Space-Opera-Fortsetzungsgeschichte von Malakai Delamare
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1. Der Neue
4821 n.R.
Taunrak Republik – Verstersü-System – Planet Melisa – Paradox City
Der Anblick vom Himmelsfahrstuhl verärgerte Vostal und senkte seine ohnehin schon schlechte Laune auf einen neuen Tiefpunkt. Er brauchte nur den Arm ausstrecken, seine Hand um die Nabelschnur dieses Planeten legen und kräftig daran rütteln. Hey, das würde ein Spaß für die Passagiere der Kabinen werden, die von Seimas, der Gegenstation im Orbit kamen oder versuchten, hinaufzugelangen. Jawohl, schütteln, bis es ihm besser ging und das konnte eine ganze Weile dauern.
Er blinzelte, als die grüne Sonne Verstersü durch die aufbrechenden Wolken lugte, aus denen es bis eben kräftig gegossen hatte, und ihn mit ihren hellen Strahlen aus seinem Tagtraum holte.
Vostal blickte sich vorsichtig um, als er merkte, dass er stehen geblieben war. Für die Menschen rings um ihn herum musste es aussehen, als ob seine Hände etwas Imaginäres würgten. Zweifelhafte Blicke, die unter den mannigfaltigen Kopfbedeckungen hervorlugten, trafen ihn, welche oft von Kopfschütteln begleitet wurden. Viele ignorierten ihn wie einen Insektenschmiss, der sich unweigerlich zu dieser Jahreszeit in Paradox City auf jeden Gleiter verewigte.
Missmutig stopfte er seine Hände in die Taschen, von denen seine dunkelblaue Fliegerhose reichlich zu bieten hatte. Eigentlich hätte er sie gar nicht besitzen dürfen.
‚Das ist Eigentum der Taunrak-Republik und hat an ihrem Arsch nichts mehr verloren‘, hörte er seinen damaligen Ausbilder, Colonel – Ich mach’ dich fertig – Sumeos, im Geiste brüllen. Als er daran dachte, was der Colonel sagen würde, wenn er wüsste, dass er nicht nur seine Hose vergessen hatte abzugeben, grinste er breit.
„Ob das der Lebenszweck von solchen Menschen war?“, überlegte er leise vor sich hinmurmelnd.
Er gab sich dem Strom der Menge hin, die ihn immer mehr aus der Innenstadt, mit den konisch hochreckenden Glaspalästen, weiter in die Außenbezirke dieser muffigen Metropole zog. „Und welcher Idiot hat eigentlich gedacht, dass Melisa ein formidabler Planet sei, um hier eine riesige Stadt zu gründen und zusätzlich einen Himmelsfahrstuhl in die Pampa hinzuklatschen?“
Er schwitzte wie ein Gaul nach einem zehn Kilometer Dauerlauf. So schweißabweisend konnte die Funktionskleidung gar nicht sein, um dem gerecht zu werden. Erst goss es, als ob ein Großkampfschiff seine Wassertanks über der Stadt entleert hatte und die Abwassertanks gleich mit hinzu, so wie es stank. Kaum kam Verstersü durch die Wolken, wurde jeder am Boden lebendig gekocht. Die Bakterien, von denen es auf diesem Planeten wesentlich mehr als anderswo im Universum zu geben schien, intonierten Jubelschreie, bevor sie sich auf alles Verwertbare stürzten, um es umzuwandeln, zu verdauen oder was auch immer. Die Gasverbindungen, die dabei entstanden, rochen für seine Nase so merkwürdig, dass er gar nicht so viel essen konnte, wie er sich übergeben wollte. Zum Glück hatte er diesen Part der Anpassung schon hinter sich.
Die Einheimischen grinsten immer schelmisch und verschwörerisch, wenn neue Besucher ankamen und erst einmal durch die Kotzperiode gingen, bevor sie sich an die ungewohnten Ekelgerüche gewöhnt hatten. Selbst Nasenfilter halfen nicht auf Dauer effektiv und nur Kurzbesucher nutzten diese. Wer länger vorhatte, hier zu leben, aus welchem Grund auch immer, durchlebte diese Anpassungsphase. Wobei Vostal sich keinen Anlass vorstellen mochte, um auf diesem Drecksloch von einem Planeten freiwillig zu bleiben.
Derzeit befand sich Melisa im Winter. Spaßig wurde es erst, wenn die Sommerperiode mit ihren Monsunregen einsetzte. Während dieser Zeit wurde sogar gelegentlich der städtische Schutzschild hochgezogen. Die Sonneneinstrahlung mit ihren offiziell jetzt 32 Grad, wie er an seinem Textildisplay am Arm ablas, reichte Vostal auch so und er japste angesichts der hohen Luftfeuchtigkeit. Dass es arschwarm war, hätten ihm die dunklen Schweißflecken verraten, die sich vom Arm bis zum Saumende runterzogen. Hey, er war auf dem verdammten Eisplaneten Trualentis geboren. Taufrische vier Grad und ein kleiner Eissturm galten da als bestes Badewetter.
An kurze Hosen zu denken oder gar mit dem Oberkörper frei herumzulaufen, war auf Melisa nicht empfehlenswert. Nicht nur, dass die Menschen sich hier schockierend prüde anstellten, war nackte Haut keine so tolle Idee. Die energiereichen UV-Strahlen von Verstersü kamen fast ungefiltert auf dem Boden an, da das Magnetfeld von Melisa Urlaub machte. Zumindest große Teile davon. Die Haut eines ungeschützten oder genetisch nicht angepassten Menschen leuchtete schneller glühend rot und konnte, als kostengünstiger Infrarotstrahler benutzt werden, bevor man Sonnenschutzfaktor sagte.
Bei der Navy hatte er zur Zeit seiner Ausbildung mal seinen Kumpel Caruso darüber reden hören. Der hatte sich immer für galaktische Geschichte interessiert, während er persönlich ja lieber Geschichten erzählte. Vorzugsweise hübschen Kadetten. Zumindest denen, die keine über ihn gehört hatten.
Der Urlaub des Magnetfeldes von Melisa hing mit einem Experiment zusammen, welches das hiesige Wissenschaftsinstitut der Taunrak-Republik durchgeführt hatte. Soviel er sich dunkel erinnerte, spielte der Himmelsfahrstuhl und die Orbitalstation Seimas eine Rolle. Energie wurde durch den Fahrstuhl auf die Station gebracht und diese sollte das starke Magnetfeld in einen planetaren Schutzschild aufwerten. Darauf hatte der Planet wohl kein Bock gehabt und das schützende Feld verabschiedete sich.
Vostal blieb in der Menge am Straßenrand stehen und betrachtete die Umgebung, zu der ihn der Mob gespült hatte. Es herrschten Glas- und gebürstete Metallfronten vor, doch diese waren nicht mehr so schimmernd, glänzend oder gar von vollautomatischen Reinigungsdrohnen in Schuss gehalten. Es sah versifft aus. So ähnlich wie die Menschen hier und sie kleideten sich nicht ganz so prüde, wie im Zentralviertel, aus dem er kam. Dennoch trug jeder wohlweislich eine Kopfbedeckung.
An der Ecke sah er einen jungen Mann stehen, der unmöglich von Melisa stammte. Seine makellose Haut war fast ebenso blass wie seine eigene und von unzähligen grasgrünen Synthstreifen umschlungen. An diesen hingen zahlreiche Ranken in derselben Farbe herab und ließen ihn aussehen, als ob er einem Ungeheuer gleich aus einem Sumpf stolziert kam. Zusätzlich trug er einen unglaublich ausladenden Hut, der im krassen Kontrast dazu schreiend Pink und über die gesamte Oberfläche mit Glitzerstaub bedeckt war. Verstersü ließ seinen Kopf in einer Lichtaureole erscheinen und trotzdem konnte Vostal erkennen, dass er sich nicht wohlfühlte.
Bei ihm standen drei Typen in lässiger Funktionskleidung, die sie mit allerlei Applikationen aus Synthtal in den unterschiedlichsten Formen versehen hatten und redeten wild gestikulierend auf ihn ein. Sumpfungeheuer hob bei dem zuletzt gesagten die Arme abwehrend hoch. Schien ihm nicht zu gefallen, was die da erzählten. Vostal hob die Schultern. War nicht sein Problem. Er hatte seine Eigenen.
Es war unglaublich, dass die Banken für eine simple Transaktion seine persönliche Vorsprache erbaten. Wobei bitten, die Untertreibung des Jahrhunderts war. Entweder er tanzte an und kroch den Bankärschen so tief rein, dass es schon wieder auf der anderen Seite hell wurde, oder er bekam seine Pension nicht ausgezahlt.
Er seufzte schwer. Was tat man nicht alles im Leben, damit sich ein durstiger Mann ein Kühles gönnen konnte? Und genau das beabsichtigte er jetzt zu tun.
Instinktiv hatten ihn seine Schritte an den richtigen Ort gebracht.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite leuchtete ihm die Reklame des KLAMAS entgegen. Wobei Leuchten und Reklame glatt übertrieben waren. In dieser verfluchten Stadt verstand sich alles auf Untertreibung.
Ein simpler grauer Schriftzug und eine gelbe Umrandung, die sanft schien und so den Schmutz der dahinter liegenden Stahlfassade illuminierte, war das einzig Extravagante. Schon fast zu gewagt für die hiesigen Spießer. Ihm war es egal. Im Inneren lag Iridiumstaub, womit er allerdings nicht die einfallslose Einrichtung aus Polyplast und Synthmet, die im langweiligen Beige daherkam, meinte.
„Hey, Vostal. Komm rein und setz dich!“, wurde er lächelnd begrüßt. Caloja ging zufällig mit einem Tablett voller Getränke auf ihn zu, als er durch die sich leise öffnende automatische Tür kam. Zufrieden grunzte er. Genau so und nicht anders mochte er es. Beim Hineinkommen ein Duftbouquet von Gewürzen, Rauch und kühlen Getränken, das wie ein einziges Versprechen nach Entspannung und einer verdammt guten Zeit roch. Dazu einen schelmischen Blick aus ihren ockerbraunen Augen, während sie ihm einen Kuss auf die Wange hauchte.
„Bin gleich bei dir, Süßer. Du kennst ja den Weg.“
Oh Mann, wie konnte eine Frau nur so ein Verlangen in ein paar simple Worte legen? Er glaubte zu sehen, dass sie auf dem Weg zu einem Tisch, an dem drei Gäste sich angeregt unterhielten, absichtlich nur für ihn ihren prachtvollen Arsch hin und her wiegte. Schnell riss er sich von dem wundervollen Anblick los und marschierte zu seinem Stammplatz. In die hinterste Ecke der wellenförmig geschwungenen Theke aus rotem, fein marmorierten Holz. Unbewusst ließ er seine Fingerspitzen darüber gleiten. Es war so herrlich kühl und stemmte sich gegen die Wärme, die hier herrschte.
„Mensch Dschirmal. Ist die Klima immer noch hin?“, begrüßte er auf dem Weg den Besitzer des KLAMAS, der hinter der Theke stand und etwas zubereitete. Sein dunkelblaues Hemd spannte ordentlich unter den Muskelbergen.
„Du weißt doch genau, dass das hier Normaltemperatur ist, Frosty. Hör auf, deswegen zu stören. Caloja bringt dir gleich ein Kühles, wenn du …“
„Brauchst nicht weiterreden. Ich habe mich persönlich erniedrigt, um dir deine Keks zu bringen.“ Er hantierte an seinem Textildisplay und wischte die Summe in Richtung Dschirmal, der kurz auf das Seinige sah und knapp nickte.
„Gleich wieder Pleite, dass das Spiel von vorn beginnt?“, knurrte der Barbesitzer, immer noch ihm den Rücken zukehrend.
„Nicht doch. Ich halte mich zurück. Das ist nicht so prall fürs Geschäft, da du dann ein paar Kühle weniger verkaufst. Aber hey. Kein Kredit mehr“, sagte Vostal gespielt theatralisch.
Er hatte es sich inzwischen auf dem abgewetzten Barhocker bequem gemacht und seine Fliegermütze auf den polierten Tresen platziert. Am liebsten hätte er zusätzlich sein Gesicht darauf gelegt, um sich abzukühlen. So aber sah er sich in die eigenen graugrünen, etwas auseinanderstehenden Augen. Blonde, buschige Augenbrauen zierten diese, wobei die Linke einen diagonalen Schnitt besaß und ihn damit ständig an seine erste Prügelei an der Navy-Akademie erinnerte. Schon des Öfteren hatte er sein markantes Kinn hingehalten und etwas auf die flache Nase mit den schmalen Nasenflügeln bekommen. Zu seinem Glück fielen Hämatome auf seiner hellen Haut, die teilweise bläulich violett schimmerte, hervorragend auf. Vielleicht hatte er deswegen seine naturblonden Haare, in einem kräftigen Violett gefärbt. Er fand zumindest, dass sie ihm stand. Würden ihn seine ehemaligen Kameraden so sehen, konnten sie ihn kaum wiedererkennen. Schließlich hatte er diese seit einem Jahr nicht schneiden lassen. So kamen jetzt die ursprünglichen Wellen wieder hervor und ließen ihn auf dem Kopf recht wild aussehen.
„Warum ist das so still hier, Dschirmal?“, fragte Vostal den Kneipenwirt gut gelaunt. Dieser sah noch immer nicht aus, als ob er mit ihm eine vernünftige Unterhaltung führen wollen würde.
„Du musst dringend an deinem Unterhaltungsprogramm arbeiten. Hat dir das schon einmal jemand gesagt? Nur mit Knurren oder der zur Schaustellung von Muskeln ist es heutzutage nicht getan. Wobei ich sagen muss, die Muckis sind absolut beeindruckend und schmeicheln deinem Hemd. Das Knurren ist aber ausbaufähig. Du musst da mehr so ein dunkles Grollen einmischen. Als ob es einen Bergsturz gibt.“
„Du laberst wie immer zu viel“, kam es zurück. Mit einem Augenrollen aktivierte der Wirt über sein Textildisplay die im Raum verbogenen Lautsprecher. Das mochte Vostal. Die geniale Musik, die hier nicht leise im Hintergrund lief, sondern sich mit einem wummernden Sound direkt in die Gehörgänge grub. Er erkannte die Stimme des Leadsängers einer derzeit extrem angesagten Epic-Metal Gruppe. Diese erreichte Höhen, dass er sich fragte, ob der seine Gesangsstimme entdeckt hatte, als er mit nackten Füßen auf einen spitzen Gegenstand getreten war.
Bevor er eine Schippe obendrauf legte, er liebte es Dschirmal zu provozieren, kam Caloja mit ihrem sagenhaften Hüftschwung ihm entgegen. Die schwarz-rote Tunika, die ihren Körper umfloss, verstärkte diesen Eindruck nur.
Sie hatte die anderen Gäste abkassiert, da diese wild diskutierend das KLAMAS verließen. Auf dem Weg zu ihm stellte der Wirt einen großen Becher auf den Tresen, der dampfte und milchig beschlagen war. Mit einer geschickten Bewegung angelte sich die junge Frau das Getränk und legte es vor ihm ab. Nicht ohne ihn mit ihren üppigen Rundungen an der Schulter zu berühren.
„Dein Kühles, Süßer“, raunte sie und küsste ihn sanft auf die Schläfe. „Beeil dich, sonst ist es ein Lauwarmes.“
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Mit einem wohligen Seufzer umschlossen seine Hände die eiskalte Hülle. Vostal musste sich zusammenreißen, nicht sofort alles hinunterzustürzen. Zu spüren, wie die Kälte in ihm herablief und von innen kühlte. Allein der Gedanke daran ließ ihn schaudern.
Einen kleinen Schluck gönnte er sich.
Sanft benetzte die Flüssigkeit seine Lippen und sorgte dafür, dass sich die dünne Haut schlagartig, schon fast schmerzhaft zusammenzog. Er schätzte, dass der Limser genau die Temperatur vom Gefrierpunkt von Wasser hatte.
Die Spezialität von seiner Heimatwelt, die nur das KLAMAS führte, nun ja, erst seitdem er hier Gast war und sich einen geordert hatte, enthielt reichlich das Fruchtfleisch der limsischen Früchte. Diese waren nur innerhalb der frostigen Böden von Trualentis zu finden.
Sobald die Temperatur über null Grad Celsius stieg, schmolz das Mark und wurde sämig. Daher ließ man, um den Limser zuzubereiten, kurz das Fruchtmark antauen, um es dann mit Wodka und Limettensaft zu versehen und anschließend wieder herunterzukühlen. Fertig war sein Lieblingsgetränk.
Die feine Säure prickelte auf der Zunge und dem Gaumen. Die Kälte sorgte zudem dafür, dass sich die Geschmacksknospen zusammenzogen. Der limsische prickelnde Schmerz, den fast nur die Bewohner von Trualentis auszuhalten vermochten. Hier, auf dieser äußerst heißen Welt Melisa, ein Genuss ohne gleichen.
