Der Roman aus der Feder von Julius von Voß erschienen im Original im Jahre 1810, übertragen und Korrektur gelesen von Bernd “Göttrik” Labusch. Fortsetzung von: INI – Ein Roman aus dem 21. Jahrhundert, Drittes Büchlein, Kapitel 13
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Drittes Büchlein: Guido im Heere, Kapitel 14
Guido und sein Lehrer sahen in Paris noch Tausend Merkwürdigkeiten, welche aufzuzählen der Raum hier nicht gestattet. Unter anderem das Institut zur Anatomie, welches sie als eine der vorzüglichsten Anstalten zu Paris besuchten, und wohin sich jetzt eine große Zahl gespannter Neugieriger drängte.
*
Die Veranlassung war diese: Vor fünfzig Jahren hatte, zu Befremdung von ganz Europa, ein Bürger in Paris mehrere todeswürdige Verbrechen begangen. Das Gesetz zauderte lange mit seinem Spruch, und wollte ihn endlich nach Spitzbergen verweisen, wohin, wie wir schon wissen, solche Unglückliche kamen, deren Vernunft sie nicht von der Schönheit eines gesetzlichen Lebens überzeugen konnte. Die Kolonie in Spitzbergen hörte aber davon, und indem jeder Einzelne dort sich rein gegen jenen Bösewicht halten konnte, schrieb sie an das Gericht und verbat die Verbannung.
Man wankte von einer Meinung zur anderen. Seit mehr als einem Jahrhundert war in Europa keine Todesstrafe zuerkannt worden, es gab keine Henker und Hochgerichte mehr. Dennoch hatte der Mensch die Todesstrafe vollkommen verwirkt, und hatte er das furchtbare, grässliche Schauspiel unerhörter Frevel geben können, war das Beispiel einer eben solchen öffentlichen Ahndung gerecht. Zuletzt entschied man denn für seinen Tod, doch über die Art desselben konnte man sich nicht einigen.
Da trat ein Lehrer der Zergliederungskunde auf. „Lasst ihn durch seinen Tod nützen“, sprach der Mann: „Er mag uns um eine wichtige Erfahrung bereichern. Wir entdeckten eine Flüssigkeit, vervollkommnet gegenüber jenen, welche sich vormals die Anatomen bedienten, um tierische Organe dauerhaft aufzubewahren. Sie erhält einen Körper genau in dem Zustande, worin er ihr übergeben wird. Ich rate, wir füllen ein weites Gefäß mit diesem Fluidum. Der Verbrecher werde entkleidet und darin ertränkt. Dann soll aber das Gefäß verschlossen werden und fünfzig Jahre lang unberührt bleiben. Nach Verlauf dieser Zeit aber soll man den Körper wieder herausnehmen, und die gewöhnlichen Mittel, welche im Wasser Verunglückte oft ins Leben rufen, anwenden. Meine Theorie weissagt, man werde sich nicht umsonst bemühen, denn die Lebenskraft ist nicht entflohen, alle Teile sind in ihrer Vollkommenheit erhalten worden, weil der Reiz des geistigen Feuers in unsrer Flüssigkeit, der Auflösung Widerstand leistet. Irre ich nicht, so wird es merkwürdig sein, einen Mann zu sehen, der fünfzig Jahre lang schlief, er wird manches wissen, das die Alten und Geschichtsschreiber vergaßen. Künftig könnte man sogar Jahrhunderte lang Leben aufbewahren, und gewiss mit Nutzen, denn oft geht auch, trotz dem Weiterstreben der Menschheit, manches Gute unter, dessen Rettung aus der Vergessenheit heilsam werden kann.“
Der Arzt sah sich heftig bestritten, man lachte sogar über ihn.
Endlich aber erklärte ein Geschichtsforscher: Ich habe in einem alten Buche gefunden, dass einst im achtzehnten Jahrhundert, der Mann, welcher die ersten Gewitterableiter erfunden, Franklin genannt, Fliegen von Madera, die im Weinfass nach Nordamerika gekommen wären, und zehn Jahre lang im Keller gestanden hätten, wieder lebendig gemacht habe.“
„Was wollt ihr nun?“ fragte der Arzt.
„Fliegen und Menschen!“ spöttelten seine Gegner.
„Nun, es kommt auf den Versuch an“, hieß es endlich, und man beschloss, den Rat zu vollziehn, was auch geschah.
