Das fantastische Fanzine

Wahltag 2040

Science-Fiction-Story von Uwe Lammers

Zum Inhaltsverzeichnis von World of Cosmos 119

Der Wahnsinn fing wieder an.
Der alte Hans Carstens merkte es mit Verspätung, und zwar am Verhalten seines Enkels Jan Steinberg. Er war deutlich aufgeregter als sonst. Bei dem üblicherweise sehr lockeren, entspannten Jan sagte das schon einiges aus. Was nicht bedeutete, dass Hans Carstens sogleich verstanden hätte, die subtilen Signale zu deuten. Das dauerte.
Sie beide saßen wie jeden zweiten Sonntag im Monat in dem malvenfarben gestrichenen Aufenthaltsraum im zweiten Stock des Altenheimes „Sonnenblick“ beisammen und sprachen über dies und das. So ging das schon seit fünf Jahren, und Hans Carstens, der nur wenig Besuch bekam, hatte sich sehr daran gewöhnt. Als pensionierter Ingenieur, dessen Frau Anna-Sophie schon vor scheinbar unendlich vielen Jahren verstorben war (es waren inzwischen genau zehn, aber er weigerte sich, das anzuerkennen), hatte er sich in das Altenheim zurückgezogen wie eine Schnecke in ihr Schneckenhaus. Jenseits seiner wöchentlichen Skatrunde und der Teilnahme an einem absurden Kaffeekränzchen mit halb tauben Bewohnerinnen gab es seit langem fast nichts mehr, was seinen monotonen Wochenablauf unterbrach.

Wie sehr freute er sich dann auf die wenigen Stunden mit seinem Enkel Jan. Und heute, wie gesagt, da verhielt sich der sonst so ruhige Jan irgendwie aufgeregter als sonst. Als würde er einen wichtigen anderen Termin haben, eine Verabredung oder dergleichen. Als der blonde, hoch aufgeschossene Enkel wieder einmal abirrend und irgendwie nervös zur Fensterfront des Heims hinüberschaute, räusperte sich Hans Carstens vernehmlich. „Sag doch, Jan… was ist denn heute los mit dir?“

„Ach… nichts, Großvater. Nichts, mach dir keine Gedanken.“

„Komm – ich bin doch nicht blind, Junge. Mach mir nichts vor. Irgendwas ist anders als sonst. Du bist nicht bei der Sache. Glaub nicht, ich merke das nicht!“

Ein wenig reumütig und sichtlich verlegen sah Jan ihn an. Offenbar hatte er nicht begriffen, wie spürbar verändert sein Verhalten war. Und wie hellsichtig sein hoch betagter Großvater mit seinen 77 Jahren das registrierte. Nun, das stellte wohl das übliche Verhalten der Jugend von heute dar… junge Menschen lebten so leichtsinnig vor sich hin, kümmerten sich nur selten um das, was links und rechts von ihren persönlichen Zielen lag, und üblicherweise waren sie dann verwirrt davon, dass ihre Absichten von Faktoren vereitelt wurden, die sie gar nicht im Blick gehabt hatten. Und natürlich gaben sie stets anderen Leuten die Schuld an ihren eigenen Fehlern. So war das heute. Versenkt euch in die digitalen Ersatzwelten und haltet sie für die Wirklichkeit – dann aber scheiterte man mit dem
Versuch, das in digitalen Welten angebrachte Verhalten auch in der Realität anzuwenden.
Bestenfalls kam das dann als Arroganz herüber.
Hans Carstens hatte immer angenommen, gerade sein kluger Enkel Jan sei eine Ausnahme.
Vielleicht handelte es sich dabei um eine zu optimistische Annahme. Der Gedanke betrübte ihn nicht eben wenig. Er war sehr neu für Hans Carstens.
„Du weißt doch, was heute für ein Tag ist!“, schnaubte Jan auf einmal, und sein Verhalten verschob sich nun drastisch. Es wurde erkennbar, dass er vorher eine Miene der Unbekümmertheit vorgetäuscht hatte, hinter der tiefe Sorge zu nisten schien. Sorge, die sein Großvater nicht im Mindesten verstand. „Und dass ich mir um dich Sorgen mache, das ist doch wohl ganz normal!“
Das kam jetzt wirklich überraschend.
