Erstes Kapitel der Fortsetzungsgeschichte von Alexander “Tiff” Kaiser, es ist der Auftakt eines gemeinsamen Science-Fiction-Schreibprojekts mit Roland Triankowski.

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1. Ankunft

Die Standardprozedur, um einen fremden Planeten zu betreten, war in der Föderation eigentlich überall gleich. Egal ob um die Kernwelten im Tausend-Lichtjahre-Radius um Terra, oder in der im Schnitt fünfhundert Lichtjahre starken Schale der assoziierten Systeme. Man flog ein Sonnensystem mit Hilfe der Wurmlochverbindungen an, flog zum Planeten, den man besuchen wollte, und dockte an einer Raumstation an einem der Lagrange-Punkte an, um sich auszuweisen, seinen Gesundheitsstatus zu überprüfen und eventuell, so man welche hatte, seine Waren checken zu lassen. Das war ein durchaus wichtiges Prozedere, denn nicht erst seit der Koljan-Epidemie war man in der Föderation extrem vorsichtig dabei, wenn es darum ging, Viren verschiedener Planeten einen Austausch zu ermöglichen und damit neue Viren zu erschaffen, für die es außer der Nanobot-Technologie keinen Schutz gab. Und was die Bakterien anging, auch sie waren noch immer im gleichen Maße nützlich wie hochgefährlich. Viele Planeten, die von den verschiedenen Rassen der Föderation besiedelt worden waren, hatten ihre Erfahrungen mit eingeschleppten oder exportierten Krankheiten. Vor der Gründung der großen Gemeinschaft, dem größten Projekt in diesem Teil des Orion-Arms der Milchstraße, hatte oft ein einziger Träger einer Krankheit gereicht, die an seinem Heimatort harmlos war, für die es aber an seinem Ziel keine Heilung und keine Abwehr gab, um Millionen das Leben zu kosten. Sicher, viele Krankheiten, vor allem Virenerkrankungen waren endemisch und damit auf bestimmte Spezies beschränkt. Das hinderte die Viren aber eben nicht am Austausch untereinander. Das, wovor alle Zivilisationen Angst hatten, war die eine, multiansteckungsfähige Supervireninfektion, die nicht von Naniten aufgehalten werden konnte. Was durchaus schon versucht wurde herzustellen, alleine aus militärischen Gründen.

Zölle gab es innerhalb der Grenzen der Föderation eigentlich keine; sie wurden nur auf Waren aus den umliegenden Nationen erhoben und galten der Regulierung der Einfuhr, nicht der Staatsfinanzierung.

Hoser Klein wusste das alles. Mit seinen über vierhundertdreißig Jahren im diplomatischen Korps der Föderation der multinationalen Planeten hatte er mehr als genug Welten besucht, um das Prozedere aus dem FF zu kennen. Umso erstaunlicher war es, dass diese Vorgehensweise augenscheinlich auf der fünften Welt der Sonne Tau 395, Eigenname Flora, ausgehebelt schien.

Hoser war ganz offiziell eingereist, wenngleich nicht als Diplomat, sondern als Privatmann. Er hatte auf Flora Zwei, der älteren der vier Lagrange-Stationen, seinen Passagierraumer verlassen und war durch den Zoll gegangen. Anschließend hatte er mit seinem Gepäck eines der Shuttles betreten und ließ sich auf den Planeten hinab tragen. Hier aber, auf dem Raumhafen Shallencer, dem nichtmilitärischen Hafen des Planeten, wurde er erneut durch den Zoll geschickt. Flora war Mitglied der Föderation, und damit war dieses Verhalten untypisch. Aber die Beamten rechtfertigten es damit, dass der Hormenk-Bund ja quasi um die Ecke lag und sich weder für Infiltrationen, noch für die eine oder andere Invasion zu schade war.

„Name?“, fragte der große, bullige Hepharide, dem man die insektoiden Vorfahren deutlich an den Facettenaugen absehen konnte.

„Hoser Klein“

Hoser reichte dem fast drei Meter großen Giganten seinen ID-Chip.