Stimmengemurmel und ein warmer Lufthauch, der nach den verfaulten Straßen von Paradox-City roch, ließ ihn aus seinen Gedankenspielen über die wunderbare Kühle des Limsers hervor schrecken. Caloja hatte sich in der Zwischenzeit hinter den Tresen begeben und sprach leise mit Dschirmal. Sie war es gewohnt, dass er schon einmal den Bezug zur Realität verlor, sobald sich seine Hände um den dampfenden Becher schlossen.
Vostal wollte sich beschweren, dass man doch mal leiser reden könnte, um einen Mann in friedlicher Eintracht mit seinem Kühlen zu belassen. Er hatte seinen Mund schon aufgemacht und verharrte in dieser Position, als er sah, wer ins KLAMAS hereinkam. Ein bärbeißiger Typ, der scheinbar nur aus einer zotteligen Mähne bestand. Ein brauner, mit zahllosen weißen Haaren versetzter und absolut ungepflegter Vollbart im feisten Gesicht, setzte sich nahtlos bis nach unten fort. Geringelte Locken quollen aus dem auf der Brust geöffneten Magnetsaum seiner kakifarbenen Uniform hervor, die zahlreiche vollgestopfte Taschen und fast noch mehr Flecken aufwies. Ob von Maschinenflüssigkeiten oder abgeschmierten Essensresten, ließ sich von seiner Warte aus nicht erkennen. Er legte keinen Wert darauf, das herauszufinden.
Dafür hafteten seine Augen auf den Engel mit den kobaltblauen Haaren, die hinter dem Typen hervortrat, und nicht einmal die Hälfte seiner Körperbreite aufwies. Gekleidet in die gleiche Art von Uniform, jedoch hochgeschlossen, was ihre Rundungen nur mehr betonte. Das Kopfhaar war zu einem langen Zopf geflochten, der ihr über die rechte Schulter fiel und ihre schmalen, vereist wirkenden Gesichtszüge einrahmte. Auf ihn wirkte sie wie eine Puppe, mit vollen Lippen, die wie ein Blutfleck aus dem Gesicht hervorstachen. Dazu passte ein Hauch von einer Nase, die aussah, als wäre sie nur dafür da, um eine Linie zu den Augen zu bilden, an denen sich der Blick unweigerlich verfing. Nur um sich dann in zwei kristallklaren, nachtblauen Iriden zu verlieren, die ihre Umgebung genau betrachteten und momentan direkt auf ihn ruhten.
Der puppenhafte Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln und in einer der anmutigsten Bewegungen, die Vostal bisher in seinem Leben gesehen hatte, hob sie ihren Arm hoch und öffnete die Lippen. Sein Verstand rutschte automatisch zwei Sektionen tiefer und stellte sich vor, was sie imstande war alles mit diesen zu bewerkstelligen. Ihre feingliedrige Hand schloss sich und ihr wie ein Mahnmal hervorstechender Zeigefinger, dessen Spitze farblich auf die Haare abgestimmt war, fuhr sich den Mundwinkel entlang, was bei ihm in den tieferen Regionen nur für mehr Verzückung sorgte. Dann schob sie die Hand unter ihr Kinn, drückte dieses hoch, sodass sich der Mund schloss und zwinkerte ihm zu, während sie sich Dschirmal zuwandte. Ihre breitkrempige Kopfbedeckung legte sie neben die von dem Bärbeißer auf den Tresen.
Vostal blickte erst irritiert, dann erhob sich sein Verstand wieder nach oben in seine angestammten Gefilde und es machte klick. Rasch schloss er seinen sperrangelweit geöffneten Mund.
Heilige Scheiße, er sah für diese Frau aus, wie ein sabbernder Idiot. Erst da entdeckte er, dass ihm Speichel aus dem Mundwinkel lief und er bemerkte, wie Hitze in seine Wangen schoss. Schnell hob er den Limser an seine Lippen und trank einen großen Schluck. Unmittelbar nahm dieser die in ihm herrschende Wärme auf, als die Flüssigkeit seinen Rachen hinunterlief und er fühlte sich flugs besser.
Er wusste nicht, was mit ihm los war. Sonst immer der coole Typ, der es mit jedem aufnahm, wurde er beim Anblick dieser Frau zum sabbernden Idioten und das gefiel ihm, wie er sich selbst eingestand. Das hatte bis jetzt keiner geschafft und er war neugierig auf sie. Er wollte sie kennenlernen, doch zunächst trank er erneut einen Schluck, während er mit den Augen die eleganten Linien der Rundungen ihrer Kehrseite nachzeichnete.
Der Bärbeißer verschwand mit Dschirmal durch eine Tür hinter dem Tresen und ließ den Engel mit den kobaltblauen Haaren so für ihn zurück. Vostal konnte sein Glück gar nicht fassen.
Wahrscheinlich hatten die beiden Männer geschäftlich im Hinterzimmer etwas zu besprechen. Es tauchten hier öfter mal Leute vom Bergungsgeschäft auf, die sich Tipps vom Wirt erhofften. Die Barleute waren in der Stadt gut vernetzt und handelten gerne mit den Informationen, die sie erhielten. Das lockte frische Klientel in die Bars und das sorgte wiederum für neue Informationen, die man verkaufen konnte. Ein nettes Nebeneinkommen.
Zunächst einen letzten Schluck, dann war sein Kühles leider schon wieder geleert. Hach, diese genussvollen Momente waren immer zu kurz. Aber er hatte ja jetzt einen Augenschmaus vor sich. Er musste aufpassen, seinen Speichel bei sich zu behalten. Also Rücken aufrichten, Schultern nach außen und ein lässiges Lächeln ins Gesicht zaubern. Das hat bisher nahezu überall geklappt.
Er stand auf, um sich neben die unbekannte Schönheit zu setzen. Plante, mit einer eleganten Bewegung zwei Getränke für sie und sich selbst bei Caloja zu bestellen, um dann ein ungezwungenes Gespräch anzufangen.
Ein Plan, der sogleich von der Realität auf den Boden der Tatsachen gezwungen wurde.
Die Eingangstür vom KLAMAS öffnete sich wieder und es kamen lautstark neue Gäste herein. Dazu ein Geruch, der noch einmal deutlich zu dem anzog, was sonst die Straßen so hergaben. Sogar Caloja verzog missbilligend die Nase und sie war hier einiges gewohnt. Es gab immer wieder Menschen, die den Herstellerangaben nach der Dauer der Wirkung von Deos blindlings vertrauten.
‘Oh nein’, stöhnte Vostal innerlich. Das Sumpfungeheuer hatte ausgedient und die drei Typen von vorhin schienen nicht das bekommen zu haben, was sie wollten. Für zufrieden und mit sich selbst im Reinen gaben sie zumindest kein Lehrbuchbeispiel ab. Eher das Gegenteil war hier der Fall. So aus der Nähe betrachtete man Gesichter, die zur Faust geballt waren. Vostal titulierte die Visagen für sich nach Fleischfresse, Schönlingsfresse und Dummfresse. Jupp, so passte es, stellte er selbstzufrieden fest.
Der Schönling hatte seine Kopfbedeckung abgenommen und eine wahre Pracht aus blonden Locken quoll hervor, die damit einen starken Kontrast zu seiner doch recht dunklen Hautfarbe darstellten. Er stand in der Mitte und schien der Anführer der drei zu sein. Während er sich puderte, erledigten die anderen beiden die Drecksarbeit. Zumindest sahen die Gesichter so aus, dass es da in der Vergangenheit mal heftiger zugegangen war.
Schönlingsfresse orderte bei Caloja etwas, das diese reserviert lächelnd entgegennahm und machte sich an die Arbeit. Während sie hinter dem Tresen hantierte, gruppierten sich die Männer um den Engel herum, die sie einfach ignorierte.
„Hey, Kleine. Du kannst doch bestimmt die nette Gesellschaft von drei Herren vertragen?“
Zu Vostals Überraschung klang die Stimme des Schönlings überaus kultiviert. Er war gespannt, wie die junge Frau reagieren würde. Doch sie pflegte die, um sie Herumstehenden, zu ignorieren und nippte weiter an ihrem Getränk, das sie zwischenzeitlich von Caloja erhalten hatte. Ein cremefarbener Likör, durch den goldene Schlieren schwebten.
„Oh, eine Schüchterne. Die sind uns fast am liebsten. Denen kann man einiges beibringen, oder, Jungs?“
Diese lachten in Vostals Ohren dreckig und viel zu süffisant für seinen Geschmack. Allein die Vorstellung, sein Engel könnte mit diesen schmierigen Typen intim werden, trieb bei ihm den Blutdruck hoch. Als dann der Schönling seine feiste Hand auf ihren Rücken legte, setzte es bei ihm buchstäblich aus. Der Instinkt übernahm die Regierungsgeschäfte, befahl dem Körper aufzustehen und seinem Mund zu sagen: „Hey Süßer. Meinst du nicht, du könntest deinen Hintern mal einem richtigen Mann hinhalten? Das ist ja schon fast peinlich, wie du dich abmühst.“
Wie auf Kommando drehten sich alle drei Köpfe in seine Richtung. Bei Fleischfresse zogen sich die Brauen zusammen und die tief liegenden Augen fingen an zu funkeln. Er ballte die Fäuste. Diese schienen sich zu freuen, dass die Arbeit rief.
Das gleiche Spiel lief synchron bei Dummfresse ab. Nur von einem dümmlichen Gesichtsausdruck begleitet, der schon fast ins Komische abdriftete und seinem ihm zugedachten Namen alle Ehre bereitete.
Lediglich Schönlingsfresse hatte die blonden Augenbrauen und Mundwinkel amüsiert hochgezogen, als er ihn taxierte. Die Stimmung, die sich zwischen Vostal und den Männern aufgebaut hatte, war mit einem Messer in Blöcke schneidbar. Dicke Testosteron angereicherte Luft im handlichen Würfel. Direkt mit einem Spender versehen, für den täglichen Gebrauch. Eine Marktlücke.
„Der Vorschlag hat etwas für sich“, erwiderte der Schönling und sah sich dann gespielt suchend um, „nur finde ich hier keinen echten Mann. Oder seht ihr einen, Jungs?“
„Nein!“, bestätigte Dummfresse platt.
„Nichts zu sehen!“, haute dann Fleischfresse in die gleiche Kerbe. Schon fast entschuldigend hob Schönlingsfresse die Schultern.
„Geh zu Mami an die Zitze und überlass uns hier das Spielfeld. Du hattest für heute genug Spaß, Kleiner.“
Schon legte er seine Hand wieder auf den Rücken von der jungen Frau, die ihn weiterhin gepflegt ignorierte. Es war für Vostal nicht erkennbar, ob sie es mochte oder nur abgekocht war.
Es war jetzt eindeutig die Zeit, den Schwanz einzuziehen. Er hatte seinen Standpunkt klar formuliert und Fleischfresse behielt ihn im Auge, während sein Boss auf den Engel einsprach.
Doch er war nie bekannt dafür gewesen, das Vernünftige zu tun. Nicht umsonst erhielt man mit 38 Jahren schon eine Pension der Taunrak-Navy. Ehrenhafter Dienst schied da naturgemäß aus.
„Zu schade, aber ich glaube, dein Hintern wäre schlicht nicht gut genug für mich. Zu viel Verkehr. Auf alten Trägern soll man zwar gut fliegen lernen, aber dieser hier ist mir dann doch zu runzelig.“
Der Schönling gab Fleischfresse einen Wink und ein breites Grinsen stahl sich auf dessen Gesicht. Mit einem satten Klatschen rammten seine Fäuste aufeinander, nur um sie danach auszuschütteln.
„Jetzt sag nicht, du willst eine Trainingsrunde um den Block machen, bis du so weit bist“, rief Vostal dem Schläger entgegen, der sich langsam auf ihn zubewegte.
„Du redest eindeutig zu viel. Hat dir das schon einmal jemand gesagt?“, grummelte sein Gegner und hob jetzt die Fäuste wie ein Boxer vor sein Gesicht. Wobei, so wie dieses sich verschönert darstellte, war der Gedanke nach seinem Beruf gar nicht so abwegig.
„Höre ich andauernd!“
Ein schneller Blick zu Caloja bestätigte ihn in seiner Annahme, dass er ohne weitere Hilfe auskommen musste. Sie zuckte nur mit den Schultern und teilte ihm damit mit, dass er seine große Klappe selbst zu verteidigen hatte. Fein, er war bereit für Runde eins.
„Dann mach dich schon einmal darauf gefasst, zukünftig Gespräche ohne die hübschen Zähne zu führen!“
Mitten im Satz hatte sein Gegner ein paar Schritte auf ihn zugemacht und ließ die rechte Faust blitzschnell nach vorn schnellen. Doch damit hatte Vostal gerechnet und wich mit einer tänzelnden Bewegung zur Seite aus. Fleischfresse grunzte und setzte mit dem anderen Arm nach. Er war geschwinder, als er aussah. Zum Glück befand sich rings herum genug Platz, da sie auf der Tanzfläche des KLAMAS standen. Und was für ein Tänzchen hier aufgeführt wurde.
Nur mit Mühe gelang es Vostal diesmal dem Schlag auszuweichen, der gar nicht seinen Kopf, sondern seinen rechten Oberarm anvisiert hatte. Gezielte Treffer auf die Muskeln, um diese schnell zu ermüden und so Schwachstellen bei den kritischen Stellen zu eröffnen. Das Spiel kannte er zur Genüge und konnte es mitspielen. Daher wirbelte er mit einer halben Drehung weiter, als zum Ausweichen unbedingt notwendig und erzielte einen heftigen Schlag auf die seitliche Bauchmuskulatur seines Angreifers. Dieser grunzte auf und setzte seinen Angriffsversuch unbeeindruckt fort. Himmel, unter diesem Wabbelberg verbargen sich ja Muskeln. Er musste ernsthaft zusehen, nicht getroffen zu werden.
Erneut gelang es ihm, einem Schlag auszuweichen. Doch den geschickt geführten Schwinger auf sein Kinn, musste er mit seinem Unterarm abwehren, was dafür sorgte, dass erste Schmerzwellen durch seinen Körper jagten.
„Hör auf, mit dem Bengel zu spielen. Die Süße hier hat noch etwas vor mit uns“, hörte Vostal den Schönling rufen. Er hatte jetzt von seiner aktuellen Position einen guten Blick auf das Profil von ihrem Gesicht, das unglaublich gelangweilt aussah.
Dieser kurze Augenblick an Unaufmerksamkeit reichte Fleischfresse, um seine rechte Faust auf seinem Brustkorb zu drapieren. Die Luft wich aus Vostals Lungen und er taumelte zwei Schritte nach hinten.
‘Das schöne Geschlecht wird einmal dein Untergang sein’, dachte er verärgert zu sich selbst. Seine Lunge füllte sich pfeifend mit Luft und er hustete. Das sollte er definitiv nicht erneut probieren.
„Konzentration!“, murmelte er mantraartig und riss die Arme hoch. Es wurde Zeit, seine Skills aus Navy-Tagen auszupacken.
Unter dem nächsten Schwinger duckte er sich hinweg und rammte dafür seine Faust in die Magengegend von Fleischfresse. Wieder war nur ein Grunzen zu vernehmen. Doch davon ließ sich Vostal nicht mehr aufhalten. Schlag auf Schlag landete er bei seinem Widersacher, der jetzt seinerseits in die Defensive geriet, die Arme hochnahm, um die Treffer abzuwehren.
Mit einer Finte lockte er seinen Gegner. Bewusst senkte er die Deckung vom rechten Arm und simulierte so merkliche Volltreffer, die seine Muskeln ermüdeten. Fleischfresse witterte seine Chance, wagte einen Ausfall und wurde mit einem äußerst schmerzhaften Schlag auf die Nase belohnt, der ihn aufjaulen ließ. Es krachte und sie gab unter Vostals Faust nach. Blut spritzte daraus hervor und dekorierte das Gesicht und seine Kleidung neu. Nicht, dass dies bei den Dutzenden vorhandenen Flecken auffallen würde. Er wollte nachsetzen, da wurden seine Arme von hinten gepackt und von einer Schraubzwinge festgehalten. Dummfresse mischte sich ein.
Vostal schalt sich einen Idioten. Sein alter Colonel würde laut lachen, da er seine zwei weiteren Gegner, die sich bis jetzt passiv verhalten haben, aus den Augen verloren hatte. Er war doch etwas aus der Übung. Fleischfresse rotzte Blut auf den Boden uns grinste feist, was ihm ein diabolisches Grinsen verlieh. Wobei Vostal fand, dass ihn die dunkelroten Fäden, die aus seiner Nase über die wulstigen Lippen liefen, durchaus verschönerten.
Ihm blieb keine Zeit mehr darüber nachzudenken. Sein Gegner holte weit aus und es war klar, dass er nicht einen high five im Sinn hatte. Die Arme, die ihn festhielten, waren unerbittlich, sosehr er an ihnen rüttelte.
Der schwere Schlag in seine Magengrube ließ eine gigantische Schmerzwelle durch seine Nervenbahnen rasen, sorgte jedoch dafür, dass er mit einem Ruck wie ein Klappmesser nach vorn kippte und so aus dem Klammergriff von Dummfresse gelangte. Was ihm aber für den Moment nicht weiterhalf, da er keuchend und vor Schmerzen winselnd auf dem Boden lag und sich zusätzlich einen Fußtritt auf die Schulter einfing.
