Zweites Kapitel der Fortsetzungsgeschichte von Roland Triankowski, Fortsetzung von: Die Sternenfahrt | Buch 1: Die Suche nach Kertes | Kapitel 1: General der Föderation von Alexander “Tiff” Kaiser
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1. Dialog auf Flora
„Verstehe ich das jetzt richtig?“, fragte Myu. „Diese zweifelsfrei 70.000 Jahre alte Aufzeichnung – und du würdest sie mir nicht zeigen, wenn es nicht so wäre – zeigt einen Menschen? 60 Jahrtausende bevor unsere Vorfahren auf der Erde überhaupt daran dachten, die Pyramiden zu bauen?“
„Um und bei“, sagte Aris. Er hatte sein berühmtes Pokerface aufgesetzt, Myu wusste aber, dass er innerlich feixte. „Unsere Spezialisten haben das Alter mit einer Genauigkeit von ein paar Jahrtausenden – plusminus – bestimmt.“
„Gab es da überhaupt schon Menschen?“, fragte sie. „Meine letzte Einheit in Erdgeschichte ist schon etwas her …“ Sie unterbrach sich. „Entschuldige“, sagte sie nach einer kurzen Pause. „Diese naheliegenden Dinge habt ihr natürlich alle schon geklärt.“
Nun stahl sich doch ein Lächeln auf Stondras Gesicht. „Nein“, sagte er. „Mach nur weiter! Du stellst genau die richtigen Fragen. Wir haben uns mit ihnen zwar beschäftigt – geklärt ist aber noch überhaupt nichts. Außer, dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weder ein Fake noch ein Irrtum ist. Das Rätsel ist echt – und es ist gewaltig. Und deine erste Frage trifft gleich in den Kern. Ja, es gab vor 70.000 Jahren schon Menschen. Nach allem, was wir wissen, aber ausschließlich auf der Erde – und sie haben erst 30.000 Jahre später damit begonnen, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben und sesshaft zu werden. Und es hat noch einmal 35.000 Jahre gedauert, ehe sie – beziehungsweise wir – zu den Sternen aufgebrochen sind.“
„Du willst jetzt aber nicht behaupten, dass Kertes die Erde ist?“
„Nein. Diese Hypothese haben wir mit als erste verworfen. Naja, nicht ganz, ein kleines Team auf der Erde geht ihr trotzdem nach. Wir wollen ja nichts unversucht lassen.“
Myu trank einen Schluck Tee und sagte dann: „Welche Sprache spricht er eigentlich? Irgendeine Verwandtschaft zu alten Erdsprachen?“
Aris schüttelte den Kopf. „Leider eine Sackgasse“, sagte er. „Er spricht eine Kunstsprache. Die Grammatik folgt absolut exakten mathematischen Regeln, das Vokabular entbehrt jeder Bildhaftigkeit. Dadurch war der Text leicht zu übersetzen – aber es gibt nicht den geringsten Hinweis auf kulturelle Zugehörigkeit.“
„Seine Physiognomie wirkt auf den ersten Blick sehr durchschnittlich“, sagte Myu. „Sehr dunkle Haut, schwarze Haare und Augen, runde Ohren, keine Schlupflider – das könnte tatsächlich letzte Woche irgendwo auf der Erde oder sogar hier auf Flora aufgenommen worden sein.“
„Ja, er ist allem Anschein nach ein ganz normaler Mensch, wie er vor 70.000 Jahren, heute oder in 70.000 Jahren herumlaufen könnte“, sagte Aris.
„Das ist nicht dein Ernst!“ Myu stellte die Teeschale ab und richtete sich entrüstet auf.
„Was denn?“, fragte Aris.
„Du denkst doch nicht etwa an Zeitreise?“
General Stondra hatte längst wieder auf Pokerface umgeschaltet. „Theoretisch bewiesen, allerdings mit unfassbarem technologischem und energetischem Aufwand verbunden – ist nur eine Hypothese unter vielen.“
„Lass mich raten“, sagte sie. „Ein kleines Team geht dem bereits nach.“
Anstelle einer Antwort griff Aris zu seiner Teeschale und blickte sie beim Trinken vielsagend über den Schalenrand hinweg an.
Myu entspannte sich wieder und lehnte sich zurück. „Jetzt bin ich an der Reihe“, sagte sie.
