Das fantastische Fanzine

Die Wälder von Katalis, 4. Buch: Die Reise

Fortsetzungsgeschichte von Veronika “Vroni” Bärenfänger, Fortsetzung von: Die Wälder von Katalis, 3. Buch: Vorbereitungen

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Die Liste

Im Nachhinein hätte ich mir selbst eine verpassen müssen, denn ich sah den innerlichen Kampf nicht. Ich merkte nicht, wie sehr Leila an der Aufgabe zweifelte und dennoch versuchte, ihr Bestes zu tun, um sie zu erfüllen.
Wir befanden uns erst ganz am Anfang und ich hatte bisher nur Daria und Christian überzeugen können.
Claudia hörte mir nicht zu und mein Vater verweigerte jeden Kontakt.
Onais-Tjelfort konnte nur mit uns sprechen, die Anderen verstanden ihn nicht.
Er wirkte wie ein seltsamer Zauberer, ein Eremit, der nach langer Abwesenheit die Sprache verloren hatte. Er konnte uns hierbei nicht helfen.

Das Einzige, was mir Freude bereitete, war die wachsende Freundschaft zwischen Daria und Leila. Christians Frau war einfach ein Mensch, den man lieben musste. Ihr gutes Herz hatte mich schon in Jugendjahren beeindruckt. Sie stand immer über allen Vorurteilen und suchte das Gute in den Menschen. Selbst als sie anderes erfuhr, trübte es nicht ihre Einstellung.

So konnte ich beobachten, wie die beiden flüsterten, kleine Geheimnisse hatten, lachten und sich austauschten.
Daria wusste, lange vor mir, von Leilas Plänen und sie unterstützte sie darin.

Ich war so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass mir das nicht auffiel, aber Leila schmiedete bereits an einem Plan.

Mein Bestreben konzentrierte sich darauf, mich mit meinem Vater auszusprechen. Er stand auf dieser Liste, was für mich bedeutete, dass ich ihn von dieser Reise überzeugen musste.
Ich strebte ein Mediationsverfahren an, genau wie es bei uns zwischen streitenden Ehepaaren praktiziert wurde und hoffte auf einen unabhängigen Mediator.
Zu meinem Bedauern konnte ich niemanden finden und so wandte ich mich mit meiner Bitte an Claudia.

Ich war überrascht, dass sie zusagte und bereit war, mir zuzuhören, aber nur mir. Leila sollte bleiben, wo sie war.
Ich fand mich also in ihrer Küche wieder und bevor ich irgendetwas sagen konnte, musste ich einen ihrer köstlichen, süßen Hefeklöße essen und einen kräftigen schwarzen Tee trinken.
Erst nachdem ich meinen Teller geleert und sie mir heißen Tee nachgegossen hatte, setzte sie sich und sagte,
»Nun, erzähl. Wo warst du all die Jahre?«
Ich räusperte mich und begann:
»Wir hatten damals diesen Auftrag, die Grenzen zu Ugwadule zu schützen und wurden angegriffen. Die Galier trieben meine Einheit und mich direkt in die Wüste und wir suchten Schutz im Schatten einer seltsamen Steinformation …«

So erzählte ich ihr die gesamte Geschichte, wie ich durch das Portal nach Katalis gelangte und die ganzen Jahre völlig alleine überlebte. Immer in der Hoffnung, eines Tages wieder zurückzukehren.
Claudia blickte mich immer wieder etwas ungläubig an. Ich musste zugeben, die Story klang schon sehr verrückt. Zehn Jahre auf einem fremden Planeten, alleine?
Aber es hatte funktioniert und da wir in der Schule auch das Planetensystem gelehrt bekamen, war Claudia bereit, das zu glauben.
Sie hörte mir interessiert zu, als ich ihr davon erzählte, wie Leila zu mir kam und meine Einsamkeit verschwand, wurde ihr Gesichtsausdruck ernst.