Den nächsten Tritt sah Vostal aus den Augenwinkeln kommen. Er bekam das ankommende Bein von Dummfresse, trotz seiner schwitzigen Hände, zu fassen und nutzte diesen als Hebel, um herumzuwirbeln und Fleischfresse mit einem gekonnten Kick in die Ferse von den Füßen zu holen. Es klatschte wieder, nur keinen Beifall. Dafür machte der Hinterkopf des von den Beinen geholten, Bekanntschaft mit der Materialfestigkeit des Bodens. Das braun-weiß marmorierte Plastmetal gewann das ungewollte Duell und sein Gegner stöhnte seinen Schmerz hinaus.
Vostal hatte keine Zeit dieser Musik oder der im Hintergrund dröhnenden zu lauschen, sondern umklammerte weiterhin das Bein von Dummfresse, der verzweifelt strampelnd versuchte sich zu befreien und das Gleichgewicht zu bewahren. Den Gefallen tat er ihm nicht. Stattdessen zog er sich an der schmierigen Hose hoch und rammte ihm die andere zur Faust geballte Hand in die Kronjuwelen. Es gab ein schmatzendes Geräusch und jegliche Spannung fiel aus dem Körper, an dem er sich noch immer festhielt. Gemeinsam rauschten sie zu Boden und lagen jetzt zu dritt da.
Scheiße, schmerzte ihm der Bauch, als ob dieser eine einzige Wundfläche wäre, an dem ein riesengroßes Pflaster von der sadistischen Krankenschwester abgezogen wurde. Da merkte man erst einmal, wo überhaupt Muskeln überall saßen. Vor allem, wenn diese dem Rest des Körpers dabei helfen sollten, wieder auf die Beine zu kommen. Erneut machte er nicht den gleichen Fehler, seine Gegner zu unterschätzen und hatte den Schönling am Rand mit im Auge behalten. Mit sichtlichem Widerwillen hatte dieser vom Engel Abstand genommen, da seine Kumpels, die sonst die Drecksarbeit für ihn übernahmen, wimmernd am Boden lagen.
„Täusche ich mich, oder bilden die beiden gerade die Backgroundladys für den schmissigen Song? Möchtest du in gleicher Tonlage mitsingen?“
Verdammt, er sollte mal lernen, die Schnauze zu halten. Schönlingsfresse schien der Humor abhandengekommen zu sein. Zumindest, wenn man die doch arg gequetschte Falte zwischen den zornig funkelnden grünen Augen so betrachtete. Die Mundwinkel leisteten inzwischen mindestens den Knien Gesellschaft.
Dass er den Bogen überspannt hatte, merkte er spätestens, als der Typ den Magnetsaum seiner schwarzen Jacke weiter öffnete. Neben einem strahlend weißen Shirt, konnte er das Antlitz eines Waffenkolbens in seinem Holster betrachten. Silbern glitzernd wie die Unschuld an sich und dank des kleinen Magazins an Energiepatronen nicht oft einsetzbar, aber auch so mit nur einem Schuss absolut tödlich. Der Partikelstrahl würde ein formidables Loch in seinen Schädel brennen, sodass man dadurch in aller Ruhe die Landschaft auf der anderen Seite betrachten konnte. Nichts, worauf er unbedingt erpicht war. Er mochte seinen Kopf mit den auffällig violettfarbenen Haaren, in einem Stück.
„Oh, eine Besetta B4?“, fragte Vostal geradeaus und brachte den Schönling damit zum Innehalten. Zumindest stockte die fließende Bewegung, mit der er die Waffe auf ihn richtete und betrachtete sie stattdessen seitlich.
„Das ist richtig. Ich will gar nicht wissen, woher du dieses seltene Modell kennst. Aber umso besser. Dann wirst du dir ja bewusst sein, welche Schönheit dich jetzt zu deinen Vorfahren schickt.“
„Jupp. Schönheiten waren schon immer mein Untergang“, erwiderte Vostal lapidar und erlaubte sich einen Blick auf die kobaltblauen Haare des Engels, die ihn nach wie vor faszinierten. Schönlingsfresse bemerkte, wohin seine Augen wanderten und lächelte spöttisch, während seine beiden Kumpanen aufstanden und sich neben ihn stellten. Wie er mit einer gewissen Genugtuung feststelle, stand Dummfresse leicht in der Mitte eingeknickt und auch Fleischfresse wirkte nicht so, als ob er geradeaus laufen würde.
Den Moment der Verzögerung hatte Vostal genutzt und seine Hand vorsichtig zu dem textilen Display auf seinem linken Unterarm geschoben. Sein Verstand beschäftigte sich verzweifelt mit einer Ausweich- oder Fluchtmöglichkeit. Während das Sprachzentrum wie immer dringenden Bedarf an einem weiteren synaptischen Feuerwerk anmeldete, um zumindest mit einem lässigen Vostal-Spruch abzutreten, hatten die archaischen Instinkte die Oberhand gewonnen und eine aberwitzige Idee ersonnen. Die Finger starteten wie von selbst eine Subroutine, die er mal aus Langeweile und Spielerei entworfen hatte. Nach Fertigstellung gab der Verstand dem Sprachzentrum wieder die Wege frei.
„Versuch es doch mal damit!“, forderte er todesmutig den Schönling auf und legte so viel Selbstsicherheit wie möglich in seine Stimme. Um Vostal herum baute sich ein flirrendes Feld auf, das sich nach kurzer Zeit stabilisierte und ihn sphärenförmig eng umschloss.
„Was soll das sein?“, erwiderte der Halter der Besetta B4, die er jetzt ungerührt auf ihn richtete, den Lauf auf seine Stirn zielend.
„Wonach sieht es denn aus? Ein mobiles Deflektorfeld. Es hat mich einige Nerven gekostet, es als Gratifikation zu meiner doch etwas vorzeitigen Pensionierung aus der Flotte zu erhalten. Daran wird der Partikelstrahl zerfasern und die wenigen Schüsse schaffen es nicht, das Feld zu knacken. Glaub mir. Im Einsatz oft genug ausgetestet, was ein solches Schutzfeld aushält. Da musst du schon mit mehr kommen.“ Da fing dieser Drecksack doch wiehernd an zu lachen. Ein Pferd wäre blass vor Neid geworden und seine beiden Kumpels setzten glatt mit ein. Fleischfresse zeigte auf einen Punkt an der Hüfte von Vostal und lachte noch lauter.
Irritiert sah er an den Ort, auf den der feingliedrige Finger deutete.
„Oh Scheiße“, entfuhr es ihm, als er sah, dass das Feld mit einer Tischkante sich überlappte. Bei einem echten Deflektorfeld wären jetzt stinkende Rauchwolken aufgestiegen, die davon gekündet hätten, dass das Schutzfeld die molekulare Struktur des Tisches auflöste. Doch hier schmiegte sich dieses darum herum. Er war buchstäblich einen Schritt zu weit gegangen. Kalte Schauer der Furcht liefen seinen Rücken herunter und schnürten ihm die Luft ab.
„Nettes Hologramm, Fliegerass. Ist doch eine Fliegerhose, die du da trägst? Auch die Mütze auf dem Tresen sieht so aus. Wirklich guter Versuch, aber ich schätze, du bist an dir selbst gescheitert.“
Schönlingsfresse hob die Waffe, nachdem er sie hatte sinken lassen. Zuvor war er davon ausgegangen, es mit einem echten Deflektorfeld zu tun zu haben. Da war es nicht klug Partikelstrahlen abzufeuern, sofern man nicht durch vom Schutzschirm zerstreute hochenergetische Partikel getroffen werden wollte. Zumindest dann, wenn man keinen eigenen Deflektor besaß.
„Immerhin sehe ich selbst mit einem Loch im Kopf besser aus, als ihr drei Jammergestalten zusammen.“
Vostal dankte seinem Schöpfer, dass er ihn wenigstens mit einem coolen Spruch auf den Lippen hat abtreten lassen und machte Frieden mit sich selbst. Sein Leben war kurz, aber ausgesprochen ereignisreich. Wobei das jemand schon bedauern konnte. Seine Eltern zum Beispiel. Da hatten sie ihn sechzehn Jahre lang vom kleinen Hosenscheißer aus groß gezogen. Tonnen von Essen in ihn reingestopft, ungezählte Nächte mit Sorgen verbracht und Tausende von Keks in ihn investiert, nur damit er vorzeitig die Eisheiligen traf. Eine sinnlose Investition und da er ihr einziges Kind war, gab es keinen zweiten oder dritten Versuch.
Der Moment zog sich hin und Schönlingsfresse war dabei, den Finger zu krümmen, als eine recht hohe, samtige Stimme den Raum ausfüllte und mühelos die im Hintergrund dudelnde Musik übertönte. Sie kam vom Tresen. Sein Engel sprach und eilte zu seiner Rettung. Oder was man so als Rettung definierte.
„Aber, aber Jungs. Ihr wollt doch keine Sauerei vor einer Dame hier veranstalten. Dieser Jammerlappen von Mann ist es nicht wert, sich die Hände schmutzig zu machen.“
Wie aufs Kommando drehten sich alle zu der blauhaarigen Frau um, die sich jetzt ihnen zuwandte. Hatte er da gerade richtig gehört? Jammerlappen von Mann? Aus ihrem Mund? Wofür hatte er sich denn bitte mit den zwei Schlägern gekloppt, um sie vor ihr fernzuhalten?
Vostal stöhnte innerlich auf. Das Leben fickte ihn mal wieder, doch es meinte, da geht noch ein wenig mehr. Gedankenverloren verfolgte er ihre weiteren Handlungen und desaktivierte das nutzlose Hologramm um ihn herum, das ein Schutzfeld vorgetäuscht hatte.
Mit wenigen Worten hatte sie die Aufmerksamkeit sämtlicher männlicher Anwesender auf sich gelenkt. Sie sprang in einer eleganten Bewegung von dem Barhocker, auf dem sie bis soeben so stoisch gesessen und alles um sich herum ignoriert hatte. Spöttisch sah sie zu Vostal rüber, nur um dann die drei Anderen anzusehen, als wären sie die Offenbarung für das weibliche Geschlecht und sie hatte es bisher nur versäumt, ihnen die gebührliche Anerkennung zu geben. Die blutroten Lippen bildeten einen Schmollmund, während sie mit ihren nachtblauen Augen die Drei anstrahlte.
„Kommt. Zeigen wir dem Jüngelchen doch einmal, was nur richtigen Männern zusteht.“
Schon als sie sprach, öffnete ihre linke Hand die oberen Verschlüsse ihres kakifarbenen Oberteils, derweil die andere sich lasziv an den Hals des Schönlings schmiegte und mit seinen blonden Locken spielte. Mit einer gekonnten Bewegung drückte sie ihr Kreuz durch, sodass sich der Magnetsaum aufdrückte und zur Seite glitt. Milchfarbene, samtige Haut wurde bis zum Bauchnabel sichtbar und ihre wohlgeformten Brüste sorgten selbst für den nötigen Freiraum. Strahlten den Männern regelrecht blendend entgegen und verknoteten ihnen die Gehirnmasse.
Da ihre Oberweite den Öffnungsprozess eigenständig vornahm, war die linke Hand wieder frei und diese setzte die junge Frau ungeniert an die Hose von Schönlingsfresse.
Vostal sog heftig die Luft und biss sich auf die Lippe. Ein Schmerz, der nicht genügte, um das Gefühl der Enttäuschung nur annähernd zu dämpfen, das ihn wie ein Tsunami durchwogte.
„Na, das fühlt sich doch nach einem richtigen Mann an. Wollen wir nicht mal schauen, ob das echt ist, was du mir da versprichst?“, schnurrte sie regelrecht und riss erschrocken die Augen auf.
Mit einer geschickten Bewegung öffnete sie den Hosenschlitz und holte sein bestes Stück an die frische Luft. Aus Vostals Blickwinkel sah das bei Weitem nicht so beeindruckend aus, wie die Worte des Engels zuvor glaubhaft machten. Er musste aufpassen, dass er sich nicht gleich übergab. Die drei Männer schienen das naturgemäß anders zu sehen. Dumm- und Fleischfresse grinsten schmierig. Denen fielen fast die Augen raus bei dem, was ihnen geboten wurde und Schönlingsfresse gurrte, wie eine kaladoshanische Landtaube, was er ihm nicht verdenken konnte, so wie die Hand vom Engel sich eindeutig hin und her bewegte.
‘Sie wird doch nicht?’, dachte Vostal entsetzt, als sie sich auf die Knie begab und die vollen Lippen mit ihrer Zunge befeuchtete. Nur am Rand bekam er mit, dass ihre andere Hand, die nicht das beste Stück vom Schönling hielt, an eine ihrer Taschen nestelte und etwas Kleines, chromfarbig schimmerndes, hervor beförderte.
Im nächsten Moment stand sie auf, schüttelte kurz den Kopf, sodass der kobaltblaue Zopf von ihrer Schulter auf den Rücken rutschte. Beim Aufstehen schloss sie den Magnetsaum, sodass ihre prächtigen Brüste sich wieder züchtig hinter dem groben Stoff versteckten. Die Gesichtszüge änderten sich auf Knopfdruck von lüstern zu einer unbeweglichen Maske aus Eis.
Schönlingsfresse stand noch immer, mit geschlossenen Augen und ausgestrecktem Schwanz, der derzeit eher als Garderobenständer fungierte und bekam von dem Rückzug nichts mit. Seine Kumpanen hingegen schauten irritiert. Einerseits weil der Himmel auf Erden die Pforte schloss, andererseits da ihr Boss jetzt wie ein Idiot aussah.
Vostal grinste und steigerte sich in ein leises Lachen, da er nur mühsam unterdrückte, als der Engel trocken sagte: „Du kannst den Kümmerling wieder einpacken und dich mit deinen sabbernden Begleitern aus dieser Stadt verpissen. Die Show ist vorbei.“
Jetzt endlich öffnete Schönlingsfresse irritiert die Augen und sah, dass das Paradies geschlossen hatte. Nicht nur seine Männlichkeit fing an zu zittern, als die Wut in ihm hochkochte. Vostal bereitete sich vor, ungeachtet seiner vorhandenen Schmerzen, erneut einzugreifen. Das erwies sich als unnötig. Der Engel hob den linken Unterarm und wies mit einer lässigen Kopfbewegung auf ihr textiles Display.
„Wenn du das nächste Mal pissen gehst und deinen Verstand in den Händen hältst, wird dir eine kleine Verschönerung auffallen, die ich angebracht habe. Du kannst dich stolz fühlen. Dein Schwanz ziert jetzt ein Prüfling!“, verkündete sie mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen.
So schnell wie der Schrumpfkurs einsetzte, lachte Vostal erneut auf. Irritiert hantierte der Schönling an seinem Gemächt herum und fand auf der Unterseite am Schaft ein kleines Plättchen.
„Was hast du mir angetan?“, kreischte Schönlingsfresse entsetzt.
Der Engel zog die Augenbraue hoch und erwiderte in einem leicht gereizten Tonfall: „Ich habe dir einen Gefallen getan und dich mit einem Prüfling verschönert. Ehrlich. Das ist eine echte Verbesserung zu vorher. Vertrau dem Profi.“
„Prüfling?“, echote der Mann irritiert und blickte wieder auf sein bestes Stück, das sich scheinbar am liebsten in seinem Inneren verkriechen würde.
„Ist ein nettes kleines Helferlein für Fusis. Fusionsingenieure, falls dir der Begriff nichts sagt. Dieses winzige Plättchen kann man überall anbringen, da sie selbsthaftend sind und dann schickt es kurze Prüfströme aus, um die Umgebung zu analysieren und das Ergebnis an den Fusi zu schicken. Prüflinge halt.“
Sie zuckte mit den Schultern, lehnte sich an den Tresen zurück, sodass ihr Oberteil schon wieder arg spannte. Doch die Magnetsäume hielten.
„Und damit dein Spatzenhirn es versteht“, fuhr sie nachdrücklich fort, „diese Prüflinge müssen teilweise durch dichte Schichten von Isoliermaterial ihre Signale senden. Entsprechend leistungsfähig sind sie. Auf jeder Packung ist daher ein fetter Warnhinweis angebracht, diese nicht in den Händen zu halten, wenn sie aktiviert werden. Gab da mal so unschöne Unfälle. Schwarz rote Brandblasen waren da noch die netteste Auswirkung.“
Bei den Worten Unfälle und vor allem Brandblase zuckte Schönlingsfresse jedes Mal in der Mitte zusammen. Den aufgerissenen Augen und den flatternden Lidern nach, gaukelte sein Verstand ihm vor, wie die Verschönerung live und in Farbe aussehen würde. Danach sah er immer wieder im Wechsel gequält zu seinem Penis und dann voller Wut zu dem Engel.
