Das fantastische Fanzine

Old Man Rhodan, Kapitel 7 bis 9

Perry-Rhodan-Fortsetzungsgeschichte von Roland Triankowski, Fortsetzung von: Old Man Rhodan, Kapitel 4 bis 6

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7. Glück auf Erden

“Und wo ist jetzt die Erde, mein lieber Ernst?”

Der Mausbiber rotierte langsam um seine Längsachse, bis er Ellert direkt ansehen konnte. Ersterer schwebte inmitten der großen Zentralkugel der JUMPY XII, letzterer stand an ihrem unteren Ende, wo eine kleine Station mit Zugang zu den Schiffssystemen für ihn eingerichtet worden war.

“Sag du es mir, hochgeschätzter Präsident Plofre”, antwortete er. Die alten Freunde hatten sich in den Wochen ihrer Suche auf eine Weise zusammengerauft, die Ernst kaum an die alten Tage erinnerte. Sicher, Gucky hatte noch immer ein äußerst humorvolles Wesen, dies aber auf eine völlig andere Weise als einstmals.

“Ich kann nur sagen, dass ich bei diesem Stern hier Perrys Gedankenmuster eingepeilt habe. Dass mit ihm auch die Erde zu finden ist, hast Du behauptet.” Er schwebte langsam zu Ellert hinunter und gesellte sich an seine Seite. Gemeinsam studierten sie die Ortungsanzeigen und Holos, das Ergebnis blieb jedoch dasselbe. “Außer der Oort-Wolke ganz weit draußen und ein paar Kleinst-Asteroiden kreist gar nichts um diesen Stern”, stellte Ellert noch einmal fest. Er schaute zu Gucky – auch wenn er sich im Gespräch Mühe gab, er konnte nicht anders, als den alten Freund in Gedanken bei diesem Namen zu nennen – und fügte hinzu: “Also doch wieder der falsche Stern?”

“Ich weiß nicht.” Der Ilt schüttelte langsam seinen Kopf. Mit seinen telekinetischen Kräften scrollte er nochmals durch die Anzeigen und hob einige Stellen hervor. “Was hältst du hiervon?”, fragte er schließlich.

Ellert schaute sich die Daten und ihre schematische Darstellung genauer an. “Hm, sieht nach einer Zusammenballung einiger Asteroiden aus”, sagte er.

“Und das hier?” Gucky wechselte die Ansicht.

“Das ist auch ein Asteroidenhaufen. Worauf willst du hinaus?”

“Ich dachte, du bist die letzten Jahrtausende körperlos von Stern zu Stern gereist?” Guckys Nagezahn blitzte kurz auf. “Schau mal, die beiden Häuflein kreisen im Abstand von 120° um den Stern. Außerdem sind die Felsbrocken viel zu klein, um sich aus eigener Anziehungskraft in dieser Form zu ballen.”

Ellert schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. “Du hast Recht!”, rief er. “Das sind Trojaner. Für einen unsichtbaren Planeten.”

“Oder einen Planeten, der nicht mehr da ist”, ergänzte der Mausbiber.

“Aber müsstest du Perry dann nicht espern, wenn er so nah ist?”

“Ich will es versuchen”, antwortete Gucky und schwebte wieder in die Mitte der Kugel. “Das größte Hindernis ist aber nicht die Entfernung, sondern Perrys Mentalstabilisierung. Die drei, vier Mal, die ich ihn einpeilen konnte, war sein Gedankenschild schwächer. Vermutlich hatte er geschlafen. Wenn er wach und konzentriert ist, wird es mir auch mit den Mitteln der JUMPY schwerfallen, ihn zu finden. Selbst wenn er direkt neben uns durchs All schwebt.”

Erneut schloss der Ilt seine Augen und fiel in tiefes Schweigen. Ellert hatte diesem Vorgang inzwischen schon mehrfach beigewohnt. Die JUMPY war ein erstaunliches Schiff. Der 200 Meter lange schmale Spitzkegel war im Grunde nichts anderes als ein gewaltiger Verstärker für Guckys PSI-Kräfte. Durch das bordeigene Hypertropkraftwerk ließen sich die Fähigkeiten des Ilt-Präsidenten theoretisch unbegrenzt nach oben skalieren, ohne dabei an dessen biologischen Kräften zu zehren. Das Triebwerk des Schiffes war buchstäblich Gucky selbst, der mit seiner Hilfe quasi unbegrenzt weit teleportieren konnte. Genauso konnte das Schiff die telepathischen und telekinetischen Kräfte des Ilts verstärken. Trotz all dieser Macht nahmen die Ortungsversuche dennoch oft einige Zeit in Anspruch. Eine Zeit, in der sich Ellert reichlich nutzlos fühlte – vor allem jetzt, da sie dem Ziel so nahe waren.

Ellert wunderte sich über sich selbst. Als jahrtausendealter unsterblicher Geist, der die Wunder des Kosmos geschaut hatte, sollte er Ungeduld eigentlich nicht mehr empfinden. Und dennoch war es so. Seine innere Unruhe wuchs so stark, dass er schon fürchtete, erneut in Nikki Rhodans “Ellert-Falle” geraten zu sein. Doch diesmal schien die Nervosität tatsächlich aus ihm selbst zu kommen.

Schließlich fasste er sich ein Herz und rief Gucky zu: “Was dagegen, wenn ich mich da draußen auch einmal umschaue?” Ehe der Mausbiber zustimmend grunzen konnte, hatte Ellert sich bereits im Schneidersitz nieder- und seinen Körper verlassen.

*

Schlagartig öffnete sich sein Geist. Einen winzigen Moment lang ärgerte er sich über sich selbst, wie schwer er vorhin noch von Begriff gewesen war. Doch dieser Ärger verwehte sofort wieder. In dieser Daseinsform stand er weit über solch körperlichen Dingen.

Mit seinen kosmischen Sinnen überblickte er das Umfeld des Sterns nach wenigen Augenblicken: den Druck des Sonnenwindes, die Partikelströme, die das Gebiet durchzogen, und die Materie, die vom Kleinstasteroiden bis zum Staubkorn den Gravitations- und Gezeitenkräften des Sterns folgten.