»Wir müssen lernen zu vergeben«, sagte ich mit Nachdruck.
»Wie kannst du? Sie töteten Anna!«, brachte Claudia mir entgegen.
»Als das geschah, war Leila ein Kind, ein unschuldiges Kind, das nichts von alledem wusste«, entgegnete ich ihrem Vorwurf.
»Das glaube ich dir nicht. Sie war ein Soldat, das hast du mir selbst erzählt!«, sagte sie wütend.
»Claudia, sie ist ein Opfer, genau wie Anna ein Opfer war«, versuchte ich ihr begreiflich zu machen.
»Was verstehst du unter Opfer? Sie lebt, Anna ist tot!«
Ich konnte die Wut spüren, die da in ihr aufkeimte.
»Leila muss mit dem weiterleben, was ihr angetan wurde«, brachte ich ihr trocken entgegen.
»Was? Ein verwöhntes kleines Prinzesschen lernt, was es heißt zu überleben?«, fauchte Claudia.
»Ja, genau das dachte ich zuerst auch«, sagte ich ganz ruhig.
Sie blickte mich erstaunt an und fragte,
»Ist das jetzt etwa anders?«
»Ja, Claudia. Ich kenne ihre Geschichte und eines darfst du mir glauben. Niemand aus unserem Volk würde das ‘erstrebenswert’ finden!«, antwortete ich.
»Sie stammt aus dem Adel, was ist daran denn nicht erstrebenswert?«
Claudia blickte mich ungläubig an.
»Ich weiß, dass ich für sie Partei ergreife, dir sollte aber bewusst sein, dass ich das nicht aus meinen persönlichen biologischen Gründen tue«, ich setzte ab, um ihr die Möglichkeit zu geben, etwas zu erwidern. Nachdem sie es nicht tat, fuhr ich fort, »Galische Frauen haben keinerlei Rechte. Sie gehören ihren Vätern und später den Männern, die ihre Väter für sie wählen. Ihnen wird der Zugang zu Bildung verwehrt, was besonders die Frauen aus höheren Schichten betrifft. Sie wissen nichts und dürfen nichts. Sie sollen hübsch aussehen und das Haus ihrer Familie oder das ihrer Ehemänner repräsentieren. Vor allem sollen sie männlichen Nachwuchs produzieren, funktioniert das nicht, sind sie praktisch tot.«
»Was?«, fragte sie und blickte mich ungläubig an.
Ohne meinen ernsten Gesichtsausdruck zu ändern, starrte ich zurück.
»Leila kann keine Kinder bekommen. Sie hat mir noch lange nicht alles erzählt, aber ich vermute, die Ursache ist ihr Mann und wie er mit ihr umging. In meiner Fantasie habe ich mir bereits die schlimmsten Dinge ausgemalt, die ein erwachsener Mann mit einem 15-jährigen Kind anstellen kann. Leila spricht nicht darüber. Ich kann nur fühlen, dass da Schlimmes passiert ist. Das Paket, das sie mit sich trägt, wiegt schwer, schwerer als unser Verlust. Das solltest du wissen.«
»Warum ging sie dann zum Militär? Das verstehe ich nicht«, sagte Claudia.
»Militär oder Bordell, das ist die einzige Wahl, die sie hatte, nachdem ihr Mann sie verstieß. Er wollte sie tot sehen. Nicht mehr und nicht weniger und so schickte er dieses zarte, unschuldige Ding, völlig unvorbereitet in die Schlacht. Bis sie auf mich traf, hatte sie nicht mal einen blassen Schimmer davon, wie man sich selbst schützen konnte!«
Ich konnte mich schwer zügeln und erhob die Stimme.
»Du willst mir jetzt erzählen, dass bei den Galiern die Männer die absolute Macht über die Frauen haben und mit ihnen tun und lassen können, was sie wollen?«, fragte sie.
Ich blickte sie an und erwiderte,
»Du kannst glauben, was du möchtest. Ich glaube ihr das. Nachdem ich sie verletzt gefunden hatte, hat sie nicht einmal Anstalten gemacht, wegzulaufen, obwohl sie das jederzeit gekonnt hätte. Nur jemand, der nicht weiß, wie man sich wehrt, ergibt sich in diese Situation ohne zu kämpfen.«
Claudia wurde nachdenklich, was man in ihrem Gesicht sehen konnte. Die Stirn in Falten gelegt, die Augenbrauen zusammengezogen, überlegte sie, was sie als Nächstes sagen wollte. Sie atmete tief ein und brachte die eine Frage hervor, die sie offensichtlich schon seit unserer Ankunft quälte.
»Was hat diese Frau, das dich dazu bringt, meine Tochter zu vergessen?«, fragte sie spontan.
