Serienbesprechung von Uwe Lammers
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Ausgangslage: Das Buch von Frank Schätzing
Im Jahre 2004 erschien in Deutschland der SF-Thriller „Der Schwarm“ von Frank Schätzing, ein über tausendseitiges Werk, das lange Jahre als unverfilmbar galt. Der Roman thematisiert, eng an der damaligen politischen Weltlage orientiert, eine kaskadenartige Ereigniskette von ungewöhnlichen und bald dramatischen Ereignissen, die ihren Ursprung im Meer haben. Wale verhalten sich atypisch und greifen Menschen und Boote an. Muscheln vermehren sich explosiv und stören den Schiffsverkehr. Eine Quallenpest macht die Küsten weitgehend unbegehbar. Fischschwärme verschwinden, die Fischereiwirtschaft bricht zusammen. Hummer explodieren und verbreiten einen gefährlichen neuen Erreger, die die Trinkwasserreservoirs der Küstenstädte verseucht.
Gleichzeitig wird von Forschern entdeckt, dass am Kontinentalschelf massenhaft auftretende Tiefseekrebse damit beginnen, die dort gespeicherten Vorräte von Methanhydrat zu destabilisieren, was alsbald zu verheerenden Tsunami-Ereignissen und Millionen Todesopfern führt. Eine geheimnisvolle Macht aus den Tiefen der Ozeane hat begonnen, einen unglaublichen Feldzug gegen die Menschheit zu führen, und alles sieht danach aus, als wenn sie damit erfolgreich wäre. Unter der Führung der USA versucht eine Forschungsmission, Kontakt mit der fremden Lebensform in den Tiefen der Ozeane aufzunehmen, der man den Namen „die Yrr“ gegeben hat. Aber insgeheim hat das US-Militär einen völlig anderen Auftrag …
Die Serie: Basics
Mit einem Produktionsbudget von gut 40 Millionen Euro wurde zwischen Juni und September 2021 – also während der Hochphase der Corona-Pandemie, was man der Verfilmung deutlich ansieht – die Verfilmung des Buches in Form eines achtteiligen Serienformats realisiert. Im Auftrag der European Alliance, worunter federführend das ZDF, die France Télévisions, Rai, ORF und SRF sowie die Nordic Entertainment Group und Hulu (Japan) zusammengeführt wurden, entstanden die 8 Episoden mit jeweils 45 Minuten Laufzeit. Aus Kostengründen wurde auf einige Wunsch-Schauspieler verzichtet, wie auf der WIKIPEDIA-Seite zu „Der Schwarm (Fernsehserie)“ nachzulesen ist (Stand: 9. März 2023).
Die Regisseure waren Barbara Eder, Philipp Stölzl und Luke Watson, die Musik steuerte Dascha Dauenhauer bei. Beratend wissenschaftlich zur Seite standen den Produzenten die Meeresbiologen Dr. Antje Boetius und Jon Copley. Showrunner war Frank Doelger (u. a. „Game of Thrones“). Gedreht wurde augenscheinlich mehrheitlich in Belgien und Italien.
Als wesentliche Handlungsprotagonisten agierten:
- Charlie Wagner (besetzt mit Leonie Benesch)
- Dr. Cécile Roche (Cécile de France)
- Sigur Johanson (Alexander Karim)
- Leon Anawak (Joshua Odjick)
- Prof. Dr. Katharina Lehmann (Barbara Sukowa)
- Tina Lund (Krista Kosonen)
- Alicia Delaware (Rosabell Laurenti Sellers)
- Aito Mifune (Takuya Kimura)
- Dr. Samantha Crowe (Sharon Duncan-Brewster)
- Kapitän Alban (Oliver Masucci)
- Luther Roscovitz (Klaas Heufer-Umlauf)
- Riku Sato (Takehiro Hira)
- Sara Thompson (Lydia Wilson)
- Dr. Natalia Oliviera (Claudia Jurt)
Die Serienhandlung
Folge 1: Vor der peruanischen Küste verschwindet ein Fischer spurlos. Bei den Shetland-Inseln untersucht die deutsche Wissenschaftlerin Charlie Wagner Meeresströmungen mittels Bojen, die auf einmal ein eigenartiges Eigenleben beginnen. Sie hat zugleich Hierarchieprobleme mit ihrer Vorgesetzten, Prof. Dr. Katharina Lehmann in Kiel. Eine weitere Kieler Expedition ist mit dem Expeditionsschiff JUNO im Nordpolarmeer unterwegs, und eine junge Wissenschaftlerkollegin hält hier Bildfunkkontakt mit Wagner. Bei British Columbia registriert Leon Anawak das Verschwinden der ziehenden Wale, der kurz danach einen toten Orca findet. Leons Freundin Sara Thompson arbeitet für ein hier ansässiges Whale Watching-Unternehmen, das wegen des Verschwindens der Wale vor dem Ruin steht. Als sie wieder auftauchen, attackieren die Wale und Orcas das Tourismusboot und versenken es. Sara kommt dabei ums Leben.