Ernst Ellert trieb der Stelle entgegen, an der der vermutete Planet seine Bahn ziehen musste. Die JUMPY XII bewegte sich in etwa dreifacher Entfernung um den roten Zentralstern. Dennoch blieb ihm Guckys geistige Präsenz stets gegenwärtig. Fast schien es ihm, als fülle sie den gesamten Raumsektor aus. Ob verstärkt oder nicht, die Kräfte des Mausbibers waren in all den Jahrtausenden enorm gewachsen.

Jetzt konnte Ellert die Zusammensetzung der Trojanergruppen deutlich genauer erfassen. Er durchflog die nähergelegene und spürte den Gezeitenkräften nach, die sie auf ihrer Bahn zusammenhielten – beziehungsweise merkte er, dass sie es kaum mehr taten. Im Gegenteil, der Zusammenhalt der Asteroiden untereinander war kaum mehr vorhanden, sie begannen bereits, sich voneinander zu lösen und auf die Umlaufbahn zu verteilen.

Der Planet, in dessen Lagrangepunkten sie sich versammelt hatten, war demnach nicht unsichtbar – er war verschwunden und Perry Rhodan vermutlich mit ihm. Es bedeutete aber auch, dass der Himmelskörper vor kurzem noch seine Bahn um diesen Stern gezogen haben muss. Und für Ellert war es ein leichtes, in der Vergangenheit nachzuschauen.

Doch er musste sich eingestehen, dass es ihn Überwindung kostete. Die enormen Schmerzerfahrungen durch Nikkis absurde Falle hatten ihn nachhaltig traumatisiert. Er glitt daher recht behutsam die Minuten und Stunden zurück – obwohl sich die „Schmerzenswand“, wie er die Auslösung der Falle bei sich nannte, bereits etliche Monate weit in der Vergangenheit befand.

Von einem Moment auf den anderen war sie da.

Ellert wusste es im allerersten Augenblick: Das war die Erde. Der blasse blaue Punkt, die azurne Perle, Terra. Auch wenn der Mond, der sie umkreiste, falsch war – dies war seine Heimat. Und erst in diesem Moment wurde ihm so richtig bewusst, wie schmerzlich er sie vermisst hatte. Ob körperlos oder nicht, die Sehnsucht erfüllte sein ganzes Sein. Er treib der Planetenoberfläche entgegen und glitt dabei noch ein paar Tage in die Vergangenheit. Er redete sich ein, dass er es tat, um genug Zeit für die Suche nach Perry zu haben – tatsächlich brauchte er diese Zeit aber für sich selbst.

*

Durch die menschenleeren Alpen zu gleiten war ihm ein Hochgenuss sondergleichen. Ellert hatte unzählige Male die Zeit vor und zurückgedreht, um ein weiteres Tal erkunden und einen weiteren Bergsee umkreisen zu können. Als er schließlich nach Norden ins Alpenvorland zog, bis in die Gegenden, in denen er buchstäblich vor Äonen geboren und aufgewachsen war, wurde ihm die Einsamkeit zu viel. Eine Erde ohne Menschen, das war nicht richtig.

Als sein Nostalgierausch langsam verklungen war, erinnerte Ellert sich an eine Wahrnehmung, die er bei seiner Tour durch die Alpen und die damit verbundenen Kurzzeitreisen immer wieder gemacht hatte. Zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt war ihm stets ein Himmelsphänomen im Norden aufgefallen.

Er erhöhte seine Position über der Oberfläche um ein paar Kilometer und glitt erneut in der Zeit hin und her. Streng genommen waren diese Orts- und Zeitangaben auf ihn in dieser Form nicht anwendbar. Ellert war eine raumzeitlich übergeordnete Lebensform, die sich gewissermaßen über gesamte Raumzeitgebiete erstreckte. Wenn er wieder in einem Körper steckte, konnte er es selbst nicht mehr in Worte fassen. Er behalf sich dann immer damit zu erläutern, dass er an allen Orten und Zeiten seiner Reise gleichzeitig war, sich aber stets nur auf einzelne Ereignisse fokussierte und nicht alles zur gleichen Zeit wahrnahm. Letztlich war es mit den Mitteln dreidimensionaler Gehirne ohnehin nicht zu begreifen.

So oder so, er kam dem Himmelsphänomen auf den Grund. Weit im Norden stieg zu einem bestimmten Zeitpunkt auf einem Feuerstrahl eine Rakete in den Himmel. Ihre Bahn verlief in südöstlicher Richtung, ehe sie sich im Blau des Himmels verlor.

„Hab‘ ich dich gefunden, Perry“, dachte Ellert zufrieden.

8. Exil beendet

„Bestätige!“ Argos‘ Stimme hatte erneut eine tonlose Färbung angenommen. „Wanderer-Protokoll eingeleitet. Transition in T minus 12 Stunden, Point of no Return in T minus zehn Stunden.“
Perry Rhodan war bereits dabei, sich zum Aufbruch vorzubereiten. Als er das Zelt verpackte, hielt er kurz inne, setzte seine Routine dann aber doch fort.
„Wo legt das Boot an?“, fragte er schließlich.
Argos erklärte es ihm mit knappen Worten und projizierte zusätzlich ein Hologramm mit einer Umgebungskarte, auf der ein Punkt am Ufer eines nahegelegenen Fjords markiert war, sowie eine Route dorthin.
Rhodan nickte. „Eine gute Stunde Marsch, würde ich sagen. Wie weit draußen liegt die ODYSSEY?“
„Aktuell etwa 100 Seemeilen, schnell näherkommend.“ Die Darstellung in dem Holo zoomte heraus und zeigte die norwegische Küstenlinie sowie Kurs- und Positionsangaben des fraglichen Seegefährts.
„Gut, dann müssen wir nicht hetzen. Lass uns dennoch aufbrechen. Wir schlagen unser Lager an der Landungsstelle auf und warten dort.“

