Buchbesprechung von Uwe Lammers

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Das Reich von Atlantis ist eine Legende ohne historische Substanz. So glaubten es viele Jahrhunderte lang die Menschen, auch die Forscher unter ihnen. Es gab gute Gründe dafür, die Geschichte, die der griechische Philosoph Platon in seinem Dialog Timaios ausbreitete, für eine Metapher zu halten. Atlantis stellte nach ihm einen auf einer ringförmigen Insel angelegten Idealstaat dar, der sich deutlich von den Strukturen der griechischen Stadtstaaten unterschied. Hier mischten sich zudem eigenartige Kulte mit beispiellosem Reichtum. Und die Zeitgenossen – respektive die später kommenden Archäologen – kannten einfach keine Zivilisation, die diesem Bild entsprochen hätte.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kannte man im Wesentlichen die griechischen Hochkulturen, levantinische Staaten – etwa die der Phönizier, eines legendären Seefahrervolkes – und natürlich die ägyptische Zivilisation. Atlantis: Fehlanzeige. Und dann die Ortsangabe bei Platon: „jenseits der Säulen des Herakles“ [Gibraltar] gelegen. Da lag der Atlantik, aber sonst rein gar nichts.
Und dann fand Arthur Evans die Paläste von Knossos auf Kreta, und das ganze Bild der Staaten der ägäischen Antike geriet ins Wanken. Auf einmal musste man gewärtigen, dass es im zweiten Jahrtausend vor Christus eine Hochkultur in der Ägäis gegeben hatte, die kulturell weit entwickelt gewesen war …
In diese Kerbe schlägt Suzanne Frank mit ihrem zweiten Roman des vierteiligen Zeitreise-Zyklus um die hilflose Amerikanerin Chloe Kingsley, die in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts in Ägypten durch ein magisches Zeittor fällt und deren Geist zunächst im Körper der ägyptischen Priesterin Ra-Emhetepet wieder reinkarniert. Im ersten Band des Zyklus – „Die Prophetin von Luxor“ – gelang es ihr bekanntlich, die Liebe des Arztes Cheftu zu gewinnen, der genau wie sie eine geistige Zeitreise hinter sich hatte, allerdings aus dem frühen 19. Jahrhundert stammte.
Am Ende des ersten Bandes wurden sie getrennt, und Chloe, die zum ersten Mal wirklich intensiv verliebt war und den Mann ihres Lebens gefunden hatte, war hin- und hergerissen. Sollte sie sich mehr als alles andere wünschen, in die Gegenwart zurückzukehren und Cheftu für immer zu verlieren? Oder sollte sie die Gegenwart aufgeben und sich wünschen, ihrem Geliebten möglichst nahe zu sein?
Einerlei, es hätte vermutlich sowieso keinen Unterschied gemacht. Denn als Chloe die Augen wieder aufschlägt, befindet sie sich weder im Ägypten der Pharaonin Hatschepsut, aus dem sie kam, noch im Krankenbett in der Gegenwart. Stattdessen muss sie zu ihrer nicht geringen Verwirrung erkennen, dass sie von neuem im Körper einer anderen Frau aufgewacht ist, diesmal im Leib der Seherin Sibylla, die einen überaus dominanten Geist hat und Chloe zum Teil tagelang in die dunklen Ecken ihres Verstandes zu verbannen versteht (was in einem Fall ein außerordentliches Problem schafft, aber das muss man selbst lesen).
Nach einer Weile beginnt die Zeitreisende zu verstehen, dass sie sich im „Reich Aztlan“ befindet, einem Reich, in dem die Frauen stolz ihren Busen zur Schau stellen (das Entblößen der Schulter gilt hingegen als außerordentlich anstößig). Es gibt Fruchtbarkeitskulte, Tempelprostitution und … Dinge, die sie nicht glauben kann.
Da wären etwa Paläste gigantischer Ausmaße mit fließendem Wasser. Warmes Wasser ist allgemein normal. Cheftu, der später hinzustößt, entdeckt Astrolabien, Segelflugzeuge und ähnlich faszinierende Dinge, die man eigentlich erst für viel spätere Zeiten erwartet. Das Reich Aztlan erweist sich als ein Hort von Wundern und Technologien, von tiefem Wissen, das später verloren gegangen ist.
Chloe sieht auch durch Sibyllas Sehergabe – sie kann die Zukunft in Maßen vorhersehen – , woran das liegen wird: grauenhafte Bilder von Lavaflüssen, einstürzenden Gebäuden, Aschenregen und schrecklich verbrannten Menschen suchen sie heim. Doch Sibylla will nicht glauben, dass das wirklich die Zukunft ist, wohingegen Chloe fest überzeugt ist, dies sei der Grund, warum sie gerade hier materialisiert ist.