Das Exoskelett, welches dem Riesen überhaupt erst ermöglicht hatte, so groß zu werden, ohne unter dem eigenen Gewicht zu Boden zu gehen – selbst bei der niedrigeren Schwerkraft dieser Welt von 0,8g – knirschte ein wenig, als er den Chip entgegennahm und in sein Lesegerät steckte.

Wenn Hoser erwartet hatte, dass der Gigant mit den Abzeichen eines Leutnants von seinem Status als Diplomat beeindruckt sein würde, wäre er enttäuscht worden. Stattdessen seufzte der blauuniformierte Gigant: „Nicht noch einer von denen. Grund der Einreise?“

„Vorbereitung einer diplomatischen Mission im Gebiet der Rau. Geheimhaltungsstufe fünf.“

„Gebiet der Rau?“, echote der Riese. Sein Übersetzer verzerrte die Menschenstimme einen Moment, mit der er kommunizierte und machte ein sehr hässliches, kratzendes Geräusch. Einiges am Exoskelett gehörte dringend gewartet, fand Hoser.

„Es ist eine Geheimmission. Inoffiziell.“

„Und du suchst jetzt eine arme Sau, die für genügend Geld ausgerechnet ins Gebiet der Rau fliegt, in der Hoffnung, nicht aufgegriffen und gefressen zu werden?“

Hoser ignorierte, dass der Beamte ihn duzte. Hephariden waren nun mal so, und in den meisten Teilen der Föderation gab es ohnehin kaum Sprachen, die ein Sie kannten.

„Ja, das fasst es in etwa zusammen.“

Der Riese deutete auf die beiden Koffer. „Aufmachen.“

„Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass ich einen gültigen Diplomatenausweis …“

„Aufmachen. Oder zurückfliegen. Such es dir aus, Hoser Klein.“

„Das sind merkwürdige Zustände hier.“

„Wir hatten diese Woche schon fünf Infiltrationsversuche der Hormenk. Du weißt schon, militärische Sabotage. Deshalb sind wir, tja, etwas mehr darauf bedacht, zu wissen, wer auf unsere Welt kommt und was er mitbringt.“

„Klingt logisch.“ Er gab seinen beiden Koffern den Befehl, auf den Untersuchungstisch zu fliegen und sich zu entriegeln.

Der Insektoide öffnete und untersuchte den Inhalt mit seinen zehn Greiflamellen pro Arm. Hoser wusste, dass Hephariden mit ihren viermal zehn Lamellen bis in den Molekülbereich herunter tasten konnten. Zudem waren die Lamellen mit Rezeptoren geradezu überfüllt. Rauschgifte, Sprengstoffe, illegale Substanzen, ein Hepharide fand sie garantiert. Egal, in wie kleinen Spuren sie verteilt waren.

Der Gigant stockte kurz, fasste mit einer Hand nach und fühlte erneut.

„Da ist doch tatsächlich eine Spur Angel Star auf einem der Hemden.“ Die eher begrenzte Mimik des Riesen verzog sich kurz angestrengt.

„Aber es ist eine mikrominimale Menge. Die Chance, dass sie zufällig auf das Hemd gelangt ist, ist relativ hoch. Zudem ist das Hemd benutzt, also hast du es getragen, Klein. Wohl unter billigen Drittanbietern gewesen, hä? Das schnelle Vergnügen gesucht, hä?“ Der Insektoide feixte ihm zu.

„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht, Leutnant.“

„Stimmt auch wieder.“ Der Riese führte seine Visite zu Ende, dann schloss er die Koffer wieder und seufzte. „Stell dich in den Scanner, Hoser Klein.“

Hoser tat, wie ihm geheißen und ließ sich erfassen. Der Vorgang dauerte etwa eine Minute, und danach war er sich sicher, dass die Neuronik, die den Scan auswertete, wusste, wie seine Mahlzeiten der ganzen vergangenen Woche ausgesehen hatten und wohin die Nährstoffe gegangen waren.