Ende von Folge 1, in der noch kein Zusammenhang hergestellt werden kann.
Folge 2: In einem Feinschmecker-Restaurant an der französischen Küste explodiert ein Hummer in der Küche, mit der Folge, dass der Restaurantkoch und eine Reihe von Angestellten wenig später sterben. Da die Reste in die Kanalisation weggespült werden, ohne dass man einen Zusammenhang herstellt, wird so ein mörderischer Mikroorganismus ins Trinkwasser gespült. Es dauert, bis die Mikrobiologin Dr. Cécile Roche einen Zusammenhang herstellen kann.
Am norwegischen Kontinentalschelf entdeckt das Energieunternehmen Hovestad unerwartet eine neue Tiefseelebensform, eine Art riesigen Wurm, der sich am dort vorhandenen Methanhydrat gütlich tut. Das ruft den Biologen Sigur Johanson auf den Plan. Seine inzwischen für Hovestad arbeitende ehemalige Freundin Tina Lund aktiviert ihn und zieht ihn als Berater hinzu.
Charlie Wagner ist weiterhin auf der Shetland-Station und hält Kontakt zur JUNO, doch der reißt mitten in der Nacht jäh ab. Das Schiff wird von brodelnder See kurzerhand versenkt, alle Besatzungsmitglieder sterben.
Ende von Folge 2.
Folge 3: Die Reederei Mifune, die auch in British Columbia tätig ist, bekommt ernste Probleme mit ihren Schiffen, die zum einen von Walen attackiert werden – wodurch Leon Anawak ins Spiel kommt – als auch durch unglaubliche Mengen von Muscheln, die die Schiffsruder und Rümpfe überkrusten und sie so kaum mehr steuerbar machen.
In Frankreich wird die Trinkwasserverseuchung entdeckt und der Notstand in den betroffenen Städten ausgerufen. Weltweit werden auf Methanhydratfeldern weitere Riesenwürmer entdeckt. Johanson schickt Proben nach Kiel, wo sie von dem Team um Professorin Lehmann näher untersucht werden.
Zeitgleich blockiert eine Quallenpest Venedig.
Leon Anawak bringt bei einem Wal eine Videokamera an, die sich später vom Tier löst und einen Film aus der Tiefsee mitbringt. (Die Verfilmung ignoriert völlig Schätzings Bemerkungen, dass die Walhaut sich nicht für solche Hafttechnik eignet, im Buch muss sie – sehr riskant – direkt in die Walhaut harpuniert werden. Das konnte man den empfindsamen Fernsehzuschauern natürlich auch nicht zumuten. Da hat man dann lieber naiv geflunkert.) Auf dem Film ist ein unheimliches Meeresleuchten in der Tiefsee zu entdecken … und als wenig später das Wrack der JUNO ausfindig gemacht wird, das wie ein Stein gesunken sein muss, kann aus den Nebengeräuschen dasselbe bizarre Signal herausgefiltert werden, das auch Leon Anawak schon bei der Tiefseeaufzeichnung registriert hat.
Ende von Folge 3, wo sich erste Zusammenhänge anbahnen.
Folge 4: In Südafrika und an anderen Küstenorten überrennen auf einmal Tausende von blinden, weißen Tiefseekrabben die Ufer und sterben bald darauf.
In British Columbia obduziert Leon den gestrandeten Orca und findet eigenartige organische Substanz in seinem Hirn, ebenfalls scheint dieselbe Substanz in den Muscheln zu existieren. Als er den Hafen aufsucht, wo der havarierte Frachter von Mifune steht, wird er inhaftiert, weil er weitere Muschelproben für die Untersuchungen braucht … aber alsbald wird er von Mifune instrumentalisiert.