Der verwitterte Senior blickte verdutzt auf. Unverhohlene Verwirrung nistete in seinen graublauen Augen.
„Komm, was schaust du mich jetzt so an?“ Jan wirkte gereizt. „Du hast doch wohl die Nachrichten gehört, oder?“
„Ich weiß jetzt nicht, wovon du sprichst…“
„Großvater! Du warst doch früher so ein kluger, politisch interessierter Kopf! Erzähl mir bitte nicht, dass sie deinen Kopf inzwischen mit Sägespänen angefüllt haben…“
„Jan, hör mit diesem Unsinn auf und sag mir bitte, was los ist! Ich verstehe gerade überhaupt nicht, was du mir sagen willst!“ Jetzt war es Hans Carstens, der seinerseits gereizt war. Er schätzte es überhaupt nicht, für dumm erklärt zu werden, und nichts Geringeres unterstellte Jan ihm eben gerade. Das war nicht mehr lustig. Der entspannte Frühnachmittag entwickelte sich deutlich unschöner, als er das angenommen hatte. Wenn er doch wenigstens verstanden hätte, warum es so war…
Jans große, feinnervige Hände griffen über den abgeschabten Resopaltisch und nahmen seine zittrigen, faltigen Hände in die seinen. Und eine unerwartete Sorge leuchtete in Jans Augen auf.
„Großvater, verdammt noch mal… es ist Wahltag, verstehst du? Wahltag!“
„Und du musst nachher noch zur Wahl…?“, versuchte er, immer noch verwirrt, eine halbwegs logische Verbindung herzustellen.
„Nein, ich bin hier, um sicherzustellen, dass dir nichts passiert!“
Das war vielleicht noch rätselhafter als alles Bisherige. Irgendwie hatte der pensionierte Ingenieur das Gefühl, er erlebe gerade eine Art von sehr eigenwilligem Traum. Mühsam versuchte er, die ihm vorliegenden Puzzleteile von Informationen in seinem trüben Verstand zusammenzubauen… ein bisschen wie Elemente einer zerlegten Maschine. Früher hatte das einmal gut funktioniert, aber seit Anna-Sophie nicht mehr bei ihm war… also, seither war das alles so unendlich schwer geworden. Als sei sein Verstand eingerostet, und als habe es keinen Grund mehr gegeben, den vormals so flinken und gut funktionierenden Intellekt zu ölen und zu warten.
Ein beunruhigender Gedanke.
Letzten Endes war das alles ja der Grund, warum seine beiden Töchter ihn dazu hatten überreden können, ins Heim zu gehen – er neigte zusehends dazu, die Tage nutzlos im Gestern zu verträumen und überdies den Haushalt zu vernachlässigen. Er brachte die Tage und Wochen durcheinander, vergaß so vieles… irgendwie schien es, als lebe er nur noch im Gestern.
Das sei der Verlustschock, pflegte die Psychologin zu sagen, die ihn wegen depressiver Schübe aufsuchte und behandelte. Sie führten lange Gespräche miteinander, nach denen es Hans stets für eine Weile besser ging. Aber langfristige Besserung stellte sich nie ein. Er fand, so nett die Doktorin auch war, dass das Geld zum Fenster hinausgeworfen war…
Nur dann, wenn Jan da war und sie über ihn und seine Ausbildung sprachen – er wurde zum Ökoingenieur ausgebildet und befand sich im zweiten Lehrjahr, und er konnte phantastisch von den Regenerationstechniken des ökologisch-genetischen Landbaues berichten – , dann hatte Hans Carstens wieder das Gefühl, lebendig zu sein. Die Verbindung zur Jugend, zum Leben selbst gefunden zu haben. Ansonsten kam er sich zumeist lebendig eingemauert vor, verdammt zu einem trostlosen Dahindämmern zwischen Mauern, die ihm auch nach zehn Jahren noch fremd waren. Ständig neue Gesichter. Ständig Essen in höchst wechselnder Qualität. Das Personal hatte nie Zeit…
Das war wirklich kein schönes Leben, das konnte man nicht sagen.
