Perry-Rhodan-Fortsetzungsgeschichte von Roland Triankowski, Fortsetzung von: Old Man Rhodan, Kapitel 1 bis 3
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4. Mutantensuche
Ellert schlug die Augen auf und schnappte mit einem fast unmenschlichen Schrei nach Luft. Er bebte an allen Gliedern, als er sich betastete und einem Schmerz nachfühlte, der nur noch in seiner Erinnerung stattfand.
Er sah sich um und fand sich in demselben Krankenzimmer wieder, in dem er zu Beginn dieses bizarren Abenteuers erwacht war. Hier hatte er sich auch zur Ruhe gelegt, um seine körperlose Reise zur Erde anzutreten. In diesem Moment betrat Nikki Rhodan das Zimmer, wechselte ein paar Worte mit dem Yaanztroner, der daraufhin durch den Ausgang verschwand.
“Wie geht es dir?”, fragte sie. Ihr Blick zeigte eine Mischung aus Mitgefühl und Neugier. Letztere schien sie nur mühsam zurückhalten zu können.
Ellert setzte sich auf, schwang die Beine von der Liege und atmete ein paarmal tief durch. “Als wäre nie etwas gewesen”, flüsterte er mehr zu sich selbst. Dann sah er Rhodan eine Weile stumm in die Augen. Er fühlte sich benutzt, konnte aber nicht genau festmachen, auf welche Weise. Das war ein furchtbares Gefühl.
Er stützte seine Unterarme auf die Knie, schloss die Augen und ließ den Kopf hängen. Er entspannte all seine Muskeln, um zu testen, ob sein Körper in dieser Haltung stabil saß. Dann verließ er ihn und sah sich körperlos in dem Raum um. Nikki Rhodan stand in entspannter Haltung neben ihm. Vorsichtig tastete er sich an ihren Geist heran, fand jedoch keine Möglichkeit einzudringen.
Das verwunderte ihn nicht sonderlich. Dass sie mentalstabilisiert war oder eine Art Monoschirm besaß, war zu erwarten gewesen.
Er verließ den Raum und durchstöberte eine Weile das Schiff. Die Räume, Hallen und sonstigen begehbaren Bereiche waren tatsächlich scheinbar willkürlich im Kugelleib des Raumschiffs verteilt und durch keinerlei Korridore oder Antigravschächte verbunden. Einige waren sogar in Bewegung. Für Ellert war dies jedoch kein Problem, ungehindert durchdrang er die Wände und Maschinenblöcke. Dabei fand er nur wenige Lebewesen, den Yaanztroner, ein paar Gaids und ein gutes Dutzend Lemurerabkömmlinge, die sich vermutlich allesamt als Trojaner verstanden.
Sie waren durch die Bank mentalstabilisiert, was für eine unabhängige Geheimmission auch nicht sonderlich ungewöhnlich war.
Die Bordrechner funktionierten auf rein technische Art und Weise – vermutlich waren es Sextatroniken -, Bioplasmaanteile, in die er hätte eindringen können, gab es keine. Nach allem, was er bislang erfahren hatte, war es schlüssig anzunehmen, dass die Posbis ihre Bioanteile komplett im Solsystem behielten.
Ellert verließ die DELORIAN IX und umkreiste sie langsam von außen. Die Milchstraße hing in beeindruckender Schönheit vor ihm, das Schiff befand sich also zwischen den Sterneninseln. Das Band zu seinem Körper blieb ihm dabei unverändert bewusst, an dieses Gefühl hatte er sich jedoch längst gewöhnt, dass er es fast ausblenden konnte.
Offenbar hatte er genau jetzt die Wahl. Sollte er bleiben und sich weiter in die hierundheutigen Ereignisse verstricken lassen? Oder sollte er wieder in die Tiefen der Raumzeit eintauchen und all das hinter sich lassen? Diese Wahl hatte er im Solsystem nicht gehabt.
Er glitt behutsam in die Zukunft. In einigen Versionen verschwand die DELORIAN IX nach etwa einer halben Stunde, in einigen erst in zwei, drei Stunden. Doch sie verschwand, zog weiter ihrer Wege, ob mit oder ohne seinen Geist an Bord, wusste er nicht zu sagen. Diese Entscheidung musste er noch treffen.
Er pendelte zurück in die Gegenwart und dann über diese hinaus weiter in die Vergangenheit. Er hatte gerade den Gedanken entwickelt, das Raumschiff während seiner Abwesenheit zu erkunden und Nikki Rhodan zu belauschen, als er unvermittelt gegen eine Wand aus purem Schmerz prallte.
*
Er erwachte schlagartig in seinem Klonkörper, in der sitzenden Haltung, in der er ihn zuletzt verlassen hatte. Nikki Rhodan saß direkt neben ihm auf dem Bett und schaute ihn erwartungsvoll an.
“Wie lange war ich weg?”, fragte Ellert.
“Nur ein paar Minuten”, antwortete Rhodan. “Ist alles in Ordnung? Soll ich den Arzt holen?”
Ellert schwieg zunächst, seine Gedanken rasten. Der Schmerz, der ihn im Solsystem gequält und aus dem Kunstkörper getrieben hatte, hatte ihn auch im körperlosen Zustand erwischt, als sei es ein universeller Ellertscher Schmerz, der die gesamte kosmische Region erfüllt hatte. Vor dieser Schmerzenswand war er offenbar regelrecht abgeprallt, um ein paar Dutzend Minuten später in seinem Körper zu erwachen.
“Habt ihr mich vorhin in meinen Körper zurückgerufen?”, fragte er schließlich.
“Wir haben diesen Körper in der Hoffnung produziert, dass er dich anlockt”, sagte Rhodan.
“Nein”, Ellert blickte die junggebliebene Frau an. Auf den ersten Blick wirkte sie kaum älter als 40, nach Maßstäben des 20. Jahrhunderts, in dem er geboren war, sogar deutlich jünger. Allein ihr Blick verriet aber, dass sie die 1.000 schon lange überschritten hatte.
“Ich meinte gerade eben”, fuhr er fort. “Habt ihr mich aus dem Solsystem zurückgerufen?”
“Deine Rückkehr war unangenehm, das war nicht zu übersehen. Medshadh vermutet Phantomschmerzen aufgrund einer Art von Körpertrauma, entweder vermisst der Körper sein Bewusstsein – oder dein Geist vermisst die lang entbehrte Körperlichkeit. Wir überwachen deine medizinischen Werte sehr engmaschig und genau. Ich versichere dir, dass physisch und psychisch alles mit dir in Ordnung ist. Vielleicht ist es auch nur Stress, weil wir dir zu früh zu viel zugemutet haben. Das tut mir aufrichtig leid. Wenn du dich erst einmal ausruhen möchtest, kannst du das. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Unsere Sextatroniken verfügen über hervorragende Therapieprogramme. Wenn du ein entsprechendes Gespräch führen möchtest, kannst du das jederzeit tun.”