Auch Johanson hat zwischenzeitlich Kontakt mit Mifune gehabt, überwirft sich aber mit Lund, weil Hovestad sich nicht an die Absprachen hält, sondern eigenmächtig die Wurmkolonien am Meeresboden zerstört. Augenscheinlich geschieht das, um die Tiefenölförderungspläne nicht durch eine neue Art gefährden zu lassen. Johanson wirft Lund daraufhin vor, sie habe ihn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen einbezogen.
Charlie Wagner ruft derweil die letzte Videobotschaft von der JUNO auf und entdeckt, dass irgendetwas sowohl das Forschungsschiff als auch weitere Schiffe in der Region versenkt hat.
Leon Anawak möchte die seltsamen Laute in der Videobotschaft aus der Tiefsee entschlüsseln und kommt in Kontakt mit der SETI-Forscherin Dr. Samantha Crowe, die schon in Teil 2 einen kurzen Auftritt hatte.
Ende von Folge 4.
Folge 5: Charlie Wagner berichtet ihrer Chefin von ihrer Theorie, dass es sich beim Untergang der JUNO nicht um einen Unglücksfall gehandelt hat. Lehmann will davon nichts wissen und beordert Wagner zurück nach Kiel. Hier ist inzwischen aber auch Johanson – wegen der Würmer – zugegen. Er findet diese Theorie Wagners interessant. Über Mifune bekommt er außerdem Kontakt zu Leon Anawak und bekommt das rätselhafte Video zu Gesicht.
Tina Lund kündigt bei Hovestad, fährt dann aber zu ihrem Geliebten Kare (Richard Ulfsäter) ans Meer.
Johanson überzeugt Lehmann davon, dass es sinnvoll ist, Wagners Theorie weiter zu verfolgen, und er fliegt zu den Shetlands. Hier kommt er gerade noch rechtzeitig an – denn das Tsunami-Warnsystem schlägt an und kündigt eine verheerende Flutwelle an. Er kann gerade noch Wagner in den Hubschrauber ziehen, bevor die ganze Küste inklusive Station versenkt wird. In den Fluten stirbt auch Tina Lund.
Ende von Folge 5.
Folge 6: Diese Folge ertrinkt in Schwermut – Johanson trauert um Tina Lund, Charlie Wagner über ihren den schottischen Fischer, den sie sich angelacht hat und der in der Flutwelle umkam. Alicia Delaware, die vorher als Besucherin der Whale Watching-Station in British Columbia zu sehen war und nun als Forscherin institutionalisiert wird, wird rührseliger Raum mit ihrer kranken Mutter eingeräumt. Charlies homosexueller Kollege Rahim Amir (Eidin Jalali) springt von der nun geplanten Reise in den Nordatlantik ab, den Johanson, Wagner und Leon Anawak sowie Samantha Crowe planen. Mifune befürwortet das Unternehmen und stellt ein Schiff zur Verfügung, während Katharina Lehmann den Plan für absurd hält und sich vollkommen aus der Unternehmung zurückzieht.
Die französische Ärztin, die die ganze Zeit schon Probleme mit ihren beiden Kindern und dem getrennt lebenden Ehemann hat, schließt sich der Expedition ebenfalls an, macht aber rührselig ein Testament, das sie mit ihrem Ex-Mann durchspricht für den Fall, „dass ich nicht zurückkehre“.
Johanson hat zwar in Genf von der Gefahr gesprochen und dem rätselhaften Organismus im Meer den Namen „die Yrr“ gegeben, aber allgemein wird ihm nicht geglaubt. Weswegen er auf Mifunes Angebot eingehen muss.
Crowe entdeckt, dass die Signale aus der Tiefsee alle Charakteristika einer Sprache aufweisen, auch wenn sie sie nicht verstehen kann. Angeblich hat SETI ähnliche Laute schon ermittelt – einmal im Südpolarmeer, einmal in der Grönländischen See, wo sich mutmaßlich die Zentren der Yrr befinden.
Die Expedition macht sich auf den Weg in den Nordatlantik.
Ende von Folge 6.
Folge 7: Das Expeditionsschiff THORVALDSON erreicht das Zielgebiet in der Grönländischen See. Hier stellt Luther Roscovitz (Heufer-Umlauf) die modernen Tauchboote vor, mit denen der Kontakt ermöglicht werden soll. Wieso Mifune ein Schiff einsetzen kann, das dem Hovestad-Konzern gehört, wird nicht thematisiert.
Samantha Crowe schickt ein erweitertes Yrr-Signal in die Tiefsee und erhält von dort eine kryptische Antwort. Bei einem Probetauchgang bekommen es Charlie Wagner und Roscovitz mit dem Schwarm zu tun, der ihnen in den Moon Pool des Schiffes partiell folgt, was sie aber nicht merken.