„Womit?“
„Ich habe auch ein Rätsel für dich – nicht so spektakulär wie deines, aber es wird dir gefallen. Und vielleicht können wir sogar beide Rätsel zusammenführen und das eine mit dem anderen lösen.“ Die Tuila schlug die Beine übereinander und genoss den kurzen Moment, in dem ihrem Vorgesetzten und Lehrmeister fast die Gesichtszüge entglitten wären. Leider nur fast. „Lass mich nur schnell ein paar Anrufe machen“, sagte sie.
2. Abschied im Ssom-System
„Was war noch einmal der Grund, aus dem wir nicht einfach das Wurmloch errichten und allen Tragos zur Flucht verhelfen, o Aitu?“
„Was soll das, Kea? Warst du während der letzten Gigasec irgendwo anders als ich? Außerdem sollst du mich nicht so nennen.“ Riho seufzte und streckte in einer versöhnlichen Geste den Arm aus.
Die Kresh-Drohne ließ sich darauf nieder und sagte: „Tut mir leid, Riho. Es ist nur …“
„Mir geht es doch genauso“, sagte dieser. „Aber es ist einfach das beste so. Die Allianz ist außer Gefahr und es ist der ausdrückliche Wille von Takatum und ihren Leuten, den Rückzug der FRIEDE UND FREIHEIT zu decken und zu sichern. Wir haben jede Hilfe geleistet, die sie zugelassen haben. Mehr können wir nicht tun.“
„Ihre Leute?“
Riho nickte. „Takatums Blütezeit müsste vor knapp 500 Kilosec begonnen haben“, sagte er. „Daher ja: ihre Leute.“
Sie machten sich auf den Weg zum Hangar. Kea machte keine Anstalten, selbst zu fliegen und blieb auf Rihos Arm sitzen.
„Und die anderen wollen wirklich nicht mitkommen?“, fragte Riho.
„Nein“, antwortete Kea, „sie möchten lieber auf der AVATAR bleiben. Es geht ihnen einfach zu nahe. Außerdem sind sie durch mich ja dabei.“
Trotz seiner eigenen Symbiose mit der AVATAR fand er das sporadische Kollektivbewusstsein der Kresh manchmal etwas sonderbar. Das Spektrum reichte über die volle Bandbreite: mal sprachen sie mit einer Stimme, als wären sie ein Schwarmbewusstsein, und dann gab es wieder Momente, in denen sie sich stritten, als wollten sie künftig getrennte Wege gehen.
Das war auf der Heimatwelt der Kresh mit den riesigen teils biologischen, teils mechanischen Schwärmen aber noch deutlich verwirrender. An seine vier Drohnenfreunde hatte er sich längst gewöhnt und sie sehr lieb gewonnen.
Für den Transfer zur FRIEDE UND FREIHEIT wählten sie ein einfaches kugelförmiges Shuttle von zwei Metern Durchmesser. Es schwebte nur wenige Handbreit über dem Hangarboden zwischen den anderen Fahrzeugen. Als sie sich ihm näherten, öffnete sich an seiner makellosen schwarzen Oberfläche ein Zugang. Das Innere war sehr spartanisch eingerichtet: ein Sitz für Riho und eine Art Nest, in dem sich Kea niederlassen konnte. Sobald sie das Shuttle betraten, Riho sich setzte und Kea zu ihrem Nest schwebte, erwachte es jedoch zum Leben. Der Raum war erfüllt von leuchtenden Displays und Hologrammen, die alle möglichen Anzeigen, Diagramme und eine realitätstreue Darstellung der unmittelbaren Umgebung zeigten. Sie saßen gefühlt nicht mehr in einer schwarzen Kugel in einer Hangarhalle sondern vielmehr mitten im leeren Raum im Orbit des Planeten Rût, zweite Welt der Sonne Ssom.
„Na, dann wollen wir mal“, sagte Riho, was als Startbefehl vollauf genügte. Das Shuttle hatte keinen Eigenantrieb, es wurde von der AVATAR aus gesteuert und bewegt. Dank ihrer Symbiose wusste die Schiffs-KI, was sie zu tun hatte und steuerte die kleine Kugel auf direktem Wege zum Parkorbit der FRIEDE UND FREIHEIT – aber auch nicht zu schnell, denn Riho genoss solche Flüge und die Aussicht, die sich dabei bot. Mit einer Geste zoomte er den kleinen Lichtpunkt im Zielbereich heran.
„Ist sie nicht schön?“, fragte er.
Vor ihm schwebte jetzt das Hologramm der FRIEDE UND FREIHEIT und ließ sich durch weitere Gesten in alle Richtungen drehen, aus- und einzoomen.