Als er den Scanner wieder verließ, gab der Zollbeamte die Koffer frei. „Kein Ergebnis. Du kannst einreisen, Klein. Aber überlege dir das mit dem Flug ins Gebiet der Rau noch mal. Euch Menschen finden die echt zum Anbeißen, und das meine ich nicht kopulationstechnisch.“

„Danke“, erwiderte Hoser säuerlich. Er befahl seinen Koffern, ihm zu folgen und verließ den Zollbereich ohne ein weiteres Wort.

Kaum hatte Hoser Klein den gesetzlich vorgeschriebenen Überwachungsbereich des Raumhafens verlassen, ging alles sehr schnell. Ein Kleinschweber kam heran, nahm ihn und die Koffer auf und brauste davon. Dies tat er ohne GPS und ohne Anbindung an das örtliche InfNet. Schnell war er im Gewirr der kleinen Straßen des Raumfahrerviertels verschwunden.

Als der Kleinwagen hielt und der Passagier ausstieg, war er nicht länger Hoser Klein.

2. Briefing

Die Tiula, welche den Diplomaten empfing, residierte am Rande des Raumhafenviertels in einem der besseren Apartmentgebäude. Was nicht hieß, dass sie luxuriös lebte, lediglich sicherer als die meisten Anwohner. Wie auf Flora war das Umfeld der Raumhäfen einer Föderationswelt eine wilde Mischung aus billigen Einkaufsmöglichkeiten, Amüsierbetrieben jeglicher Couleur, maschineller Prostitution und billigen Wohnraums, denn wer wohnte schon gerne über einer Kneipe, die selbst in der Woche bis sechs Uhr morgens offen hatte? Aber immerhin, wie auf fast allen Föderationswelten gab es nicht wirklich das, was man eine Mafia nennen würde. Staatliche Regulierungen und staatlich etwas locker gelassene Zügel schufen auf Flora eine Grauzone, in der sich Geld verdienen ließ, ohne dass es zu Schießereien auf offener Straße kam. Oder gar dem Handel mit allzu illegalen Drogen. Hehlerei gestohlener Güter gab es sicherlich. Solange es Menschen gab, würde es auch Personen geben, die für sich selbst Abkürzungen suchten, um schnell einen gewissen Wohlstand zu erreichen.

Das Apartmentgebäude gehörte zu jenen, die sich darauf spezialisiert hatten, seinen Bewohnern nicht nur einen gewissen Komfort zu bieten, sondern auch eine gewisse Sicherheit. Dazu gehörte ein Abhörschutz, der seinen Namen auch verdiente.

„Hattest du es schwer?“, empfing die Bewohnerin ihren Gast.

Der Diplomat entledigte sich seiner Jacke und nahm ungefragt auf dem bequemen Sofa Platz, eine der bevorzugten Rastanlagen für Spezies mit bis zu acht Extremitäten. „Es war in Ordnung. Dank des Angel Stars hat der Hepharide sich auf meine Koffer konzentriert, und nicht auf mich. Hätte er mich mit einer Leibesvisitation mittels seiner Lamellen untersucht, wäre die Nanitentarnung so gut wie sicher aufgefallen.“

„Du hast einen Diplomatenpass, Aris.“

Der Mann lächelte dünn. „Es hätte einige unnötige Fragen aufgeworfen, wenn ich als Diplomat der Föderation mit Hilfe von diplomatischer Immunität auf eine unserer eigenen Welten eingereist wäre, findest du nicht, Myu?“

Die große, schlanke Humanoide ließ ein amüsiertes Schnauben hören, bei dem man vergessen konnte, dass ihre Vorfahren die Erde schon vor fünftausend Jahren verlassen hatten, um sich auf der Föderationswelt Tiu ein eigenes Reich nach ganz eigenen Vorstellungen zu schaffen. Dies hatten sie durch genetische Manipulation erreicht. Heutzutage nannte man Tiu auch die Rollenspielerwelt. Die Anpassungen hatten damals fünf neue Unterspezies der Menschen geformt. Die Tiuli, die Grabo, die Okra, die Turoni und die Liliths. Die Tiu waren alle von großem Wuchs, sehr schlank, sehr grazil, aber zäh und ausdauernd. Ihre herausstechendsten Merkmale waren die langen, dünn auslaufenden Ohren, welche eine deutliche Spitze bildeten. Aris wusste, dass die Tiuli damit bis in den Ultraschallbereich hören konnten. Wenn sie es wollten. Die genetische Anpassung ermöglichte es ihnen, diese Fähigkeit bewusst zu steuern, sodass man sie eben nicht auf diese Weise ausschalten konnte. Tiuli waren dank ihrer Geschwindigkeit, ihrer Geschicklichkeit und ihrer Selbstheilungsfähigkeiten, so sie ihre Welt verließen, oft Akrobaten, Raumfahrer, Soldaten. Aber auch Agenten, Händler, Diplomaten.