Es fühlte sich mehr wie ein leicht abschüssiges Abstellgleis an, auf dem man immer weiter in Richtung eines schwarzen Abgrundes rutschte, quälend langsam, aber unaufhaltsam. Auf einen Abgrund zu, in dem ein tiefes Erdloch, ein Sarg und das Vergessen auf ihn warteten.
Fast war es erstrebenswert, den Abgrund zu erreichen. Das dachte Hans Carstens in letzter Zeit häufiger. Immer dann besonders, wenn Jan gerade gegangen war und der einzige Glanz verschwunden…
„Großvater!“
Jans Handgriffe festigten sich und rissen ihn aus seinem abwesenden Zustand.
„Was denn…? Ich bin doch ganz Ohr!“, versicherte er.
„Du warst gerade wieder abwesend, Großvater. Im Gestern.“
Er widersprach sogleich. „Das war ich überhaupt gar nicht! Rede bitte nicht solchen Unfug! Wo waren wir eben gerade…?“
„Ich sagte, ich mache mir Sorgen um dich.“
„Und ich verstehe das nicht… ich meine, das ist ganz lieb von dir, Jan“, gab Hans Carstens zu. „Aber mir geht es wirklich gut…“
Sein Enkel seufzte tief. Dann fasste er sich in Geduld und fuhr behutsam fort: „Du… hast nicht wirklich eine Ahnung, was draußen los ist, nicht wahr, Großvater? Wann hast du dir das letzte Mal politische Kommentare angehört?“
„Ach… Politik, weißt du… das ist so verwirrend für mich geworden, seit sich die etablierten Parteien aufgelöst haben… ich habe dafür schon ziemlich lange keinen Blick mehr…“, gestand Hans Carstens ein wenig verlegen. „Aber siehst du, Jan… ich möchte dich da jetzt nicht in deinem Wahlverhalten nachteilig beeinflussen… zu meiner Zeit hatten wir immer das Gefühl, wir könnten nicht viel bewegen in der Politik. Es gab ständig diese verrückten Protestwahlen, und Extremisten kamen an die Macht, die nichts anders machten als die vorherigen Regierungspolitiker… die dachten alle nur an sich selbst, an die persönliche Bereicherung… da kann es doch nicht verwundern, wenn die Leute den Wahlen fernblieben…“
Genau genommen konnte er sich nicht mehr daran entsinnen, wann er das letzte Mal gewählt hatte… früher kamen immer junge Wahlkampfhelfer in die Altenheime und erläuterten ausführlich das Prozedere, halfen beim Ausfüllen der Bögen. Aber das schien schon eine Ewigkeit zurück zu liegen. Hatte es seither keine Wahlen mehr gegeben? Das konnte sich Hans Carstens beim besten Willen nicht vorstellen.
„Ich muss dir was zeigen, Großvater.“
Jan ließ seine Hände los, stand auf und ging hinüber zu dem Stand mit den Zeitungen, die an der linken Raumseite in einem Ständer standen. Seltsame Zeitungen, wie Hans Carstens fand, als er sie nun bewusst wahrnahm. Knallbunt meistens, manche in obskuren Sprachen abgefasst, die er zum Teil nicht einmal einzuordnen verstand. Grelle Fotos, die häufig Menschen fremdländischen Aussehens zeigten, wahlweise in Anzügen steckend, dann wieder in Burnus oder zerlumpter Kleidung. Große Balkenschrift, kleine Textabsätze darunter.
Also, normal sah anders aus, fand der Rentner. Das wirkte ein wenig wie auf Kleinkindniveau angefertigt. Aber Kleinkinder durften doch sicherlich auch heutzutage, anno 2040, nicht wählen… oder hatten sie das auch geändert?
Auf dem Tischchen vor dem Edelmetallständer befanden sich Stapel von nicht minder bunten Flugblättern, auf denen in fragwürdiger Orthografie die merkwürdigsten Schlagzeilen standen… er hatte es schon lange aufgegeben, sich darum zu bekümmern. Diese Produkte wurden sowieso vom Hausschutz wöchentlich entsorgt und schienen sich doch immer wieder wie aus dem Nichts zu vermehren.
