dass keiner meiner Aufpasser in der Nähe war, konnte ich relativ frei planen. Zum Beispiel die Flucht der Naguad von Iotan in ein freiwilliges Exil. Aber das war Jahre später und lange bevor Oren nach Iotan kam, um mit Aris zu leben. Warum die Naniten sich nicht selbst reproduziert haben, bis sie alle anderen Iovar auch in ihre Gewalt kriegen konnten? Das habe ich mich oft selbst gefragt. Vielleicht passiert etwas, wenn die Naniten sich so sehr reproduzieren. Vielleicht gibt es zu wenige Agenten, um so viele Übernommene zu kontrollieren. Du weißt, die Naniten selbst sind nur so intelligent, um einfache Aufträge zu erfüllen. Vielleicht besteht einfach die Gefahr, dass die Invasion aufgefallen wäre, wenn man zu viele Iovar ihres natürlichen freien Willens beraubt hätte. Ich weiß es nicht. Aber ich habe in Erfahrung gebracht, wer in meiner Umgebung erpresst und kontrolliert wird. Ich habe auch in Erfahrung gebracht, wer zu den Agenten gehört. Jedenfalls haben wir einen beträchtlichen Teil identifiziert. Was uns aber nie gelungen ist, das ist, herauszufinden, wer ihnen ihre Befehle erteilt. Es scheint, das alles, was die Agenten tun, irgendwo an einem Punkt auf Iotan zusammenläuft, und dass nur eine, eine einzige Person den Kontakt mit den eigentlichen Befehlshabern hält. Und wir sind uns nicht mal sicher, ob es eine Person ist, oder eine Künstliche Intelligenz. Wir sind ihr nie nahe genug gekommen. Aber vielleicht haben Aris und Jonn jetzt die Chance, diese Person zu identifizieren und zu ermitteln, wer uns da seit fünftausend Jahren angreift.“
„Arhtur?“ „Bereits erledigt, Sir.“ „Danke.“
Ich sah Arac ernst an. „Das bedeutet also, wir müssen die restlichen Schiffe von den Agenten säubern und die Übernommenen von den Naniten befreien. Das dürfte relativ einfach der Fall sein, denn die Naniten werden erst dann aktiv und bedrohen Leben oder verursachen Schmerzen, wenn es ihnen jemand befiehlt.“
„Das ist nicht ganz richtig. Es gibt eine Grundprogrammierung, so wie sie bei mir eingetreten ist, als ich es gewagt habe, die Nähe meiner Kontrolleure zu verlassen. Das hat bei fast allen von uns angeschlagen, du erinnerst dich?“
„Okay, das schränkt uns ein, aber das ist immerhin etwas, womit wir arbeiten können“, sagte Yoshi.
„Gibt es noch mehr, was du erzählen willst, Arac?“, fragte ich.
„Ja. Eines gibt es da noch. Es sind noch Agenten auf Iotan. Es sind auch noch Agenten im Rest der Flotte und an Bord der Schiffe, die ich nach Hause geschickt habe. Aber sie werden niemanden haben, der mit Naniten infiziert ist und Entscheidungen treffen kann. Keine Sorge, ich habe versiegelte Dossiers auf allen Schiffen, deren Kapitäne nach Hause befohlen wurden. Seit ein paar Stunden haben sie mit dem Dossier Zugriff auf eine Erklärung der Lage, auch eine Erklärung über die Agenten und ihre Methode mit der Naniten-Infizierung. Die meisten Schiffe werden es nach Hause schaffen. Zumindest hoffe ich das. Für den Rest…“
„Wir werden uns kümmern“, versprach ich. Das würde eine hektische Zeit in den nächsten Tagen werden. „Ich denke, wir sollten dir jetzt deine Ruhe gönnen, damit du wieder einsatzbereit wirst, Kaiserin Arac. Denn wir haben vor, dich viel arbeiten zu lassen, dich und deine Leute.“
„Ich weiß. Ich werde, wenn wir alle wieder fit sind, mit allen gemeinsam alle Puzzlestücke zusammentragen, um dabei zu helfen, den Feind im Hintergrund zu identifizieren.“
„Danke, dass du das verstehst. Aber eines noch. Wieso wurde der Palast angegriffen?“
„Ich habe den Angriff befohlen. Der erste Angriff durch die Strafer hat genau die Unruhe gebracht, die ich brauchte, um den Palast evakuieren zu lassen und die Flucht anordnen zu können. Es reichte dann aber nur zu einer Reise in den Naguad-Raum, bevor die nächsten Anweisungen vom Großen Unbekannten eintrafen. Allerdings ist dann ja doch noch alles so ausgegangen, wie ich gehofft habe. Und nein, bevor du fragst, niemand ist im Palast, also der Daimon, gestorben. Und nein, es gab auch keine Dai im Palast, weil die gegen die Naniten immun sind und daher nicht Teil meiner Regierung waren. Wie denn auch nicht mit derart flexibler Körpermasse? Auch an Bord der Schiffe, die sich den Strafern in den Weg gelegt haben, ist fast niemand gestorben. Ich habe getan, was ich konnte, ohne dass es meinen Aufpassern aufgefallen wäre.“
„Danke, Arac. Futabe-sensei, würden Sie…?“
„Ich bleibe noch eine Zeitlang hier und überwache die Regeneration der attackierten Gehirnregionen bei der Kaiserin und beim General, um sicherzugehen, dass sie wieder gesund werden. Oder wie Ihr Soldaten sagt: Einsatzbereit.“