Das Ergebnis von fünftausend Jahren genetischer Manipulation saß nun vor ihm: Eine schlanke, dunkelbraunhäutige Frau mit schlohweißem Haar und blaugrauen Augen, die ihn noch immer ein wenig spöttisch musterten. Die meisten humanoiden Spezies fanden die Tiuli sexuell höchst attraktiv, wahrscheinlich auch einer der Gründe für die genetische Manipulation. Wo Tiuli die Neigung dazu verspürten, gehörten sie als Sexarbeiter zu den Bestverdienern des Gewerbes.

Direkte Konkurrenz hatten sie dabei nur von ihren Vettern, den Okra.

Die Okra setzten auf Kraft, Ausdauer, Muskelmasse, Energie, Selbstheilung. Die meisten Okra waren im Schnitt einen Meter achtzig groß, aber auch fast ebenso breit. Sie waren lebendige Panzer.

Okra, die ihre Welt verließen, tauchten an erster Stelle in der Flotte oder im Marines-Corps auf, weil sie geborene Infanteristen waren. Viele hochrangige Admiräle und Generäle waren Okra, die sich zumeist von den untersten Rängen hochgedient hatten. Dabei unterschied man zwischen den grünen Okra und den roten Okra, aber nur der Form halber. Außer der Hautfarbe trennte die Spezies nichts.

Und das war schon für mehr als einen Lacher gut gewesen in den letzten fünftausend Jahren.

Natürlich fand man Okra auch in anderen Berufen wie Diplomaten, Händlern und ähnlichen Zweigen. Richtig bekannt aber waren sie, wenn sie sich dem Sexarbeitergewerbe anschlossen und dank ihrer besonderen Konstitution sehr gut dabei verdienten. Es hieß aber auch, es waren fast immer Okra, die illegale Sexringe von innen sprengten. Was man bei ihrer körperlichen Ausstattung sofort glauben mochte.

Aris schob die Gedanken beiseite. Myu reichte ihm einen heißen Tee, und er nahm dankend an. Es war ein Chyron von Tiu, ein sehr teures Importprodukt. „Oho. Bin ich dir so viel wert?“

„Natürlich bist du das, Aris. Du hast mich schließlich ausgebildet“, erwiderte sie mit einem spöttischen Lächeln. „Ein guter Schüler ist einem fähigen Meister sein Leben lang verpflichtet. Nicht, dass du das nicht weißt.“

Aris lächelte ganz leicht und nahm einen vorsichtigen Schluck. Wie erwartet war der Tee süß, stark und sehr minzig. Er war belebend und erfrischend.

„Kommen wir gleich zur Sache, Myu ran Tau.“

„Schon?“, fragte sie enttäuscht. „Ich dachte, wir gehen vorher irgendwo etwas essen, danach einen Schluck trinken, und danach …“ Kokett zwinkerte sie ihm zu.

„Danach vielleicht. Das Essen geht auf mich. Aber jetzt sag mir, wie der Stand der Dinge ist. Was kannst du mir berichten, Sektorendiplomatin ran Tau?“

Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die Humanoide im Allgemeinen „Schnute“ nannten. „Du musst nicht gleich den Vorgesetzten auspacken, General Stondra.“

Sie seufzte und setzte sich neben ihren Vorgesetzten auf die Couch. Dann streckte sie eine Hand aus und ließ ein Hologramm über dem Couchtisch entstehen. Lichter symbolisierten ferne und nahe Sonnen. Ein pulsierender, blauer Bogen zeigte die derzeitige Föderationsgrenze an. Drei weitere, unterschiedlich große Cluster, ein roter, ein gelber, ein grüner, wiesen auf andere Grenzen hin. „Die allgemeine Lage ist relativ entspannt. Wir haben es in diesem Teil der Schale mit drei Machtblöcken zu tun: Die Rau-Konföderierten, der Hormenk-Bund und das hepharidischen Konglomerat.