Wieder schwieg Ellert und blickte Rhodan lange in die Augen, wo er nur Offenheit und Mitgefühl las. Und doch fühlte er sich an Tifflors Kunstgesicht erinnert.
“Ich will ehrlich zu dir sein”, sagte er schließlich und wählte ganz bewusst dieselbe Formulierung wie bei Tifflor. “Ich kann all dies hier nicht einschätzen und einordnen. Ich verstehe nicht, was im Solsystem, in der Milchstraße und in der Lokalen Gruppe los ist. Ich fühle mich als Werkzeug für Zwecke, die ich nicht nachvollziehen kann. Bin ich ein Spion? Ein Bote? Ein Soldat? Kämpfe ich für eine gute Sache? Oder wird mir das nur vorgegaukelt? Von Perry wird oft erzählt, wie er in absurd fremdartige Umgebungen geworfen wurde und sofort erkannte, für welche Sache es sich einzusetzen lohnt. Ich habe diese Gabe nicht.”
Nikki Rhodan wich seinem Blick nicht aus, der Ausdruck des Mitgefühls in ihren Augen nahm sogar noch zu.
“Es tut mir so leid”, sagte sie fast tonlos. “Ich fühle mich schlecht, dich in diese Lage gebracht zu haben. Aber glaube mir, es ist der verzweifelte letzte Versuch, Kontakt mit Perry aufzunehmen. Nichts und niemand sonst vermag mehr ins Solsystem vorzudringen. Der Raumzeitschirm um das Solsystem ist die einzige Zeitreisetechnik, die von Tolot noch toleriert wird. Man nennt ihn nicht umsonst auch den letzten Zeitpolizisten. Ich wusste mir keinen anderen Rat mehr, als nach dir zu rufen.”
Es folgte ein erneuter kurzer Moment des Schweigens, den Rhodan schließlich beendete.
“Pass auf Ernst”, sagte sie. “Ich lasse dich ziehen. Ob in diesem Körper oder ohne, ganz wie du magst. Du kannst eines unserer Beiboote haben, voll ausgerüstet mit uneingeschränktem Zugriff auf alle Systeme. Damit kannst du hundert Jahre oder länger durch die Lokale Gruppe ziehen, ohne dass dir der Saft ausgeht. Flieg umher, such dir einen einsamen Planeten, um dir dort ein Haus zu bauen, was du magst. Ich werde dich nie wieder behelligen. Oder du verlässt diesen Leib einfach und setzt deine Reise durch Raum und Zeit wieder fort und vergisst diese Episode.”
“Ein großzügiges Angebot”, sagte Ellert. “Vermutlich willst du dafür lediglich alle Informationen von meinem Spionageeinsatz im Solsystem haben.”
Rhodan lächelte milde, ihr Blick wurde fast ein bisschen traurig.
“Ich wünsche mir nur, dass du mir vergibst, Ernst. Ich habe es übertrieben und es tut mir leid. Das will ich wieder gutmachen.”
So alt und erfahren er auch war, Ellert fühlte sich schlecht. Ein Teil von ihm ahnte, dass er hier gerade massiv manipuliert wurde, die überwiegende Mehrheit seines Seins sah aber nur die verzweifelte Tochter, die seit über einem Jahrtausend ihren Vater vermisste.
“Er ist auf der Erde”, sagte er schließlich.
Nikki Rhodan gab durch keine Regung zu erkennen, wie sie seinen Sinneswandel einordnete. Sie hörte einfach weiter zu.
“Die Erde ist allerdings nicht mehr dort, wo sie hingehört. Man hat sie bereits vor langer Zeit zu einem anderen Stern in der Milchstraße versetzt. Wo dieser Stern liegt, weiß jedoch niemand zu sagen. So hat man es mir jedenfalls erzählt.”
“Okay”, sagte Rhodan und nickte bedächtig. Dann sagte sie lauter und offenbar an die Sextatronik gewandt: “Ich brauche eine Karte der Milchstraße.”
Daraufhin erschien direkt vor Ellert und ihr eine holografische Abbildung der gewünschten Sterneninsel. Rhodan griff mit den Händen hinein und bewegte die Abbildung so, dass sie senkrecht auf die Milchstraßenscheibe schauen konnten.
“Zeige mir nur die Einzelsterne der Klassen F, G, K und M, die sich maximal im mittleren Lebenszyklus befinden und von denen sicher bekannt ist, dass sie keine Planeten haben.”
Noch während sie sprach, begannen zahlreiche Lichtpunkte aus der Darstellung zu verschwinden. Gleiches galt für die Darstellung anderer kosmischer Objekte wie Dunkelwolken.
“Mein Angebot gilt unverändert und unbefristet”, sagte sie, ohne den Blick von der Karte abzuwenden. “Du kannst jederzeit ein Schiff haben oder einfach so verschwinden.”
Ellert kommentierte das nicht. Stattdessen sagte er: “Sind immer noch ganz schön viele.”
Auch wenn die Darstellung nun deutlich ausgedünnt war, war die Struktur der Milchstraße immer noch zu erahnen.
“Nimm die Klassen F und M raus”, sagte Rhodan. Das reduzierte die Zahl der Sterne nochmals deutlich. Dennoch schüttelte Ellert den Kopf.
“Es bräuchte schon eine ziemlich große Flotte, um die alle in absehbarer Zeit abzusuchen. Selbst ich würde mit meiner erweiterten Wahrnehmung Jahrzehnte beschäftigt sein. Mindestens.”
“Keine Option”, sagte Rhodan knapp.
“Habt ihr Zugriff auf starke Telepathen?”
“Seit dem Wirken des Roten Thorts vor zweitausend Jahren ist in der Lokalen Gruppe keine psibegabte Person mehr geboren worden.”
Erneut verschlug es Ellert die Sprache, wie lapidar ihm quasi im Nebensatz die unglaublichsten Ereignisse während seiner Abwesenheit präsentiert wurden. Vielleicht wäre ein ausführliches Gespräch mit einer Sextatronik wirklich hilfreich – allerdings, um ihn in Sachen Kosmo-Historie der letzten zehntausend Jahre auf den Stand zu bringen.
“Der einzige, von dem ich weiß, dass er noch leben könnte, ist vor sehr langer Zeit zu einer Expedition aufgebrochen.”
“Kenne ich ihn?”
“Deinem Alter nach nehme ich es an.” Nikki Rhodan erlaubte sich ein zaghaftes Lächeln.
“Du meinst Gucky?”