„DUUU …“, fing er an zu brüllen, wurde jedoch kurzerhand durch die junge Frau unterbrochen. Mit einer Stimme, die auf den Gefrierpunkt abgekühlt wurde und dabei charmant den eisigen Gesichtszügen glich, sagte sie: „Du meinst, die sexy Dame ist so nett zu dir, dass sie den Prüfling nicht gleich zündet und aus dem bevorzugten Aufenthaltsort von deinem Verstand ein Barbecue Steak macht? Stattdessen gibt sie dir die Chance, mit deiner bemitleidenswerten Begleitung, die sich sogar von so einem Halbstarken verprügeln lässt, aus der Stadt zu verschwinden. Ich sage dir was. Ich habe bis zum Abend Geschäftliches zu erledigen und werde dann aus Spaß mal einen Prüfimpuls abgeben. Die Reichweite deckt das gesamte Stadtgebiet ab. Kommt kein Impuls, wird sich der Prüfling nach 24 Stunden automatisch selbst desaktivieren. So lange würde ich nicht versuchen, es zu lösen. So von wegen eingebaute Sicherung. Warnhinweis auf der Verpackung. Du verstehst? Und jetzt mach das du wegkommst und nicht weiterhin eine Beleidigung für meine Sinne darstellst.“
Fleischfresse, Dummfresse und Schönlingsfresse sahen im ersten Moment nicht so aus, als ob sie auf den wirklich gut gemeinten Rat hören wollten. Ein weiterer Blick auf seinen Penis und dann auf die über dem textilen Display schwebende Hand belehrte ihn eines Besseren. Mit einem Schnaufen stopfte er sich sein Gemächt in die Hose zurück und schloss diese. Mit einer Geste seines Kopfes sammelte er sein Gefolge und marschierte mit eiligen Schritten in Richtung Ausgang. Dort angekommen, verharrte er kurz, während die anderen beiden weitergingen. Erst nach einigen Metern merkten diese, dass ihr Anführer nicht bei ihnen war, und drehten sich verwundert um.
Zunächst leise, dann immer lauter lachte Schönlingsfresse und Vostal fragte sich, ob jetzt endgültig die letzten Sicherungen durchgeknallt waren, so hysterisch klang das. Doch der Mann in der Tür wurde übergangslos ernst. Mit gefährlich ruhiger Stimme sagte er: „Wir werden uns eines Tages wiedersehen und dann werdet ihr sterben. Langsam. Qualvoll. Und ich werde es genießen.“
Vostal hatte sich in der Zwischenzeit neben den Engel an den Tresen gestellt und wollte schon etwas erwidern, doch sie kam ihm erneut zuvor.
„Wenn du nicht möchtest, dass dein Kopf so schrumpelig wie der Schwanz aussieht, würde ich die Mitnahme der Kopfbedeckung empfehlen. Wir wollen nicht riskieren, dass die winzige graue Masse, über die du verfügst, von Verstersü ausgetrocknet wird.“
Mit den letzten Worten nahm sie die drei auf dem Tresen liegenden Mützen und warf sie ihm vor die Füße. Der Geduldsfaden von Schönlingsfresse war damit eindeutig Geschichte und das Kurzzeitgedächtnis schien den Anschluss an den Rest des Verstandes verloren zu haben. Er brüllte auf und stürmte auf sie zu.
Als sie sich davon unbeeindruckt wieder auf den Barhocker hinsetzte, berührte ein Finger wie zufällig ihr Textildisplay.
Die Wirkung war erschreckend.
Ihr Angreifer verharrte mitten in der Bewegung. Dann krümmte er sich zusammen und ihm entfuhr ein lang gezogenes, verzerrtes Stöhnen. Die Hände auf den Schritt gelegt, war er kurz davor umzukippen.
Vostal knickte bei dem Anblick des Schönlings fast in der Mitte mit ein. Halleluja. Das mussten Schmerzen vom Feinsten sein. Schon nahezu preisverdächtig.
Wie um seine Gedanken zu bestätigen, sagte sie im nüchternen Tonfall: „Das war jetzt eine Einstellung im unteren Drittel. Glaub mir, dass ich die Stärken einzuschätzen vermag. Die Prüflinge sind nette Stimulanzien an den Brustwarzen, wenn du verstehst, was ich meine.“ Sie rieb kurz mit den Handflächen an den Stellen über ihre Brüste, an denen sich sanfte Ausbuchtungen zeigten, bevor sie diese wieder um ihr halb geleertes Getränk legte.
Vostal verfolgte aufmerksam, wie die zwei Gefolgsleute fluchend ihren Anführer und die drei Mützen vom Boden auflasen und anschließend das KLAMAS durch die sich automatisch öffnende Tür verließen.
Der hereinschwappende Straßenlärm verebbte. Dafür wurde die Hintergrundmusik wieder deutlicher hörbar. Der Sänger besang fröhlich eine lange zurückliegende Zeit und hielt sich von der Lautstärke, im Vergleich zu den vorherigen Songs, merklich zurück.
Trotz seiner Schmerzen in den Oberarm- und Bauchmuskeln versuchte er, sich aufrecht hinzustellen. Das lässige Lächeln bekam er nicht hin und beschloss, es sein zu lassen.
Ächzend ließ er sich auf den Hocker neben den Engel fallen und orderte bei Caloja, die sich während des gesamten Schauspiels dezent im Hintergrund gehalten hatte, einen weiteren Limser für sich. Ein Kühles war jetzt genau das Richtige für ihn. Der Schweiß lief ihm literweise runter, verteilte sich überall auf seinem Körper und tränkte die Kleidung. Schon lange hatte er nicht mehr eine Dusche so herbeigesehnt wie im Moment. Am liebsten in Gesellschaft.
„Wie, kein Dank? Kein Getränk für mich auf deine Kosten? Kein Beginn eines aufgezwungenen Gesprächs?“, erkundigte sich der Engel nach einer gewissen Zeit und sah ihn von der Seite an. Ihm fiel erst jetzt auf, dass die Augenbrauen äußerst gepflegt aussahen und die Lider im gleichen Farbton wie die Iris geschminkt waren. Das verstärkte die Tiefenwirkung erheblich und ließ ihre Augen geheimnisvoller wirken.
Er schüttelte müde den Kopf und trank einen Schluck, um sich die Kehle zu befeuchten, bevor er sagte: „Eigentlich wollte ich dir den hübschen Hintern retten, um diesen dann als Belohnung in den Händen halten.“ Er beugte sich zurück und warf einen schnellen Blick auf ihren verlängerten Rücken.
„Doch, hätte sich definitiv gelohnt. Es kann ja keiner ahnen, dass du deine Waffen so gekonnt einzusetzen weißt. Die im Übrigen beeindruckend sind!“ Er zuckte entschuldigen mit den Schultern und setzte ein schiefes Grinsen auf. Sie lachte leise auf, angesichts der Zweideutigkeiten und schüttelte sanft den Kopf. Das war das erste Mal, dass er sie Lachen hörte und er mochte es, wie sie dabei die Oberlippe hochzog und die Augen kurz aufleuchteten.
Plötzlich stand sie auf und ging mit tänzelnden Schritten an das Ende des Tresens. Mit Interesse sah er ihr hinterher. Sie schnappte sich seine dort verweilende dunkelblaue Fliegermütze mit der langen Schirmkappe und kam wieder zurückgeschlendert. Mit einem breiten Lächeln setzte sie ihm diese auf den durchschwitzten Haarschopf und kam mit ihren Lippen seitlich an sein Ohr.
„Ich denke, ich sollte mich lieber bei dir bedanken. Schließlich wolltest du Held mich ja beschützen. Und mein Hintern lohnt sich definitiv. Danke, Vostal Henson!“, hauchte sie und biss ihm dann zärtlich ins Ohrläppchen. Ein wohliger Schauer durchströmte ihn und ließ in seiner Brust ein angenehm warmes Gefühl entstehen, bevor sich sein Verstand mit einer kurzen Anmerkung meldete.
„Woher kennst du meinen Namen?“, fragte er verwundert. Der Engel zog sich wieder zurück und sein Gefühlszentrum trat daraufhin dem rationalen Teil innerlich gewaltig in den Arsch.
Sie schmunzelte.
„Commander Vostal Henson. Wer kennt ihn nicht?“
Überrascht sah er sie an. „Ich bin nicht gerade in Ehre aus der Flotte ausgetreten, aber mir war nicht bewusst, dass meine Heldentat bis hierhin bekannt ist.“
„Ist sie nicht. Der Name steht, wie in der Raumflotte üblich, im Saum deiner Mütze, du Held!“
Er schlug die rechte Hand so laut gegen seine Stirn, dass es klatschte und lachte auf.
„Natürlich“, und fügte nach einem kurzen Schluck vom Limser hinzu, „du hast eine gute Auffassungsgabe. Wo muss ich denn nachsehen, um deinen Namen herauszufinden?“
„Zumindest nicht da, wo du es dir erhoffst“, erwiderte sie schmunzelnd.
„Auf dem Höschen wird er kaum stehen“, meinte Vostal lapidar.
„Welches Höschen?“
„Mein ich ja.“
„Na gut. Ich will mal nicht so sein.“ Der Engel griff sich in die Brusttasche und holte eine mattgrau glänzende Synthplakette hervor und heftete sie sich im oberen Brustbereich an. Auf schon etwas verwitterten, kupferfarbenen Lettern las Vostal: „LSI Melody Estevinia“.
„Oha“, entfuhr es ihm, „ich habe eine LSI vor mir. Das erklärt einiges.“
„So, so. Was denn genau?“
„Ich hatte schon mit ein paar leitenden Schiffsingenieuren während meiner Zeit bei der Navy zu tun. Entweder waren es Choleriker, halbe wahnsinnige oder komplett abgebrühte Genies. Ich bin gespannt, wer du davon bist.“
„Finde es heraus!“
Vostals Herz setzte kurz aus, bevor es sich dann doch entschloss, weiter zu pumpen. Nur wesentlich beschleunigter. Hatte er richtig gehört?
„Mach nicht gleich solch ein Gesicht, als ob ich dich heiraten wollen würde“, sagte sie schmunzelnd und knuffte ihn an die Schulter.
Er unterdrückte mühsam ein Aufstöhnen. Genau an der Stelle hatte ein Fuß von den Schlägern freundlich Hallo gesagt und einen Gruß in Form eines sich ausbreitenden Hämatoms hinterlassen.
Bevor er etwas erwidern konnte, wandte sie sich ihm zu und sprach weiter: „Ich halte auf dem Bergungsschiff TINY DRAGON die Maschinen in Schuss. Uns ist der Navigator flöten gegangen. Unschönen Sache. Aber so, wie ich das sehe, bist du ein ehemaliger Flottenpilot, der in Ungnade geraten ist. Und du siehst nicht aus, als ob du in Arbeit erstickst. Zudem gefallen mir die welligen violettfarbenen Haare und dein rechter Haken hervorragend. Außerdem war der Trick mit dem Deflektorfeld kreativ, auch wenn er etwas daneben gegangen ist. Ich kann mal mit Casper reden. Wir können immer gute Leute gebrauchen.“
Schauer liefen in Wellen durch seinen Körper. Von den Fußballen bis zur Kopfhaut, die sich kräuselte. Ließen ihn sich unbewusst schütteln. Hier bot sich eine riesige Chance für ihn.
Ein Jahr schon vegetierte er hier in Paradox-City vor sich hin. Er hatte zuerst gehofft, hier einen alten Kumpel zu treffen. Wie sich herausstellte, verpasste er ihn knapp. Tja, Kumpel weg, er so gut wie Pleite und keinen inneren Antrieb, sich wieder auf die Reise zu begeben. Schließlich musste er ja erst die Bars der Stadt kennenlernen und austesten, was sich so an persönlichen Begegnungen ergab. Aber nicht eine war bisher so vielversprechend wie die mit Melody.
Wenn er es korrekt verstanden hatte, bot sie ihm eine Aufgabe seinen Fähigkeiten entsprechend und ihren Hintern an. Hörte sich nach einer echten Gelegenheit für ihn an, die sich nicht oft im Leben aufmachten. Vor allem nicht bei ihm.
„Was für ein Seelenverkäufer ist denn die TINY DRAGON?“
Er fragte nur interessehalber. Entschieden hatte er sich schon längst, wobei in seinem Geiste zwei Leidenschaften miteinander kämpften. Einerseits hielt er die Hände zärtlich an den Kontrollen der Flugsteuerung und streichelte sanft die Sensorfelder, anderseits umfasste er Melodys hübsche Rundungen. Beides ließ ihn unbewusst wie einen Idioten grinsen.
Die LSI sah ihn ernst von der Seite an, doch Vostal konnte an ihren leuchtenden Augen erkennen, dass sie lachte.
„Wir sind ehrliche Bergungsleute und haben einen Vertrag mit der taunrakischen Administration. Wir sammeln überall den Weltraummüll ein, der nach Kämpfen oder ganzen Schlachten übrig geblieben ist. Die Szavi-Liga sorgt da in letzter Zeit für ordentlich Keks. Dazu werden im privaten Auftrag tätig und bergen, was manche Corporations so unterwegs verloren haben. Es ist genug zu tun, und nur damit das klar ist, du Held.“
Bei den letzten Worten beugte sie sich rüber und blickte ihm so kalt in die Augen, dass er sich an die Froststürme seiner Heimatwelt erinnerte.
„Die TINY DRAGON ist mein Schiff. Ich warte es. Ich sorge dafür, dass es fliegt und wenn du nur eine Delle oder Schramme beim Fliegen reinmachst, reiß’ ich dir so den Arsch auf, dass du als Lustobjekt genjarnischer Hengste deinen Lebensabend verdingen wirst.“
Vostal schluckte. Das war eindeutig. Vor seinem geistigen Auge schwebte ungewollt das gewaltige Gemächt besagten Hengstes und er schüttelte sich.
„Äh, kann es sein, dass ihr deswegen einen neuen Navigator benötigt?“, fragte er vorsichtig.
Melody zuckte unschuldig mit den Schultern, wobei ihr langer Zopf auf den Rücken rutschte. Mit einer ärgerlichen Bewegung holte sie ihn wieder hervor.
„Unter anderem. Außerdem hat er meinen Arsch angefasst und das hat ihm nicht so gefallen“, erwiderte sie und zeigte dabei lässig mit dem Daumen auf den großen bärbeißigen Mann, der zusammen mit Dschirmal aus der Tür hinter dem Tresen getreten kam. Vostal hatte gar nicht mitbekommen, wie diese sich geöffnet hatte, so sehr hing er an ihren sanft geschwungenen Lippen. Er fragte sich ernsthaft, ob sie nicht doch von Trualentis kam, da helle kristalline Haut mit einem Stich ins Blaue schon fast ein Markenzeichen der Bewohner seines Heimatplaneten war. Bei Gelegenheit sollte er sie das einmal fragen.
„Was hat mir nicht gefallen, Melody?“, dröhnte die Stimme von Casper durch das KLEMENS und ließ die Oberfläche des Limsers erzittern. Das komplette Gesicht des Kapitäns der TINY DRAGON schien ein einziger Wildwuchs an Bart zu sein und nur kleine, dunkelbraune Augen waren tief in den Augenhöhlen eingelagert, die ihn jetzt misstrauisch fixierten. Vostal ahnte, dass diese einige unerfreuliche Dinge gesehen hatten. Unwillkürlich richtete er sich gerader auf. So leicht ließ er sich nicht unterbuttern.
„So wie du aussiehst, Jüngelchen, hast du schon eine Runde hinter dich gebracht. Nimm dir nicht mehr vor, als du schaffst“, sagte Casper in aller Ruhe und sah sich um.
Im Hintergrund waren zwei tonnenförmige Reinigungsdrohnen dabei, die Sauerei wegzumachen, die die kleine Vorstellung zuvor geliefert hatte. Noch waren sie nicht fertig und es waren vereinzelte Blutspritzer und Spuren von reichlich Schweiß vorhanden.
„Würde mir mal einer erklären, was hier vorgefallen ist?“, ertönte jetzt die brummige Stimme von Dschirmal. Er hatte die Fäuste in die Hüfte gestemmt und sah sich um. „Welche von euch Jammergestalten hat sich hier wieder nicht beherrschen können? Du Vostal?“
Bevor er antworten konnte, grätschte Caloja verbal dazwischen.
„Nun mach mal halblang. Ihr braucht euch nicht so aufzuspielen. Im Hinterzimmer habt ihr doch durch die Überwachungssensoren alles genau mitbekommen. Statt Vostal hier gegen die miesen Typen zu helfen, habt ihr euch wahrscheinlich bei der Vorstellung einen runtergeholt.“
Jetzt sah Dschirmal perplex aus.
„Nicht doch, liebste Caloja. Wo denkst du hin? Wir waren immer bereit einzuschreiten, sahen aber, dass Vostal hier allein klarkam. Mit ein wenig Unterstützung!“, fügte er schnell hinzu, als er die fragend hochgezogenen Augenbrauen von Melody bemerkte.
„Okay überspringen wir mal das Geplänkel hier“, sagte jetzt Casper laut und wandte sich erneut Vostal zu.
„Du scheinst ein Mann zu sein, der Raumschiffe fliegt. Nicht jeder hat die Klamotten der Taunrak-Raumflotte dabei oder bekommt sie. Was hat dir unser Fusi schon verraten?“, fragte er gelangweilt. Vorstellungsgespräche schienen nicht so sein Fall zu sein. Beim Wort „Fusi“ war ein Hauch von Unwillen zu sehen, der über Melodys Gesicht huschte.