Die Rau nennen über dreiundachtzig Sonnensysteme ihr Eigen. Sie sind eine kriegerische, destruktive Spezies, stets auf der Suche nach neuer Biomasse, die sie ihrer Genetik hinzufügen können. Ihr Ziel ist es, die fortgeschrittenste Rasse des bekannten Universums zu werden. Für dieses Ziel gehen sie im Sinne des Wortes über Leichen. Es heißt auch, es gibt diverse Kulte auf ihren Welten, die die Genetik anders absorbieren, nämlich dadurch, dass sie tote Feinde oder tote Angehörige interessanter Spezies verspeisen.“

„Klingt ja appetitlich. Insektoide?“

„Warmblütige Echsenabkömmlinge, allerdings mit sechs Extremitäten. Vier Augen, Allesfressergebiss. Eingeschlechtlich. Das Schuppenkleid variiert von hellen Sandtönen bis hin zu schwarz, aber sie tragen ohnehin zumeist irgendeine Form von Kleidung. Sie können auf Eiswelten leben, bevorzugen jedoch naturgemäß wärmere Klima. Ihre Flotte ist relativ groß, allerdings keine direkte Gefahr für die hiesigen Föderationssysteme.“

„Die anderen Spezies?“

„Der Hormenk-Bund ist ein Zusammenschluss der neunzehn Grafschaften der Hormenk. Sie ist etwas über viertausend Jahre alt und wurde ursprünglich von Extrem-Aussteigern der terranischen Urgesellschaft gegründet, so wie Tiu von meinen Vorfahren. Aber anstatt sich an etwas so nettem zu orientieren wie Rollenspielen wollten diese Extremaussteiger den Feudalismus in absolutistischer Monarchie neu beleben. Du weißt schon, der fähigste Intrigant kriegt die Krone. Dabei waren alle Grafschaften im Wettstreit miteinander, und es heißt, früher waren es fünfunddreißig. Mittlerweile gibt es nur noch dreiundzwanzig Systeme mit fünfunddreißig bewohnten Planeten, die von den neunzehn Grafen regiert werden. Wobei weder die Bevölkerung noch die Grafen durchweg Menschen sind. Einige Völker in der Umgebung fanden das Prinzip des Feudalismus so interessant, dass sie sich dem System angeschlossen haben. Teilweise stellen jetzt also Insektenabkömmlinge, Echsenabkömmlinge und sogar ein Urzeller einen der neunzehn Grafen oder sind Bestandteil seiner Hierarchie. Deshalb sind zwölf Grafen Frauen, fünf sind Männer, und zwei sind zweigeschlechtliche Zwitter. Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen. Als die Föderation in ihre Richtung wuchs, haben sie die internen Zwistigkeiten begraben und sich gegen uns zusammengeschlossen. Ein Großteil ihrer Anstrengungen geht in Flotte, Armee und Kirche und ist fast ausschließlich gegen uns gerichtet. Dabei ist der meiste Ärger, den sie haben, der mit den Rau. Dankenswerterweise bindet das ihre Flotte in einem ausreichenden Maße, sodass wir uns auf Föderationswelten weniger mit ihren Angriffsflotten herumschlagen müssen, aber umso mehr mit den von ihnen finanzierten Wanderpredigern, die das feudale System predigen. Furchtbare, engstirnige und verblendete Leute.“

„Das sind die besten Missionare. Und, haben sie damit Erfolg?“

„Es gibt eine Wanderbewegung zum Hormenk-Bund. Auf dem gleichen Weg aber gibt es auch eine Fluchtbewegung in unsere Richtung. Das hebt sich in etwa gegenseitig auf.“