Als Alicia Delaware dann allein am Moon Pool ist, nehmen die Yrr mit ihr Kontakt auf und sorgen für einen völligen Kollaps. Auf der medizinischen Station entdeckt Dr. Roche, dass Alicias Nervenzellen von der Yrr-Substanz infiziert wurde, der Kontakt aber irgendwie nicht funktioniert hat.
Kurz darauf findet sich Charlie Wagner in der Überwachungskanzel des Moon Pools an und sieht, wie der Pool zu leuchten beginnt und sich darin Muster abzeichnen …
Ende von Folge 7.
Folge 8: Der Inhaber des Mifune-Konzerns fliegt im Grunde grundlos um die halbe Welt, um auf der THORVALDSON dabei zu sein, ebenso sein Generalbevollmächtigter Riku Sato.
Die Yrr schicken Crowe ein Bild des Urozeans und zeigen so, dass sie augenscheinlich wenigstens 250 Millionen Jahre alt sind.
Auf der Krankenstation entdeckt Dr. Roche, dass die Injektion von Ketamin in Alicias Körper die Yrr absterben lässt. Mifune denkt daraufhin – zusammen mit dem Kapitän – , dass dies ein Mittel ist, mit denen man die Yrr dazu bewegen kann, dass sie ihre Aggression gegen die Menschheit aufgeben. Diese Waffe wird gegen den Yrr-Teil im Moon Pool eingesetzt und führt zu einem verheerenden Rückschlag. Roscovitz kommt dabei ums Leben, die THORVALDSON wird nahezu manövrierunfähig … und die Yrr im Ozean sind nun alarmiert und beginnen damit, das Schiff zwischen Eisberge zu schieben, um es zu zerstören.
Charlie Wagner versucht zuletzt, die Leiche von Roscovitz im Schlepptau, mit einem Tauchboot hinab zu den Yrr zu tauchen, um das verheerende Missverständnis aufzuklären. Mit der Bemerkung „Luther ist schon zu lange tot“ injiziert sie sich – so hat es den Anschein – Yrr-Substanz (im Buch das Kontakt-Pheromon, das im Film nicht einmal erwähnt wird) und verlässt dann das Tauchboot in der Tiefe, wo sie von den Yrr aufgesogen wird, während sie ertrinkt. (Im Buch läuft das gänzlich anders ab, und sie kommt vollkommen gesund und menschlich wieder an die Oberfläche, um dann mit Anawak zusammen zu kommen.)
Alles beruhigt sich daraufhin wieder … und am Schluss sieht man, wie Charlie Wagner an einen nordischen Strand gespült wird und die Augen öffnet, in denen man nun das Leuchten der Yrr erkennen kann. Augenscheinlich ist nun die Verschmelzung, die bei Alicia nicht funktionierte, erfolgreich gewesen, ein Hybridwesen entstanden, und dieses Hybridwesen kann nun daran gehen, die den Yrr bisher unzugängliche Oberwelt zu erforschen.
Ende der Serie.
Grundlegende Änderungen
Im Abgleich mit dem parallel zur Ausstrahlung noch einmal gelesenen Roman von Frank Schätzing fallen zahlreiche massive Veränderungen auf. Besonders auffallend ist die Entpolitisierung der Geschichte. Während im Roman noch recht ungeniert auf den amerikanischen Präsidenten George W. Bush jr. angespielt wird und die Person der Generalin Judith Li nach Schätzings eigenen Angaben nach dem Vorbild von Condoleeza Rice gestaltet wurde, fehlen im Film sämtliche Hinweise auf die USA. Die Krabbeninvasion findet im Buch beispielsweise an der amerikanischen Ostküste statt, zu den überrannten Städten zählen Boston, New York und Washington, D.C. Auch das „Chateau Disaster“ als Zentrale für die Koordinierungsanstrengungen sowie der Hubschrauberträger INDEPENDENCE fehlen vollständig. Die THORVALDSON ist nur ein mühsamer Ersatz dafür und kommt zudem glimpflich davon (die INDEPENDENCE wird im Buch von den Yrr komplett versenkt, fast alle Besatzungsmitglieder kommen ums Leben, darunter Li, Delaware, Oliviera und Johanson).