„Sie wäre noch schöner, wenn sie uns erlaubt hätten, einen Gravitationsantrieb einzubauen“, sagte Kea.
Riho beschloss, Keas Gemecker nicht durch weitere schon tausendfach formulierte Erläuterungen zu würdigen. „Ich mag das klassische Design“, sagte er stattdessen. „So schön es ist, ohne Andruck zu beschleunigen und künstliche Gravitation zu haben – diese Rotationselemente für die Schwerkraftsimulation durch Fliehkraft haben schon etwas Majestätisches.“
Wie gebannt betrachtete er das gemächlich rotierende Hologramm – auch, um den Blick nicht auf den grün leuchtenden Planeten unter ihnen richten zu müssen.
„Außerdem hatten sie diese Technologie bereits zur Perfektion entwickelt, als wir kamen“, sagte er – wohlwissend, dass er damit seinen gerade gefassten Vorsatz wieder über Bord warf. „Der magnetische Schutzschild wird sie erfolgreich vor der kosmischen Strahlung schützen – und sammelt gleichzeitig zusätzlichen Treibstoff für das Fusionstriebwerk ein. Sie werden hochrelativistische Geschwindigkeit erreichen und in drei, vier Gigasec bei Neu-Acqia sein. Für sie selbst wird dabei maximal eine Gigasec vergehen.“ Er hörte auf zu reden, denn es beruhigte das schlechte Gewissen, das ihn plagte, auch nicht.
Kea bewies ihre lange Freundschaft, indem sie das Thema wechselte. „Wie steht es eigentlich um Rhadadonts Blütezeit?“, fragte sie.
„Die ist noch mindestens zwei, drei Megasec hin“, antwortete Riho. „Rhadadont ist aktuell ein er.“
*
„Riho aus dem sonnigen Sternenmeer und Kea vom nebligen Gipfel, seid mir und uns allen herzlich willkommen!“ Der Präsident aller Tragos und Anführer der Flüchtlinge empfing sie mit großer Delegation in einem Saal nahe der Stelle, an der sie ihr Shuttle angedockt hatten. Ein großes Panoramafenster bot den prächtigen Anblick des Planeten Rût, dessen sattes Grün alle Anwesenden in ein unwirkliches Licht tauchte.
„Rhadadont aus dem halbschattigen Winkel“, sagte Riho, „ich freue mich sehr, dass ihr mich noch einmal persönlich empfangt und bin voll der Trauer, dass dies gleichzeitig unser Abschied ist.“
Der Präsident fasste ihn mit seinen Rankenarmen an den Schultern und führte ihn zu dem großen Fenster. Kea flog derweil zu den anderen Tragos, um mit ihnen zu plaudern. Wenn sie wollte, konnte die Kresh-Drohne eine großartige Unterhalterin sein.
„Grämt euch nicht“, sagte Rhadadont. „Dies ist für uns alle ein Abschied mit Hoffnung. Das Leid unserer Geschwister von Bleg wird stets den Sinn behalten, dass sie uns rechtzeitig warnen konnten. Dadurch können wir sie in ewigem Andenken behalten, wenn wir in der Allianz ein neues zu Hause für unser Volk finden. Genauso können wir Takatums Mut und Opfer in Ehren halten – und nicht zuletzt euch und eure Freunde. Denn ihr habt uns mit der Allianz ein Ziel genannt, habt für uns geworben, auf dass wir in einhundert Sonnenläufen dort Asyl finden. Ihr gabt uns die Hoffnung, ja die Gewissheit, dass wir und unsere Nachkommen eine Zukunft haben werden.“
„Ich hätte so viel mehr tun können“, sagte Riho.
„Nein“, sagte Rhadadont nur. Sie hatten diese Diskussion schon so oft in den letzten dreißig Umläufen Rûts um seine Sonne geführt.
Es gab einfach kein Argument, das gegen dieses Vorgehen sprach. Die Rau würden kommen, vielleicht in zehn Umläufen, vielleicht erst in zwanzig – aber sie waren längst unterwegs. Hätte er hier das Wurmloch in die Allianz errichtet, hätten die Rau es sofort als Einfallstor genutzt. Nach allem, was er inzwischen über dieses Volk erfahren hatte, wäre die Allianz ihnen nicht gewachsen gewesen. Sie hatten die Trago-Kolonie auf Bleg überrannt, seitdem gab es kein Instafunksignal mehr von dort. Das geschah lange vor seinem Eintreffen im Ssom-System. Als er es vor einer Gigasec erreichte, hatten die Tragos die FRIEDE UND FREIHEIT schon fast fertiggestellt und die Verteidigungsanlagen auf und um Rût festungsartig ausgebaut.