Vermutlich, so reimte er es sich zusammen, hatten die fremdländischen Hilfskräfte diese komischen Schriften mitgebracht. Vielleicht waren das Werbezettel für irgendwelche Dienstleistungen, die sie noch zusätzlich anboten, um ihren kargen Lohn aufzubessern? Aber es kam Hans Carstens komisch vor, dass sie dafür ihr weniges Geld verschwenden sollten…
Jan kam mit einer Zeitung zurück und schlug sie zielsicher auf. Beide aufgeschlagenen Seiten waren gefüllt mit einer Tabelle in geradezu entwürdigend kleiner Schrift.
Wie konnte man nur Zeitungen mit so kleiner Schrift in einem Altenheim auslegen? Wussten die Leute denn nicht, dass die Sehschärfe im Alter nachließ? Das war ja auch einer der wesentlichen Gründe, warum er selbst kaum mehr etwas las. Hans Carstens erinnerte sich bei diesem Anlass daran, dass er längst schon einen Termin beim ambulanten Optiker hätte machen müssen, um seine neue Sehschärfe einzustellen… wie lange war der Termin überfällig? Zwei Jahre…? Ach, er vergaß irgendwie jedes Gefühl für die Zeit. Das lag einfach zweifelsohne an diesem im Wesentlichen so monotonen Tagesablauf.
Grässlich.
„Schau dir das an, Großvater. Das ist die Wahlliste.“
„Wahlliste?“
„Ja. Ich sagte doch, es ist Wahltag heute, Großvater!“ Jans Stimme hörte sich nun gereizt an, als spräche er zu einem störrischen Kind. Auch nicht eben schön, ihn so zu erleben. „Hör mir bitte zu, es ist wichtig, dass du verstehst, was heute passiert. Ich möchte nicht, dass dir was zustößt.“
„Und was hat das mit der Wahl zu tun…?“ Es hörte sich sehr verwirrend an, das konnte Hans Carstens nicht leugnen. Irgendwie… irreal…
„Alles, Großvater! Bitte, du musst mir zuhören! Ich weiß, dass du lieber über meine Ausbildung sprechen möchtest, aber das geht heute wirklich nicht…“ Und dann begann Jan, sein lieber Enkel Jan Steinberg, den er doch so gut zu kennen geglaubt hatte, allen Ernstes, über Politik zu reden.
Und er wusste recht gut darüber Bescheid, deutlich besser als Hans selbst.
Es hörte sich alles so… so surreal an. Vor allen Dingen, weil Jan so weit zurückging in seinen Erörterungen. So weit, dass er, wann immer Hans´ Gedanken abschweiften und seine Konzentration nachließ, erneut auf Gesagtes zurückkam und ihn eindringlich bat, bei der Sache zu bleiben.
Nach Jans Worten hatte alles vor rund fünfzig Jahren angefangen, also deutlich vor der Geburt von Jans Vater Richard Steinberg. Damals begann der so genannte europäische Gedanke zu entgleisen.
In den Balkankriegen. In der explosiven Ausweitung der Europäischen Union, die aus kurzsichtigen wirtschaftlichen Gründen auf Konsolidierungsphasen verzichtete und Mitglieder in die Union holte, die wirtschaftlich… vorsichtig ausgedrückt… als instabil einzuschätzen waren.
Ja, an all diese Dinge erinnerte sich Hans Carstens durchaus auch noch. Sie waren zwar fern und dunstig in den Ländern seiner Erinnerung eingelagert, aber ihre Präsenz kehrte nun wieder zurück.
Die Risiken wurden damals eindeutig unterschätzt, möglicherweise mit voller Absicht – der wirtschaftliche Lobbyismus triumphierte.
Auch daran konnte sich Hans Carstens entsinnen. Das war der Teil, der ihm noch leicht nachzuvollziehen fiel. Was das jedoch mit ihm selbst zu tun haben sollte und vor allen Dingen mit dem heutigen Tag, das blieb freilich schleierhaft. Das blieb noch eine Weile so, während sein Enkel historische Fakten vorbrachte, die er eigentlich nur im Geschichtsunterricht gelernt haben konnte.
Sie lagen doch so lange zurück.
Wirtschaftskrisen ereigneten sich in den Folgejahren der 90er und frühen 2000er-Jahre.