*

„Was meinst Du, Argos? Sucht Gucky aus freien Stücken nach mir oder zwingt ihn jemand dazu?“
Rhodan wusste sehr wohl, dass sein Begleiter durch die Aktivierung des Wanderer-Protokolls alle Konversations-Routinen abgeschaltet hatte. Er erwartete also keine Antwort und setzte die einseitige Plauderei allein fort.
„Ich tippe ja auf ersteres. Der Kleine wird inzwischen so stark sein, dass ihn niemand zu irgendwas zwingen kann. Ich vertraue auch darauf, dass er es mit guten Absichten tut. Dennoch ist es besser, die Erde jetzt fortzubringen. Es kommen Dinge ins Rollen, bei denen ich Terra gern in Sicherheit weiß.“
Ein paar Minuten lang marschierte Rhodan schweigend durch die Nacht. Merkur stand als halbe zunehmende Sichel am Himmel und spendete ein wenig Licht, an das sich seine Augen längst angepasst hatten. Argos lief lautlos wie eine Katze hinter ihm her, die einzigen Geräusche kamen von einer leichten Brise, die durch die Vegetation rauschte und von der nachtaktiven Fauna.
„Habe ich Dir jemals davon erzählt, wie die Erde zum ersten Mal zu einem anderen Stern versetzt wurde? Das war vor – lass mich nachrechnen – achtzehneinhalb Jahrtausenden. Das Hetos der Sieben war kurz zuvor erschienen, um die Milchstraße in ihr Reich einzuverleiben.“

*

Kurz nach Sonnenaufgang erschien das Landungsboot in dem Fjord und glitt an einer flachen Stelle sanft ans Ufer. Lautlos fuhr eine Rampe am Bug aus, an der entsprechenden Stelle öffnete sich die Reling.
Rhodan erhob sich von dem Felsen, auf dem er gesessen und seinen Kaffee getrunken hatte, schüttete die letzten Tropfen aus dem Becher und machte ihn wie gewohnt an Argus fest.
„Auf geht’s“, sagte er und betrat die Rampe. Auf halbem Weg hielt er inne und wandte sich um. Argos blieb am Fuß der Rampe stehen und wartete ab.
Rhodans Blick ging in die Ferne, über die bewaldeten Hügel rund um den Fjord und die entfernteren Gipfel, die dahinter hervorragten. Er atmete tief durch und sagte: „Ich vermisse die Erde schon jetzt.“
Dann ging er an Bord und verschwand im Innern des Boots, Argos folgte ihm auf den Fuß. Wenig später legte das Gefährt ab und nahm Fahrt in Richtung Ozean auf.

*

„Was sagst du, Argos? Wird mich das gute Stück heil ins All bringen oder auf halber Strecke zerreißen? Hat immerhin auch schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel.“
Rhodan stand auf dem Deck der ODYSSEY, einer gewaltigen schwimmenden Plattform, die ihn an die Flugzeugträger der vorkosmischen Ära erinnerte. Nicht ohne Grund, hatte er dieses Gefährt doch selbst konstruiert. Soeben hatten automatische Kräne eine Rakete aufgerichtet, die zuvor liegend aus einem Hangar im Boden der Plattform herausgefahren war. Es dampfte und zischte laut an der Rakete und dem mit aufgerichteten Startturm. Entsprechend musste Rhodan seine Worte laut rufen, um sich überhaupt selbst zu hören. Sein Blick blieb fasziniert an der Spitze gut 50 Meter über ihm kleben, wo er die kleine Kapsel wusste, die er gleich besteigen würde.
Er trug bereits den Raumanzug, Helm und weitere Ausrüstungsgegenstände lagen auf Argos‘ Rücken, der wie ein Tisch neben ihm stand.
„Die letzte Komplettwartung liegt 415 Tage zurück“, antwortete der Roboter. Rhodan hatte die Konversationsskills der lokalen KI wieder hochgefahren. Er hatte die Gespräche mit seinem treuen Begleiter durch die letzten Jahrhunderte sehr zu schätzen gelernt. „Somit ist die Rakete streng genommen nicht älter als diese 415 Tage.“
„Du bist doch sicher mit dem philosophischen Gedankenspiel über das Schiff des Theseus vertraut.“
„Zu dieser Formulierung finde ich zahlreiche Referenzen. Vermutlich spielst du auf das Theseus-Paradoxon an, das seit der Antike der Zweiten Menschheit als Veranschaulichung der Streitfrage dient …“
„Alles gut, war nur ein Scherz.“ Perry Rhodan lächelte. „Sind wir startbereit?“
„Die Startvorbereitungen sind abgeschlossen, das nächste Startfenster für einen optimalen Kurs zu den L4-Trojanern öffnet sich in 80 Minuten.“
„Gut.“ Rhodan begann damit, die Ausrüstungsgegenstände anzulegen. „Dann starte den Countdown, Liftoff in T Minus 80 Minuten!“
Argos bestätigte.
Zuletzt nahm Rhodan den Helm und marschierte auf die Rakete zu. Sie war strahlend weiß, schimmerte im Licht der Sonne Krypton jedoch leicht rötlich. An ihrer Außenhülle prangte senkrecht von der Spitze fast bis zum Heck herab in großen altterranischen Buchstaben der Name STARDUST.