Insofern war es ein Glück, dass die Tragos keine Wurmlochtechnologie kannten und nie eine entsprechende Verbindung zwischen ihrer Heimatwelt und ihrer ersten Sternenkolonie errichtet hatten. Da auch die Rau ohne eine etablierte Verbindung erst einmal relativistisch kommen mussten, hatten die Tragos Zeit, die sie auch nutzten. Und die Rau kamen, da gab es kein Vertun. Dies war das erfolgversprechendste Vorgehen, wie man es auch drehen und wenden mochte. Also gab es nichts mehr zu diskutieren.
„Erlaubt mir dennoch, euch ein letztes Geschenk zu machen“, sagte Riho und winkte Kea herbei. Die Kresh-Drohne flog zu ihnen, grüßte den Präsidenten höflich und entnahm einem Stauraum ihres Kunstkörpers eine zehn Zentimeter große Kugel.
„Diese Kapsel“, sagte sie, „enthält Elementarteilchen, die mit Gegenstücken auf Neu-Acqia verschränkt sind.“
Rhadadont knickte seine vier Beinwurzeln leicht ein – eine Geste des Danks – und nahm die Kapsel entgegen.
„Tragos kennen den Instafunk mindestens seit zehn Gigasec“, sagte Kea. „Ihr müsst es also annehmen.“
Zum Glück kannten die Tragos auch Humor, dachte Riho und sagte: „So könnt ihr die ganze Reise über mit den Acq in Verbindung bleiben und habt eure Hoffnung und den Beweis für eine glückliche Zukunft immer bei euch.“
„Ich danke euch aus tiefster Wurzel“, sagte Rhadadont. Auch wenn die Tragos in streng-gaianischem Sinne keine Pflanzen waren, übersetzte Riho einschlägige Begriffe für sich mit entsprechenden Allegorien.
*
Den Start der FRIEDE UND FREIHEIT als historisch und bewegend zu bezeichnen, wäre dem einzigartigen Ereignis nicht gerecht geworden. Die Festungsanlagen auf Rût schossen mindestens ein Dutzend Kilosec lang Salut bis weit in den Orbit hinaus, als das gut zehn Kilometer lange Schiff mit seiner millionenstarken Besatzung – die Milliarden eingelagerten befruchteten Keime nicht mitgerechnet – endgültig seine Ursprungs- und Heimatwelt verließ.
Die AVATAR flog ein paar hundert Lichtsekunden Geleit (und gab fast unbemerkt mit einer kleinen Gravitationswelle einen zusätzlichen Schubs) ehe die FRIEDE UND FREIHEIT endgültig ihre einsame Reise antrat.
*
Der Abschied von Marschall Takatum und den Verteidigern Rûts – im Grunde ein komplettes Volk in Waffen – war ungleich schwerer. Was ihnen an Hoffnung fehlte, machten sie mit unerschütterlicher Zuversicht und Tapferkeit wett. Sie wussten, dass sie dem Untergang geweiht waren, wuchsen aber an der Gewissheit, ihren Geschwistern von der FRIEDE UND FREIHEIT die sichere und unentdeckte Flucht zu ermöglichen – und für jene aus Bleg so gut wie möglich Rache üben zu können.
Immerhin war man hier seinen technologischen Innovationen gegenüber etwas offener eingestellt – soweit sie sich waffentechnisch nutzen ließen. Dennoch war sein Angebot, an den Kämpfen teilzunehmen, schon früh abgelehnt worden. Auch wenn die AVATAR beileibe kein Kampfschiff war, hätte sie sich durchaus gut schlagen können – aber letztlich überzeugte auch hier ein Argument: So lange auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit bestand, dass die Rau der AVATAR habhaft werden und das Wurmlochende aktivieren konnten, war die Allianz und somit der sichere Hafen für die FRIEDE UND FREIHEIT in Gefahr. Er musste also längst fort sein, wenn die Rau eintrafen.
3. Einsamkeit zwischen den Sternen
Als Zielstern hatte Riho eine gut zwei Gigalichtsekunden entfernte weißgelbe Sonne gewählt, von der recht vielversprechende Emissionen anzumessen waren. Sie ließen auf eine sehr hochentwickelte Kultur schließen – die hoffentlich nicht zu den Rau gehörte. Da Bleg in eine ganz andere Richtung lag, hatte er einigen Grund, guter Dinge zu sein.