Als Sibylla, die ihren Orakeldienst auf Kreta versieht, in die Heimat zurückkehrt, werden die Wunder noch potenziert. Aber zugleich beginnt Chloe die dunklen Seiten ihrer Mission zu erkennen: Das Reich Aztlan wird von einer Gruppe von verwandten Sippenoberhäuptern regiert, deren oberstes der Hüne Zelos ist, Herr der Sippe der Olimpier. Auf Aztlan wird ein blutrünstiger Stierkult gepflegt, es gibt beim Wechsel des Sippenoberhauptes rituellen Kannibalismus – und natürlich jede Menge Intrigen, in deren Räderwerk Sibylla unweigerlich hineingerät. Ehe sie richtig versteht, was ihr da eigentlich widerfährt, befindet sie sich in Todesgefahr, und das gleich in mehrfacher Hinsicht.
Cheftu, der unterdessen den Weg ins Reich Aztlan gefunden hat, soll als Arzt eine rätselhafte Seuche bekämpfen, die ausschließlich die Abkömmlinge der herrschenden Sippen heimsucht, vornehmlich die hochbetagten und machtvollen Mitglieder. Und zu den machtvollsten Mitgliedern gehört nun auch mal Sibylla als Oberhaupt der Sippe des Horns …
Mit dem zweiten Band des Zyklus versteht es Suzanne Frank geschickt, verschiedenste Dinge unter einen Hut zu bringen. Während es anfangs einen kleinen Blick in die Gegenwart gibt, damit man begreift, was mit Chloes Körper geschieht, in den ja im Austausch zu Chloes Geist die Seele der ägyptischen Priesterin RaEmhetepet gefahren ist, reist die Autorin mit den Leserinnen und Lesern dann mitten hinein in die scheinbar sonnige Ägäis, wo sie die prächtige Kultur des alten Atlantis schildert. Doch unter der Oberfläche lauert Entsetzen, das um so mehr ausbricht, je mehr die Handlung voranschreitet.
Frank mischt hier auf faszinierende Weise den platonischen Mythos mit den antiken Mythen der griechischen Götterwelt. Wer sich dort auskennt, wird hier eine Menge bekannter Namen vorfinden (manchmal tut die Autorin indes etwas zu viel des Guten). Die Entdeckungen der Archäologen – z. B. das Grab der Ramsessöhne im Tal der Könige durch den Ägyptologen Kent Weeks – und auch der Mediziner und Molekularbiologen – es sei nur auf Stanley Prusiner hingewiesen, dessen Name im Zusammenhang mit dieser im Roman behandelten Krankheit den wissenden Leser gruseln lassen wird – geben anschaulich den Blick frei auf ein Werk, das zwar in der tiefen Vergangenheit handelt, aber ohne weiteres imstande ist, aktuelle Tendenzen aufzunehmen und dort zu thematisieren.
Suzanne Frank mag es an Lesbarkeit, Gedankentiefe und individueller Charakterisierung nicht mit Diana Gabaldon1 aufnehmen können, eines hat sie ihr aber unstrittig voraus: während Diana sich mit ihrer Romanhandlung inzwischen völlig aus der Gegenwart verabschiedet hat und es deshalb nahezu unmöglich ist, aktuelle Tendenzen der Medizin wissentlich (für die Protagonisten) in ihre Romane einzuführen (etwas, was sich anbieten würde, ist doch Claire Beauchamp Randall-Fraser eine Ärztin), so kann Frank das ohne weiteres machen.
Ebenfalls erkennt man in dieser Romanhandlung faszinierende Ansätze zu einem Kontinuumsgedanken. Die Romane stehen also nicht nur wie monolithische, voneinander losgelöste Blöcke in der Weltgeschichte herum, sondern sie sind miteinander subtil verknüpft. Wer mich kennt, weiß, dass mich der Kontinuumsgedanke sehr umtreibt. Ich war also von der Struktur der Handlung sehr angetan, von der Farbenpracht der dargestellten Szenerie und, natürlich, besonders davon, dass das Herz der Handlung auf der von mir heiß und innig geliebten Insel Santorin in der Ägäis spielt. Das ist eine Liebe, die ist schon mehr als fünfundzwanzig Jahre alt, es muss also niemanden verblüffen, dass ich begeistert war. Da ist es sogar gleichgültig, dass Schamhaftigkeit das Titelbild regierte (man schaue sich mal die Kleidung der Mädels darauf an und lies dann den Roman. Freie Brüste sucht man vergebens) und die Leute des deutschen Verlages einen völlig wirren Titel wählten. Kümmert euch nicht um die Äußerlichkeiten, Jungs und Mädels, schaut auf die inneren Werte. Das lohnt sich.

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