Ebenfalls fällt auf, dass der apokalyptische Charakter im Buch in der Filmfassung krass verwässert und auf ein kleindimensionales europäisches Provinzformat zusammengeschrumpft wurde. Der Tsunami, der im Buch die ganze norwegische Ölplattformlandschaft zerstört, Rotterdam ins Meer spült und mehr als zwei Millionen Menschen umbringt, wird auf zwei eher kleindimensionale Ereignisse bei den Shetlands und an einem seltsam flachen norwegischen Strand, wo Kares Restaurant steht, reduziert. Da merkt man deutlich, dass jemand weder die Norweger sonderlich blessieren wollte noch das sehr kritische Amerikabild Schätzings übernehmen mochte. Dass die Weltmacht angesichts dieser globalen Katastrophe so völlig durch Abwesenheit glänzt, ist allerdings vollkommen unrealistisch.
Das Verschwinden der USA aus der Handlung hat noch einen Negativeffekt: Die Sonardaten des US-Militärs sind die Quelle der Yrr-Koordinaten in den Ozeanen. Indem in der Serie suggeriert wird, SETI hätte diese Daten aufgefangen, entsteht der verrückte Effekt, man könne, indem man mit dem Fernrohr in den Himmel schaut, sehen, was auf dem Meeresgrund passiert – was erkennbarer Nonsens ist und in keiner Weise glaubwürdig.
Die Figur der Charlie Wagner und der Kontakt zur JUNO sind weitestgehend frei erfunden. Im Buch werden die wesentlichen Bausteine dieser Person durch die Journalistin Karen Weaver ausgefüllt, die im Film völlig verschwunden ist. Ihre (weibliche) Kontaktperson an Bord der JUNO ist im Buch ein ältlicher männlicher Wissenschaftler.
Generell fällt auf, dass zahlreiche Rollen aus dem Buch mit Frauen statt Männern besetzt wurden. Dr. Roche – im Buch ein Mann ohne familiären Anhang – wird relativ gut durch Cécile de France wiedergegeben, der hier dann entsprechend medienwirksame familiäre Komplikationen angedichtet werden, die es im Buch auch nicht gibt. Professor Dr. Lehmann in Kiel (Sukowa) ist im Buch auch ein Mann, die abwehrende Haltung, die sie hier einnimmt, findet sich im Buch ebenfalls nicht. Auch dass Samantha Crowe eine hellhäutige Geliebte hat und damit die „Alibi-Lesbe“ im Film darstellt, ist frei dazu erfunden. Dasselbe gilt für Amirs schwulen Lebenspartner, den es im Buch ebenfalls nicht gibt. Er ist gewissermaßen der „Alibi-Schwule“. Johanson, der im Roman an einen weißen Schauspieler erinnert, hat im Film eine so dunkle Haut, dass solch ein Gedanke gar nicht erst aufkommt … hingegen schon die Vorstellung, er sei gewissermaßen der „Alibi-Schwarze“ vom Dienst.
Auch die Rolle von Leon Anawak wird im Film völlig verzerrt. In einer späten Folge behauptet er, er sei „noch nie so weit im Norden gewesen“. Was, wenn man den Roman kennt, wo er bekanntlich in der Arktis aufgewachsen ist und dort auch zum Begräbnis seines Vaters hin zurückkehrt, einfach völlig falsch dargestellt ist. Damit verschenkt die Verfilmung sehr viel Potenzial, das sie zugunsten der dortigen indigenen Bevölkerung hätte einsetzen können … aber aufgrund der Pandemiebedingungen konnte nicht in Nordamerika gefilmt werden. Vielleicht hätte das unter normalen Bedingungen anders ausgesehen (ich glaube aber nicht, hier wäre sicherlich das Budget ein limitierender Faktor gewesen).
Die heimtückische Zerstörung der Wurmfelder durch den Hovestad-Konzern, die im Film das Zerwürfnis zwischen Johanson und Lund herbeiführt, ist frei erfunden, ebenso der One-Night-Stand, den die beiden miteinander haben. Dasselbe gilt für Wagners romantischen Fischer-Lover, den es im Roman nicht gibt und zahlreiche weitere Details.