Auf die Entfernung ließen sich natürlich keine konkreten Datensätze entschlüsseln, dennoch lautete sein Beschluss, sich dort umzusehen und nachzufragen, ob man an einer Wurmlochverbindung mit der Allianz interessiert war.
Die AVATAR konnte sehr schnell auf hochrelativistische Geschwindigkeit beschleunigen. Ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er sich parallel dazu vom Bezugssystem und somit dem Schicksal der Tragos entkoppelte. Für ihn würden kaum 100 Megasec vergehen, ehe der den Zielstern erreichte – für Takatum und ihre/seine Leute etwa das Zwanzigfache.
Riho versuchte sich während der Reise mit den unterschiedlichsten künstlerischen Betätigungen von dem Gedanken abzulenken, dass just in diesem Moment ein erbarmungsloser Vernichtungskrieg im Ssom-System toben mochte, dass in jeder Sekunde, die für ihn verging, Tausende oder sogar Millionen starben – und eine einst blühende, vor Leben strotzende Welt verwüstet wurde.
Die Kresh-Drohnen waren ebenfalls sehr schweigsam, auch wenn Kea hin und wieder versuchte, alle etwas aufzumuntern.
Es war schließlich die ansonsten so stille Dyka, die mit Riho das Gespräch suchte. Sie sprachen über mehrere Wachzyklen hinweg miteinander über ihre Erlebnisse bei den Tragos, über deren Wesen und Historie. Sie redeten auch über die Rau – selbst wenn sie nur wenig über sie wussten. Schließlich begannen sie damit, Modelle und Simulationen über den Verlauf der Kampfhandlungen zu errechnen. Sie waren im Großen und Ganzen so deprimierend, wie es zu erwarten war. Die meisten Durchläufe endeten mit der Besetzung, der Verwüstung oder gar der völligen Vernichtung Rûts.
In über zehn Prozent der Fälle kam es jedoch zu überraschenden Wendungen, in denen es den Tragos durch hartnäckige Guerillataktik oder waghalsige Kommandounternehmen gelang, die Invasion der Rau abzuwehren. Das war ein erstaunlich hoher Wert, den Riho so nicht erwartet hätte. Selbst wenn sie in der Simulation den technologischen Stand der Rau weit nach oben setzten – eine der unsichersten Variablen, da sie auch darüber kaum etwas wussten –, sank der Wert nur wenig unter zehn Prozent. In jedem Fall aber würde sich das Schicksal des Ssom-Systems längst entschieden haben, wenn die AVATAR ihr Ziel erreichte.
„Danke, Dyka“, sagte Riho am Ende eines Wachzyklus‘ schließlich. Er hatte sich schon ziemlich früh angewöhnt, sein Leben in Zyklen von 100 Kilosec zu unterteilen, was recht genau einem Tag auf Ma‘uhi entsprach, was er nach all der Zeit noch immer als seine Heimatwelt betrachtete.
Den Rest der Reise fühlte er sich schon etwas besser – nicht gut aber besser. Und er nahm erneut interessiert zur Kenntnis, wie sehr seine vier Begleiterinnen doch noch ihrer klassischen Rollenaufteilung verhaftet waren – obwohl sie schon so lange vom Großen Schwarm der Kresh getrennt lebten.
Die Vierergruppe war traditionell die kleinste Einheit im Schwarm. Wenn sich die Kresh auch permanent wie wild durchmischten und verwandtschaftsgebundene Familieneinheiten unbekannt waren, eine Vierergruppe blieb, wenn sie sich einmal gefunden hatte, ein Leben lang zusammen. Und oft sogar darüber hinaus, da viele Kresh die Möglichkeit hatten, ihr Bewusstsein nach dem Tod auf eine Drohne zu übertragen. In einer solchen Vierergruppe verteilten sich die Rollen stets auf den Sprecher, das Gedächtnis und den Kämpfer, der vor allem für die schwarminterne Hackordnung wichtig war. Die vierte Rolle war für Außenstehende schwer zu definieren. Der oder die Kresh, die diese Rolle innehatte, trat im Schwarm oder nach außen hin kaum in Erscheinung, war für den Zusammenhalt der Vierergruppe aber offenbar von elementarer Bedeutung. Wenn einer der anderen drei starb, konnte die entsprechende Position oft ersetzt werden. Wenn der oder die vierte starb, bedeutete dies stets das Ende der Gruppe. Die drei anderen suchten sich dann jeweils eine neue. Dyka erfüllte diese vierte Rolle noch immer hervorragend.