9. Verstreut und aufgelesen

Perry Rhodan auf diese Weise zu belauschen war eine merkwürdige Erfahrung für Ellert. Nachdem er sich nach Norwegen begeben hatte und wieder ein paar Stunden in die Vergangenheit geglitten war, hatte er zwei, drei Mal versucht, geistigen Kontakt zu ihm aufzunehmen, war aber nicht durch seine Mentalstabilisierung zu ihm durchgedrungen. In körperloser Form hatte er ansonsten keine Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen und sich daher auf die reine Beobachtung beschränkt.
Er konnte vieles von dem, was er sah und hörte, nicht so recht einordnen – wobei diese Sinneswahrnehmungen nur spätere körperliche Interpretationen dessen waren, was er wahrgenommen hatte. Offenbar stand Rhodan schon seit geraumer Zeit die Möglichkeit zur Verfügung, von der Erde zu entkommen – wenn auch nur in Form einer archaisch anmutenden Rakete ohne jegliche Hypertechnik. Was er sich davon versprach, konnte Ellert nur spekulieren. So oder so war Perry offenbar exakt auf den nun eingetretenen Fall vorbereitet – und das schon seit Jahrhunderten. Er hatte bemerkt, dass Gucky ihn aufgespürt hatte, und wollte die Erde, ehe man ihn barg, in Sicherheit bringen. Vor wem oder was, war unklar. Ellert war schon gespannt auf Rhodans Erläuterungen.
Als ihm alle Details von Perrys Flugbahn bekannt waren, beschloss er, zum Ausgangspunkt seines Ausflugs zurückzukehren, zu exakt jenem Punkt in der Raumzeit, an dem er seinen Körper in Guckys Raumschiff verlassen hatte. Nun wusste er, wo Rhodan zu finden sein würde.
Er hatte einen Moment nachdenken müssen, welches die L4-Trojaner waren, war sich jedoch ziemlich schnell sicher, dass es jene waren, die der Erde auf ihrer Bahn voraus waren. Das ergab für eine rein ballistische Rakete Sinn, die den Bewegungsimpuls des Planeten mitnutzen wollte, von dem sie startete. Und außerdem hatte er zu Beginn seines Ausflugs den anderen Trojanerschwarm besucht und dort keine Präsenz einer Raumkapsel wahrgenommen.

*

„Und da bin ich auch schon wieder. Ich habe Perry gefunden.“
„Angeber“, knurrte der Mausbiber und löste sich wieder aus seiner Trance. „Aber du warst schon immer der mächtigste von uns. Hab‘ ich dir das jemals gesagt?“
„Definitiv nicht oft genug.“ Ellert nutzte das kurze Geplänkel, um sich wieder in der raumzeitlich beschränkten Körperlichkeit zurechtzufinden.
„Also gut“, sagte Gucky. „Wo müssen wir hin?“ Er verzichtete darauf, seine Gedanken zu lesen und konzentrierte sich weiterhin auf die kosmische Umgebung.
In knappen Worten berichtete Ellert von seinen Beobachtungen und schloss mit den Worten: „Perry erwartet offenbar, bei den L4-Trojanern aufgelesen zu werden.“
„Jetzt, wo du es sagst“, sagte Gucky. „Dort scheint es eine Präsenz zu geben. Dann lesen wir ihn …“
Ellert merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Guckys Körper verkrampfte sich, als müsse er sich mit einem Mal unglaublich anstrengen.
Dann wurde es ganz kurz unglaublich hell und laut und dann schlagartig still und dunkel.

*

Wieder erwachte er schreiend unter dem Eindruck schnell verblassender Schmerzen. Er öffnete die Augen und sofort überwältigten ihn tief vergrabene uralte Erinnerungen an die Zahnarztbesuche seiner Kindheit. Ein Licht schien ihm ins Gesicht und wurde kurz darauf von einem Kopf verdeckt, der sich in sein Blickfeld schob.
Es war Nikki Rhodan, die ihn freundlich anlächelte. Er hätte nicht einmal behaupten können, dass ihre Augen dabei kalt geblieben wären, es war der vollkommene umfassende Ausdruck ehrlicher Freude und Anteilnahme.
Dennoch lief es ihm kalt den Rücken herunter.
„Danke, Ernst“, sagte sie. Auch in ihrer Stimme schwang kein Hauch von Falschheit mit, sie klang sanft, aufrichtig und beinahe liebevoll.
„Danke, dass du meinen Vater gefunden und mich zu ihm geführt hast.“
Ellert öffnete den Mund, brachte jedoch keinen Ton heraus. Er versuchte, seinen Kopf zu drehen, um sich umzusehen, mehr als die Augen und einige Gesichtsmuskeln schien er aber nicht bewegen zu können. Tatsächlich fühlte sich sein ganzer Körper taub an. Er konnte nicht einmal spüren, ob er lag oder saß. Allein durch Augenrollen erkannte er, dass er sich anscheinend in einem der Sarkophage befand, die Gucky und er gefunden und vernichtet hatten – offenbar nicht alle davon.
„Schsch!“ Nikki Rhodan legte kurz ihren Zeigefinger auf die Lippen und fuhr dann fort: „Es ist alles gut. Medshadh ist der beste Gehirnspezialist im gesamten Trojanischen Tamanium, er hat exakt die Regionen deines Gehirns aktiviert, die wir brauchen und alle anderen lahmgelegt. Es hat also alles seine Richtigkeit. Weißt du, du hattest bis vorhin zwei Körper gleichzeitig gesteuert und es nicht einmal bemerkt. Alles, was du dem Mausbiberpräsidenten gesagt hast, hast du auch uns gesagt. Deine Sinneswahrnehmungen hatten wir hier natürlich abgeklemmt, aber die entsprechenden Hirnregionen waren dennoch aktiv. Wir konnten also auslesen, was du mit deinem anderen Körper gesehen, gehört und gefühlt hast. Spannend, oder?“
Ellert versuchte, diesen Körper zu verlassen, scheiterte jedoch auch daran. Nikki interpretierte seinen angestrengten Gesichtsausdruck richtig und sagte schlicht: „PSI-Dämpfungsfeld“.
Ihr Gesichtsausdruck wurde etwas ernster, Ellert drängte sich der Begriff „geschäftsmäßig“ auf.
„Aber keine Sorge, Ernst“, sagte sie, „wir lassen dich sofort gehen. Es tut mir ehrlich leid, dass wir erneut mit Schmerz arbeiten müssen. Den Aufzeichnungen über dich haben wir entnommen, dass dies der sicherste Weg ist, dein Bewusstsein hinaus in Zeit und Raum zu schleudern. Wir wollen doch schließlich beide, dass du diese Episode so schnell wie möglich wieder vergisst und dich deiner ungebundenen Existenz im grenzenlosen Universum erfreust. Du wirst schon sehen, in ein paar Jahrtausenden lachst du über unsere kleinlichen körperlichen Bedürfnisse, denen wir hier so verzweifelt nachgegangen sind. Leb wohl, Ernst Ellert! Ich hoffe, du kannst mir all dies hier irgendwann vergeben.“
Dann kam der Schmerz.