Insbesondere die so genannte „Eurokrise“, die im Kern eigentlich eine Bankenkrise darstellte und in der zahllose Milliarden Euro in Bankenrettungen fehlgelenkt wurden, während soziale „Reformen“ dafür sorgten, dass die Arbeitslosenzahlen in Europa drastisch anstiegen, erschütterte das Vertrauen der EU-Bürger in ihre Führung in Brüssel. Nationaler Egoismus begann zu grassieren, und als dann im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine internationale Flüchtlingskrise hinzukam, begann der Prozess des Absterbens der Europäischen Union, die heute mehr denn je eine Art von hohler Nuss darstellte, ausgehöhlt, ausgemergelt geradezu, das Papier nicht mehr wert, auf dem die Europäischen Verträge geschrieben worden waren.
Die Verwerfungen der Gegenwart wurden immer schlimmer. Im Zuge grassierender Terroristenfurcht schränkten nationale Regierungen Bürgerrechte ein, riegelten Grenzen ab, verstärkten Polizeipräsenz und sanktionierten Abhöraktionen. Bürgerproteste wurden nicht eben selten von so genannten „Sicherheitskräften“ niedergeknüppelt. Die Freizügigkeit innerhalb der Union verringerte sich stetig.
Griechenland wurde aus der EU ausgeschlossen. Die Briten entschieden in einem volksnah „Brexit“ genannten Verfahren, im egoistischen Alleingang die Union zu verlassen – in einem internationalisierten Raum der Großkonzerne und des Transnationalismus ein absurder Gedanke, gespeist von den Sehnsüchten der Ewiggestrigen nach einem „Empire“ der Vergangenheit.
Natürlich musste das schief gehen.
Die Schotten erklärten ihre Unabhängigkeit und hielten zur EU. Der irische Nationalismus flammte wieder auf. Spanien zerbrach in zwei Nationen, dann in drei. Überall zerbröckelten Staatenbünde, neue Grenzen wurden hochgezogen. Binnenzölle wurden erhoben, neue politische, radikale Parteien schossen aus dem Boden wie giftige Pilze in günstigem Klima.
Soweit stimmte das alles mit den historischen Tatsachen überein, das musste er zugeben.
Als Hans Carstens dann jedoch – teilweise gramerfüllt wegen seiner privaten Tragödie – ins Altenheim ging, da hatte er für diese wirren Verhältnisse schon keinen Blick mehr, und in den vergangenen zehn Jahren schienen sich die Dinge, Jans Worten zufolge, nicht zum Besseren gewendet zu haben.
Wenn er die lautere Wahrheit erzählte – und daran hegte Hans Carstens eigentlich keinen Zweifel, da sein Enkel bislang immer aufrichtig gewesen war – , dann herrschten draußen aktuell Verhältnisse, die denen der Weimarer Republik durchaus gleichkamen. Die Wahlliste schien das zu bestätigen. Es gab mindestens sechzig Positionen darauf, vermutlich mehr. Und sie waren, wie gesagt, sehr klein gedruckt.
Und was das für seltsame Parteien waren.
„Freiheit für Niedersachsen“ – „Die Unionisten“ – „Wohlfahrtsfreunde“… obskure Parteinamen, die er nie zuvor gehört hatte. Keine Spur mehr von den Parteien, die er aus seiner Jugend kannte, oder von den vertrauten Parteikürzeln wie CDU, SPD, FDP… sie schienen spurlos verschwunden zu sein.
Eine beunruhigende Entdeckung.
„Das sind komische Namen“, unterbrach er Jans ausufernden politischen Exkurs schließlich, der für ihn immer eigenartiger zu werden schien, je näher er sich in seinen Ausführungen dem Ufer der Gegenwart näherte. Die Gegenwart hörte sich wie ein Tollhaus an, politisch betrachtet. „Die kommen aber nicht auf viele Stimmen, oder?“
„Die meisten nicht“, gab sein Enkel zu. „Aber seit die Fünf-Prozent-Hürde außer Kraft gesetzt worden ist…“
„Wieso ist die außer Kraft gesetzt worden?“ Das war ja unglaublich! Wie sollte denn Demokratie funktionieren ohne ein entsprechendes Regulativ, das die politischen Extremisten auf ihren Platz verwies?