4. Ankunft bei Tau 395
„Du wirst es nicht glauben“, sagte AVATAR. „Aber wir haben die Erde gefunden.“
„Das soll die Erde sein?“, fragte Rihu. Seit er auf diesem Schiff der Retorte entstiegen war, erlaubte sich die symbiotische KI hin und wieder elterliche Scherze mit ihm. Das hatte nach all den Gigasec nicht nachgelassen – dennoch war er sich nie ganz sicher, wann sie es doch mal ernst meinte.
„Natürlich nicht“, sagte AVATAR. „Aber Flora – so heißt diese Welt – ist offenbar Teil eines Staatengebildes, das zentral von der Erde aus gelenkt wird.“
Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, bei der Ankunft in einem unbekannten Sonnensystem erst einmal aus sicherer Entfernung die örtliche Datensphäre zu checken, um sich einen Überblick zu verschaffen, Sprachen und Gebräuche zu lernen und gegen eventuelle Gefahren gewappnet zu sein. Die AVATAR hatte sich daher an einem Asteroiden des äußersten Gürtels verankert und lauschte den Datenströmen, die vor allem von der fünften Welt ausgehend das System erfüllten. Die wichtigste Erkenntnis war, dass es sich nicht um ein System der Rau handelte. Hier lebten vor allem Menschen und Hephariden – von letzteren hatten Riho und die Kresh noch nie gehört. Und nun offenbarte sich, dass diese Welt Teil eines Sternenbunds – einer Föderation – war, dem kein geringerer Planet als die legendäre Erde angehörte.
„Hieß es auf Ma‘uhi nicht immer, dass die Erde bei diesem Raumzeit-Brand untergegangen sei?“, fragte Riho.
„Nicht explizit“, sagte AVATAR. „Die Erde wird in dem Zusammenhang nur in ein paar apokryphen Texten erwähnt.“
„Tja“, sagte Riho, „dann hatten doch die Menschen von Myria Recht. Die Erde war die ganze Zeit da draußen und wartete auf ihre verlorenen Kinder.“
Doch das waren längst nicht alle Überraschungen, die ihnen Floras Datensphäre offenbarte. So war die Föderation nicht nur ein ungefähr 100 Gigalichtsekunden durchmessendes Staatengebilde, es war auch noch ein hochkomplexes Wurmlochnetzwerk, das alle angeschlossenen und assoziierten Systeme miteinander verband. Und das seit unfassbar langer Zeit. Auch hier schien die Sekunde als Basiseinheit der Zeit zu dienen, größere Zeiteinheiten maß man aber offenbar in Jahren – ungefähr 31 Megasec lang –, die der Umlaufzeit der Erde um ihre Sonne entsprachen. Daran würde er sich erst gewöhnen müssen.
„Was für eine Leistung!“ Riho kam nicht umhin zu staunen, als er eine dreidimensionale Grafik des Föderationsnetzwerks aufrief.
„Wenn man bedenkt, dass wir beide gerade einmal vier Systeme zu unserer kleinen Allianz zusammengeknüpft haben“, sagte AVATAR.
„Dann werde ich bei unserer kleinen Allianz mal anfragen, ob Interesse an einer Verbindung mit der Föderation besteht“, sagte Riho.
Die AVATAR war mit jeder der vier Welten per Instafunk verbunden. Auch wenn er sich dank seiner langen Reisen in hochrelativistischer Geschwindigkeit manchmal mehrere Generationen lang nicht meldete, erinnerte man sich doch immer wieder seiner und akzeptierte ihn weiterhin als Botschafter.
Nach den Tragos brauchte er nicht zu fragen, sie hatten ihre Reise nach Neu-Acqia höchstens zur Hälfte bewältigt. Aber man gewährte ihm nach einigen Beratungen die Kontaktaufnahme mit der Föderation im Namen der Allianz.
5. Behördenwege
„Verstehe ich das jetzt richtig?“, fragte Aris. „Seit gut zwei Wochen hängt ein 5.000 Jahre altes Wurmlochbauschiff im Quarantäneorbit um den siebten Planeten – weil die Einwanderungsbehörde das so angeordnet hat?“
Myu nutzte die Gelegenheit und wendete an, was ihr Lehrmeister ihr in Sachen Pokerface beigebracht hatte. „Deine Aussage enthält ein, zwei spekulative Elemente – im Großen und Ganzen entspricht sie aber der Wahrheit“, sagte sie.