Aris nahm einen weiteren Schluck Tee. „Der letzte Faktor?“

„Die Hephariden. Du kennst Hephariden. Die hiesigen Hephariden sind völkerstaatlich orientiert. Sie organisieren sich abseits jeder Individualität im Dienste an ihren Herrschern auf neun Planeten in drei Sonnensystemen. Alle neun sind terraformt.“

„Sie sind eingewandert.“

„Richtig. Sie sind aus ihren angestammten Siedlungsgebieten emigriert. Die hiesigen Hephariden sind der Meinung, dass das Völkerstaatskonstrukt das Beste für ihr Volk ist und wollten es hier reetablieren. Außerhalb der Föderation. Das ist fast eintausend Jahre her. Jetzt kommt ihnen die Föderation nahe, und die Hepharidenköniginnen sind sich uneins, ob sie um Aufnahme bitten oder auf Neutralität bestehen sollen. Wir haben nicht wirklich Ärger mit ihnen. Aber bedenke, dass ihr Staat in erster Linie darauf beruht, dass der Einzelne so wenig Individuum ist wie überhaupt möglich, nur ein Rädchen im Getriebe. Die Königin ist alles, ihr Wort absolut. Die Arbeiter, wie sie sich nennen, haben so gut wie keinen eigenen Antrieb, nur den Gehorsam. Und angenommen, eine Königin kommt auf die Idee, uns anzugreifen, dann werden das zwischen zwei Milliarden und neunzehn Milliarden Hephariden auch tun, ohne mit einem Fühler zu zucken. Einziger Trost: Die durchschnittlichen Hephariden werden nur knapp einen Meter groß. Sie verzichten für das Individuum auf jede Form von Technik und Exoskelette, sodass sie nur im Rahmen ihrer natürlichen biologischen Entwicklung auswachsen können.“

„Nett.“

„Richtig. Deshalb gibt es auch eine gewisse … sagen wir, Individualitätsbewegung in Richtung Föderation.“

„Flüchtlinge.“

„Flüchtlinge. Arbeiter, die mehr eigenes Bewusstsein entwickeln und sich dem Staat durch Flucht entziehen. Die Königinnen nennen sie ihr Eigentum und fordern ihre Rückgabe, aber wenn sie hier ankommen, sind sie so sehr eigene Personen, dass sie nicht unter den genetischen Akt fallen. Wir schicken sie nicht zurück, sondern ermöglichen ihnen eine sexuelle Orientierung und individuelles Leben. Natürlich bemühen sich die Königinnen, damit möglichst wenig ihrer Arbeiter von dieser Möglichkeit mitbekommen, selbst Nachwuchs produzieren zu können. Das ist der Part, der die dritte Gruppe der Königinnen, jene, die einen Krieg mit uns vorziehen, in letzter Zeit erstarken lässt.“

„Verstehe.“

„Und das ist im Großen und Ganzen die Lage, General Stondra. Die Lage ist soweit stabil. Aber wenn ausgerechnet mein alter Lehrer inkognito hier raus kommt, dann ist die eigentlich stabile Situation alles, aber nicht stabil, wie es scheint.“

Aris nickte. „Das hast du gut erkannt. Es sieht so aus, als könnte das fragile Patt, das hierzulande gerade herrscht, und das der Föderation eine gewisse, ah, Ruhe garantiert, empfindlich gestört werden.“

„Es mischt sich eine weitere Partei ein?“, schoss die Tiula ins Blaue.

„Nicht ganz. Das Expeditionskorps hat eine wichtige Entdeckung gemacht, und wir fürchten jetzt, dass diese Entdeckung den regionalen Kräften bekannt wird. Sobald das der Fall ist, wird es um die Entdeckung ein Wettrennen geben.“

„Was ist das für eine Entdeckung?“

Aris sah ihr direkt in die blaugrauen Augen. „Wir haben Hinweise darauf, wo Kertes sein könnte.“

„Du verarschst mich, Aris!“, stieß sie hervor. „Kertes. Das ist ein Mythos! Eine Legende! Ein Märchen! Nicht mal ein Märchen! Nur ein Gerücht!“

„Nicht mehr länger. Das Expeditionskorps hat eine sogenannte Kartusche mitgebracht.“

„Eine Zeitkapsel?“, fragte sie.