Das Fass mit dem Ertränkten wurde in einem festen Gewölbe bewahrt, vor dessen Tür der Rat sein Siegel legte. Ein Protokoll berichtete der Nachwelt die Tatsache und bat daneben, falls der Verbrecher wirklich wieder zum Dasein gelangen sollte, dann die weitere Strafe, in Anbetracht der erlittenen Todesangst, aufzuheben.
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Jetzt waren die fünfzig Jahre verstrichen. Der Tag des Versuches wurde beraumt. Die Naturkundigen schrieben für und gegen jenes, schon lange gestorbenen, Arztes Meinung. Man stellte Wetten an, ganz Paris sprach von nichts, als dem Manne im Spiritus.
Gelino hatte, durch bedeutende Fürsprache, die Erlaubnis des näheren Zutritts für sich und seinen Zögling empfangen. Man brach die Siegel, fand das Gefäß unversehrt, das nun in den Saal der Anatomie geschafft wurde.
Auf Erhöhungen saßen die eingelassenen Zuschauer, die Naturkundigen hatten sich um den Tisch, in der Mitte des runden Saales, gedrängt.
Der Körper ward aus seinem feuchten Grabe gezogen, auf den Tisch gelegt. Alle Teile waren so frisch, als hätten sie nur eine Stunde darin gelegen, das Gesicht bläulich aufgetrieben wie immer bei Ertrunkenen. Verwundernd blickte alles hin, und harrte ungeduldig auf den Ausgang.
Die gewöhnlichen Rettungsmittel fanden Anwendung, man brachte die Flüssigkeiten aus der Luftröhre, rieb, erwärmte, flößte ein, u. s. w. Doch verging eine Stunde nach der anderen, ohne dass der Zustand des Kadavers sich im mindesten umgewandelt hätte.
„Nicht wahr, wir hatten Recht?“ sagten die Ungläubigen.
Wer seine Wette verloren glaubte, zog ein verdrießliches Gesicht.
Endlich rief ein junger Arzt: „Vielleicht behindert der Spiritus, den die Einsauggefäße aufnahmen, durch den zu großen Reiz den Umschwung der Säfte. Suchen wir ihn in einem Schwitzbad auszuführen, das ohnehin durch den hohen Grad von Hitze die Lebenskraft anregen wird.“
„Es ist nicht mehr die Rede von Lebenskraft“, entgegnete der Vorsteher: „Indessen kann man ein Übriges tun.“
Das Schwitzbad wurde angeheizt, einige kräftige Männer begaben sich mit dem Körper hinein, und ließen die Temperatur höher treiben, als sie wohl einst ein Blagden ausgehalten hat, während sie ihre Bemühungen unermüdlich fortsetzten.
Vom Saale schickte man jeden Augenblick nachzufragen. Die Nachricht langte an: der Kadaver schwitze. „Ein Lebenszeichen!“ frohlockte der eine Teil. „Es sind nur die Dünste des Bades, die sich anlegen“, bestritt der Andere.
Nach einer halben Stunde schrie ein Bote atemlos: „Atem! — Irrtum, Irrtum! — Seht ihr, seht ihr! — Ich hab’ es selbst empfunden.“
Ein anderer sprang in den Saal, rief, mit eigenem starren Puls: „Puls — Unmöglich! Warum unmöglich? — Meine Hand fühlte ihn.“
Man wusste nicht woran man war, doch fing der Unglaube an, kleinlaut zu werden.
Der Körper wurde nun in dichte Pelze gehüllt und wieder in den Saal gebracht. Jedermann sah die unzweifelhafte Veränderung des Gesichtes, die Bläue war geschwunden, ein brennendes Rot überzog es, wenn sonst schon sich keine Bewegung zeigte, es auch unempfindlich gegen Anrühren mit spitzigen Instrumenten war.
Doch eine Feder, vor den Mund gelegt, flog weg, alle, welche an die Pulsader griffen, bezeugten, ein leises Klopfen wahrzunehmen.
Dabei blieb es aber wohl sechs Stunden, so dass der Zweifel wieder die Stimme erhob, und jene Anzeigen Täuschung nannte. Dann schrie aber alles plötzlich auf! Das eine Auge hatte sich geöffnet und wieder geschlossen. Nicht lange, so geschah das Nämliche mit dem zweiten, eine Stunde noch, und das erste Wort floh von den Lippen, die fünfzigjährige Erstarrung geschlossen hatte.