Aris Stondra zog das Hologramm des Schiffes zu sich heran, vergrößerte und drehte es, um es von allen Seiten zu betrachten. „Stimmen die Angaben?“, sagte er leise, ohne eine Antwort zu erwarten. „Zwei Kilometer lang, einen Kilometer breit, kaum 300 Meter hoch.“ Er schaute zu Myu und fragte: „Was ist mit der Besatzung? Wieso haben die das mit sich machen lassen?“
Die Tuila entschied, dass es mit dem Geplänkel genug war und gab dem General einen erschöpfenden Bericht. Demnach hatte das Schiff mit dem Eigennamen AVATAR direkt die Lagrange-Stationen angefunkt. Interessanterweise mittels einer winzigen Instafunksonde, die es unbemerkt von einer Parkposition am Systemrand in einem mehrmonatigen ballistischen Kurs zur Station geschickt hatte.
„An Bord befinden sich nach bisherigem Wissensstand nur ein Mensch namens Riho Zypher und vier offenbar künstliche Wesen namens Kea, Luma, Cora und Dyka“, sagte sie. „Vom Volk der Kresh, dem sie angeblich angehören, hat man in der Föderation noch nie etwas gehört.“
Sie berichtete weiter, dass Zypher und seine Begleiter sich als Botschafter der „Allianz Freier Welten“ vorgestellt und Kontakt mit den hiesigen Behörden erbeten hätten. Aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen – womöglich weil sie keine Föderationsbürger waren – hatte man sie an die Einwanderungsbehörde verwiesen, was einen automatisierten bürokratischen Prozess ausgelöst hat, der dafür sorgen dürfte, dass die AVATAR noch für Monate wenn nicht Jahre in dem zugewiesenen Quarantäne-Orbit bleiben würde.
Stondras Blick war noch immer vom Anblick des Schiffes gefesselt. Vor allem der einen Kilometer durchmessende Ring, der die hintere Hälfte des Schiffes ausmachte – er nahm an, dass dies das Heck war –, faszinierte ihn.
„Das ist ein gewaltiger Gravitationsantrieb“, sagte er. „Vermutlich rotieren mehrere Singularitäten darin, versorgen das Schiff mit Energie, treiben es an, können Schutzwälle aufbauen und vieles mehr. Mit diesen Dingern wurde vor vier-, fünftausend Jahren unser Wurmlochnetz errichtet.“
Er zoomte die Darstellung noch weiter heran bis er die mehrere hundert Meter durchmessende Lücke in dem Ring vor sich hatte. Der Anblick des Planeten dahinter flackerte und war verzerrt, als würde man durch eine Linse schauen.
„Haben die etwa ein Proto-Wurmloch dabei?“, fragte er.
„In seiner ersten Nachricht sprach Zypher davon, eine Verbindung zwischen der Allianz und der Föderation anzubieten. Möglich, dass er das ganz real gemeint hat.“
„Haben wir Zugriff auf seine Instafunksonde?“, fragte Aris.
Myu hob eine Augenbraue.
„Entschuldige die Frage. Magst du für mich anrufen?“
6. Erster Kontakt
Riho hatte es sich im großen Garten bequem gemacht. Der von einer transparenten Kuppel überdachte große Zentralbereich der AVATAR war aktuell einem Landstrich auf Ma‘uhi nachgebildet, wo er lange Zeit gelebt hatte: ein See, sanfte grasbedeckte Hügel, ein paar Bäume. Das kam für ihn einem Heimatgefühl am nächsten. Er lag am See und betrachtete den Gasriesen, den sie seit einiger Zeit umkreisten. Der Anblick der bunten Wolkenbänder und Sturmtiefs faszinierte ihn. Alle vier Systeme der Allianz, das Ssom-System und nicht zuletzt der namenlose Stern, unter dem er das buchstäbliche Licht der Welt erblickt hatte – in jedem zog mindestens ein Gasplanet seine Bahn. Doch alle waren sie einzigartig und auf ihre ganz eigene Art und Weise bezaubernd.
Die Kresh-Drohnen waren irgendwo im Schiff unterwegs, vielleicht plauderten sie per Instafunk mit dem Großen Schwarm. Es kam hin und wieder vor, dass er die vier mehrere Megasec lang nicht zu sehen bekam.
In ein paar Metern Entfernung baute sich mit einem Mal das Hologramm einer hochgewachsenen Frau auf. Auch so eine Unart von AVATAR, ihm manchmal Anrufe ohne Ankündigung durchzustellen.