*

„Jetzt reicht es aber langsam!“
Ellert fand sich auf allen Vieren auf einem glatten dezent leuchtenden Boden wieder. Seine Hände und Arme schienen aus silbrigem Metall zu bestehen, fühlten sich jedoch sehr vertraut und kraftvoll an.
Mit Leichtigkeit stieß er sich vom Boden ab und blickte sich in dem Raum um, den er sofort wiedererkannte. Er befand sich wieder im Sonnensystem unter der Oberfläche des Mondes, wo er vor nicht allzu langer Zeit mit Julian Tifflor geplaudert hatte.
Der Raum war zunächst leer, als er sich jedoch erneut umdrehte, standen auf einmal der Kunstkörper Tifflors und zwei Sessel neben ihm.
„Willkommen, Ernst! Wir haben dich nicht so rasch zurückerwartet. Deinen Körper hatten wir jedoch sicherheitshalber aufbewahrt. Komm, setz dich doch!“
Ellert machte zunächst keine Anstalten, sich zu rühren. Er wusste schlicht noch nicht, ob er sich seinem Schicksal ergeben oder durchdrehen und alles kurz und klein schlagen sollte.
„Weißt du, Ernst, ich war letztes Mal nicht ganz aufrichtig zu dir, wobei du ja auch recht schnell wieder verschwunden warst. Ich hatte also kaum Gelegenheit, dir alle Hintergründe zu offenbaren. Bei einer Sache aber – nun ja – Rhodan hat uns damals ehrlich gesagt nicht im Dissens verlassen. Es gibt da einen Plan, in dem du eine entscheidende Rolle spielst.“

*

Nachdem er etwa ein Jahrtausend lang der Erde Licht, Wärme und eine Heimstatt geboten hatte, war der kleine rote Stern, den Perry Rhodan auf den Namen Krypton getauft hatte, nun wieder allein, so wie es in den Milliarden Jahren zuvor gewesen war. Zumindest was planetengroße Himmelskörper betraf.
Weit draußen in mehreren Lichtmonaten Entfernung umgab ihn eine Wolke kleinster Objekte aus Eis und Staub. Im inneren Bereich, in dem bei anderen Sternen Planeten und Asteroidengürtel ihre Bahnen zogen, kreisten nur noch wenige kleinste Gesteinsbrocken umher. Viele davon suchten sich gerade neue Bahnen, seit der Schwerkrafteinfluss der Erde schlagartig verschwunden war.
Und dann war da noch ein kleines Trümmerfeld aus Metall- und Kunststoffteilen, das etwa eine halbe Lichtstunde von Krypton entfernt seine Bahn zog und sich langsam darauf verteilte. Darin schwebte in einer psionisch erzeugten luftgefüllten Schutzblase ein sehr grimmig dreinschauender Ilt und wartete.
Und grimmig war Plofre in der Tat, um nicht zu sagen stinksauer. Sauer auf sich selbst, weil er den Angriff auf sein Schiff nicht hatte kommen sehen. Weil er seinen Freund – oder zumindest dessen Körper – nicht hatte retten können. Und weil er offenbar so lange sein Bewusstsein verloren hatte, dass Perry von jemand anderem aufgelesen worden war.
Plofre hatte mit mehreren Teleportationen den Pulk der L4-Trojaner abgesucht und nichts gefunden. Perry war nicht mehr in diesem System.
Ein Großteil seines Zorns galt aber dem unbekannten Angreifer, der sie so unverfroren aus heiterem Himmel erwischt hatte. Aktuell sah er die größte Chance, ihn ausfindig zu machen, indem er zwischen den Trümmern seines Schiffes auf ihn wartete. Ein guter Prozentsatz aller Täter kehrt zum Tatort zurück, dachte er sich.
Damit wären seine Möglichkeiten noch lange nicht ausgereizt. Der Ilt nutzte einen Großteil der Wartezeit damit, einen knackigen Plan B auszuarbeiten. In der Milchstraße hatte niemand eine Ahnung, zu was er inzwischen in der Lage war. Diese Schutzblase aufrecht zu erhalten und die Luft darin in Schwingung und somit warm zu halten, kostete ihn fast gar keine Kraft. Seine Wartezeit war ausschließlich von Durst und Hunger begrenzt. Ilts hatten schon immer potenziell die Fähigkeit, über etliche Lichtjahre hinweg zu teleportieren, so hatte sein erster Sohn Jumpy damals bei seiner Geburtsteleportation fast zweieinhalbtausend Lichtjahre zurückgelegt. Diese Fähigkeit hatte Plofre in den letzten zehntausend Jahren perfektionieren können.
Aktuell sah sein Plan B vor, direkt nach Halut zu springen und dem alten Tolotos ein wenig die Möbel geradezurücken.
Sein Magen hatte gerade zu knurren begonnen, als das Licht eines Suchscheinwerfers auf ihn fiel und er sich wieder Plan A zuwenden konnte.