„Du meinst deinen LSI!“, erwiderte sie schnippisch und nippte danach weiter an ihrem Getränk.
„LSI, Fusi oder Leger. Mir egal. Hauptsache MEIN SCHIFF fliegt, ich muss nicht aussteigen und schieben oder benötige gar die Dienste der Konkurrenz.“
„Ach, fick dich doch“, raunte Melody und drehte sich beleidigt weg. Wobei Vostal fand, dass sie dabei wirklich süß aussah, so wie sie die fein gewölbten Nasenflügel vor Protest aufblähte. Wenn er ihr das sagen würde, da war er sich absolut sicher, würde das nicht auf Gegenliebe stoßen. Unwillkürlich musste er mit einem Schaudern wieder an einen genjarnischen Hengst denken. Nope. Das würde er tunlichst unterlassen.
„So, was ist? Muss ich dir jedes Wort einzeln herauslocken, Pilot? Meine Zeit ist begrenzt. Die TINY DRAGON hat einen Auftrag und die Keks locken.“
„Bisher weiß ich lediglich, dass ihr ein neues Besatzungsmitglied sucht, der euer Bergungsschiff fliegt.“
„Und? Kannst du?“
Ein schmales Lächeln umspielte Vostals Lippen. Jetzt lag es an, ihm zu zeigen, dass er nützlich war.
„Wie Ihr schon erkannt habt, bin ich ein Pilot und Navigator der Taunrak-Navy. Vor einem Jahr ausgeschieden im Rang eines Commanders. Geflogen habe ich alles vom Transportshuttle, über die leichten Schlachtkreuzer der Liberty-Klasse bis zum Sephir-Träger. Ich weiß nicht, wie oft ich quer durch die Republik und darüber hinaus gereist bin. Mein Flugzeitkonto dürfte, inklusive der Dilatationsrechnung, über das eurer Lebensalter hinausgehen.“
Ein wenig stolz in der Stimme hatte er dann doch nicht verhindern können. Wenn er es sich recht überlegte, war es schon eine gewisse Leistung, die er da hingelegt hatte. Nicht jeder Pilot in der Flotte konnte von sich behaupten, mit 37 Jahren einen Sephir-Träger geflogen zu sein. Dass dies aber bedeutete, mit 16 seine Familie zu verlassen und die Seele an die Raumflotte zu verkaufen, sahen die wenigsten.
„Das hört sich doch gar nicht schlecht an.“
Casper fuhr sich mit der rechten Hand, die von der Größe mehr an eine Bärenpranke erinnerte, durch den verfilzten Bart und tat so, als würde er nachdenken.
„Wie hast du es denn so mit Vorgesetzten?“
Das war eine Schwachstelle in seiner Vita. Das musste Vostal sich eingestehen und es gab nichts, wie er das hätte gut darstellen können. Dass er ihn direkt darauf ansprach, schien Casper genau zu wissen, warum er hier im Verstersü-System am Furunkel der Republik hockte, statt weiter die großen Spielzeuge der Taunrak-Raumflotte zu steuern.
„Ich vermute, sie wissen um den Umstand meiner Zwangspensionierung!“, sagte er daher nur lapidar und zuckte mit den Schultern.
„Man hört vereinzelt etwas. Es ging da um die Neudekoration von Admiralsuniformen oder so ähnlich.“
Vostal konnte sehen, wie sich jetzt Melody auf ihrem Barhocker umdrehte und ihn interessiert, fast herausfordernd, ansah. Ebenso drehten sich Dschirmal und Caloja zu ihm um. Die Geschichte kannten sie nur vom Hörensagen und waren gespannt jetzt die Variante von jemandem, der daran beteiligt war, zu hören.
Erneut zuckte er mit den Schultern, leerte seinen Limser mit einem Zug und versuchte sich die Lippen, mit dem vom Schweiß durchnässten Ärmel trocken zu wischen, was kläglich scheiterte.
„Die Uniformen von Flottenbefehlshabern sind aber auch wirklich hässlich“, erwiderte er lahm und sah dann ein, als er die erwartungsvoll angespannten Gesichter sah, dass schon ein paar Worte mehr nötig waren. Hier ging es um eine echte Chance für ihn und da half es nur, ehrlich zu sein.
„Okay. Onkel Vostal erzählt eine Gute-Nacht-Geschichte.“
Sprach er und fing an zu berichten. Erst stockend, dann immer flüssiger sprudelten die Worte aus ihm heraus. Es war, als ob ein Damm brach und er sich endlich einmal alles von der Seele sprechen konnte. Was hatte er schon zu verlieren, außer einem interessanten Job und seiner Traumfrau?
2. Auf Bewährung
4821 n.R.
Taunrak Republik – Verstersü-System – Planet Melisa – Paradox City
„Hm, dein Haarstil hat sich in der Zwischenzeit auf jeden Fall verbessert. Ich mag diesen flottenweiten einheitlichen Kurzhaarschnitt nicht“, entgegnete Melody Estevinia anerkennend, als Vostal Henson den kurzen Ausflug in die Vergangenheit beendet hatte.
„Na das nenne ich doch mal eine Geschichte und dir fällt nichts Besseres ein, als dir Gedanken um seine Frisur zu machen? Du bist unglaublich, Fusi“, lachte Casper laut auf und schüttelte dabei den Kopf so, dass das lange Haupthaar und der Bart wild hin und her flogen.
Beleidigt funkelte Melody den Kapitän der TINY DRAGON aus ihren nachtblauen Augen an. Sie mochte es nicht, wenn sie so bezeichnet wurde, obwohl der Job des Fusionsingenieurs beim leitenden Ingenieur mit zum Tageswerk gehörte. Aber da schien sie pingelig zu sein.
„So ähnlich habe ich sie zugetragen bekommen“, bemerkte Casper und deutete mit einer Kopfbewegung zu Dschirmal. Dieser zog schon fast entschuldigend die Schultern hoch und setzte ein schiefes Grinsen auf.
„Du weißt doch, Informationen sind mein Geschäft. Nichts für ungut“, meinte dieser lapidar und widmete sich wieder seiner Arbeit hinter dem Tresen. Die Märchenstunde war vorbei.
Vostal wollte erst aufbrausen, besann sich dann aber eines Besseren, als ihm ein Gedanke kam.
„Du hattest dich schon nach mir erkundigt, bevor du hierhergekommen bist?“, fragte er jetzt den Kapitän der TINY DRAGON direkt.
„Könnte man so sagen. Der gerissene Dschirmal hier wusste von unserem kleinen Pilotenproblem und meinte, er hätte da jemanden für mich. Also habe ich mir meinen LSI für eine Zweitmeinung geschnappt und bin hierhergekommen. Dass du uns dann gleich solch eine amüsante Show mit den drei Schlägern lieferst, war nicht eingeplant, aber höchst aufschlussreich.“
„Das heißt?“, erwiderte Vostal überrascht.
„Das heißt“, sprang jetzt Melody dazwischen, „dass du einen neuen Job als Pilot und Navigator an Bord unseres Bergungsschiffes hast. Du wirst anteilig am Erfolg der Operationen beteiligt und bist dann, nach einer gewissen Bewährungszeit, die Nummer drei auf dem Schiff. Hinter dem Kapitän und mir, natürlich. Und, um es gleich zu sagen, Dellen und Schrammen in der TINY DRAGON werden von mir vom Sold abgezogen.“ Den letzten Teil sagte sie mit Nachdruck.
„Du wiederholst dich. Wenn du dafür sorgst, dass der kleine Drache auf die Anweisungen brav reagiert, die ich ihm gebe, bekommst du nichts weiter zu tun und wir können gemeinsam unseren Sold in den Puffs der Raumstationen ausgeben“, erwiderte Vostal trocken und konnte sich dabei ein kleines Grinsen nicht verkneifen.
Sollte er einmal Glück haben? Natürlich musste er sich die Details, wie die Höhe seines Anteils, genau ansehen, aber im Grunde war es ihm fast egal. Die Aussicht endlich wieder ein Schiff zu steuern und dabei als Bonus eine wunderschöne Frau an Bord zu haben, ließen ihn ohne groß zu überlegen zugreifen. Seine Entscheidung war längst gefallen.
„Hört sich nach einem Deal an, oder was meint ihr?“, dröhnte jetzt Caspers Stimme. „Eine Runde für alle auf meine Rechnung!“
Caloja schien schon darauf gewartet zu haben, so schnell standen auf einmal neue Getränke bei ihnen. Ein letzter, herrlich vor Kälte dampfender Limser. An Bord musste er sich umgehend erkundigen, ob er diesen dort bekam. Hey, er war bald die Nummer Drei auf dem Schiff. Da würde die Bordküche ja auf seinen Wunsch ein Kühles zaubern können.
Ein kalter Schauer der Zufriedenheit durchströmte sein Innerstes. So durfte es weitergehen.
„So mein Freund. Ab sofort bist du der Pina an Bord und ich glaube, du kannst mehr von diesen verdammt guten Geschichten erzählen.“
Vostal wollte schon fragen, was Pina denn jetzt wieder hieß, konnte sich dann aber doch schnell einen Reim darauf machen. Das war die Kurzform von Pilot und Navigator. Casper schien es mit Abkürzungen zu haben und mit gruseliger Mundhygiene. Er hatte ihm eine volle Ladung seines Atems ins Gesicht gehaucht und er musste aufpassen, dass es ihn nicht umgehend aus den Stiefeln haute.
‚Bei den Eisheiligen. Der sollte unbedingt mal zum Dentalhygieniker. Das ist ja kaum auszuhalten‘, dachte Vostal angewidert, verzog aber keine Miene.
„Wann kannst du an Bord kommen? Wenn ich mir dich so ansehe, dann wirst du nicht viel haben, das umzieht.“
„Das trifft es. Nur die Mund- und Körperhygiene, ein, zwei Holos, etwas Kleidung und das war es.“
„Sehr gut. Ich würde sagen, wir treffen uns in vier Stunden am Himmelsfahrstuhl. Melody und ich haben etwas Geschäftliches zu erledigen und dann gibt es eine Einführung in das Mädchen, dass du zukünftig steuern darfst.“
Vostal konnte ein leichtes Grinsen kaum verhehlen und trank schnell den Rest des Limsers aus, als er Melodys großen Augen auf sich ruhen spürte.
„Na dann bis in vier Stunden.“
Er stand auf, schnappte sich seine dunkelblaue Fliegermütze. Ein kurzer Blick ins Innenfutteral ließ ihn sein Namensschild erblicken, auf das er vorher überhaupt nicht geachtet hatte.
Bevor er nach draußen gehen konnte, kam Caloja schnell hinter dem Tresen hervor und versperrte ihm mit aufgerissenen Augen den Weg. Ihre schwarz-rote Tunika raschelte leise bei jedem Schritt und gab die Illusion an den entsprechenden Rundungen etwas sehen zu können, was geschickt verborgen war.
„Du wirst mich doch jetzt nicht so ohne ein weiteres Wort verlassen, Frosty? So wie sich das angehört hat, war das dein letzter Limser von mir.“
In ihrer Stimme schwang eine Kakofonie an Emotionen mit, die Vostal auf der Stelle überforderten. Amüsiertheit, Traurigkeit, Erleichterung, Schmerz. Dazu erreichte seine Nase ein frischer Hauch von einem ganzen Strauß duftender Blumen, während sie näher an ihn herantrat, sich auf die Zehenspitzen stellte und ihre Arme locker um seinen Hals legte. Sie hatte wieder reichlich von ihrem Lieblingsparfüm aufgetragen. Synthetisch hergestellt und doch so raffiniert komponiert, dass das Bouquet wie ein Versprechen nach einem unbeschwerten Sommer auf einem fernen Planeten roch. Eine gute Zeit, die man zu zweit verbrachte. Ihre von feinen Schweißperlen benetzten Lippen strahlten eine behagliche Wärme aus, als sich diese erst zögerlich, dann immer energischer auf die Seinen pressten. Vostal hatte automatisch die Lider geschlossen, nachdem er sich zuvor fast in ihren dunklen Augen verloren hatte, um dem wilden Ansturm an Sinneseindrücken zu begegnen und in ihrer vollen Pracht zu genießen. Sein Körper durchflutete ein Schwall an Emotionen und er gab es umgehend auf, diese zu sortieren. Dafür war später Zeit und dennoch fühlte sich der Kuss nach einer Botschaft an. Nach einem, was hätte sein können. Nach einer verdammt guten Reise, die jetzt endete, bevor sie überhaupt begann.
Mit einem leisen Seufzen lösten sie sich voneinander. Der Blick Calojas glitt verschämt und traurig zur Seite. Sie trennte sich von ihm und trat zurück. Machte Platz für den Pfad, den er sich entschieden hatte, zu beschreiten. Ein dicker Brocken Eis bildete sich in Vostals Eingeweiden und ein Sturm der Gefühle tobte in ihm, der ihn für einen Augenblick schier lähmte.
Zu viel war in den letzten Minuten geschehen. Erst die Begegnung mit Melody, dann die Schlägerei, die er angezettelt hatte, weil er meinte, die unbekannte Schönheit unnötigerweise beschützen zu müssen. Letztlich rettete sie seinen Hintern und machte ihm anschließend ein unglaubliches Angebot. Erst trug ihn die Euphoriewelle einer coolen Zukunft entgegen, dann zeigte ein sinnlicher Kuss, was er unwissend zurückließ. Das war zu viel für den Gefühlshaushalt eines einzelnen Mannes und er machte das einzig Vernünftige – er sperrte die tobenden Gefühle tief in sich ein und gab den Schlüssel beim Pförtner zur Aufbewahrung ab.
Zwei Atemzüge später hatte er sich so weit wieder gefangen, dass er erneut handlungsfähig war. Mit einem energischen Ruck zog er sich seine blaue Fliegerkappe tief ins Gesicht und ging mit schnellen Schritten durch die sich automatisch öffnende Tür des KLAMAS seiner Zukunft entgegen. Der faulige Geruch Melisas empfing ihn und bestärkte nur seinen Entschluss.
Er hatte sich entschieden, redete er sich grimmig ein und dachte dabei an fließendes kobaltblaues Haar, das ein spöttisch grinsendes Gesicht einrahmte.
* * *
„Mehr als eine Zahnbürste ist es dann wohl doch nicht geworden“, höhnte Casper Savage, als sich Vostal ihm und Melody näherte und zeigte auf seinen Navysack, der nicht einmal zur Hälfte gefüllt über seiner Schulter baumelte.
Die LSI der TINY DRAGON stand sichtlich gelangweilt neben ihrem wesentlich größeren Kapitän. Beide hätten normalerweise ein gutes Motiv für einen Schnappschuss direkt vor der riesigen Basis des Himmelsliftes von Melisa abgegeben. In diesem Moment erhoben im Hintergrund die leistungsfähigen Magnete eine der gewaltigen quaderförmigen Lastkabinen, die an allen Seiten und Ecken abgerundet war, in den sich immer weiter abdunkelnden, bewölkten Himmel.
Verstersü verschwand allmählich hinter dem Horizont und schickte als letzten Gruß ein paar kräftige Strahlen, die durch die Wolken am Rand des Verbindungskabels durchschimmerten.
Vostal zuckte mit den Schultern und ging nicht weiter darauf ein.
„Und ihr konntet alles erledigen?“
Melody Estevinia erwachte aus ihrer Lethargie und zeigte lässig hinter sich auf die Frachtkabine, die sich immer weiter in den Himmel erhob.
„Ein paar Ersatzteile und Nachschub an Verpflegung ist auf dem Weg nach oben und wir sollten zusehen, dass wir nachfolgen. Ich habe keine Lust länger als nötig auf diesem bestialisch stinkenden Planeten zu verweilen. Wie hast du das nur hier ausgehalten?“
Erneut zuckte er entschuldigend mit den Schultern und sah dann kurz zu seinem zukünftigen Kapitän rüber, der sich ungeniert Ohrenschmalz mit den Fingern heraus pulte und es dabei fertigbrachte, über die Menge, die er zutage förderte, völlig überrascht auszusehen. Es schien ihm zudem egal zu sein, dass er bei dieser Aktion von anderen wartenden Passagieren schief angesehen wurde.
„Man gewöhnt sich an alles.“
Melody verstand seinen Blick und konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, sah jedoch schnell scheinbar interessiert auf ihr Textildisplay, als Casper sich ihr zuwandte.
„Können wir?“
Die junge Frau nickte und schnappte sich eine kleine schwarze Kiste, die bisher zu ihren Füßen geduldig wartete. Eine kakifarbene Schirmmütze, die seiner gar nicht so unähnlich war, rutschte dabei fast vom Schopf. Mit einer geschickten Kopfbewegung schaffte sie es, dass diese dort blieb, wo sie hingehörte.