„Ja. Mit einer Nachricht von vor siebzigtausend Jahren. Eine Botschaft des damaligen kertesischen Herrschers. Er spricht von einem Krieg, der sein Volk zurück ins planetare Zeitalter zurückbomben würde, vielleicht sogar ganz ausrotten; und er redet von einer Welt, die er zuvor hat einrichten lassen, um das gesamte Erbe der Kerti zu bewahren. Dort haben sie alles zurückgelassen: Kopien all ihrer schaffenden Künste, Kostproben ihrer Schmiedekunst, Unterlagen und Blaupausen ihrer Raumschiffe. Und natürlich auch ihre Waffen. Wenngleich nicht die Waffen, so doch auch hier Blaupausen und Beschreibungen ihrer Wirkungsweisen.“

„Und, taugen sie was, diese Kerti-Waffen?“

Aris zuckte die Achseln. „Sie haben ausgereicht, um das kertesische Reich so nachhaltig zu vernichten, dass wir heutzutage nur hier und da auf vage Spuren und fast vollständig zerstörte Wracks treffen. Das, verbunden mit dem Zahn der Zeit, hat alle relevanten Spuren getilgt.“

„Bis auf die Kartusche“, stellte sie fest.

„Bis auf die Kartusche“, bestätigte Aris.

„Und wir wollen diese Waffen haben?“

Der General schüttelte den Kopf. „Wir wollen Kertes haben. Wir wollen das, was von den Kerti übrig ist, bewahren. Aber, ja, wir wollen verhindern, dass jemand, irgendjemand, der Ärger bedeutet, Zugriff auf die kertesischen Waffen bekommt. Selbst in diesen aufgeklärten Zeiten gibt es genügend Idioten und machthungrige Wahnsinnige, die sich vorstellen können, auf den zusammengebombten Resten der Föderation ihr eigenes Reich zu errichten.“

„Und warum ist dann noch nicht eine ganze Flotte auf dem Weg, um Kertes zu finden?“

„Es steht eine Flotte bereit. Angeblich auf Manöver. Aber zuerst muss jemand herausfinden, ob es Kertes tatsächlich gibt, und wo diese Welt zu finden ist. Es muss jemand sein, der notfalls bereit und in der Lage ist, die ganzen verdammten Waffen zu vernichten, bevor sie doch einem größenwahnsinnigen Irren in die Hände fallen. Oder vielen größenwahnsinnigen Irren.“

„Dennoch, wäre das nicht Aufgabe für eine ganze Flotte? Wenn das Explorerkorps ausgesandt wird, dann …“

„Wir gehen davon aus, dass bisher nur diese eine Kartusche gefunden wurde. Also wollen wir versuchen, Kertes zu finden. Mit einer kleinen Gruppe. Die Achte Flotte bleibt dabei in der Hinterhand und in Schlagreichweite. Wir hoffen, dass die hiesigen Machtfaktoren und die üblichen Föderationsrenegaten weder etwas von der Kartusche ahnen, noch davon, wie nahe Kertes ihnen vielleicht ist. Wir wecken am besten keine schlafenden Hunde. Ein Aufgebot von mehr Explorern als wir eigentlich in dieser Region einsetzen wollen, würde aber genau das tun.“

„Ist es das, oder will der große Aris Stondra mal wieder den Nervenkitzel verspüren, mit dem er sich abgegeben hat, bevor er Diplomat wurde?“, spottete sie.

„Teils, teils. Ich bin diplomatisch akkreditiert, und ich habe die notwendige Einsatzerfahrung. Alles, was ich jetzt brauche, ist ein schnelles Schiff mit einem zuverlässigen Kapitän, und eine Einsatzgruppe aus Archäologen und Soldaten.“

„Wäre es nicht einfacher gewesen, so eine Truppe zusammenzustellen, irgendwo im Kern, in ein Raumschiff zu steigen, auf die Grenzen zu fäkalieren und die Welt Kertes zu suchen?“

Aris Stondra grinste sie an.

