Eine Rezension von Uwe Lammers

 

(OT: Evolution)

von Stephen Baxter

Heyne 6449

832 Seiten, TB

März 2004

Übersetzt von Martin Gilbert

ISBN 3-453-87546-X

Woher kommen wir? Wohin gehen wir?

Das sind, auf wenige Worte reduziert, die zentralen Fragen, die den Menschen seit jeher begleitet und nicht selten auch verunsichert haben. Man erwartet üblicherweise die Antwort auf diese Fragen von Philosophen, vielleicht von Theologen, gelegentlich auch, wenn man pragmatisch veranlagt ist und den kopflastigen Konstrukten der Denker und Grübler keinen Glauben schenkt, von den Biologen oder Anthropologen.

Die Antworten auf die Fragen sind dürftig, unbefriedigend, ja, verstörend. Vergliche man die Geschichte der Erde mit einer Uhr, heißt es, so herrsche viele Stunden lang auf dem Zifferblatt eine menschenfeindliche Leere. Die Spezies Mensch selbst trete erst in den letzten Minuten vor 12 Uhr, also dem „Ende“ des Zifferblattes, in Erscheinung. Er sei gewissermaßen ein Nachzügler der Evolution.

Dies ist eine Sichtweise, die sich mit dem menschlichen Selbstverständnis, er sei doch die „Krone der Schöpfung“, das intelligenteste Lebewesen aller Zeiten, überhaupt nicht vereinbaren lässt.

Der Mensch ist ein arrogantes Wesen. Und er lässt es an Respekt gegenüber der „Institution“ fehlen, der er sein eigenes Sein verdankt. Der Name dieser „Institution“ ist bereits gefallen: Evolution.

Auch dies ist ein Begriff, den man eher in den Hallen des Wissens suchen würde. Hat er überhaupt irgendetwas mit Phantastik zu tun? Mit Science Fiction? Das widerspricht sich doch fundamental, haben schließlich die Propheten der Zukunft eben mit der Zukunft zu tun, nicht mit der Vergangenheit. Und der Evolutionsbegriff gehört in die Sachbücher, in die „ernsthaften“ Werke …

Wer so denkt, wird mit dem vorliegenden Buch nichts anfangen können.

Stephen Baxter ist Science Fiction-Autor. Berühmt geworden durch seine Raum und Zeit sprengenden Geschichten über eine Menschheit, die in der fernen Zukunft mit einer gottgleichen Rasse, den Xeelee, in einem kosmischen Konflikt liegt, hat er sich nun im besten Sinne des Wortes auf „bodenständige“ Themen verlegt. Die wenigen Ausflüge, die er sich in diesem Buch in den Bereich der SF erlaubt, führen ihn gerade einmal bis zum Mars, ansonsten bleibt er auf dieser Erde und hat alle Hände voll zu tun, zu beschreiben, was er findet, die Bilder zu malen, die er entdeckt und den Hexenkessel zu formen, die Menagerie, in der Lebewesen erscheinen und vergehen, wie man sie sich kaum auszudenken vermag.

Der Roman beginnt streng genommen rund 145 Millionen Jahre vor der Gegenwart auf dem Urkontinent Pangäa, wo sich eine intelligente Sauroidenspezies zu entwickeln beginnt, die leider keine Zukunft hat, denn planetare Katastrophen lassen Pangäa zerbersten und die Kontinente driften. Der Leser folgt mit staunenden Augen durch eine tropische Welt, voll von gepanzerten Ungetümen und urtümlichen Giganten. Saurierarten ziehen hier umher, die durch ihre alleinige Präsenz die Umwelt verwüsten. Der Blickwinkel, aus dem der Leser diesen Titanen folgt, ist eigentümlich: tief vom Boden aus blinzelt er scheu hinauf zu den Ungetümen, denn im Windschatten dieser Herren der Welt wächst eine neue Gattung heran. Nagetierähnliche Kreaturen, Mäusen nicht unähnlich – Säugetiere.

Als infolge einer kosmischen Katastrophe die Dinosaurier aussterben, beginnt sich das Artenkarussell der Evolution von neuem zu drehen, und die Säugetiere verändern sich. Sie werden größer, wachsen zu Primaten heran, beginnen Familien zu bilden und treten schließlich aufgrund von Klimaveränderungen den Weg in die Steppe an.