„Die nächste Personenkabine ist unsere. Wir waren so frei, dir ein Ticket aufs Haus mitzulösen. Sieh es als Einstandsgeschenk an“, sagte sie trocken, während sie sich die schwarze Kiste unter den Arm klemmte. Er erkannte, dass sie aus einem keramischen Material bestand und versiegelt war. Die LSI interpretierte seinen neugierigen Blick richtig und sagte: „Das ist mein Spielzeug. Finger weg!“
Vostal Henson zog verwundert die Augenbrauen hoch. Den Tonfall wusste er nicht einzuschätzen. Was die Chefingenieurin der TINY DRAGON wohl unter Spielzeug verstand? Das konnte von einem Molekularschweißgerät bis zum Klitstimulator der neuesten Generation alles sein. Wobei, so wie sie es im KLAMAS angedeutet hatte, reichten ihr dafür Prüflinge. Warum sollte sie also Keks für schnödes Sexspielzeug ausgeben? Sie dachte da gewiss so pragmatisch wie er.
Der Gedanke ans KLAMAS erinnerte ihn an etwas.
„Hast du deinen Prüfimpuls schon abgeschickt oder gibst du ihnen eine Galgenfrist?“
Melody sah ihn erst so verwirrt an, dass er meinte, ein riesengroßes Fragezeichen würde auf ihrem Kopf schweben. Dann kam der Geistesblitz und ein schelmisches Grinsen huschte über ihren puppenhaften Mund.
„Ach, das meinst du. Nun ja. So ein Prüfling ist zwar kräftig bei den Prüf- und Tastströmen, aber die Reichweite des eingebauten Kommunikationsmoduls ist beschränkt. Das Modul kommt maximal zehn Metern weit.“
Jetzt war es an Vostal, breit zu grinsen. Gemeinsam rückten sie in der Warteschlange ein Stück näher an die Abfertigung heran. Die für sie vorgesehene Passagierkabine war in der Zwischenzeit angekommen und hatte einen bunten Schwall an Menschen ausgespuckt.
Es war das übliche Schauspiel zu beobachten. Nicht wenige wurden nach einigen Atemzügen, die sie auf diesem sprichwörtlich faulenden Planeten taten, grün im Gesicht und übergaben sich in die im Eingangsbereich bereitgestellten Spuckbehälter. Die Behörden von Paradox-City waren da scheinbar pragmatisch. Bevor jedes Mal Reinigungsroboter antanzen mussten, um die übliche Sauerei nach der Ankunft einer Passagierkabine zu entfernen, brachte man lieber gleich entsprechende Behältnisse an, die dann automatisch geleert und gereinigt wurden. Die wenigen Passagiere, die mit unbewegten Mienen an den unschönen Geräuschen und Anblicken vorübergingen, waren entweder schon einmal auf Melisa oder trugen wohlweislich Nasenfilter. Es war ja nicht so, dass diese auf der Orbitalstation, direkt vor dem Beitritt in die Kabine, feilgeboten wurden. Viele dachten sich aber anscheinend, dass es für sie nicht so schlimm werden würde und sie sich die Keks sparen konnten.
„Du hast die Kerle verarscht“, stellte er amüsiert fest.
„Ich habe sie davon überzeugt zu tun, was besser für sie ist“, erwiderte sie trocken, als wäre es nichts. Doch ihre aufblitzenden Augen verrieten sie. „Dafür habe ich etwas geflunkert beim Entfernen des kleinen Schmuckstücks.“
„Wie meinst du das?“
Erneut zuckten die Schultern entschuldigend hoch.
„Na ja, Prüflinge fallen nicht von allein ab. Wäre im Dienstbetrieb ja kontraproduktiv. Man schickt ihnen dafür eine definierte Impulsfolge. Dann löst sich die molekulare Verbindung, die sie mit dem Objekt, an dem sie haften, eingegangen sind.“
Jetzt lachte Vostal laut auf, als er sich vorstellte, wie der Schönling verzweifelt darauf wartete, dass sich das angebrachte Plättchen von seinem besten Stück endlich löste.
„Das heißt, da die Reichweite nur auf wenige Meter beschränkt ist, vermagst du nicht die Impulsfolge zu schicken, die das bewirkt. Oh, bei den Eisheiligen. Schönlingsfresse wird jetzt ewig ein Furunkel am Schwanz sitzen haben?“
Irritiert drehten sich bei seinen Worten andere Passagiere zu ihm um. Da er mit Casper Savage zusammen in der Reihe stand, der vorher auch nicht gerade positiv aufgefallen war, fiel das Urteil in ihren Augen eindeutig aus. Ungeziefer sahen diese Menschen nicht wohlwollender an.
„Schönlingsfresse?“
„Interne männliche Kategorisierung. Es musste eine schnelle Schublade her.“
„Interessant!“, erwiderte sie und war kaum zu verstehen, da sie sich wieder nach vorn gewandt hatte, um den Anschluss an die Vorangehenden nicht zu verlieren.
Für weitere Worte war keine Zeit mehr, da sie jetzt so langsam an der Reihe waren. Nachdem sie die vollautomatische Sicherheitskontrolle mit zahlreichen Prüfscans, die nach Waffen, Drogen oder nicht angemeldeten Gütern suchten, hinter sich gelassen hatten, setzten sie sich in die bereitstehende Passagierkabine und schnallten sich fest. Nicht dass es dank der eingebauten Gravitrongeneratoren, die sämtlichen Andruck, der durch die hohe Beschleunigung der Linearmotoren verursacht wurde, ausglichen, notwendig wäre. Aber wie überall im Weltall, wo sich die menschliche Spezies niedergelassen hatte, gab es Sicherheitsvorschriften, die vor der eigenen Dummheit schützten.
Wenige Minuten später, als sich alle teilnehmenden Passagiere gesetzt und festgeschnallt hatten, ging es los. Für viele Menschen war die Aussicht aus der Kabine, immer wieder spektakulär. Für Vostal sah es eher so aus, dass er endlich das grünlich wabernde Morastgebiet, das zum Himmel stank, verließ.
Er blickte daher durch die großen Panoramascheiben, die aus einer durchsichtigen Keramiklegierung bestanden, nach oben und versuchte die TINY DRAGON auszumachen. Diese hatte an einem der Ausleger der Orbitalstation Seimas festgemacht. Doch Verstersü stand zu ungünstig und überstrahlte im grünen Gegenlicht alles.
„Versuchst du die Blechbüchse zu sehen, die ab sofort deine Heimat sein wird?“, fragte Casper Savage, der es sich neben ihm im Sitz gemütlich machte und etwas aus seinem ungepflegten Bart herunter kratzte.
Er saß damit genau zwischen ihm und Melody, doch das kümmerte Vostal nicht. Wie sein Schiffskapitän schon treffend festgestellt hatte, war das Bergbau- und Bergungsschiff für die nächste Zeit seine Heimat und es würde mehr als genug Gelegenheiten geben, sich ihr zu nähern. Den Gedanken an den Kuss von Caloja, den er erneut auf den Lippen zu spüren glaubte, schob er schnell zur Seite. Dies war eine vergangene, eine zurückgelassene Zeit und der Blick fuhr nach oben, in seine Zukunft.
Verstersü hatte ein Einsehen mit ihm und verbarg sich jetzt hinter der immer gewaltiger wirkenden Raumstation, die das Ziel ihres Aufstiegs in den Weltraum darstellte. Das Grunddesign war das einer auf die Seite gelegten, abgeflachten Tonne, von der unzählige Arme in alle möglichen und unmöglichen Richtungen abgingen. Lediglich der untere Bereich, der auf Melisa gerichtet war, entbehrte jeglicher Anbauten. An dieser Stelle kam der Himmelslift an, hier war er im Orbit verankert. Wie eine Nabelschnur für den Planeten, an dessen Warenströmen dieser wie ein Junkie an der Nadel hing.
Vostal überblickte jetzt von seinem Platz aus gut den weit hinziehenden Horizont des grünlich wabernden und dadurch kränklich wirkenden Himmelskörpers. Über ihm hingen unzählige Schiffe an den Auslegern und reflektierten auf ihren Hüllen die darunter entlang ziehenden Wolkenbänke. Viele waren nicht nur Dockinganlagen, sondern stellten gleich Werftequipment zur Verfügung. Gegen eine entsprechende Gebühr. Es war eine elegante Zwischenlösung bei Schäden, die für reine Bordmittel zu umfangreich, ein kompletter Werftbesuch jedoch zu teuer war.
Von kleinen Jachten betuchter Kaufleute oder Industriemagnaten, bis zu allen möglichen Formen an Industrieschiffen, war die gesamte Bandbreite an Raumschiffstypen vertreten. Nur die schwer bewaffneten und gepanzerten Navyschiffe der Taunrak-Republik fehlten. Dafür konnte er zwei der lang gezogenen und mit extra Triebwerksauslässen versehenen Kreuzer der Systempolizei entdecken, die träge über dem Konglomerat an Schiffen eine Patrouille flogen. Ihre Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass sich jedes an- und abfliegende Raumschiff den zugewiesenen Flugkorridor einhielt, den ihm die Lotsen von Seimas vorgegeben hatten. Ansonsten würde es ein heilloses Chaos geben.
„Welches ist denn die Blechbüchse, wie du dein Schiff eben so schön tituliert hattest?“ Er ahnte, worauf Casper gleich zeigen würde, doch er wollte sich nicht blamieren. Im Grunde blieben nicht viele Möglichkeiten und dennoch überraschte er ihn. Er hätte daneben gelegen.
„Unser Schätzchen ist die dort drüben, am Südsüdwest-Ausleger. Dem längsten, den Seimas zu bieten hat.“ Ein wenig stolz schwang in seiner Stimme mit. Aber wer konnte es ihm verdenken? Das Schiff, das Vostal zu sehen bekam, war gewaltig und brauchte sich nicht vor den Kampfkreuzern der Navy zu verstecken.
„Bei den Eisheiligen. Das nenne ich mal ’ne Blechbüchse!“, sagte er ehrfürchtig. Die Taunrak-Raumflotte verfügte über wesentlich größere Raumschiffe, aber für ein Privatschiff war dieses schon enorm.
Die Grundform der TINY DRAGON war ein abgeflachtes, lang gezogenes Rechteck. In der Mitte zeigte sich ein Steg, der von vorn bis nach hinten sich durchzog und von dem sich die Schiffshülle wie ein Hausdach abflachte. Vostal erkannte zahlreiche Hangartore und Aufbauten. Die schwarzgraue Metall-Keramiklegierung der Außenhülle reflektierte das Licht Verstersüs nur geringfügig und verlieh dem Raumschiff so einen düsteren Anstrich.
„LOUVRE-Klasse. 482 Meter lang, 122 Meter breit und 82 Meter hoch. 4.596 n.R. gebaut und zwischenzeitlich modernisiert“, rezitierte Melody jetzt die trockenen Schiffswerte. Sie hatte sich dafür etwas nach vorn gebeugt, damit sie ihn ansehen konnte. Oder um seine Reaktion in seinem Gesicht abzulesen. Immerhin war sie als LSI für den technisch einwandfreien Zustand dieses Bergungsschiffes verantwortlich.
„Trotz ihrer vermeintlichen Größe gehört sie doch eher zu den mittleren Industrieschiffen. Da gibt es andere Kaliber. Die können selbst einen Träger in ihrem Bergbauhangar verschwinden lassen. Für unsere Zwecke ist sie aber optimal. Abschleppen oder auseinandernehmen können wir alles von einem Jäger bis zum Raumhabitat.“
Vostal nickte bedächtig. „Ich vermute, der kleine Drache wird sich daher so sanft und präzise navigieren lassen, wie ein Navykreuzer?“
„Erwarte keinen Schlachtkreuzer, der beim sachten Antippen des Beschleunigungssensors einen Satz nach vorn macht und wenig später in den Hyperraum verschwindet. Das dauert bei dem kleinen Drachen alles ein wenig länger. Dafür sind ihre Triebwerke aber so leistungsstark, dass sie im langsamen Flug Seimas abschleppen könnte … samt der festgemachten Schiffe.“
„Du meinst, mitsamt Melisa“, lachte jetzt Casper Savage dröhnend und zog damit wieder alle missbilligenden Blicke auf sich, was ihm völlig egal zu sein schien.
Mit der Zeit verschwanden sämtliche angedockten Raumschiffe aus ihrer Sicht, da sich die Orbitalstation immer weiter ins Blickfeld schob und sie in den langen Schlagschatten eintauchten. Wäre die Kabinenbeleuchtung nicht von Anfang an eingeschaltet gewesen, würden sie jetzt im Dunkeln sitzen. So konnte man ein paar wenige Positionslichter des Andockrings sehen, auf den die Kabine zusteuerte und bald darauf darin verschwand. Umgehend wurde eine große, zweckmäßig eingerichtete Halle sichtbar.
„Endstation. Auf zur TINY DRAGON“, rief Melody Estevinia vergnügt und klemmte sich ihre schwarze Box unter den Arm.
Vostal löste die Gurte, schnappte sich seinen Navysack und ging den beiden hinterher. Sie kannten den Weg.
Nach einer halben Ewigkeit, in der sie wieder Dutzende Untersuchungen und Prüfungen über sich ergehen ließen, diesmal sogar mit menschlichem Personal, was die Sache nicht unbedingt besserte, standen sie endlich vor der Schleusenluke, die zu seinem neuen Leben führte.
Mit einem leisen Zischen öffneten sich die zwei Schotthälften und glitten rumpelnd auseinander.
„Die Lager könnten mal einen Schmierstoffwechsel vertragen“, bemerkte Vostal trocken und fing sich dafür einen bösen Blick von Melody ein, die seitlich von ihm stand. Ihr Puppenmund verzog sich missbilligend, doch war er überzeugt, dass sie es innerlich auf ihre to do Liste schrieb und dass demnächst hier nichts mehr rumpelte.
Auf der Station herrschte immer die gleiche Atmosphäre. Optimal für den Standardmenschen und nahezu absolut steril. Wenn man ein paar Beimengungen haben wollte, besuchte man ein Fitnessstudio oder Pissoir.
Anders die TINY DRAGON. Schon der Schwall an warmer Luft, der ihnen mit einem halben Dutzend unbekannten Gerüchen entgegenkam … behagte ihm nicht. Die Atmosphäre war leicht säuerlich und roch metallisch sowie nach einer unzähligen Kombination von Schmierstoffen. Er mochte es zudem eindeutig wesentlich kälter. Das war nur unwesentlich kühler als auf Melisa. Enttäuscht kräuselten sich seine Oberlippe und Nase.
Melody schien die zur Schau gestellten Emotionen richtig zu interpretieren.
„Du gewöhnt dich daran. Ist mir auch eindeutig zu warm, aber Chefe hier, mag es kuschelig.“
„Ich weiß gar nicht, was du meinst“, grummelte Casper in seinen dichten Vollbart, „ich verzichte nur auf die normale Plasmakühlung der Fusionsgeneratoren. Das spart Keks fürs teure Plasma und im Schiff ist es immer mollig warm, ohne die Heizung anzuschmeißen.“
Vostal schaute für einen Augenblick den Schiffseigner völlig entsetzt von der Seite an. In seinem Hinterkopf ratterte es wie verrückt, gegen wie viele Sicherheitsvorschriften und technischen Vorgaben dies verstieß. Ein LSI bei der Navy, der das zuließ, hätte damit einen Besuch in der nächsten Druckschleuse und einen Gratisflug in die unendlichen Weiten gewonnen.
Melody prustete erst verhalten. Als sie nicht mehr länger an sich halten konnte, brach ein aus tiefstem Herzen kommendes Gelächter aus. Er setzte eine missbilligende Miene auf, als er sah, dass sich vor lauter Lachen winzige Tränen in ihren bläulich schimmernden Augen sammelten. Der Lachkrampf schüttelte die kleine Frau regelrecht durch und auch der Kapitän musste an sich halten, nicht mitzumachen. Die zuckenden Mundwinkel waren Ausdruck davon, wie schwer es ihm fiel.
„Deinem Gesichtsausdruck nach, hast du meine Worte für eine absolut zutreffende Möglichkeit gehalten“, grummelte er und konnte sich dann doch ein Grinsen nicht verkneifen, das in dem wilden Gestrüpp von Bart nahezu unterging. Diese Vollbehaarung machte es Vostal unheimlich schwer, die Gemütslage seines neuen Chefs einzuschätzen. Dabei war das für Untergebene, wie für Babys bei ihren Müttern, überlebenswichtig. Sonst landete man doch schnell in besagter Druckschleuse und endete als Eiszapfen, an dem eine fünfköpfige Familie lange Zeit zu lutschen hatte.
„Nun ja …“, setzte er an, wurde jedoch direkt von Casper unterbrochen, während sie durch die Schleuse gingen und sich hinter ihnen das Schleusentor rumpelnd wieder schloss.
„Brauchst gar nicht zu versuchen, dich herauszureden.“
Der Kapitän packte sein Zeug auf eine in der Seitenwand eingelassenen Bank. Melody und Vostal taten es ihm nach und stellten sich danach in der Raummitte nebeneinander auf. Die Schleusenkammer war zum Glück großzügig dimensioniert und kugelförmig aufgebaut, sodass sie bequem zu dritt reinpassten. Sogar mit Raumanzügen, die in breiten Spinden an der Schleusenwand neben den Bedienungsfeldern für die Schleusenfunktionen, auf ihre Benutzung warteten und in der Zwischenzeit eine Runde abhingen.