“Eben jenen.”
*
Ellert rauchte der Kopf. Erneut hatte Nikki Rhodan ihn im Schnelldurchlauf mit Informationen vollgepackt, die er weder einordnen geschweige denn verifizieren konnte. Es lief darauf hinaus, dass sich Gucky vor zweitausend Jahren – offenbar ein Zeitpunkt großer Umbrüche – gemeinsam mit Reginald Bull aufgemacht hatte, nach den Ilts zu suchen. Was aus dieser Expedition geworden ist, hat man nie erfahren. Über den Verbleib von Reginald Bull wusste man jedoch seit einigen Jahrhunderten Bescheid.
Und hier wurde es besonders absurd. Demnach lebte der einstige Gefährte Perry Rhodans inzwischen in der Galaxis Erranternohre als Wächter der Materiesenke Jarmithara.
Einen Moment lang hatte er überlegt, Rhodans Angebot anzunehmen und sich all dem zu entziehen. Doch seine Neugierde obsiegte. Nun wollte er auch wissen, wie es ausging.
*
Die Leistungsparameter der DELORIAN IX waren beeindruckend. Der Sprung in die über 40 Millionen Lichtjahre entfernte Galaxis erfolgte quasi in Nullzeit. Selbst die komplexe Berechnung des Sprungs war in wenigen Stunden abgeschlossen.
Nicht weniger erstaunlich war die Reaktionszeit der raumfahrenden Völker ihrer Zielgalaxis. Trotz vollen Ortungsschutzes und einer Position im Leerraum zwischen den Sternen am Rande Erranternohres, hatten sie nicht einmal einen Tag, um sich in ihrem Zielgebiet zu orientieren.
Laut Nikki Rhodan waren ihre Informationen über diese kosmische Region mindestens ein paar Jahrhunderte, größtenteils aber über zehntausend Jahre alt. Zudem waren sie zusammengenommen äußerst lückenhaft. Im Grunde war es ein Sprung ins Blaue gewesen.
Nun sammelte sich eine stetig wachsende Raumflotte in ihrer unmittelbaren Nähe. Kein Schiff in dieser Flotte glich dem anderen – außer, dass sie allesamt grob kugelförmig waren. Für Ellert drängte sich der Begriff „Fragmentkugelraumschiff“ auf. Sie wurden von sechs-, sieben- und höherdimensionalen Taststrahlern erfasst und schließlich angefunkt. Die Sextatronik der DELORIAN IX hatte keine Mühe, die Sprache zu verstehen und zu übersetzen, da sie eine nahe Verwandtschaft zum Fenejischen feststellen konnte.
Die Nachricht wurde in Dauerschleife übertragen und lautete: “Unbekanntes Schiff, hier spricht Anasthasia Bull, Primarchin der siebten Clansflotte. Sie sind ohne entsprechende Prägung in den chaotarchischen Sektor eingedrungen. Übertragen Sie umgehend ihr Permit oder verlassen Sie diesen Sektor oder liefern Sie uns ein zünftiges Gefecht. Ihre Entscheidung.”
*
Ellert und Rhodan befanden sich allein in der Zentrale – oder was in diesen Zeiten als Zentrale eines Raumschiffs galt. Es war lediglich ein weiß erleuchteter leerer Raum, aus dessen Boden zwei Sessel gewachsen waren, als sie ihn betreten hatten. Ellert fühlte sich unangenehm an den Saal erinnert, in dem er sich mit Tifflor unterhalten hatte, ließ sich jedoch nichts anmerken. Sie lauschten eine Weile der Durchsage, bis Nikki Rhodan sie mit einer wischenden Bewegung ihrer Hand deaktivierte. Sie lächelte und nickte Ellert aufmunternd zu, der sie nur mit großen Augen anblicken konnte.
„Vermutlich eine Ur-ur-ur-ur-ur-Enkelin“, sagte sie. „Plus minus ein paar ‚Urs‘.“
Sie richtete sich in ihrem Kommandosessel auf und fügte hinzu: „Dann wollen wir mal antworten, ehe mit der Guten die chaotarchischen Pferde durchgehen. Hier spricht Nikki Rhodan vom Trojanischen Tamanium.“ Es war durch nichts zu erkennen, wie sie die Übertragung aktivierte. Ellert war aber sicher, dass die Sextatronik alles veranlasste. „Durch den Pakt von Norgan-Tur sind alle Trojaner als Vertreter des Vierten Weges anerkannt und genießen somit freies Geleit auch in chaotarchischen Einflussgebieten. Das entsprechende Permit wird soeben übertragen.“
Keinen Augenblick später erschien die Holodarstellung einer Frau direkt vor Ellert und Rhodan, es sprach für Ellert alles dafür, dass es sich um Anasthasia Bull handelte, auch wenn er keine Ähnlichkeit feststellen konnte. Sie musterte die beiden, offenbar war die Übertragung beidseitig.
„Vierter Weg?“, sagte sie mit abschätzigem Tonfall. „Wie langweilig!“
Sie blickte in eine andere Richtung, womöglich sprach jemand mit ihr oder sie schaute sich eine Anzeige an.
„Hm“, machte sie schließlich. „Das Permit ist in Ordnung.“
Sie seufzte und wirkte sichtlich enttäuscht.
„Okay“, sagte sie dann. „Ihr dürft euch hier aufhalten. Zieht also eurer Wege. Macht ein bisschen Blödsinn oder folgt irgendwelchen Regeln. Offenbar steht ihr ja auf beides.“
Sie war gerade dabei, sich abzuwenden, als Nikki Rhodan das Wort an sie richtete.
„Wir hätten gern eine Audienz beim Obersten Primarchen“, sagte sie. „Falls es sich einrichten lässt.“
Anasthasia Bull tat einen Moment lang, als würde sie nachdenken. „Trojaner, was?“, murmelte sie wie in Gedanken. „Rhodan war der Name, richtig?“
Nikki Rhodan lächelte lediglich.
„Da klingelt was“, sagte Bull und nickte. „Ja, das könnte lustig werden. Wir übermitteln euch Sprungkoordinaten. Begebt euch dorthin, man wird sich mit euch in Verbindung setzen.“
Von einem Augenblick auf den anderen verschwand ihr Holo.
Nikki schaute Ellert aufmunternd an.
„Vierter Weg?“, fragte er.