Es ist ein langer, mühevoller Weg von den Baumwipfeln der Regenwälder bis hin zur Werkzeugherstellung, zu den ersten Siedlungen und schließlich den prächtigen Metropolen wie dem antiken Rom. Ein Weg voller Rückschläge, Bedrohungen, Qual, Verfolgung, Not und ständiger Angst. Aber, wie schon der Klappentext (diesmal ausnahmsweise zutreffend) sagt: Das Leben findet einen Weg. Und dieser Weg führt über das Jahr 2031 in die entfernte Zukunft, bis zu einer Erde der Mikrospezies und der roten, furchterregend-menschenfeindlichen Wüsten. Doch auch hier noch wirkt unerbittlich und unaufhaltsam der geheime, dem Leben immanente Triebmotor der Evolution …

Mit Evolution hat Stephen Baxter meines Erachtens einen faszinierenden, großen Wurf getätigt. In mehrerlei Hinsicht muss man das konstatieren.

Zum einen ist es ihm gelungen, einen zeitlichen Rahmen von mehr als 600 Millionen Jahren irdischer Entwicklung abzuschreiten und nur sehr selten die Grenzen der Plausibilität über Gebühr zu strapazieren. Außerdem verbindet sein Buch auf faszinierende Weise Roman und höchst informatives Sachbuch. Es glänzt voll schier enzyklopädischem Wissen und ist für denjenigen, der sich ein wenig auf den angesprochenen Gebieten auskennt – Biologie, Biochemie, Evolutionsbiologie, Genetik, Chemie, Geologie, Geschichte, Anthropologie, Ethologie, Ethnologie, Primatenkunde und vielen anderen mehr – ein wunderbares, breit gefächertes Netzwerk, in etwa einem weit verzweigten, fruchtbaren Flussdelta vergleichbar. Infolgedessen hält das Buch eine Fülle von beeindruckenden Anregungen bereit, die bis in den philosophischen Bereich hineinragen und sogar eine religiöse Komponente mit einschließt.

Dem Leser werden natürlich auch eine ganze Menge Dinge zugemutet, und das möchte ich nicht verschweigen. Wer in diesem SF-Roman sagenhaft viel Hightech sucht oder vermutet, wird enttäuscht werden. Es ist eben keine „typische“ Baxter-Geschichte. Wer gut ausgefeilte Charaktere und komplexe soziale Interaktionen in den Geschichten erwartet, sollte seine Erwartungen stark herabschrauben. Mehrere hundert Seiten lang sprechen die Protagonisten nicht ein einziges Wort, weil sie es einfach nicht vermögen. Der Mensch selbst tritt erst spät in Erscheinung, und eine sonderlich gute Figur macht er nicht. Wie es ihm im Laufe der irdischen Evolution eben auch zukommt.

Baxter geht die irdische Säugetierevolution – und nur um die und ihre Randerscheinungen geht es hier – pragmatisch an, von einem biologistischen Gesichtspunkt, den man zu Recht (er sagt das gegen Ende) „gottlos“ nennen kann. Es ist nur eben ein realistischer Standpunkt, und von dieser Warte aus betrachtet ist ihm ein beeindruckendes Panorama der Erdgeschichte gestern, heute und morgen gelungen, und wer bereit ist, seinen menschlichen Rassenstolz ein wenig hintanzustellen und zu sehen, was die Welt bevölkerte, bevor der Mensch die Bühne der Existenz betrat, wer dem gnadenlosen Regiment der Evolution über die Schulter zu schauen bereit ist, der ist hier richtig.

Dieses Buch ist der erste Schritt in Richtung auf eine Veränderung der Sichtweise der Welt selbst, und vermutlich konnte nur ein Phantast vom Schlage Baxters so etwas ersinnen und umsetzen. Ein pralles und wissensgefülltes Buch, das viele Antworten auf Fragen bereithält, die viele von euch sich wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben gestellt haben.

Nachschauen lohnt sich.

© 2004 / 2025 by Uwe Lammers

Braunschweig, den 25. Februar 2004

Überarbeitet am 3. März 2025