*

Der Haluter zappelte nur kurz im telekinetischen Griff des Ilts, der unvermittelt in seiner Raumschiffzentrale materialisiert war, dann ergab er sich in sein Schicksal.
Plofre ließ ihn mittig in der domartigen Halle schweben. Die Innenarchitektur halutischer Raumschiffe war seit Jahrzehntausenden unverändert. Er selbst umkreiste den dreieinhalb Meter großen Giganten langsam wie ein Mond seinen Planeten und musterte ihn mit strengem Blick.
„Wenn ich mich vorstellen darf“, sagte der Haluter. „Ich bin Fancan Tolot der Dritte, Sonderbevollmächtigter der Vereinten Sterne der Milchstraße.“
Der Ilt behielt sein Schweigen bei und setzte seine Kreisbahn fort.
„Mein Planhirn errechnet eine verblüffend hohe Wahrscheinlichkeit, dass Sie mit dem legendären Ilt-Individuum identisch sind, bekannt unter den Namen Gucky, Plofre, L’Emir, …“
Die grollende Bassstimme des Haluters erstarb mit einem Gurgeln, der Ilt ließ ihn dergestalt rotieren, dass er rücklings in der Luft schwebte. Sich selbst brachte er über Tolots Brust in Position, sodass er mit seinem rund einem Meter Körpergröße auf das vielfach größere und massereichere Wesen hinabschauen konnte.
„Plofre von Yllit, Präsident der Ilt-Föderation von Vilamesch, wenn es recht ist.“
„Sehr … angenehm …“ Es fiel Tolot schwer, seine Worte zu formulieren. Plofres Blick wurde derweil zusehends strenger und konzentrierter.
Bis er sich auf einmal entspannte, den Haluter in eine aufrechte Position drehte und ihn sanft absetzte. Sich selbst ließ er in den gewaltigen Kommandosessel sinken und lächelte sein Gegenüber mit blitzendem Nagezahn an.
„Gleichfalls, Fancan Tolot der Dritte“, sagte er. „Danke, dass Sie mich hier eingesammelt haben und verzeihen Sie mein anfängliches Misstrauen. Aus meiner Sicht waren die hiesigen Ordnungskräfte die Hauptverdächtigen für den Angriff auf mein Schiff.“
„Plausibel“, versetzte Tolot knapp.
„Ihren Gedanken entnehme ich, dass Sie über das Verschwinden der Erde genauso verwundert sind, wie ich. Sie hat bislang zuverlässig ein Peilsignal ausgesandt, das nun verstummt ist. Damit ist das Exil eines gewissen Perry Rhodan offenbar beendet.“ Plofre hob die Hand, um etwaige Kommentare zu unterbinden. „Ja, ich verfüge über einen recht brauchbaren Geheimdienst. Aber auch ich bin überrascht, dass Perry es offenbar jederzeit hätte beenden können. Naja, so überrascht nun auch wieder nicht.“
Der Mausbiber seufzte und versetzte den überdimensionierten Sessel in eine Drehbewegung.
Fancan Tolot nutzte die Gelegenheit und räusperte sich dezent. Bei einem Haluter entwickelte dergleichen die Lautstärke eines mittleren Gewitters. Plofre war damit jedoch vertraut und quittierte es mit einem aufmunternden „Hm?“
„Darf ich nach Ihrer Rolle in diesem Zusammenhang fragen, Plofre von Yllit? Warum sind Sie hier?“
Der Ilt kniff die Augen zusammen als dächte er nach.
„Ja, Sie dürfen“, sagte er schließlich. „Und ich gebe Ihnen auch eine Antwort. Nichts liegt mir ferner, als mich in Ihre internen Angelegenheiten einzumischen, dennoch war ich hier, um Perry Rhodan zu suchen.“
„Zu welchem Zweck?“
„Ich wollte ihn warnen und gegebenenfalls in Sicherheit bringen. Mir wurden glaubwürdige Informationen vorgelegt, wonach eine …“ Er unterbrach sich für ein kurzes Schmunzeln. „… dritte Macht mit potenziell unlauteren Absichten auf der Suche nach ihm sei. Und diese ist mir offensichtlich zuvorgekommen.“
„ES?“
„Ich bitte Sie!“ Plofre beendete sein Sessel-Karussell und schaute zu Tolot hinauf. „Ich habe mit dem alten Knaben zwar seit Jahrtausenden nichts mehr am Hut – aber abschießen würde er mich nun wirklich nicht.“
„Dann meinen Sie das Trojanische Tamanium“, stellte der Haluter fest. „Eine derartige Verletzung unseres Hoheitsgebiets und zahlreicher Abkommen käme einer Kriegserklärung gleich.“
„Immer langsam mit den jungen Bestien“, sagte der Ilt, was der Haluter sofort mit einem ungehaltenen Grollen erwiderte.
Plofre erhob sich, schwebte aus dem Sessel und sagte: „Bitte verzeihen Sie. Das war taktlos von mir. Worauf ich hinauswollte, war folgendes: Die Motivationslage hinter all dem ist nicht vollkommen klar. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass im Gegenteil ein Krieg verhindert werden soll.“
Tolot setzte sich langsam auf den Sessel zu in Bewegung. Der Ilt schwebte noch ein wenig beiseite und machte eine einladende Geste.
„Wissen Sie, Plofre von Yllit“, sagte der Haluter während er sich setzte. „Ich will die Möglichkeit nicht ausschließen, dass hier mehrere Kräfte am Werk sind. Tatsächlich sind mein ehrwürdiger Ahne und ich sogar der festen Überzeugung, dass es so ist. Es ist viel zu auffällig, dass ausgerechnet jetzt all diese Ereignisse stattfinden.“
„All diese Ereignisse?“ Die Gedanken eines Haluters zu lesen, war aufgrund ihrer zwei Gehirne nicht immer einfach. Selbst für den über 20.000 Jahre alten Ilt.
„Wir haben just vor ein paar Tagen kosmischen Besuch erhalten. Ich war gerade im Gespräch, als der Impuls der Erde ausfiel. Wenn Sie möchten, binde ich Sie in die Konsultationen ein.“
Tolot betätigte ein paar Schaltungen auf der Konsole, worauf ein weiterer deutlich kleinerer Sessel aus dem Boden fuhr. Er war noch immer reichlich groß für den Ilt, ließ ihn aber nicht komplett darin versinken, als er sich niederließ.
„Ich dachte, ihr jagt kosmischen Besuch stets vom Hof“, sagte Plofre.
Erneut stieß der Haluter ein Grollen aus, diesmal klang es jedoch deutlich amüsierter.
„Wenn sich der Besuch artig ankündigt und außerhalb der Milchstraße bleibt, heißen wir ihn gern willkommen“, sagte er.
„Es ist Atlan, richtig?“ Plofres Blick schien in die Ferne zu gleiten.
„Alle von ihnen“, bestätigte Tolot.
„Der komplette Orden der Gonozals?“ Der Kopf des Ilts fuhr herum und sein Blick fokussierte sich wieder. „Dann ist tatsächlich was im Busch. Ja, ich würde sehr gern in diese Konsultationen eingebunden werden.“