„Das war Perrys Idee, vor ein paar tausend Jahren.“ Rhodan hantierte in einem kleinen Holo-Display, vermutlich gab sie Anweisungen zur nächsten Überlicht-Etappe. „Da der Dritte Weg mit seiner strikten Ablehnung kosmokratischer und chaotarchischer Ideen zu nichts führte, rief er den Vierten Weg ins Leben, der beide Philosophien gleichberechtigt akzeptierte. Es hat zwar ein paar Jahrhunderte gedauert, aber er ist tatsächlich damit durchgekommen.“
*
Man ließ sie an den angegebenen Koordinaten mehrere Tage warten. Nikki Rhodan ertrug die Wartezeit mit Gelassenheit und Ellert nutzte sie, um sich in die historischen Datenbanken der DELORIAN IX zu vertiefen. Dadurch gelang es ihm zwar, sich ein grobes Bild der letzten zehn- bis fünfzehntausend Jahre zu machen – die gewonnenen Informationen einzuordnen, fiel ihm aber immer noch schwer.
Immerhin wusste er nun, dass Nikki Rhodan nur wenige Jahrzehnte vor Perrys letzter Reise in die Milchstraße geboren worden war. Der Name der Mutter – Vina Saru – sagte Ellert nichts, auch ihre Abbildungen kamen ihm nicht bekannt vor, zumal sich ihr Erscheinungsbild teilweise stark veränderte. Sie war eine Humanoide, die aus seiner Perspektive sowohl Terranerin als auch Akonin oder Tefroderin hätte sein können. Jedenfalls hatte sie offenbar mit Perry Rhodan vor knapp zweitausend Jahren das Trojanische Tamanium begründet und Jahrhunderte lang regiert. Demnach war auch sie sehr langlebig oder sogar unsterblich. In den Jahrhunderten nach Perrys Verschwinden hatte sie sich mehr und mehr aus Öffentlichkeit und Verantwortung zurückgezogen. Über ihren derzeitigen Verbleib – und darüber, ob sie überhaupt noch lebte – konnte Ellert nichts finden. Ihre letzte Erwähnung war dreihundert Jahre alt und auch da hieß es nur, dass sie mittlerweile zurückgezogen auf einem unbekannten Planeten lebe.
Nikki schien in all der Zeit nie eine offizielle Führungsrolle im Trojanischen Imperium übernommen zu haben. Eine kurze Zeit war sie offenbar eine Art Diplomatin, hat sich aber auch als Wissenschaftlerin, Unternehmerin und sogar als Künstlerin betätigt. Zurzeit leitete sie offenbar ein „Forschungsinstitut für hochfrequente n-dimensionale Phänomene“, was immer das bedeuten mochte. Ellert war sicher, dass dies eine durchsichtige Tarnung für Agententätigkeit war, das war allerdings der einzige Punkt, der ihm ein wenig dubios erschien. Alles andere entsprach in etwa dem, was Nikki ihm erzählt hatte, inklusive der Analyse, dass das Trojanische Tamanium für einen Krieg rüstete.
Ellert wollte sich gerade den Ereignissen in der Milchstraße zuwenden, als ihn die Bitte erreichte, sofort in die Zentrale zu kommen.
*
„Nikki Rhodan!“ Die Stimme donnerte aus den Akustikfeldern und vermittelte Ellert den Eindruck, dass die gesamte Zentrale der DELORIAN IX in Schwingungen versetzt wurde. „Du hast hier nichts verloren!“
Das dazugehörige Holo dominierte den Raum ebenfalls. Ellert konnte Reginald Bull kaum wiedererkennen. Erst nach einer Weile entdeckte er vertraute Züge in der voluminösen Gestalt, die in weite Gewänder und Decken gehüllt auf einer Art Thron fläzte. Mit dem bis auf die Brust reichenden roten Vollbart wirkte er fast wie ein Mehandor-Patriarch.
„Ich wollte meiner Enkelin erst nicht glauben, musste es mit eigenen Augen sehen.“
Bull machte eine Pause – vermutlich, um Nikki Rhodan dazu zu verleiten, das Wort zu ergreifen, um ihr dann in selbiges zu fallen. Diesen Gefallen tat sie ihm aber nicht und schwieg weiterhin.
„Aber nun habe ich es gesehen“, sagte Bull schließlich. Er wandte sich um, offenbar zu Personen außerhalb des Holo-Erfassungsbereichs und rief: „Abflug!“
Ellert schaute gebannt auf Nikki Rhodan, wie sie nun reagieren würde. Sie sagte jedoch nichts. Sie sah nicht einmal das Holo an, sondern erwiderte seinen, Ellerts, Blick. Dabei zog sie die Augenbrauen auf eine Weise hoch, als würde sie desinteressiert mit den Schultern zucken.
Oder war es eine Aufforderung an ihn, die Initiative zu übernehmen und Reginald Bull milde zu stimmen? Ellert war sich nicht sicher, dennoch fühlte er sich genötigt, einzugreifen.
„Reginald“, rief er. „Wir brauchen Deine Hilfe.“
Der Angesprochene hielt inne, das Holo und somit die Verbindung blieben stabil. Bull wandte sich wieder um und sagte: „Du kommst mir die ganze Zeit schon bekannt vor. Wenn mich mein alter Denkkasten nicht täuscht, sollst du Ernst Ellert darstellen. Interessanter Schachzug.“
Die letzte Äußerung war offensichtlich an Nikki Rhodan gerichtet, auch wenn er den Blick von Ellert nicht abwandte. Bull tat, als würde er nachdenken, strich sich den Bart und verzog dabei grüblerisch das Gesicht.
„Na gut“, sagte er schließlich. „Du darfst deine Sache vorbringen, Ernst.“ Dabei betonte er den Namen, als würde er ihn in Anführungszeichen setzen.
An irgendjemanden außerhalb des Aufnahmebereichs gerichtet rief er: „Schmeiß mal jemand den Fiktivtransmitter an und hol den Knaben dort zu uns rüber!“
*
Ellert spürte den Transfer kaum, er nahm ihn mehr wie eine Überblendung der Umgebung wahr. Selbst seine Perspektive auf Reginald Bull änderte sich nicht. Von einem auf den anderen Moment stand er einfach in der Zentrale des gigantischen Fragmentkugelraumschiffs, das Bull offenbar als Residenz- und Flaggschiff diente.
„Soso“, sagte Reginald Bull, „du willst also Ernst Ellert sein. Na, dann wollen wir dir das mal einen Moment lang glauben.“
Ellert kommentierte das nicht. Als Wächter einer Materiesenke standen Bull mit Sicherheit ähnliche technische Möglichkeiten zur Verfügung wie Tifflors Taranern, vermutlich sogar bessere. Man hatte ihn längst durchleuchtet und sich ein Urteil über seine Identität gebildet.
„Und du hängst jetzt mit Trojanern ab?“, fuhr Bull fort. „Dem Alter Deines Körpers nach aber noch nicht sehr lange. Lass mich mal raten. Die bewerben sich bei dir als neues Favoritenvolk von ES und du sammelst jetzt Beurteilungen ein, richtig?“
Einen Moment lang starrten sich die beiden Männer schweigend an. Ellert entschied, nicht auf Bulls Masche einzugehen.