„Mein Name ist Myu ran Tau“, stellte sich die Frau vor. AVATAR übersetzte ihre Worte synchron. „Ich heiße Sie im Tau-System willkommen und möchte mich im Namen der Föderation für die Unannehmlichkeiten entschuldigen.“
Riho richtete sich auf und lächelte Myu an. Sie war eindeutig ein Mensch, verfügte aber über interessante physiognomische Merkmale, die er weder auf Mau’hi noch auf Myria bei irgendwem gesehen hatte.
„Vielen Dank, Myu ran Tau“, sagte er und erhob sich. „Mein Name ist Riho. Von Unannehmlichkeiten kann keine Rede sein. Es fehlt mir an nichts und ich habe alle Zeit der Welt. Die Kresh haben mich seinerzeit eine geschlagene Gigasec komplett ignoriert, ehe sie mich überhaupt einer Antwort für würdig befunden haben. Insofern habe ich keinen Grund zur Klage.“
„Unsterblichkeit macht gelassen, nicht wahr Mr. Zypher?“ Ein zweites Hologramm erschien. Es zeigte einen männlichen Menschen, der nicht ganz so grazil wie Myu wirkte. Spitze Ohren hatte er auch nicht, wie Riho schnell feststellte.
„Riho genügt“, sagte er. „Zypher ist ein Beiname, den mir die Acq verpasst haben. Im Übrigen kann ich Ihnen versichern, nicht unsterblich zu sein. Denn einmal bin ich mindestens schon gestorben.“
Der Mann ließ sich von seiner kryptischen Antwort offenbar nicht aus der Ruhe bringen. Vielmehr lächelte er und sagte: „Sehr angenehm, Riho. Ich bin General Aris Stondra, aber nennen Sie mich bitte Aris. Verzeihen Sie meine Neugier aber ein Schiff wie das Ihre hat man mindestens seit 4.000 Jahren nicht mehr in der Föderation gesehen und es ranken sich etliche Legenden darum – unter anderem, dass die Besatzung aus genetisch perfektionierten Unsterblichen besteht.“
„Freut mich, Aris“, sagte Riho und verneigte sich leicht. „Über meine Herkunft und die meines Schiffes weiß ich leider kaum mehr als Sie. Der Zähler der AVATAR steht aktuell bei etwa zwölf Gigasec.“
„Zwölf Gigasec?“, fragte Aris.
„Zwölf Milliarden Sekunden“, half Myu aus. „Das sind ungefähr 380 Standardjahre.“
„Genau“, sagte Riho und nahm sich vor, AVATAR anzuweisen, beim Übersetzen künftig auch die Zeiteinheiten entsprechend umzurechnen. „Das betrifft aber nur unser eigenes Bezugssystem. Wir waren oft mit hochrelativistischen Geschwindigkeiten zwischen den Sternen unterwegs. Auf Ma‘uhi sind der gleichen Zeit an die …“ Er überlegte kurz. „… 800 Jahre vergangen.“
„Und was war vor diesen zwölf Milliarden Sekunden?“, fragte Aris.
„Irgendetwas hat mein Schiff fast vollständig zerstört und die gesamte Besatzung getötet. Das Schiff hat sich wieder rekonstruieren können, verfügte aber nur noch über die Basisprogrammierung. Die Datenspeicher waren leer, keine Aufzeichnungen, keine Erinnerungen.“
„Werkseinstellung“, kommentierte Aris.
„Und in der Basisprogrammierung war nur ein DNA-Datensatz enthalten“, fuhr Riho ungerührt fort, „aus dem ein neues Besatzungsmitglied herangezüchtet wurde. Ich.“
Riho nahm sehr wohl wahr, dass seine Gesprächspartner kurz zögerten. Womöglich froren sie gerade ihre Standbilder ein, um schnell ein paar Worte zu wechseln.
„Und seitdem“, begann Aris wieder zu sprechen, „sind Sie als Botschafter für eine Allianz verlorener Kolonien unterwegs und bauen denen ein neues Wurmlochnetzwerk auf.“
„Das ist eine Möglichkeit es zu formulieren“, sagte Riho.
„Demnach sind sie ohne Zweifel ein Diplomat, dem alle entsprechenden Rechte und Privilegien zustehen“, sagte Aris. „Somit fallen Sie vielmehr in meinen Zuständigkeitsbereich, als in jenen der Einwanderungsbehörde. Und ich bin ein großer Freund schneller Verfahren. Wann hätten Sie Zeit für eine gemeinsame Tasse Tee? Wäre Ihnen morgen recht?“
Nun war es an Riho, kurz zu zögern, was General Stondra für eine Ergänzung nutzte: „In 80 Kilosec?“
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