*

Kaum einer der zweidimensionalen Kinofilme des 20. Jahrhunderts alter Zeitrechnung war Perry Rhodan so sehr in Erinnerung geblieben wie „2001: Odyssee im Weltraum“. Er war nur wenige Jahre vor seinem Mondflug erschienen, der die Geschichte der Menschheit so radikal verändern sollte. Rhodan erinnerte sich noch gut, wie begeistert die Raumfahrer-Community von NASA und Space Force damals von der Darstellung der Raumfahrt gewesen war. Bei einer Sondervorführung in der California Academy of Spaceflight hatten sie die beiden anwesenden Hauptdarsteller anschließend sogar zu Astronauten ehrenhalber ernannt.
In diesem Moment musste er jedoch an eine Filmszene denken, die zu den weniger realistischen gehörte. Aus damaliger Sicht zumindest.
Die auf archaischer Technologie basierende Raumkapsel, in der er die letzten Tage wartend verbracht hatte, lag nun in einer vollkommen weißen klinisch sauberen Halle. Offenbar war dies der Hangar des Raumschiffes, das ihn aufgenommen hatte. Ganz genau konnte er es nicht sagen, da der Vorgang ohne aussagekräftige Messwerte abgelaufen war. Ein strahlend helles Licht hatte von einem Moment auf den anderen alles erfüllt. Als seine Augen sich daran gewöhnt hatten, hatte er sich in dieser Halle wiedergefunden.
Als sich nach einigen Minuten nichts weiter tat, beschloss er, die Kapsel zu verlassen.
In seinem ebenfalls sehr einfachen Raumanzug kam er sich wie Dave Bowman vor, der durch das surreale Hotelzimmer stapfte, in das ihn die unbekannten Außerirdischen versetzt hatten.
Schwerkraft und Luftdruck schienen ideal auf ihn zugeschnitten zu sein, also wagte er es, den Helm abzunehmen. Ja, auch das Luftgemisch war für ihn gemacht. Er musst schmunzeln, als er daran dachte, dass er als nächstes einen dunklen Hausanzug anziehen müsste. Er vertrieb die Gedanken an den Film endgültig und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.
„Danke fürs Abholen, Kleiner“, rief er in den Raum.
Wie erwartet erfolgte darauf eine Veränderung. In einer der bisher makellosen Wände zeichnete sich ein Rechteck ab. Der so markierte Teil glitt beiseite, dahinter war die Silhouette einer Person zu erkennen – die aber ganz offensichtlich kein Mausbiber war.
Eine junge Frau kam auf Rhodan zu. Sie strahlte über das ganze Gesicht und breitete die Arme aus. Als sie ihn fast erreicht hatte, sah er Tränen in den Winkeln ihrer grauen Augen funkeln. Trotz aller Reaktionsschnelligkeit, die ihm seit Ewigkeiten attestiert wurde, blieb er einen Moment lang sprach- und regungslos. Er ließ sich widerstandslos umarmen und erwiderte die Geste zögerlich.
Er musste sich Räuspern und bekam dennoch nur ein leises krächzendes Wort heraus: „Nikki?“
Die Frau löste sich von ihm, behielt aber ihre Hände auf seinen Schultern.
„Ja, Dad“, sagte sie und strahlte ihn unvermindert an. „Ich freu mich so sehr.“
„Wie … wie ist das möglich?“ Auch nach bald 20.000 Jahren war Rhodan unbeholfen in solche Situationen. Er hielt sich selbst zugute, dass er sich tausend Jahre lang fast ausschließlich mit einem Roboter unterhalten hatte.
Nikki Rhodan hob eine Augenbraue und musterte ihren Vater mit belustigter Miene. Dann sagte sie: „Ihr habt mir gute Anlagen mitgegeben.“
Perry Rhodan nickte. Einige seiner Kinder waren auch ohne Superintelligenzen-Technologie sehr langlebig gewesen. Er hatte aber eine Ahnung, dass das nicht alles war.
„Dann war das ‚Projekt Ara-Serum‘ letztendlich ein Erfolg?“
Einen Moment lang flog ein erstaunter Gesichtsausdruck über Nikkis Züge, doch dann lächelte sie wieder. „Stimmt“, sagte sie, „den Durchbruch hatten wir erst kurz nach deinem Verschwinden. Dein alter Traum von der Unsterblichkeit für alle ist seit Jahrhunderten Realität im Tamanium.“
Sie löste ihre Hände von ihm und wies in Richtung des Eingangs, durch den sie gekommen war.
„Du willst dich sicher frisch machen und in etwas bequemeres schlüpfen. Vermutlich hast du auch Hunger. Lass uns in einer etwas gemütlicheren Umgebung weiterplaudern.“
Rhodan blieb stehen, seine Tochter hielt nach dem ersten Schritt inne und schaute fragend zu ihm zurück.
„Wo ist Gucky?“
„Oh!“ Sie machte ein halb verlegenes halb belustigtes Gesicht. „Der ist schon wieder los. Weißt du, seit er seine Mausbiber gefunden hat, will er mit anderen Intelligenzwesen nichts mehr zu tun haben. Mir bei der Suche nach dir zu helfen war das höchste der Gefühle.“
„Okay“, sagte Rhodan, machte aber weiterhin keine Anstalten, Nikki zu folgen.
„Deine Mutter?“ fragte er schließlich, worauf sie nur stumm mit dem Kopf schüttelte.