„Okay, Spaß beiseite“, sagte dieser schließlich. „Worum geht es?“
In knappen ruhigen Worten schilderte Ellert seine Erlebnisse der letzten Tage, ließ dabei nicht aus, dass er mit ES nichts mehr am Hut hat und schloss mit der Bitte, ihnen bei der Suche nach Gucky behilflich zu sein.
Bull hatte schweigend zugehört, von kurzem Grunzen und Prusten an einigen Stellen abgesehen. Nun ging ein leichtes Beben durch seinen massigen Leib.
„Was ist so lustig, Bully?“
Ellert war gespannt, ob Bull noch immer ein Freund des direkten Wortes war.
„Oh“, sagte dieser. „So hat mich ja schon lange niemand mehr genannt. Erinnert mich an die guten alten Zeiten.“ Er winkte ab. „Ich finde die Vorstellung, dass Perry nun allein auf der Erde hockt, recht amüsant.“
„Weißt du“, hob Ellert an, räusperte sich kurz und fuhr dann mit leiser Stimme fort: „Ich war ziemlich lange weg, schätzungsweise zehntausend Jahre. Daher wundere ich mich über kaum etwas, das ich hier und heute vorfinde. Tolotos ist Diktator der Milchstraße, Tiff errichtet im Solsystem ein Simusense-Paradies und Bully ist ein Diener der Chaotarchen – nun, ihr werdet alle eure Gründe haben. Aber ich hätte doch fest damit gerechnet, dass Perry und Bully immer noch Freunde sind.“
Mit lautem Krachen donnerte Bulls Faust auf die Armlehne seines thronartigen Sitzes.
Davon abgesehen zeigte er jedoch keine Regung – nicht einmal ein Schmunzeln ob der Tatsache, dass Ellert leicht zusammengezuckt war. Seine Stimme klang auch ruhig und entspannt als er sagte:
„Wenn Perry in diesem Moment diesen Saal betreten würde, würden wir uns um den Hals fallen und er würde die ganze Gastfreundschaft des Bull-Clans erfahren. Egal, wer ihm auf den Fersen wäre, ich würde mich vor Perry stellen und meinen vollen Zorn mit aller Macht auf seine Verfolger niederprasseln lassen. Perry und Bully SIND Freunde und werden es immer sein.“
Schnaufend atmete Reginald Bull durch.
„Hör zu, Ernst!“ Ellert nahm zur Kenntnis, dass sein Name nun nicht mehr in metaphorische Anführungszeichen gesetzt wurde. „Perry und ich haben schon vor langer Zeit unterschiedliche Wege eingeschlagen. Es ging ihm immer nur um die Menschheit und die Erde, aus vollem Herzen und ohne damit je nachzulassen. Ich habe mich schon vor langer Zeit für die Familie entschieden. Perry hat das immer akzeptiert – auch, dass ich ihm bei seiner Mission nicht mehr beispringen konnte.“
Bull lehnte sich in seinem Sitz vor – agiler als Ellert es erwartet hätte – und fuhr fort:
„Und das ist auch die Antwort, die ich dir jetzt geben muss. Ich kann dir nicht helfen, Ernst. Was da in der Lokalen Gruppe vor sich geht ist derart komplex und verfahren, daran wird auch ein aus heiterem Himmel zurückkehrender Perry Rhodan nichts ändern können. Wenn ich mich da jetzt einmische, ist es mit der Ruhe und Sicherheit für meine Familie vorbei.“
„Das verlangt doch niemand“, sagte Ellert. „Sag mir einfach, wo wir Gucky finden.“
Wieder schnaufte Bull belustigt und ließ sich auf die Rückenlehne zurückfallen.
„Plofre hat das Universum oft genug gerettet“, sagte er. „Seine Prioritäten liegen inzwischen ebenfalls woanders. Mehr noch als bei mir. Vermutlich wird er euch nicht einmal empfangen.“
„Darauf würden wir es ankommen lassen.“ Ellert ahnte, dass Bull ihm die Information geben wollte – und noch einiges mehr. Wieso sonst hätte er ihn überhaupt empfangen. Aber er ahnte auch, dass er es von sich aus tun musste. Wenn er jetzt nachbohrte, würde er zumachen.
Also wartete Ellert schweigend.
Bull verzog derweil sein Gesicht zu einer nachdenklichen Miene.
„Warum folgst du ihr?“, fragte er schließlich.
„Nikki Rhodan?“ Ellert zuckte mit den Schultern. „Nun, sie ist Perrys Tochter und soweit ich es beurteilen kann, scheint ihre Geschichte zu stimmen. Perry ist ihre letzte Hoffnung, den Trojanern den Angriff auf die Milchstraße auszureden.“
Bull vergrub sein Gesicht in den Fingern, wischte sich übers Gesicht, als würde er es waschen und sagte schließlich: „Fliegt nach Vilamesch. Streift ein paar Tage ohne Ortungsschutz durch diese Galaxis, lasst euch in der Nähe lebensfreundlicher Sonnensysteme blicken, verzichtet aber auf Funkrufe. Wenn ihr nach ein paar Wochen nicht behelligt werdet, zieht wieder ab. Wenn doch, hofft, dass man euch wohlgesonnen ist.“
„Danke Bully“, sagte Ernst Ellert.
Ohne ein weiteres Wort hob Bull den Arm, offenbar um Ellerts Rücktransfer auf die DELORIAN IX zu befehlen. Unvermittelt stand dieser wieder in der Zentrale neben Nikki Rhodan, die ihn erwartungsvoll anblickte.
*
Der Überfall erfolgte gut eine Woche nachdem sie die Galaxis Vilamesch erreicht hatten. Sie hatten sich nach der empfohlenen Rundreise in ein unbewohntes System am Rande der Sterneninsel zurückgezogen und über das weitere Vorgehen beraten, als auf einmal unvermittelt hunderte schwer bewaffnete Gestalten in der DELORIAN IX erschienen. Sie waren allesamt kaum größer als einen Meter, in ihren wuchtigen Kampfanzügen aber nur schwer zu identifizieren. Ohnehin blieb der Besatzung des Trojanischen Kugelschiffes kaum Zeit dazu, nach nur wenigen Sekunden war auch das letzte Besatzungsmitglied außer Gefecht gesetzt und paralysiert.