„Es wurde erfolgreich dagegen geklagt. Das sei eine Diskriminierung des Volkswillens weiter Teile der Bevölkerung“, meinte Jan, und er sah selbst genervt aus. Offenbar hatte er angenommen, das sei bei ihm bereits Allgemeinwissen. „Verstehst du… weite Teile der Bevölkerung sehen einfach überhaupt nicht mehr die historischen Gefahren, die mit dieser Wahlrechtsänderung einhergehen.
Du müsstest dir mal Reden aus Berlin anhören, was da für ein Ton in der Politik herrscht… es ist schrecklich. Deshalb hören auch so viele Leute diesem Andreas Gundur zu, der in seinen Reden ständig die Einheit beschwört…“
Andreas Gundur war laut Jan das Problem.
Gundur und die Leute, für deren Programm er stand.
Gundurs Bewegung, „Das einige Deutschland“, war ein Produkt von Kleinstparteiverschmelzungen am rechten Ufer der Parteienlandschaft. Während siebzehn Parteien im Bundestag saßen und üblicherweise selten über mehr als fünf Prozent verfügten, was bizarre, kurzlebige und großflächige Allianzen sowie halbseidene Kompromisse notwendig machte und Verfilzungen ebenso unvermeidlich erzeugte, versuchte Gundur nicht nur, die Fünf-Prozent-Hürde wieder einzuführen, sondern auch dafür zu sorgen, dass viele Parteien grundsätzlich aus dem Parlament ausgeschlossen wurden. Bei dreien, mehrheitlich sozialistisch orientierten Fraktionen, hatte er das bereits erreicht. Und, womöglich noch schlimmer, das wurde sogar allgemein gutgeheißen!
Bei Wahlen gelang es Gundurs Bewegung, in zahlreiche Länderparlamente vorzustoßen – deutlich über zehn Prozent! – und mit seinem Populismus breite Schichten politisch inzwischen lethargisch gewordener Bevölkerungsteile zu erreichen. Und das Schlimmste war, fand Jan, dass Gundur im Prinzip historisch argumentierte. Allerdings auf eine groteske, bedrohliche Art und Weise.
„…siehst du, Großvater, das Gefährliche an diesem Mann ist, dass er inzwischen über eine so breite Anhängerschaft verfügt. Heute ist Wahltag, ich habe das schon gesagt, und er hat seine Leute wirklich überall. Das Schlimmste, was Gundur behauptet, ist, dass er sagt, die Alten seien verantwortlich dafür, dass die Gegenwart so chaotisch und schlimm geworden ist, wie man allenthalben beobachten kann. Und das will er ändern.“
„Die Alten?“, echote Hans Carstens verständnislos. „Das begreife ich nicht.“
Offenkundig hatte sich Jan mit diesen Dingen schon recht lange beschäftigt. Er war nicht um Antwort verlegen: „Gundur sagt, wenn die alte Politikergarde vor dreißig Jahren die richtigen Entscheidungen getroffen und dem Separatismus ganz zu Beginn entschlossen die Stirn gezeigt hätte, dann würde es heute immer noch so etwas wie ein starkes Europäisches Parlament geben.
Es gäbe keinen Norddeutschen Landtag, Schleswig-Holstein hätte sich nicht zur Nordliga geschlagen, Bayern wäre nicht abgespalten worden und hätte der Vereinigung mit der Helvetisch-Österreichischen Allianz zugestimmt… und ganz bestimmt gäbe es nicht so viele ausländische Pflegekräfte hier in den Altenheimen im Norden… das ist wirres Zeug, Großvater, natürlich. Aber siehst du nicht, wohin das führt?“
„Hat dieser Dummkopf eine Zeitmaschine erfunden, um die Dinge zu ändern?“, schnaubte der pensionierte Ingenieur ungehalten. Das schien ihm die einzig plausible Lösung, die dieser Wirrkopf namens Gundur haben mochte, die Verhältnisse in seinem Sinne zu korrigieren.
Hans´ Enkel schüttelte den Kopf, mit düsterer Miene.