„Das heißt nur, dass ich dir zutraue, mit allen Wassern gewaschen zu sein und auch kreative Lösungen in Betracht zu ziehen“, versuchte er es erneut. Seine Worte gingen fast in dem hellen Singen unter, das die einsetzende Ultraschalldusche bei ihrer Arbeit produzierte, als sie sich abmühte, sämtliche eingeschleppte Keime zu entfernen.
Normalerweise zog man sich dazu nackt aus, damit sie nur entfernt eine richtige Wirkung zeigte, aber das sah man hier anscheinend nicht so eng. Auf das Vergnügen, die LSI in ihrer natürlichen Pracht zu sehen, verzichtete er nur ungern. Beim Kapitän dagegen konnte er den Anblick gut weglassen. Wahrscheinlich besser für seine Augen. Obwohl, wenn er ein paar Jahre jünger und einige Kilo weniger … er verwarf den Gedanken, so schnell er gekommen war.
„Das kannst du deiner halb toten Großmutter erzählen“, grummelte Casper erneut, während sie wieder ihre Taschen und Kisten von der Bank nahmen. Seinen Unmut schien er aber zusammen mit dem sich öffnenden inneren Schleusentor zur Seite zu wischen.
„Willkommen auf der TINY DRAGON“, dröhnte jetzt seine Stimme durch den Korridor, „deinem neuen Arbeitsplatz und zu Hause.“
Recht schnell gelangten sie an einen Verteilerknoten, an dem viele Gänge zusammenliefen. Jeder konnte im Notfall mit einem eigenen Schleusentor gesichert werden. Man durfte nie vergessen, dass sie sich letztlich im absolut lebensfeindlichen Weltraum aufhielten und nur keramisches Metall und der menschliche Erfindungsgeist sie davon abhielten, elendig zu erfrieren oder zu ersticken. Umso erstaunter war er, dass die leicht abgeschrägten Seitenwände sich nahezu fugenlos darstellten und von vielen Lichtelementen durchsetzt waren, die das warme Lichtspektrum einer Sonne imitierten. Der vorherrschende Farbton der Korridorwände war ein sattes Orange, das ins Bräunliche tendierte. Nur am Boden, an der Stelle, bei der er in die Wände überging, verliefen deutlich sichtbare Rohr- und Kabelkanäle.
„Von hier aus gelangst du zum Hauptverteilerknoten. Zwangsläufig kommst du ohnehin dorthin, weil nahezu alle Wege dahin führen. Expresskabinen kannst du hier vergessen. Die unnötigen Kalorien, die du dir in der Messe reinschaufelst, werden so recht effektiv wieder abgelaufen. Vom Hauptknoten geht es dann zum Maschinenraum, zur Brücke, zu den Hangars und den Magazinen mit dem ganzen Bergbauzeug. Ich zeige dir jetzt aber erst einmal deinen neuen Arbeitsplatz.“
Mit weiten Schritten ging Casper voraus und schon bald gelangten sie zu dem besagten Knoten, an dem sich die Korridore in alle möglichen Himmelsrichtungen aufteilten. Hier verabschiedete sich Melody mit einem lässigen Antippen an die Stirn und den Worten: „Wir sehen uns Pilotenass. Keine Delle beim Ablegen!“
Vostal lag schon eine schnippische Erwiderung auf den Lippen, doch sie war bereits in Richtung der Maschinenräume unterwegs. Die schwarze Kiste auf den Händen balancierend und mit wippendem Gang verschwand sie hinter der nächsten Biegung. Bis jetzt hatte er keine anderen Besatzungsmitglieder gesehen.
„Wie hoch ist denn die Besatzungsstärke des Drachen?“, wandte er sich an seinen neuen Chef, der ihn in Richtung der Zentrale lotste.
„Mit dir sind wir genau 150 Seelen.“
„So wenig? Für ein Schiff dieser Größe hätte ich jetzt echt mit mehr gerechnet.“
Der bärtige Mann nickte bedächtig und grummelte regelrecht: „Die TINY DRAGON ist hochgradig automatisiert. Wir haben das immer weiter ausgebaut, seit ich sie 4762 n.R. zusammen mit meinem Geschäftspartner Marek Ladoskasmer von der Massoya Bergbau- und Transportgesellschaft übernommen habe. Jede Seele an Bord möchte bezahlt und durchgefüttert werden. Mittlerweile sind wir auf einem Level, der sich die Waage zwischen Bequemlichkeit und Notwendigkeit hält.“
Bei einem weiteren Verteilerknoten nahmen sie den rechten Gang, der sich spiralförmig nach oben wand, und standen vor einem großen Schott, auf dem das Gesicht von Casper im Graffitistil aufgemalt war.
„Man könnte glatt erkennen, wer gemeint ist. Stehen wir vor deiner Privatkabine?“
„Das hättest du wohl gerne“, sagte der Kapitän der TINY DRAGON und legte seine Hand auf einen neben der Tür hängenden Scanner.
Vostal wusste, dass nicht nur die Papillarlinien abgetastet wurden, sondern das elektrische Feld des Körpers, die Aura eines jeden Menschen. Dazu wurde eine winzige Probe des Gewebes abgenommen und die DNS mit der hinterlegten Referenzprobe abgeglichen. Was passierte, wenn es keine Übereinstimmung gab, blieb ungewiss. Im besten Szenario gab es einen stillen Alarm für den Sicherheitsoffizier oder wer auch immer dafür in den Protokollen vorgesehen war. Im schlechtesten Fall …, er vermutete, automatische Abwehranlagen würde es hier auf einem zivilen Raumschiff nicht geben. Das war den Schiffen der Taunrak-Navy vorbehalten, deren sensible Bereiche so geschützt wurden.
„Deine Zugangsdaten richten wir ein, sobald der Anstellungsvertrag unterzeichnet ist.“
„Bis jetzt spricht nichts dagegen, aber wir sind ja noch nicht fertig mit dem Rundgang.“
Das künstlerisch dargestellte Gesicht von Casper teilte sich mittig, als die biometrischen Daten von ihm vom Zugangssystem akzeptiert wurden und die Schleuse sich mit einem leisen Zischen öffnete. Die zwei schweren Schotthälften glitten in die in den Seitenwänden dafür vorgesehenen Aussparungen und gaben den Blick ungehindert auf das Innere frei. Das Gehirn des kleinen Drachen lag ausgebreitet vor Vostal.
„Komm rein, komm rein!“, wurde er aufgefordert.
Langsam folgte er dem Kapitän des Schiffes und lies, das Gesehene wirken.
Die Schiffszentrale war hell erleuchtet und in einem beigen Farbton gestrichen. Hätte er anhand der fleckigen Kombination von Casper vermutet, dass es hier genauso versifft sich darstellte, so enttäuschte ihn diese. Alles war picobello sauber. Das Synthtal der Arbeitskonsolen glänzte in einem matten Silbergrau, während die Polster der gemütlich aussehenden Sitze ein warmes Orange zierte.
Wie in Dutzenden Zentralen war der Kommandosessel des Kapitäns im hinteren Zentralbereich auf einem Podest erhöht aufgestellt. Leicht unter ihm war das halbkreisförmige Steuerpult des Piloten und Navigators.
Sein zukünftiger Arbeitsplatz.
Der Sitz vermochte es, sich zu einer Liege ausziehen und das Pult senkte sich dann entsprechend ab, um einen optimalen Steuerungskomfort zu bieten. Gleichzeitig erhielt der Kommandant eine ideale Sicht auf die Hologramme des Pinas und konnte so jederzeit nachvollziehen, was dieser tat und wie die Fluglage des Raumschiffes war.
Alles in allem schätzte er den Durchmesser der Kommandozentrale auf 25 Meter und sie war derzeit mehr als spärlich besetzt. Nur ein Besatzungsmitglied saß an den Kontrollen einer Arbeitsstation, von der er nicht erkannte, was damit gesteuert wurde. Als sie eintraten, war die Person aufgestanden und sah den Neuankömmlingen aus dunklen Augen gelangweilt entgegen.
„Hey, Casper. Ist das der Neue?“
Vostal meinte aus der glatten Stimmlage herauszuhören, dass nur der Höflichkeit halber gefragt wurde.
Die Erscheinungsform von ihm stand im krassen Gegensatz zum Kapitän. Schlanke, aufrecht stehende Gestalt. Zurückgedrückte breite Schultern, das scharfkantige Kinn leicht hoch- und die gepflegten Augenbrauen zusammengezogen. Schwarze, militärisch kurz geschnittene Haare, die an den Seiten ausrasiert waren. Das markante bronzefarbene Gesicht zierte keine Bartstoppel. Er trug wie scheinbar alle hier einen kakifarbenen Overall, der absolut sauber wie frisch aus der Reinigung wirkte und ihm wie angegossen saß. Auf der Brust prangten matt glänzende Rangzeichen und wiesen ihn in bronzener Schrift als SLSI aus und auf der Plakette darunter, war der Name abgedruckt.
Er hatte es mit dem stellvertretenden leitenden Schiffsingenieur Miles Neteyma zu tun. So gepflegt wie seine kräftigen Hände und Nägel waren, konnte man kaum glauben, dass er Schiffstechniker war und Reparaturen vornahm.
„Ich zeige ihm alles, Miles. Noch hat er nicht unterschrieben.“
Der SLSI nickte kurz und wandte sich dann wieder seinen Kontrollen zu. Das nutzte der Kapitän, um ihn zu der Arbeitsstation zu führen, an der er hoffentlich bald sitzen und das Schiff steuern würde.
„Setze dich rein. Ich bin gespannt, wie du zurechtkommst.“
Das ließ sich der junge Pilot nicht zweimal sagen. Mit einer schnellen Bewegung saß er auf dem Sitz. Die eingebaute Steuerelektronik registrierte umgehend, dass jemand Platz nahm und fuhr automatisch, derzeit die Rückenlehne aufrecht haltend, zum Steuerpult vor. In die Liegeposition wechselte der Pilot erst, wenn das Schiff bewegt wurde oder er es ausdrücklich wünschte.
Vostal spürte, wie sich in den Polsterungen Elemente verschoben, um sich so seinen Körperproportionen anzupassen. Sein Vorgänger war demnach ein wenig schlaksiger und kleiner als er selbst. Kam es zu einem Raumgefecht, bot der Sitz zudem Platz, wenn er einen Raumanzug trug, und baute im Notfall eine schützende Gelumhüllung auf, die zumindest teilweise durchschlagende G-Kräfte abzufedern vermochte.
Die Steueranlagen des Schiffes selbst waren nicht auf dem neuesten Stand, sondern stammten deutlich aus den letzten Jahrzehnten. Kein Vergleich zum modernen Steuerinterface, wie es auf den Kampfschiffen der Navy genutzt wurde.
Wie es sich für ein Industrieschiff gehörte, lag das Hauptaugenmerk auf Robustheit und Langlebigkeit. Viel erkannte er nicht, da sich das Interface aufgrund der ihm fehlenden Berechtigung nicht selbstständig aktivierte. Aber auch so bemerkte er, dass in die Schubkontrollen interessante Zwischenschalter eingebaut waren.
„Nicht schlecht“, sagte er dann und meinte es ehrlich. Sein Schiffskapitän wusste das mit Sicherheit einzuordnen. Die TINY DRAGON war nun einmal schon über einhundert Jahre alt, hatte sich aber verdammt gut gehalten. Vostal erkannte, dass das Schiff sorgfältig gepflegt wurde. Dafür ging vermutlich ein großer Teil der Erlöse aus den Bergungsoperationen drauf.
„Das heißt, wir sind im Geschäft?“, erwiderte Casper lächelnd.
„Wenn du mich einmal den Arbeitsvertrag einsehen lässt und ich darin nicht über irgendwelche Schweinereien stolpere …“
Der Schiffskapitän grunzte undefinierbar, richtete sich auf, nachdem er ihm bei seiner Inspektion über die Schulter gesehen hatte und tippte mit dicken Fingern auf seinem Textildisplay herum. Kurz darauf wischte er in Vostals Richtung und auf dessen Display erschien die Eingangsmeldung einer neuen Datei.
Er öffnete diese mit einem Fingerdruck und startete nebenbei einen Rechtsassistenten. Die gab es als Mitglied der Navy Freihaus und durfte nach dem Ausscheiden weiter benutzt werden. Damit überprüfte er den Vertragstext auf irgendwelche Fallstricke. Der Assistent stellte in kurzer Zeit alle wesentlichen Punkte wie Arbeitszeit, Entlohnung, Bonuszahlungen, Rechte und Pflichten von ihm übersichtlich dar. Gleichzeitig wurden kritische Passagen markiert und eine Erläuterung dazu eingeblendet. Äußerst praktisch.
Der Assistent hatte nur wenig anzumerken. Der vorgeschlagene Arbeitsvertrag war sauber und reizte stellenweise die Gesetzgebung der Republik Taunrak vollständig aus, aber das war in seinen Augen legitim. Casper Savage wollte etwas bekommen für das Geld, was er bezahlte.
Am interessantesten fand Vostal die Textstellen über Bonuszahlungen. Einerseits waren sie an das Gesamtergebnis gekoppelt, andererseits enthielten sie auf seinen Arbeitsbereich als Pilot und Navigator zugeschnittene Passagen. Dem Schiff zugefügte Dellen wurden jetzt nicht vom Lohn abgezogen, aber er war überzeugt, dass Melody schon einen Weg finden würde, ihn das spüren zu lassen – auf unangenehmste Weise. Dafür gab es einen Bonus für effizient zurückgelegte Flugrouten oder optimal durchgeführte Manöver in erzreichen Asteroidenfeldern.
„Eine Kleinigkeit fehlt mir bei den Bonuszahlungen. Lässt sich da nicht die Verfügbarkeit bestimmter Hintern einbauen?“
„Du wirst die Finger von meiner Tochter lassen, Freundchen. Das ist schon deinem Vorgänger nicht gut bekommen.“
Vostal schluckte schwer und schloss kurz die Augen. Er sagte kein weiteres Wort, sondern ließ lieber Taten sprechen. Mit einem Pressen des Zeigefingers auf das Annahmefeld bestätigte er den Vertrag und war mit der Gegenzeichnung von Casper Savage, die umgehend erfolgte, neuer zweiter Offizier an Bord der TINY DRAGON. Das mit dem Bonus nahm er allerdings nicht so einfach hin. Dafür war dieser, in seiner Vorstellung, zu verlockend.
* * *
Das Ablegemanöver vom Weltraumhabitat Seimas war butterweich und ohne Zwischenfälle erfolgt. Nach einer kurzen Eingewöhnung hatte Vostal ein Gefühl für die schweren Maschinenanlagen der TINY DRAGON bekommen. Diese waren für langsame Schwerstarbeit konzipiert und nicht für einen schnellen Sprint.
Inzwischen im ausgefahrenen Navigator- und Pilotensitz liegend, beförderte er das schwerfällige Schiff mit der Unterstützung der Navigations-KI aus dem Orbit von Melisa. Ihr Kurs führte weg vom vierten Planeten des Systems.
Nach einem Tag passierten sie die Bahn des Sechsten, einem gewaltigen graublauen Gasriesen, in dem viele Wasserstoff- und Ammoniakverbindungen vorherrschten und der eine umfangreiche Gefolgschaft aus Monden in den unterschiedlichsten Ausdehnungen aufwies. Habitabel war davon keiner, dafür ordentlich Rohstoffreich. Die Konzessionen waren schon lange unter den großen Bergbaugesellschaften, ob staatlich oder privat, aufgeteilt. Nicht umsonst war Melisa recht wohlhabend, obwohl der Planet wie eine stark frequentierte öffentliche Toilette roch.
Schon bald würde der kleine Drache in den Hyperraum gehen. Je höher dazu die Sublichtgeschwindigkeit, umso leichter fiel der Übergang aus. Ab etwa der halben Lichtgeschwindigkeit war der Verschleiß an dem Pretter-Phasen- Hyperraumtriebwerk, über das die TINY DRAGON verfügte, signifikant geringer und die Zeitdilatation fiel kaum ins Gewicht. Deswegen nahmen Geschäftsleute wie Casper Savage lieber in Kauf, eine gewisse Zeit im Realraum zu fliegen, als Schäden an den Maschinenanlagen zu riskieren. Auch wenn dadurch die Kosten für den Treibstoffverbrauch der Fusions-Sublicht-Triebwerke stieg. Das schwere Deuterium war so günstig, dass es Beschädigungen an den immens teuren Teilen eines Überlichttriebwerks in keiner Weise aufwog.
Die Zentrale hatte sich zum Start hin gefüllt und nahezu alle Arbeitsstationen waren belegt. Es herrschte ein reger Durchgangsverkehr. Nach kürzester Zeit hatte Vostal den Eindruck, dass mittlerweile die gesamte Besatzung aus irgendeinem fadenscheinigen Grund vorbeigesehen hatte, um sich ihn einmal näher in Augenschein zu nehmen.
Selbst Melody Estevinia war aus den Tiefen ihres Maschinenraums aufgetaucht, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass sämtliche Geräte die gewohnten Geräuschpegel von sich gaben und die Überwachungsinstrumente die regulären Parameter anzeigten.