5. Die Ellert-Falle
Ellert erwachte in einem kleinen kahlen fensterlosen Raum auf einer Art Pritsche und seufzte. In dem Moment wurde ihm bewusst, wie sehr er die Weite eines naturbelassenen erdähnlichen Planeten vermisste. Nein, er musste sich korrigieren. Er vermisste explizit die Erde und nichts anderes. Er wollte Berge sehen, am liebsten die bayrischen Alpen, am Ufer eines Sees entlangwandern, einen Gipfel erklimmen und weit in die Ferne blicken.
Jetzt steckte er nach Jahrtausenden vergeistigter Existenz endlich wieder in einem Körper und fristete dieses Dasein nur in wechselnden fensterlosen Kammern, in denen ihm vermeintliche alte Freunde oder deren Nachkommen erklärten, was er zu tun und zu lassen hatte.
„Du kannst aus meiner Galaxis verschwinden. Ansonsten ist es mir ziemlich egal, was du tust.“
Mit einem Ruck setzte sich Ellert auf, sein kurzer Schreck verflog jedoch sofort wieder. Erschöpft stützte er die Ellenbogen auf den Knien ab und blickte zu der kleinen verhüllten Gestalt, die mit einem Mal in der Kammer stand. Zumindest bildete er sich ein, sie zuvor nicht bemerkt zu haben.
Es erforderte keine große Kombinationsgabe, um zu erahnen, was für ein Wesen da vor ihm stand. Und obwohl der Klang der Stimme nicht exakt zu seiner Erinnerung passte, konnte er sich auch über das konkrete Individuum relativ sicher sein.
„Gucky?“
Er formulierte es dennoch wie eine Frage.
Ein kurzes Schnaufen war die Antwort – irgendwo zwischen abfällig und belustigt.
„Ich bevorzuge zurzeit Plofre“, kam die Antwort. „Präsident Plofre, wenn es keine Umstände macht.“
Ellert holte Luft, um erneut sein Anliegen vorzubringen.
„Mach dir keine Mühe“, sagte Plofre und schlug die Kapuze seines Umhangs zurück. „Sie haben deinem neuen Körper keine Mentalstabilisierung verpasst. Du bist ein offenes Buch für mich.“
Ellert staunte, wie – er konnte auf Anhieb keinen passenden Begriff dafür finden – entspannt Gucky wirkte. In Gedanken mischte er das Attribut mit „gelöst“, „gereift“, „gelassen“, „mit sich im Einklang“. Er wusste nicht einmal, woran er den Eindruck festmachte. Vermutlich waren es die Augen, denen in vergangenen Jahrtausenden bei allem Blödsinn, den Gucky gerne trieb, immer eine tiefe Traurigkeit innewohnte. Diese war nun fort.
Gucky – oder Plofre, wie Ellert sich in Gedanken korrigierte – lächelte, allerdings ohne seinen Nagezahn zu zeigen.
„Interessante Analyse“, sagte er, kommentierte diesen Punkt jedoch nicht weiter. „Kommen wir zu dir, Ernst“, fuhr er fort. „Ich kenne bereits jedes Argument, das du vorbringen könntest, und weiß von jedem, ob und wie sehr du selbst davon überzeugt bist. Ich kenne deine inneren Zweifel und deine Motivation. Bei Nikki Rhodan und ihrer Truppe verhält es sich jedoch anders. Bei allen sind die Gehirne hochprofessionell abgeschirmt, gleiches gilt für das KI-System der DELORIAN. Über ihre tatsächliche Agenda kann ich also nur spekulieren.“
Ehe Ellert etwas sagen konnte, setzte Plofre den einseitigen Dialog fort.
„Ja, ich weiß, dir geht es genauso“, sagte er. „Mir ist es allerdings ehrlich gesagt herzlich egal. In Bälde schmeiße ich euch aus meiner Galaxis raus und kann mich wieder um wichtige Dinge kümmern.“
Plofres Stimme wurde lauter, da er Ellerts Widerstand gegen diese leichte Provokation spürte. „Allerdings möchte ich dir helfen. Du bist guten Willens und unfreiwillig in diese Situation geraten. Du hast das Recht, eine eigene Entscheidung zu treffen und dafür eine bestmögliche Faktengrundlage zu erhalten.“
Ellert schwieg, da er die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, ohnehin schon in Gedanken formuliert hatte. Diesmal setzte Plofre den Dialog jedoch nicht auf diese Weise fort. Er blickte Ellert lediglich erwartungsvoll an und Ellert meinte, in den Augen des Mausbibers wieder das unbeschwerte schelmische Glitzern zu erahnen, das er nach der Vernichtung des Planeten Tramp und dem späteren Verlust seines Volkes verloren hatte.
Ellert räusperte sich und sprach seinen Gedanken aus: „Wie willst du diese Faktengrundlage schaffen, wenn dir die Gedanken der Trojaner und ihrer KIs verschlossen bleiben?“
„Über ihre Ziele werde ich dir nichts sagen können, aber ich kann dir einen Einblick in ihre Methoden verschaffen. Meine Leute haben auf der DELORIAN etwas entdeckt, das dich interessieren dürfte.“
Plofre hielt Ellert die Pfote hin und sagte: „Komm, ich zeig’s dir.“
*
Sie materialisierten in einem der charakteristischen leeren Räume der DELORIAN. Aus diesem hier führte lediglich ein Ausgang.
Ellert dachte kurz darüber nach, wo sich die Besatzung momentan aufhalten mochte. Plofre hatte sie offenbar festsetzen lassen, zwischen Hausarrest hier auf diesem Schiff und Einzelhaft in künstlichen Miniuniversen war alles möglich. Er hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt, ob sie gut behandelt wurden oder ob ihnen überhaupt irgendwelche Rechte zustanden.
Er schielte zu dem Mausbiber an seiner Seite, dessen Ansichten zur Privatsphäre der Gedanken anderer Leute in dieser Zeit etwas lockerer waren. Plofre ging – falls er überhaupt geespert hatte – nicht darauf ein.
„Was ich dir jetzt zeige, wird dich schockieren, Ernst“, sagte er. „Ich will dich mit dieser Vorrede nicht beeinflussen. Ich möchte, dass du dich wappnest. Meine Leute haben mir die Gedankenbilder übertragen und selbst ich bin einigermaßen entsetzt.“
Plofre blickte ihn an und sagte: „Bereit?“
Ellert zuckte mit den Schultern. Wie konnte man nach so einer Ankündigung bereit sein? Er konnte mit einiger Berechtigung behaupten, so ziemlich alles schon einmal gesehen und erlebt zu haben, was das Universum zu bieten hatte. Bereiter würde er nicht mehr werden.
Die Tür öffnete sich – vermutlich auf einen telekinetischen Impuls hin – und sie betraten den anschließenden Raum.