„Nein, er hat etwas viel Schlimmeres im Sinn… er hat öffentlich verkündet, dass sich am Wahltag der Volkszorn… der ‚gerechte Volkszorn’, wie er das in seinen Hetzreden nennt, entladen wird. Und das Volk wisse ganz genau, wo die Verursacher allen Elends säßen…“
„Und wo soll das sein?“
„Hier, Großvater!“
Hans Carstens blinzelte verunsichert. „Wo, hier?“
„Hier, in deinem Altenheim… in allen Altenheimen innerhalb Deutschlands, um genau zu sein.“ Er sah seinen Großvater beschwörend an. „Verstehst du, was dieser Verrückte vorhat? Gundur sagt, der Volkszorn werde heute zur Explosion drängen und diejenigen, die ‚verantwortlich’ seien, zur Rechenschaft ziehen. Natürlich wird das eine gesteuerte Sache sein. Es sind seine Anhänger, die die Massen aufhetzen, aber du kannst sicher sein, dass sie keine Parteiabzeichen tragen, keine Armbinden und dergleichen… und natürlich wird Gundur jede Eigenverantwortung leugnen, sagen, dass es allein ‚das Volk’ gewesen sei, das seinem Unwillen Luft gemacht hat…“
Draußen auf dem Platz vor dem Altenheim wurde es lauter. Autohupen erklangen. Rufe. Pfeifen schrillten.
Jan Steinberg sprang auf und eilte zum Fenster. Er wirkte sehr blass, als er zu seinem Großvater an den Tisch zurückkehrte. „Wir sollten uns besser aus dem Aufenthaltsraum zurückziehen, Großvater…“
„Was ist da draußen los?“
„Wie ich das befürchtet habe – es sammelt sich eine Menschenmenge, sicherlich an die zweihundert Köpfe stark. Es werden stetig mehr…, und sie kommen näher. Das Heim ist ihr Ziel, das ist unübersehbar. Aber wenn wir es schaffen, durch den Hinterausgang zu verschwinden…“
Hans Carstens packte das Handgelenk seines Enkels fest und sah ihn verärgert an. „Jan… ich glaube, du überreagierst hier gerade etwas. Es ist völlig unnötig, wie ein Verbrecher aus dem Heim zu verschwinden. Das hier ist mein Zuhause, verstehst du? Ohne gründlich gepackt zu haben, gehe ich von hier aus nirgendwohin! Schon gar nicht wegen eines solch absurden Grundes.“
„Aber Großvater… dafür ist wirklich keine Zeit…“
„Hör zu, wir haben hier einen eigenen Hausschutzdienst gegen Sachbeschädigung, Vandalismus und dergleichen. Diese Leute werden schon verhindern, dass uns irgendwas widerfährt… ihr Gehalt wird schließlich auch von meinen Rentenbeiträgen mit getragen…“
„Die Hausschutzleute, das sind die in den hellgrünen Uniformen, ja?“
„Ja, ganz recht…“
„Wie viele davon habt ihr hier?“, wollte Jan wissen.
„Ach… kann ich jetzt nicht genau sagen… acht Mann, glaube ich. Ja, es müssten acht Mann sein.
Warum fragst du?“
„Weil ich sie vorhin, als ich ankam, in einem Transporter wegfahren gesehen habe.“
Hans Carstens wurde blasser. „Ich verstehe nicht…“
„Großvater! Ich sagte doch – dieser Gundur hat seine Leute überall… es würde mich nicht überraschen, wenn er den Hausschutz bezahlt hätte, rechtzeitig das Weite zu suchen. Sie kommen vielleicht zurück, aber zu spät, um dir zu helfen.“ Jan sah wirklich sehr bleich aus, aber immer noch fest entschlossen. „Ich hätte vielleicht schon Verdacht schöpfen sollen, als ich am Informationstresen unten niemanden sah und auch auf dem Weg hierher kein Personal traf… ich glaube wirklich, hier sind nur noch Senioren wie du. Niemand, der euch helfen wird.“
„Das kann doch alles nicht sein… das glaube ich nicht…!“
Jan Steinberg ging hinüber zu dem Stuhl, auf dem er vorhin nach seinem Eintreffen die voluminöse Sporttasche abgestellt hatte. Er neigte dazu, im Anschluss an den Besuch hier im Heim noch ein wenig in der Sporthalle an der Jahnstraße zu trainieren.