Niemand mied den Saal. Man vergaß über die Neugier die gewohnte Nahrung zu nehmen, immer das Auge auf den Körper geheftet. Die ganze Nacht verstrich so, während hin und wieder die Sprache, doch verwirrt, hörbar wurde. Am andern Morgen aber war die Besonnenheit vollkommen da, der wieder Lebende sprach von seinem Verbrechen, seiner Reue, flehte um Erbarmen.
Man sagte es zu, schonte seiner auf alle Weise, pflegte, stärkte. Er besann sich in ein Fass geworfen worden zu sein, meinte aber, man habe ihn nach wenig Minuten wieder herausgenommen, die Todesstrafe in eine andere zu verwandeln. Man sah also, dass ihm damals die eigentliche Absicht nicht vertraut worden war. Er rief nach seinen Anwalt, nannte die Namen der Richter, welche alle nicht mehr lebten, bis auf einem, der, ein hundertjähriger Greis, sich mit im Saale befand, und über das, den Meisten Unverständliche, was der Mann sagte, Aufschluss gab.
Er trat auch zu ihm. „O Himmel!“ rief er: „Wie bleich, wie gerunzelt Deine Wangen, Richter, wie weiß Dein Haar! Was hat Dich seit gestern so verändert? Und all diese Leute, wie seltsam sind sie gekleidet! Wo bin ich? Wohin brachtet Ihr mich?“
Man half ihm auf, führte ihn an ein Fenster. Er sah viele unbekannte Gebäude, vermisste viele alte.
„Bin ich trunken? Wahnsinnig? Wo ist der Palast geblieben, der dort gestern noch stand? Wie kommt so plötzlich der große Tempel nach jener immer leeren Stelle? Was soll ich denken?“
Es war Zeit, ihm die Rätsel zu lösen, sein Verstand hätte durch die unbegreiflichen Erscheinungen in Zerrüttung sinken können.
Wer malt nun aber sein Staunen! „Fünfzig Jahre habe ich geschlafen? Unmöglich!“
Man zeigte ihm Bücher mit der laufenden Jahreszahl, rief einige Personen, deren er sich als Jünglinge oder Kinder entsann, deren jetzige Gestalt keinen Zweifel bestehen ließ. Er konnte es dennoch immer noch nicht glauben, ihm war, als sei er vor wenigen Minuten versunken, und rühmte wiederholt die Süßigkeit seines tiefen Schlummers.
Endlich musste er aber die Wahrheit anerkennen, und wurde durch ganz Paris geführt, wo Fenster und Dächer, wie sich denken lässt, mit Zuschauern überfüllt waren. Geschichtsforscher und Antiquare ließen ihm daheim keinen Augenblick Ruh, und erfuhren auch in der Tat, manches ihnen Unbekannte, durch seinen Mund.
Er hatte nun gehört, die weitere Strafe sei ihm erlassen.
Doch rief er: „Mein Gewissen klagt mich zu laut an, ich verdiene es nicht!“
Man entgegnete: „Mag vor fünfzig Jahren geschehen sein, was da wolle, die Zeit hat einen Schleier darüber geworfen.“
Auch hätten seitdem Erziehung und Moral wieder so viel an Vollkommenheit gewonnen, dass solche Verbrecher wie er wohl nicht mehr aufträten.
„So gebührt mir die Strafe jener Zeit. Sendet mich in die Verweisung“, entgegnete er.
„Nein, nein, die Vorwelt wollte Deine Begnadigung selbst, wenn Du die lange Verweisung aus der Gesellschaft überstündest.“
„Gut! Lasst mich ein Jahr lang unter Euch leben. Dann will ich, mein Gewissen zu entladen, freiwillig abermals in das Gefäß. Ihr übergebt mich den Enkeln auf Hundert Jahre. Weit nützlicher kann ich einst jener Zeit sein, mir ist es gleich, den Rest meiner Tage nun oder dann zu beschließen, ja es ist wohl im letzten Fall noch weit merkwürdiger. In diesem Jahre will ich mich von den Veränderungen der Welt während meines Schlafes überzeugen, und ohne Zweifel werde ich oft staunen.“
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Man konnte nicht umhin, den Zustand dieses Menschen von einer Seite zu beneiden, und folgte schließlich seinem Willen im Übrigen. Guido und sein Lehrer warteten jedoch nichts mehr davon ab, sondern machten sich auf den Weg nach England.
Fortsetzung folgt in INI – Ein Roman aus dem 21. Jahrhundert, Drittes Büchlein, Kapitel 15
Wilfried Czenek
17. Februar 2024 — 10:42
Eine durchaus gelungene Hommage an Jules Verne mit Anklängen an Edgar Allan Poe.