*

Einen halben Tag später saßen Nikki und Perry Rhodan in einer Art Salon beisammen in bequemen Sesseln mit anregenden Getränken und unterhielten sich. Die Floskel, dass sie sich viel zu erzählen hatten, war angesichts der zeitlichen Abgründe, die sie trennten, geradezu absurd. Es war beiden bewusst, dass sie im Grunde Fremde waren, die sich von Null an kennenlernen mussten. Daher gaben sie sich gar nicht erst die Mühe, in alten Zeiten zu schwelgen oder das Schicksal gemeinsamer Bekannter zu erörtern.
Mehr aus Höflichkeit hatte Perry kurz von seiner Wanderung über die menschenleere Erde berichtet. Dann war er recht unverhohlen dazu übergegangen, Nikki auszufragen. Über die Zustände im Tamanium, das aktuelle Verhältnis zur Milchstraße und über ihre persönliche Agenda. Warum sie nach ihm gesucht hatte – und warum jetzt.
Das Gespräch verlief dabei kaum anders als jenes, das Nikki und Ernst Ellert vor kurzem geführt hatten.
„All dies hat natürlich mit dem Ende der 20.000-Jahresfrist von ES zu tun“, sagte sie schließlich. „Alle großen Player in der Lokalen Gruppe werden zusehends nervös. Schattenmaahks und Kartanin machen sich hübsch, da sie hoffen, die neuen Favoriten zu werden. Tolot würde die Milchstraße am liebsten auf die andere Seite des Dyoversums versetzen, um Ruhe vor kosmischen Entitäten zu haben. Und was Tifflor da im Solsystem treibt, weiß vermutlich nur er selbst.“
„Und das Tamanium?“, stellte Perry die naheliegende Frage, nachdem Nikki ihre Aufzählung beendet hatte.
„Wir haben versucht“, antwortete sie nach kurzer Pause, „deine Vision einer geeinten, vielfältigen Menschheit zu verwirklichen, in der alle in Freiheit leben und ihren individuellen Träumen nachgehen können und doch gemeinsam an einer immer besseren Zukunft arbeiten. Eine Menschheit, die eine galaxienüberspannende Zivilisation bildet, die in der Lage ist, sich allen kosmischen Rätseln und Herausforderungen zu stellen.“
„Versucht?“
Nikki stellte ihr Trinkgefäß ab und richtete sich auf.
„Ja, versucht“, antwortete sie bestimmt. „Und vieles davon haben wir auch verwirklicht. Ohne dich. Oder weitergeführt, was du hast liegenlassen. Erhalten, was du im Stich gelassen hast.“
Perry hielt dem ernsten Blick seiner Tochter stand.
„Klingt das ungerecht?“, fragte sie nach einer Weile. „Mag sein. Aber die Zeit drängt langsam und wir müssen vollenden, was Mum und du in Gang gesetzt haben. Wir müssen ES eine vollständig geeinte Menschheit präsentieren, deren Zivilisation sich über die gesamte Mächtigkeitsballung erstreckt.“
„Sagtest du vorhin nicht, dass ich das Tamanium davon abbringen soll, die Milchstraße anzugreifen?“
Nikki Rhodan erhob sich und hielt ihrem Vater in einer einladenden Geste die Hand hin.
„Richtig“, sagte sie. „Indem wir ihm zuvorkommen. Komm, ich zeige es dir. Wir sind da.“

*

Die Zentrale der DELORIAN IX hatte sich in ein komplettes holografisches Abbild der unmittelbaren Umgebung verwandelt. Nikki und Perry Rhodan kam es daher vor, als schwebten sie mitten im Weltall.
Schräg unter ihnen – die künstliche Schwerkraft des Schiffs bot ihnen unverändert ein Gefühl von „oben und unten“ – hing die Milchstraße in all ihrer Pracht und Herrlichkeit. Ein Anblick, von dem sich Perry auch nach all der Zeit nie würde sattsehen können.
Nikki allerdings blickte in die entgegengesetzte Richtung und bedeutete ihrem Vater, es ihr gleichzutun.
„Der kleine Stern dort“, sagte sie und wies auf einen Lichtpunkt, der ganz langsam größer zu werden schien, „ist vor Jahrmilliarden aus der Ebene der Milchstraße geschleudert worden und zieht nun hier draußen einsam seine Bahnen. Naja, nicht ganz, drei Gasplaneten und ein paar weitere Gesteinsbrocken leisten ihm Gesellschaft.“
Das Bild änderte sich schlagartig. Offenbar hatten sie eine Überlichtetappe zurückgelegt – oder die KI der DELORIAN hat die Darstellung einfach herangezoomt. Es zeigte nun einen Gasplaneten direkt vor ihnen. Der Stern war ebenfalls größer geworden, von Perrys Warte aus lag er auf der rechten Seite. Ohne Kenntnis über seine Größe war die Entfernung schwer abzuschätzen, er tippte aber auf drei, vier Astronomische Einheiten.
Entsprechend war die rechte Seite des Gasplaneten hell erleuchtet, die linke lag im Dunkel der Nacht.
In dem Moment geriet ein weiterer Himmelskörper in ihr Blickfeld. Er schwebte Perry quasi direkt vor die Nase und nahm dabei eine scheinbare Größe von zwei bis drei Metern ein. Er war nahezu kugelförmig und schien auf den ersten Blick ein Mond des Gasriesen zu sein.
Auf den zweiten allerdings …
„Das ist kein Mond“, sagte Perry gedankenverloren und ging ein paar Schritte auf die Darstellung zu. Im Licht des fernen Sterns – vermutlich in der Holographie verstärkt durch die Schiffs-KI – schälten sich die Oberflächenstrukturen heraus, die sich als auffällig geradlinig herausstellten.
Tatsächlich war das Gebilde in drei Segmente unterteilt, die wie drei breite Orangenstückchen in der Polachse zusammenliefen und drei schmale Spalten bis in das Zentrum des Gebildes freiließen.
„Eine Raumstation?“, fragte er und drehte sich zu Nikki um. „Wie groß ist das Ding?“ Ohne Vergleichsmöglichkeit oder eingeblendete Anzeigen war es unmöglich, die Maße abzuschätzen.
„Ziemlich genau tausend Kilometer“, lautete die Antwort. Nikki Rhodans Gesicht hatte jeden Ausdruck verloren, ihre Augen waren weit geöffnet und schienen in die Ferne zu schauen.
„Darf ich vorstellen“, sagte sie, „OLD MAN III.“

Fortsetzung folgt …

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