Das ließ mich ein wenig schmunzeln. Alles in allem kein schlechter Tag. Und wir hatten den Krieg im Kanto-System verhindert. Das war das Beste daran. Zwar standen noch ein paar Iovar-Schiffe und die Flotten von Logodoboro und Koromando im System, aber sie waren nun recht eindeutig im Nachteil. Was die beiden Verräterhäuser anging, so machte mir eine Information zu schaffen. Man brauchte gar nicht alle Iovar zu infizieren. Einige an den richtigen Stellen, kontrolliert von Agenten, reichten vollkommen aus. Was, wenn so auch Logodoboro und Koromando gefügig gemacht worden waren? „Falls etwas ist, Urgroßoma, kannst du mich jederzeit kontaktieren. Sag Arhtur, dass du mit mir verbunden werden willst, und er schaltet dir eine Leitung frei.“
„Danke. Ich für meinen Teil werde versuchen, etwas zu schlafen und wieder zu Kräften zu kommen. Und sag bitte Aris Ohana… Sag ihr, es tut mir leid. Aber ich hatte nie den Mut, mich selbst umzubringen. Vor allem, weil dann vielleicht jemand Kaiser geworden wäre, der den Agenten weniger Widerstand geboten hätte als ich.“
„Das werde ich, Arac. Versprochen.“ Ich nickte Yoshi zu, dann verließen wir das Krankenzimmer.
„Sprung nach Kanto oder zurück zur Erde?“, fragte er.
„Natürlich zurück zur Erde. Um das neue Problem kümmern wir uns danach. Schön in der Reihenfolge der Eingänge, Colonel Futabe.“
Yoshi salutierte spöttisch. „Jawohl, Sir.“
Ich lachte, er fiel ein. Einfacher waren unsere Leben nicht geworden, aber immerhin hatte es ein paar Erklärungen gegeben. Und solange ich mich auf meine Freunde und meinen Stab verlassen konnte, würde ich auch nicht aufgeben.
„Sir, Nachricht von der AURORA an die Flotte.“
„Rücksprung zur Erde in zehn Minuten, Arhtur?“, riet ich.
„Rücksprung zur Erde, ja, aber in acht Minuten.“
„Das sind ja ganz neue Sitten, die Zehn Minuten-Warnung abzuändern“, beschwerte ich mich. Aber ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Wir waren so nahe dran, endlich wieder nach Hause zu kommen. Auch Yoshi grinste von einem Ohr zum anderen. Eine lange Reise ging zu Ende.

Epilog

Stellen wir uns vor, irgendwo im Universum säße eine Macht, die den Dai per se Böses wollte, an einem Tisch, auf dem ein Schachbrett stand. Auf diesem Brett wurde eine Partie dargestellt, die seit fünfzigtausend Jahren lief, und auf beiden Seiten standen geschlagene Figuren. Wer welche Farbe spielte, war irrelevant für das Verständnis dieser Situation. Was aber nicht irrelevant war, das war, dass die unbekannte Macht bereits Bauern geopfert hatte. Und auch ein Springer war vom Brett verschwunden. Aber dies war der Moment, in dem ein vorwitziger Bauer der gegnerischen Seite in die Position kam, einen Turm zu schlagen und dies auch prompt tat. Die unbekannte Macht griff mit einer Extremität, sei es ein Arm, ein Flügel, ein Tentakel oder eine Robotprothese nach dem gefallenen Turm und betrachtete ihn mit welchem optischen Sinn auch immer. Dann legte sie den Turm neben dem Schachbrett ab und zog eine weitere Figur, um sie erstmalig ins Spielgeschehen einzubringen. Es war die eigene Dame, die stärkste Figur auf dem Brett.

Fortsetzung: Anime Evolution: Krieg – Episode sechzehn: Trümmer

Zum Inhaltsverzeichnis von World of Cosmos 115