Jetzt stand sie neben ihrem Stellvertreter. So wie er es mitbekommen hatte, hielt Miles Neteyma hier in der Zentrale die Stellung, während sie in den Maschinenanlagen umher kroch und selbst Hand anlegte.
Die um ihn herum konkav gebogene Displayfolie lieferte sämtliche Flug- und Anlagendaten, die für die Steuerung und Navigation des Industrieschiffs notwendig waren. Konzentrierte er sich, konnte er ein leichtes fernes Summen vernehmen. Das würde sich garantiert steigern, wenn das Schiff in den Hyperraum glitt. Dieser war nicht so freundlich zu ihnen, wie der Realraum.
Derzeit war nichts zu tun. Die Hauptarbeit übernahm die Navigations-KI. Deswegen sah er sich die Sensordaten über den Gasriesen Malinos, wie er von seinen Entdeckern vor mehreren Jahrtausenden genannt worden war, und seiner reichen Kinderschar an. Das gravitative Zusammen- und Wechselspiel faszinierte ihn ungemein.
„Casper, in ca. 20.000 Kilometer Entfernung messen die Sensoren einen Neutrinoanstieg“, tönte es von der Sensorstation rüber.
„Wer kommt uns denn da besuchen?“, fragte der Kommandant verwundert und ließ die Schiffs-KI das zentrale Hologramm mit den aktuellen Sensordaten aufbereiten. Die TINY DRAGON befand sich in der Mitte. Rechts von ihr war Malinos mitsamt seinen Begleitern zu sehen und ein gutes Stück vor ihnen, wurden die Neutrinoemissionen dargestellt. Einen Augenblick später sahen sie die von der Ortung interpolierten Messwerte eines Hyperraumaustritts. Optisch sah es wie üblich aus. Graue Schlieren sickerten in den Realraum und im nächsten Moment weiteten sich diese mit feinen blauvioletten Blitzen zu einem Übergang auf und entließen das aus dem Hyperraum austretende Objekt. In diesem Fall waren es zwei kleine Raumschiffe, die die Bord-KI anhand der Schiffsdatenbank sofort identifizierte.
Vostal benötigte die eingeblendeten Daten nicht. Er erkannte die Zeradin-Jäger auch so, die eine elegante Kurve flogen, um sich ihrem Kurs anzupassen.
Diese Jägerklasse stellten mal die Standard-Abfangjäger der taunrakischen Raumnavy dar. 16 Meter lang und vier Meter breit, wie ein altmodischer Drache für Kinder geformt. Der hintere Teil mit den Fusionsantrieben und darüber ein ovaler Ring mit dem Hyperraumtriebwerk. Davor die Steuerungskapsel für zwei Personen. An den beiden pfeilförmigen Flügeln saßen die Manövriertriebwerke und es konnten Waffen montiert werden. Von Raketen, schweren Laser oder Partikelwaffen war einiges möglich. Nur die Geldbörse des Besitzers stellte die Grenze dar.
Inzwischen war diese Jägerklasse bei der Navy durch den Zepla-Jäger abgelöst und war dadurch verbreitet in der Republik. Die Raumflotte hatte sie nach der Ausmusterung breitflächig verkauft. Natürlich wurden die angebrachten Waffen vorher demontiert, doch für findige Techniker stellte es kein Problem dar, diese wieder zu armieren. Schon hatte man einen äußerst wendigen und schnellen Jäger, der sogar in einem Rahmen von 50 Lichtjahren selbstständig operierte. Das machte sie beliebt bei allerlei zwielichtigen Gesocks und mit diesem schien man es hier auch zu tun zu haben.
„Was wollen die denn von uns? Hast du die Rechnungen nicht bezahlt, Casper?“, sagte Melody und runzelte fragend die Stirn.
„Hm“, grummelte dieser nur, fügte dann aber hinzu: „Sind die Jäger bewaffnet? Kam schon ein Funkspruch?“
„Es baumelt etwas Großes unter den beiden Schiffen. Sieht wie ein Höllenfeuer-Torpedo aus und eine Partikelwaffe auf jeder Flügelseite“, erwiderte die Sensoroffizierin, deren nichtssagenden Namen Vostal schon nach der Begrüßung wieder vergessen hatte.
„So, so. Höllenfeuer-Torpedos. Da hat aber jemand einen ordentlichen Meinungsverstärker mit dabei“, murmelte der Kapitän und es schwang Besorgnis mit darin.
„Keine Funksprüche bisher. Soll ich die Systempolizei informieren?“, fragte jetzt Teleus Kami nach, der an der Funkanlage saß. Er war ein schmächtiger älterer Mann mit langen weißgrauen Haaren, die er zu einem Zopf gebunden hatte. Sein Gesicht hatte mehr Falten und Flecken aufgewiesen, als die abgetragen Bordkombination, die er lässig trug.
„Noch nicht. Wir wollen erst einmal schauen, was die so vorhaben. Spann mal die Schilde hoch. Gelber Alarm. Vostal, Hyperraumsprung vorbereiten. Miles, fahr mal unsere Spielzeuge aus. Die können ruhig sehen, dass der Einsatz der Torpedos für sie ungesund wäre!“
An seiner Arbeitsstation erkannte Vostal anhand der verschiedenen Statusmeldungen, dass die TINY DRAGON sich in einen eng anliegenden Deflektor hüllte. Er hatte keine Ahnung, ob diese von der Stärke her zwei Höllenfeuer-Torpedos standhalten würde. Diese Waffen waren speziell dafür konstruiert, den Schutzschirm von Großraumschiffen zu knacken, sodass die dann eingesetzten Bordwaffen leichtes Spiel hatten. In der Regel kamen Fusionsladungen als Sprengköpfe zum Einsatz. Da der Kapitän ihm aber befohlen hatte, für einen Notsprung bereit zu sein, hatte er so seine Zweifel, ob die Schirme hielten. Oder er wollte einfach jegliches Risiko eliminieren.
Anhand ihres aktuellen Kurses und der Ausrichtung des Schiffes ließ er die Navigations-KI eine mögliche Route berechnen. In 100 Lichtjahren Entfernung kamen sie so einem blauen Riesen verdammt nahe. Sie mussten deswegen vorher einen Orientierungsaustritt vornehmen. Er legte dafür den Rand eines Systems fest, das 68 Lichtjahre entfernt war. Einerseits übertraf das die Reichweite der beiden Jäger, andererseits vermied jeder halbwegs gute Navigator den Austritt mitten im Leerraum zwischen den Sternen.
Auf der Oberfläche des Bergbauschiffes schoben sich Luken zur Seite und machten Railguns und vereinzelten Partikelwaffen platz. Der Realraum war rau und die Gesetze der Republik gestatten es Industrieschiffen, sich mit Waffen vor Piraten zu schützen.
Kaum waren die Schirme hochgespannt, meldete sich Teleus Kami erneut: „Einkommender Funkspruch mit Sichtverbindung.“
„Auf das zentrale Holo schalten“, wies Casper Savage seinen Funkoffizier an.
Gleich darauf gleißte es in der Mitte des Raums auf und das Konterfei eines gut aussehenden Mannes mit blonden Locken baute sich auf, dessen Kopf vom orange-weißen Helm eines Raumanzugs eingerahmt wurde.
Innerlich stöhnte Vostal gequält auf und er befürchtete, es lautstark getan zu haben, so wie sich auf einmal alle zu ihm umdrehten. Natürlich hatte er Schönlingsfresse sofort wiedererkannt und auf Melody Estevinia schien das ebenfalls zuzutreffen. Ihr Gesicht verschloss sich, wie die Arme, die sie vor der Brust verschränkte.
Der Schönling lächelte breit. Er konnte ihn und die junge Frau nicht gesehen haben, da die Aufnahmelinse so gesteuert war, dass sie den Kapitän des Schiffes auf seinem Sessel anvisierte, auf dem dieser soeben Platz nahm.
„Was verschafft mir das Vergnügen? Wir sind vor dem Sprung und wenn sie keinen triftigen Grund für diese Unterbrechung nennen, war es ein kurzes Gespräch.“
„Wir stören nicht lange. Ich möchte nur zwei Unruhestifter einsammeln, die sich meinen Informationen nach, auf ihrem Schiff aufhalten.“
„Und wer sollen diese Personen sein?“, fragte Casper seelenruhig, obwohl Vostal vermutete, dass er genau wusste, wovon sein Gegenüber sprach. Schließlich hatte er im KLAMAS alles im Hinterzimmer mit angesehen.
„Es handelt sich um zwei Besatzungsmitglieder von ihnen, auf die jeweils ein Kopfgeld in Höhe von 200.000 Keks ausgesetzt ist. Vostal Henson und Melody Estevinia.“
Jetzt musste der Kapitän der TINY DRAGON doch schlucken und Vostal spürte, wie ein kalter Schauer der Furcht durch seinen Körper jagte. Auch die LSI war Nuancen heller im Gesicht, was schon eine Leistung für sich darstellte.
„Habe ich richtig verstanden? 200.000 Keks? Von wem wurden die ausgelobt und wofür?“, fragte Casper bohrend, nachdem er sich von seinem ersten Schreck erholt hatte.
Jetzt lächelte Schönlingsfresse breit und zeigte eine Reihe sorgfältig gepflegter Zähne, bevor er sagte: „Das PaGeMi hatte in jüngster Vergangenheit Besuch von einem Mann, der an einer empfindlichen Körperstelle etwas kleben hatte, was nur aufwendig zu entfernen war. Ein garstiges Stück Technologie und es bedurfte all ihr können, um es abzulösen, ohne bleibende Schäden zu hinterlassen. Von den seelischen Schmerzen gar nicht zu reden, die diesem Mann damit zugefügt wurden. Die Mediziner des pandorianischen Gesundheitsministeriums waren doch sehr schockiert und haben nachgefragt, wem dieser schwere Eingriff in die Gesundheit eines geachteten Untertanen des Ministeriums zu verdanken war. Da fielen dann diese beide Namen, woraufhin der über alles geliebte und angesehene Minister Sun Szei Wang befand, dass so mit seinen Untergebenen nicht umgesprungen werden darf.“
Kollektiv verfinsterten sich die Gesichter innerhalb der Zentrale und die Luft kühlte sich auf den Gefrierpunkt ab. Da hatten Melody und er ja so richtig in die tiefste Kloake gegriffen. Schönlingsfresse, Dummfresse und Fleischfresse waren Mitglieder der berühmt-berüchtigten Unterweltorganisation aus der Pandora-Föderation, die es sich mittlerweile auch in der Taunrak-Republik gemütlich machte. Bei denen rollten schon für geringe Vergehen ganze Gliedmaßen über den Boden.
„Ich verstehe“, sagte Casper dann endlich gedehnt, „ich fürchte nur, wir haben da ein kleines Problem, was aber bestimmt, mit ein wenig guten Willen, von beiden Seiten zu lösen ist.“
„Ich höre?“
Jetzt sah die gesamte Brückencrew auf ihren Kapitän, dessen Miene hinter der dichten Gesichtsbehaarung kaum zu ergründen war. So wie er angespannt auf seinem Sessel saß, hatte er die Ernsthaftigkeit der Bedrohung erkannt. Auch wenn der kleine Drache in den Hyperraum wechselte, ohne in der Glut der Höllenfeuer-Torpedos zu vergehen, trafen sie in nahezu jedem Sonnensystem auf einen Vertreter des Gesundheitsministeriums. Das Problem war nur hinausgezögert.
Es bedurfte jetzt einer Lösung.
Vostals Gedanken rasten um die massive Komplikation herum, den die beiden Zeradin-Jäger und vor allem der gekränkte Stolz von Schönlingsfresse bedeutete.
„Die liebe Melody ist mir wie eine Tochter und unverzichtbar für den Betrieb meines Schiffes. Ich fürchte, sie ist nicht verhandelbar“, sagte der Kapitän mit jovialer Stimme.
‚Moment? Hatte er wie eine Tochter gesagt? Vorhin klang das anders‘, dachte Vostal erstaunt.
Bevor er seine Gedanken auf das Problem zurück fokussierte, sprach jetzt Schönlingsfresse und die Stimme war nicht mehr so freundlich wie am Anfang.
„Ich glaube, ich habe meinen Standpunkt nicht richtig klargemacht. Es gibt nichts zu verhandeln. Die Zwei sind auszuliefern oder ihr potthässlicher Mülleimer von Raumschiff verwandelt sich in einen Schlackehaufen.“
„Sie möchten wegen einer solchen Kleinigkeit 150 Menschen umbringen und sich dem Zorn der örtlichen Polizei und der Bergungsgilde aussetzen?“
„Ich bitte sie. Der Polizeichef gibt eher etwas zum Kopfgeld dazu, so wie sie ihm manchmal auf der Nase rumtanzen und die Gilde wird gar nichts unternehmen, wenn sie nicht unliebsamen Besuch haben möchte. Das wissen sie so gut wie ich.“
Trotz des dichten Bartes war an den dunklen Augen von Casper Savage abzulesen, dass er kurz vor einem Tobsuchtsanfall stand und innerlich hin- und hergerissen war.
„Henson könnt ihr von mir aus haben, doch Weyl’s Tochter steht nicht zur Disposition“, sagte er schließlich mit aller Schärfe in der Stimme, die keinen Widerspruch duldete, drehte sich dann zu ihm um und fügte an ihn gerichtet hinzu: „Tut mir leid, Kleiner. Ich muss an das Schiff und ihre Besatzung denken.“
Vostal schluckte, als er in den Augen Caspers aufrichtiges Bedauern erkannte. Sie wussten beide, was die Ärzte des Gesundheitsministeriums mit Delinquenten veranstalteten. Diese erblickten fast nie das Licht einer Sonne wieder. Aber was zum Henker meinte er mit Weyl’s Tochter? Er kannte nur eine Person namens Weyl und die Konsequenzen erschienen ihm unglaublich. So dachte scheinbar auch Schönlingsfresse, dem der Nachname etwas zu sagen schien. Er war zumindest sogleich wesentlich umgänglicher.
„Ich denke, in diesem speziellen Punkt können wir uns einigen. Bin ja kein Unmensch. Wie erfolgt die Übergabe von Henson?“
„Sie können gerne andocken und ihn einsammeln oder möchten sie ihn gut verpackt als Lebendfracht?“
Schönlingsfresse lachte auf und schüttelte dann den Kopf, sodass seine blonden Locken hin- und herflogen. „Offen gesagt ist die Aussicht, ihr Schiff zu besichtigen verlockend und doch muss ich bedauerlicherweise ablehnen. Nicht, dass wir unerwarteten Besuch bekommen. Speziallieferungen frei Haus sind manchmal anstrengend zu übergeben, aber warum schmeißen sie ihn nicht im Raumanzug aus der Luftschleuse und fliegen einfach weiter? Sie sind ihr Problem los und wir sammeln ihn ein.“
Casper nickte zustimmend.
„Hört sich gut an. Wir bereiten alles vor. Geben sie uns ein paar Minuten.“
Vostals Arsch sank auf Grundeis. Das war es dann mit seiner rosigen Zukunft, die sich so erwartungsvoll vor ihm aufgetan hatte.
Melody war näher gekommen und stand jetzt neben seiner Arbeitsstation, in der die Navigations-KI noch immer sämtliche relevanten Daten übersichtlich darstellte. Ihre nachtblauen Augen drückten eine so aufrichtige Traurigkeit aus, dass der Eisklumpen in seiner Magengegend weiter anwuchs. Sein Blick glitt flackernd auf die beiden schematisch dargestellten Zeradin-Jäger, die sich schräg hinter die TINY DRAGON gestellt hatten und aus kürzester Entfernung ihre Torpedos abfeuern konnten.
Es war schon ein Jammer, dass zwei so kleine Schiffe, einem so großen Raumschiff gefährlich wurden. Dabei gab es doch einen triftigen Grund, warum die Jäger überhastet ausgemustert worden waren. Mit einem Mal glitt ein breites Lächeln über seine Lippen und Melody musterte ihn irritiert, als ob er den Verstand verloren hätte.
Das Holo mit Schönlingsfresse war erloschen, als er sich lächelnd an den Kapitän des Bergungsschiffes wandte: „Interesse, deiner Sammlung zwei Jäger der Navy hinzuzufügen?“
Fortsetzung folgt …
Veronika
30. März 2023 — 22:39
An dieser Geschichte faszinieren mich die Beschreibungen.
Selten habe ich einen Autoren gelesen, der Gerüche so intensiv beschreibt, sodass man förmlich die Kloake riechen kann, die auf diesem Planeten vorherrscht.
Das Tibi mit Melody ist sehr gelungen und ich bin jetzt schon gespannt, wie Vostal da wieder herauskommen will.
Malakai Delamare
1. April 2023 — 19:08
Hallo Veronika,
vielen Dank für Dein Lob zu den Beschreibungen. Ich gebe ja zu, dass ich da ein besonderes Augenmerk drauf habe und jeden Sinn des Menschen ansprechen möchte. Nun, beim Geruch scheint es mir gelungen sein. 🙂
Vostal benötigt all seine Findigkeit, um da herauszukommen. Sein Gegner wird es ihm definitiv nicht leicht machen.
VG
Malakai