„Was? Oh, nein, General, sag mir nicht, genau das tun wir. Aber …“

„Exakt, Myu ran Tau. Ich bin die Ablenkung.“ Sein Lächeln erstarb. „Oder der Ersatzplan. Das hängt davon ab, wie erfolgreich die eigentliche Expedition ist.“

„Ja, das klingt nach dir. Und was ist dein Interesse an Kertes? Die Kultur, oder die Waffen?“

„Auch wenn es dich wundern wird, Myu, aber ich will in erster Linie die Kultur bewahren. Du fragst dich, warum? Wo wir doch in der Föderation über siebzig Völker, nahezu zweitausend Verzweigungen dieser Völker und Kultur und Leben auf sechstausend Planeten haben? Mehr Planeten und mehr Kulturen, als man mit den bei uns üblichen achthundert Lebensjahren je besuchen kann?“

„Ja, das frage ich mich in der Tat, Aris.“ Sie blickte für einen Moment durch den General hindurch. „Ich habe da so eine Ahnung, aber sag du es mir.“

Der General schnaubte amüsiert. „Weißt du, die Kerti haben sich selbst ausgelöscht. Bis auf kleine und kleinste Spuren gibt es nichts mehr, was auf ihr Erbe, auf ihre Vergangenheit hinweist. Ich finde, ein Volk sollte nicht nur wissen, wohin es geht, sondern auch, woher es kommt. Wenn sich die Kerti selbst in die prästellare Epoche gebombt haben, besteht eine gewisse Chance, dass die Überlebenden dieses Bürgerkriegs nun unter einem anderen Namen in der Föderation leben. Ich will, dass dieses Volk dann seine Kultur zurückbekommt, Myu. Als Hinweis, aber auch als Warnung für die Zukunft.“

Die Tiuli beugte sich ein Stück herüber. „Und worum geht es noch?“

„Das ist alles.“

„Nein, das ist es nicht. Du hast genügend fähige Agenten, die sowohl die eigentliche Expedition als auch diese Scheinexpedition leiten und durchführen können. Welchen Aspekt hast du noch nicht genannt?“

Nun war es an Stondra, offen zu grinsen. „Man merkt, dass du meine Schülerin bist.“ Er griff in das Hologramm und manipulierte es mit Hilfe seines Armbandgerätes. Ein Schlierenschleier ging über die Sonnen, ließ sie verschwinden. An ihre Stelle erschien eine Person. „Die Übersetzung stammt natürlich von uns.“

„Mein Name ist Guon ter Laghasta mac Ariel. Ich bin der Imperator des souveränen Staates der Freien Kerti. Ich wende mich hier in der dunkelsten Stunde unserer Not, auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs an jene, die hoffentlich nach uns kommen werden. Dies ist vielleicht der letzte Tag unserer Kultur, unseres Volkes. Der Bürgerkrieg strebt seinem Höhepunkt entgegen und wird beide Seiten zermalmen. Niemand gibt nach. Niemand kann nachgeben. Unser Ende ist festgeschrieben, egal, welche Seite gewinnt. Dies aber ist mein Vermächtnis: Wer immer dies eines fernen Tages sieht, macht euch bewusst, wohin Hochmut, Sturheit und Hass mein Volk geführt haben, und wiederholt unsere Fehler nicht! Und ich lade euch ein, sich das, was von unserer Kultur übrig ist, zu eigen zu machen, in der Hoffnung, dass die Erinnerung und die Kultur meines Volkes über den Abgrund der Zeit bewahrt bleibt, damit niemals wieder jemand die gleichen Fehler macht wie wir. Kommt nach Kertes, dem Gedächtnisplaneten.“

Die Übertragung fror ein. „Verstehst du jetzt?“

Myu ran Tau schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Atem. Entgeistert sah sie ihren Vorgesetzten, ihren Mentor an. „Dieser Imperator … Er ist ein MENSCH!“

Fortsetzung: Die Sternenfahrt | Buch 1: Die Suche nach Kertes | Kapitel 2: Botschafter der Allianz

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