Frank Schätzing zog sich, nachdem er anfangs Teil des Produktionsteams war, aufgrund von diversen Differenzen aus der Zusammenarbeit zurück. Seine zentralen Kritikpunkte waren laut der WIKIPEDIA-Seite: Manches sei
„… kinoreif, anderes rühr- und redseliges Beziehungskisten-TV. Es pilchert mehr, als es schwärmt. Gute Schauspielerriege, aber unterfordert. Die globale Dimension der Bedrohung wird nicht spürbar, von Aktualität oder einer intelligenten Alien-Strategie ganz zu schweigen. Man hätte dem Narrativ des Romans mehr vertrauen sollen, der Maximaleskalation des Thrillers.“
Bewertung
Bedauerlicherweise fand ich nach dem Ansehen der Serie, dass Schätzing in vielen Punkten zuzustimmen ist. Zwar ist festzuhalten, dass die Serie gerade in der Pandemie-Zeit unter sehr erschwerten Bedingungen gedreht wurde, was man als mildernden Umstand einbeziehen sollte. Aber indem an so vielen Stellen so offensichtlich aus Sorge vor „Kollateralschäden“ das Handlungsszenario immer unrealistischer kleingedampft wurde, erhielt man eher eine Art Sturm im Wasserglas als eine wirklich glaubwürdig inszenierte globale Bedrohungskrise. Indem außerdem mit aller Macht versucht wurde, Handlung durch Emotionalität zu kompensieren, unter merklicher Berücksichtigung von Gender- und Randgruppeneinbindung, verlor die Serie doch sehr an effektiver Wirkung.
Der absolut faszinierende Versuch eines Erstkontaktes mit einer Millionen Jahre alten ozeanischen Intelligenz ist regelrecht ausgetrocknet und am Ende so verwässert worden, dass das Schlimmste, was vorkam, ein paar zertrümmerte Scheiben und ausgefallene Computer waren … ohne jetzt zu wollen, dass hier im Film von Orcas halbierte Menschenleiber oder die TITANIC-like Zerstörungsorgie der INDEPENDENCE zur Schau gestellt werden sollte, wäre es doch wegen der Glaubwürdigkeit viel intelligenter gewesen, amerikanische Produzenten ins Boot zu holen und das Budget deutlich aufzustocken. Leute wie Roland Emmerich oder die Marvel-Macher hätten dieses Buch sicherlich sehr viel realitätsnäher und dramatischer umsetzen können, als es dem ZDF-Konsortium möglich war.
So wenig gegen eine verstärkte Frauenriege im Film einzuwenden war – in Schätzings Buch werden tatsächlich zu viele Charaktere durch weiße Männer besetzt – , so schade fand ich doch, dass viele Handlungsstränge des Buches hier überhaupt nicht in der Realisierung zu finden waren.
Findet man, beispielsweise, Anawaks zeitweiligen Kontrahenten Greywolf irgendwo? Er wird im Cast erwähnt, aber dass er bis zum Schluss auf der INDEPENDENCE dabei ist und dort stirbt, sucht man natürlich vergebens. Er wehrt sich natürlich im Roman gegen das Whale Watching, und diesen Tourismuszweig wollte man natürlich nicht schädigen. Die Verwaltung von Rotterdam hat vermutlich auch dagegen protestiert, als Kollateralschaden im Film durch den Tsunami ausgelöscht zu werden. Und sicherlich ist auch das völlige Verschwinden des Katastrophenszenarios der Kanaren dadurch beeinflusst worden, dass man tunlichst Rücksicht auf den Tourismus genommen hat. Ähnliches mag für die norwegische Ölindustrie gelten, der man keinen Image-Verlust bescheren wollte.
Somit wurden der Verfilmung an sehr vielen Stellen die Ecken und Kanten nachgeschliffen, während die Verantwortlich gleichzeitig nervös bemüht waren, auch ja möglichst viele Randgruppen zu berücksichtigen, alles mit etwas Pathos, Seitensprung, unglücklicher Liebesbeziehung und Vorgesetzten-Untergebenen-Zoff zu würzen, um die globale Katastrophe (die man hier kaum spüren konnte) für das Feierabend-Fernsehpublikum ansprechend aufzubereiten.
Alle diejenigen aber, die das Buch – wie ich – schon vor neunzehn Jahren mit fassungslosem Grausen gelesen haben, mussten von der Verfilmung notwendig enttäuscht werden. Die jäh nachlassenden Zuschauerzahlen werden das dann auch nachdrücklich bestätigt haben.
Es war also ein interessantes Experiment, aber leider steckte nicht genug Mut darin, der Buchvorlage zumindest nahe zu kommen. Insofern ist es ein provinzielles Ereignis geblieben. Schade, daraus hätte man deutlich mehr machen können.
© 2023 by Uwe Lammers, Braunschweig, den 19. März 2023