Der Lärm draußen wurde lauter. Es klang tatsächlich, als käme da ein wütender Mob auf das Gebäude zu. Die Autohupen waren inzwischen verstummt, und halb und halb wünschte sich der verstörte Hans Carstens, er könne durch das Fenster nach draußen sehen. Aber da er immer gern an der Innenwand des Aufenthaltsraumes saß, war das natürlich unmöglich.
Und… na ja… vielleicht war es auch gar nicht erstrebenswert, nach draußen sehen zu wollen.
Möglicherweise…
Ein Wurfgeschoss traf wuchtig die dreifach verglaste Scheibe von außen und erzeugte einen donnernden Krach sowie ein splittriges Spinnennetz von Verästelungen. Hans Carstens erschrak sich fast zu Tode.
Verängstigt, weil dieser Gewaltausbruch völlig überraschend kam, hielt er sich an den Lehnen seines Stuhls fest. Er wünschte sich nun, auf seinen Enkel gehört zu haben.
Weitere Geschosse, durchaus nicht nur wuchtig geschleuderte faule Früchte wie das erste, krachten gegen die anderen Scheiben und beschädigten sie in ähnlicher Weise. Aber wohl aufgrund des ungünstigen Wurfwinkels vermochten sie die Mehrfachverglasung nicht zu zerbrechen.
Hans Carstens schlotterte dennoch am ganzen Leib. Sein Herz klopfte schmerzhaft bis zum Hals. Er konnte sich nicht entsinnen, soviel Furcht gespürt zu haben… wenigstens seit ewigen Zeiten nicht mehr.
„Großvater – nimm besser deinen Stock!“
„Aber… Jan, was hast du vor? Was soll das?“ Alarmiert entdeckte Hans Carstens, dass sein Enkel, zwar sportlich, aber eigentlich ein friedliebender Mensch, aus seiner Sporttasche einen Baseballschläger auspackte… unverfängliches Sportutensil für die meisten. Aber wenn man ihn mit Absicht gegen einen Menschen einsetzte…
Hans Carstens wollte gar nicht weiter darüber nachdenken. Ihm wurde ganz elend vor Furcht.
„Ich werde dich schützen, so gut ich kann, Großvater“, versprach Jan mit entschlossener Miene.
Während er das sagte, ertönten von unten aus dem Erdgeschoss dröhnende Schreie, das Zerbersten von Glas, die Geräusche von eingetretenen Türen. Dann trampelten die Horden der Verwüstung das breite Treppenhaus hinauf. Es klang nach den Trompeten des Armageddon… und die Streiter für das Gute waren krass in der Minderzahl.
„Ich weiß, du kannst für alles dies nichts“, sagte er weiter. Traurigkeit paarte sich in seinen Augen mit fester Entschlossenheit. „Das ist Gundurs teuflisches Verführungswerk… aber ich werde nicht zulassen, dass sich diese stumpfsinnigen, aufgehetzten Schläger an dem Menschen vergreifen, den ich liebe und verehre – an dir, Großvater!“
Jan Steinmann umarmte ihn kräftig und stand dann auf, wog den Baseballschläger fest und entschieden in den Händen. Bereit, ihn einzusetzen.
Seine Blicke richteten sich zur Tür, jenseits derer der Lärm lauter wurde.
‚Das ist alles ein Alptraum, das kann nicht wirklich passieren. Wir leben in einem Rechtsstaat… das ist unmoralisch, das ist unmenschlich… das ist unmöglich…!’, ging es Hans Carstens entsetzt durch den Kopf.
Während er das dachte, jagte ein winziger historischer Gedanke durch seinen Verstand – ob wohl auch die Juden in der „Reichspogromnacht“ 1938 an die eherne Stabilität von Recht und Ordnung geglaubt hatten? Und wie sehr waren sie enttäuscht worden!
Er hatte diesen Gedanken gerade beendet, da erreichte der hasserfüllte Mob, der in den alten Insassen des Wohnheims die Verantwortlichen für die gesellschaftliche Misere der Gegenwart sah, die Tür des Aufenthaltsraumes.
Jan Steinmann hob seinen Schläger, bereit zur Verteidigung, zu allem entschlossen.
Aber sie wussten beide, es würde zu wenig sein.

ENDE

Zum Inhaltsverzeichnis von World of Cosmos 119

« »