Es handelte sich vielmehr um einen hallenartigen Gang, der sich ganz am Außenrand der DELORIAN befinden musste, denn er erstreckte sich mit leichter Kurve rechts und links von ihnen in die Ferne. In Abständen von ungefähr zwei Metern reihten sich sarkophagähnliche Container mit transparenten Deckeln aneinander, die Ellert sofort an intensivmedizinische Kokons denken ließen. Wenn dies wirklich der äußerste Bereich des Schiffes war und der Gang einmal ganz herumging, müssten hier etwa 1.800 dieser Sarkophage stehen.
„1.880, um genau zu sein“, sagte Plofre.
Nun wurde Ellert doch ziemlich mulmig. Das, wofür er sich wappnen sollte, befand sich ganz offenbar in den Sarkophagen. Hinzu kam die Tatsache, dass er diesen Ringkorridor bei seinem körperlosen Streifzug durch das Schiff nicht entdeckt hatte.
„Ein Psi-Tarnfeld“, kommentierte der Ilt den Gedanken. „Meine Leute haben das hier auch nur zufällig gefunden.“
Ellert fasst sich ein Herz und trat an den nächstgelegenen Sarkophag heran.
Darin lag: er selbst, nackt, offenbar schlafend oder bewusstlos an diverse Schläuche und Messpunkte angeschlossen.
Gleiches galt für den Sarkophag daneben und den daneben. Erst beim vierten fiel ihm auf, dass alle Ellert-Klone, Duplos oder was auch immer sie waren Wunden und Verletzungen aufwiesen und viele von ihnen verkrampft dalagen oder wenigstens das Gesicht verzogen hatten.
„Was ist das hier?“, fragte er. Der Gedanke war naheliegend, dass auch sein aktueller Körper aus einem solchen Sarkophag stammte. Aber warum lagen hier fast 2.000 weitere davon? Wenn es Fehlzüchtungen waren, hätte man sie vernichtet. Als Ausweichkörper für ihn hätte auch ein Dutzend davon genügt. Und warum dann diese Anordnung?
„Es ist eine Ellert-Falle“, sagte Plofre.
„Eine was?“
„Kannst du dich noch an die infinite Todesstrafe erinnern? Haben die Arkoniden vor ein paar tausend Jahren praktiziert. Der Rote Thort fand das später auch ganz lustig.“
„Du meinst die grausige Praxis, jemanden zu töten, um ihn dann schnell wiederzubeleben – um ihn dann erneut zu töten?“
„Genau.“ Plofre nickte.
„Und das geschieht hier mit meinen Körpern? Warum?“
„Um deinen Geist anzulocken und in diesen Körper zu zwingen, den du jetzt bewohnst. Der Raum, in dem du erwacht bist, befindet sich genau im Mittelpunkt dieses Rings. Nikki Rhodan war offenbar sehr erpicht darauf, deine Dienste in Anspruch zu nehmen.“
Es verschlug Ellert die Sprache. Aber es ergab alles Sinn. Sein erstes Erwachen in diesem Körper und seine Rückkehr nach dem Besuch bei Tifflor waren beide mit der Erinnerung an furchtbaren Schmerz verbunden gewesen. Das Leid von fast 2.000 Leibern mit seinem Gehirnstrukturen hatte durch Raum und Zeit nach ihm gerufen.
Wer dachte sich eine derart grausame Apparatur aus – und setzte sie dann auch noch in die Tat um?
„Was wirst du jetzt tun, Ernst?“, fragte Plofre.
Ellerts Gedanken rasten. Mit krächzender Stimme fand er seine Sprache zurück und sagte: „Das muss alles vernichtet werden.“
„Streng genommen ist dieses Schiff Hoheitsgebiet des Trojanischen Tamaniums“, sagte Plofre. „Hier zu randalieren könnte als kriegerischer Akt ausgelegt werden. Andererseits“, erneut blitzte der Schalk in seinen Augen auf, „wiegen deine Wesensrechte deutlich schwerer.“
Der Mausbiber hielt dem Terraner erneut die Pfote hin, die dieser zögernd ergriff. Sie rematerialisierten auf dem Panoramadeck eines anderen Raumschiffs oder einer Raumstation, von dem aus sie die DELORIAN IX in voller Größe betrachten konnten.
Nur einen Augenblick später blitzten lautlos Explosionen an der Hülle des Kugelraumschiffs auf. Ein kompletter einmal um das Schiff reichender Streifen wurde ins All hinaus gesprengt. Kurzzeitig schien es so, als sollte das gesamte Schiff in zwei Kugelhälften zerteilt werden. Zurück blieb jedoch nur eine entsprechende Kerbe um den Äquator herum.
„Ich kann dir nicht garantieren, dass sie eine solche Anlage nicht in wenigen Wochen nachgebaut haben“, sagte Plofre. „Aber fürs erste dürftest du frei sein.“
„Danke“, sagte Ellert. Es war mehr ein tonloses Hauchen, er konnte jedoch sicher sein, dass der Mausbiber seinen Dank in seinem Geist spürte.
„Falls es in Ordnung für dich ist, unter Mausbibern zu leben, würde ich dir Asyl in Vilamesch gewähren. Ich könnte aber auch ein gutes Wort für dich bei Bully einlegen. Er nimmt dich sicher in seinen Clan auf, wenn ich ihn darum bitte.“
Plofre schaute ernst zu Ellert hinauf und fuhr fort: „Ich spüre, dass du dir selbst noch nicht über deine nächsten Schritte im Klaren bist. Falls du Nikki Rhodan zur Rede stellen willst, kann ich das arrangieren, ich bezweifle jedoch, dass es erhellend sein wird. So oder so werde ich sie spätestens in ein paar Tagen aus meiner Galaxis jagen.“
„Wir müssen Perry vor ihr finden.“ Ellert sprach seinen spontanen Gedanken so schnell wie möglich aus. Er schien den Ilt tatsächlich damit überrascht zu haben. Zumindest schaute dieser ihn einen Moment lang nachdenklich an.
Ob er die sich in seinem Kopf zusammensetzende Argumentation nun bereits esperte oder nicht, Ellert beeilte sich damit, sich zu erklären.
„Wenn Nikki Rhodan zu derart drastischen Methoden greift, um ihren Vater zu finden, wird sie noch weitere Eisen im Feuer haben. Über kurz oder lang wird sie ihn finden. Und was immer sie tatsächlich vorhat, sie wird es ähnlich skrupellos umsetzen, wie die Falle, die sie mir gestellt hat. Wir müssen Perry warnen.“
„Weißt du“, sagte Plofre, „ich habe in den vergangenen Jahrtausenden gelernt, Geistesinhalte sehr differenziert zu lesen. Die unzähligen Schichten des Bewusstseins, die komplexen Prozesse der Entscheidungsfindung – all das erkenne ich mittlerweile recht gut. Und du, mein Freund, magst zwar von dem überzeugt sein, was du da gerade gesagt hast, der eigentliche Grund, aus dem du Perry finden willst, ist aber ein anderer. Du hast Sehnsucht nach der Erde.“
Der Mausbiber hob die Hand, um jedwede Widerrede zu unterbinden.
„Kein Vorwurf“, sagte er. „Im Gegenteil. Aus diesem eigentlichen Grund, den ich mehr als gut verstehen kann, werde ich dir helfen und dich in die Lokale Gruppe begleiten. Ich muss nur noch schnell meine Amtsgeschäfte übergeben und ein paar Eindringlinge aus meiner Galaxis werfen. Danach fliege ich dich persönlich mit der JUMPY XII hin.“
6. Schlaglichter quer durchs Universum
Als das Holo mit dem Antlitz des Mausbibers erloschen war, saß der oberste Primarch Reginald Bull noch eine ganze Weile reglos grübelnd auf seinem thronartigen Sitz.
Von einem Moment auf den anderen stieß er einen derben Fluch aus und rief: „Stellt mir sofort eine Verbindung zu Häuptling Silberlocke her!“
*
Medshadh atmete tief durch, straffte seine Körperhaltung und trat dann durch den Transmitterdurchgang in die Zentrale, wo ihn Nikki Rhodan erwartete.
Die Ilts hatten sie vor anderthalb Tagen freigelassen, in die DELORIAN IX verbracht und aus ihrem Hoheitsgebiet verwiesen. Rhodan hatte sogleich den Aufbruch in die Lokale Gruppe befohlen. Von ihm erwartete sie nun einen vollständigen Schadensbericht.
Die Kommandantin erwartete ihn mit einem fragenden Blick. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie nur die konkreten Ergebnisse und die Konsequenzen daraus interessierten.
„Die Vorrichtung ist mit Bordmitteln leider nicht mehr zu reparieren. Wir werden erst nach einem längeren Aufenthalt in einer trojanischen Werft wieder in der Lage sein, das Subjekt einzufangen.“
„Müssen wir das denn?“, fragte Rhodan. Ihre Stimme klang weich und gefällig.
Medshadh ließ sich davon jedoch nicht in Sicherheit wiegen. Er beeilte sich daher, seinen Bericht fortzusetzen: „Die Genomschablone steht uns unverändert zur Verfügung. Eine Zuchtkammer ist ebenfalls unentdeckt und somit intakt geblieben. In wenigen Stunden wird uns eine neue Einheit zur Verfügung stehen, mit der wir das Subjekt einpeilen können.“
„Sehr gut!“ Nikki Rhodan nickte. „In der Sekunde, in der wir eine Peilung haben, müssen wir auf Kurs gehen. Ich verlasse mich auf dich.“
Der Yaanztroner verneigte sich und wandte sich zum Gehen.
„Und Medshadh“, fügte Rhodan hinzu, „es heißt ‚Maghan‘!“
„Jawohl, Maghan!“, sagte Medshadh und beeilte sich, die Zentrale zu verlassen.
*
Perry Rhodan erwachte. Er registrierte sofort, dass es mitten in der Nacht war. Etwas stimmte nicht. Seit Jahrhunderten war er nicht vor Sonnenaufgang aufgewacht. Er setzte sich auf und spürte den wilden Träumen nach, die just in seinem Kurzzeitgedächtnis verblassten.
„Gucky“, flüsterte er schließlich.
Dann sprang er auf, kleidete sich an und trat aus dem Zelt.
„Argos“, rief er den Roboter zu sich. Die Maschine stand nur wenige Schritte entfernt auf ihrem Wachposten und kam sogleich auf ihn zu.
„Initiiere das Wanderer-Protokoll!“, befahl Rhodan.
Fortsetzung: Old Man Rhodan, Kapitel 7 bis 9
Tiff
10. September 2023 — 22:43
Hallo, Roland.
Ehrlich gesagt habe ich Zahnschmerzen. Heftige Zahnschmerzen. Eines vorab. Die Geschichte bleibt in sich stimmig und phantastisch.
Jetzt der Kritik-Part: Was Du da alles in die Kapitel vier bis sechs reingeworfen hast, eingebaut hast, damit könnte die richtige Serie fünf bis sechs Hunderterzyklen füllen.
Diese Flut an Ideen, die Begrifflichkeiten, die Grausamkeit und vieles mehr.
Und das Rätsel um Perry selbst wird nicht leichter.
Ich meine, Bully als Wächter der Materiequelle mit eigenem Clan, Gucky hat eine eigene Galaxis und sein Volk zurück, und Nikki Frickel, ich meine Rhodan, offenbart eine pragmatisch-grausame Seite, die einem die Ohren schlackern lässt.
Nach den ersten drei Kapiteln dachte ich noch, ich weiß, wo die Sache hinführen wird, aber mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass es nicht darum geht, einen intergalaktischen Krieg zu verhindern.
Und so wie ich Dich kenne, geht es sowieso ganz anders aus als ich erwarte. Du magst Rätsel augenscheinlich lieber als Q und ES zusammen. Mit Deinem Talent als Autor gepaart harre ich der nächsten Kapitel.
Viele Grüße,
Tiff
Roland
11. September 2023 — 15:14
Du musst genauer lesen, mein lieber Tiff. Der Reginald Bull der fernen Zukunft ist Wächter der MaterieSENKE. 😉
Die zahlreichen beiläufigen Anspielungen sind natürlich ein ganz bewusster Running Gag dieses Szenarios. Denn selbstverständlich haben sie alle in der Zwischenzeit zyklenfüllende Abenteuer erlebt. Falls Du Dich inspiriert fühlen solltest, nur zu! (gleiches gilt natürlich auch für die Amalgam-Universen bei “Planetentausch”)
Und wo das alles hinführen soll: nun, eine grobe Vorstellung habe ich natürlich, auch die Schlusspointe schwebt mir ziemlich genau vor. Aber leider, leider wirst Du darauf noch ein Weilchen warten müssen. Zu WoC 117 ist das Finale leider noch nicht fertig (ehrlich gesagt, habe ich es noch nicht einmal begonnen).
Tiff
13. September 2023 — 23:06
Materiesenke, Materiequelle, Details, Details. xD
Äh, nein, noch ein Universum binde ich mir vorerst nicht auf. ^^°°°
Wie, es ist schon Finale? Ist das Fass, dass Du aufgemacht hast, nicht zu groß dafür?
Roland
13. Dezember 2023 — 16:33
Wie wir inzwischen wissen: Ja, ein klein wenig zu groß ist es dann doch. In WoC 118 erscheinen die Kapitel 7 bis 9 – und sie stellen noch lange (?) nicht das Finale dar.