Ich blickte sie kurz an, ließ meinen Blick ins Leere schweifen und antwortete,
»Ich habe Anna nicht vergessen und Tiana ebenfalls nicht.«
»Was bringt dich dann dazu, dein Bett mit einer Fremden zu teilen?«, hakte sie nach und ich konnte spüren, dass ihr Interesse nicht wütend, sondern ehrlich war.
Ich überlegte einen Moment und erklärte,
»Leila ist das Wasser, das die Flammen löscht. Sie legt ihre kühlen Hände auf meine brennenden Wunden und ist in der Lage, die Wut und den Hass zu mildern. Bei alledem hat sie nicht den Anspruch darauf, Anna zu ersetzen. Sie will das auch nicht und ich will, dass sie bei mir bleibt«, ich setzte kurz ab, seufzte und fügte an, »Ursprünglich wollte ich hier bleiben, die ganze Geschichte mit der Apokalypse und der Reise nach Katalis vergessen und einfach dort weiter machen, wo ich vor zehn Jahren aufgehört hatte, aber ihr alle wart so furchtbar zu uns. Vor allem aber zu Leila und Onais-Tjelfort. Unter diesen Umständen erfülle ich jetzt meine Aufgabe und entweder geht ihr mit mir oder ich gehe alleine. Das, und nichts anderes ist der Grund, warum das Universum die Erde vernichten wird. Dessen bin ich mir nun ganz gewiss.«
Sie blickte mich mit offenem Mund an und fragte,
»Du glaubst das wirklich, ja?«
»Ja, ich glaube das und ich glaube auch, dass ich aus einem bestimmten Grund dazu ausgewählt wurde, um die Liste zu erfüllen und all die würdigen Menschen mit nach Katalis zu nehmen. Es ist eine Chance, ein Neuanfang ohne diesen Groll und diesen Zorn und auch wenn euch allen das nicht schmecken mag. Ohne die Menschen von Leilas Stamm, werden wir nicht gehen. Ich brauche sie, um das Tor zu öffnen und ich brauche sie, um den Durchgang für euch aufrechtzuerhalten«, ich setzte kurz ab und bevor sie etwas sagen konnte, sprach ich weiter, »Nun sage mir, was meinen Vater geritten hat und warum er gar so verbittert auf meine Heimkehr reagiert hat. Immerhin verlange ich ein Mediationsverfahren und du sollst der Mediator sein.«
»Es ist der Tod deiner Mutter«, antwortete Claudia. »Nachdem du verschwunden warst, wurde sie krank. Sehr krank. Dein Verschwinden war schon schlimm genug für ihn und jetzt auch noch Marie-Louise zu verlieren, ließ ihn hart und unbarmherzig werden. Er hat alle dazu angetrieben, härter und skrupelloser gegen die Galier vorzugehen und das hat seine Spuren hinterlassen.«
»Bist du deswegen auch so hart geworden?«, fragte ich sie.
»Ich habe Anna und Tiana verloren und mein Sohn Ewald kam verletzt nach Hause, was Kalgrim dazu veranlasste, höchstpersönlich in den Krieg zu ziehen. Er kam nicht zurück«, erzählte sie traurig.
»Das erklärt einiges, aber nicht, warum er so wütend auf mich ist«, sagte ich.
»Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich das nachvollziehen. Würde Kalgrim plötzlich vor mir stehen, würde ich weinen vor Glück und niemals hinterfragen, warum er so lange nichts von sich hat hören lassen«, sie setzte ab und strich mir sanft über die Wange, bevor sie weiter sprach, »Nun erzähl mir bitte etwas von dieser Liste. Mein Name steht dort? Warum?«
Ich wandte mich kurz ab, suchte nach meiner Tasche und holte das Buch heraus.
Claudia blickte neugierig auf die aufgequollenen Seiten, denen man eindeutig ansehen konnte, dass sie ein gewisses Alter hatten.
Ich schlug die Seite mit den Namen des Volkes der von Lork auf, zeigte auf meinen Vater und drehte das Buch so, dass sie es lesen konnte.
Ich sah, wie ihre Augen über die Zeilen flogen und sie jeden Namen gründlich studierte.
»Mein Name steht hier aber nicht«, sagte sie und ihre Stimme zitterte.
»Du bist auch keine von Lork. Du bist eine von Vildskov, dass du hier lebst, hat mit all diesen Kriegswirren zu tun. Ich kann dir nicht sagen, wann diese Liste entstanden ist, aber ich kann dir sagen, dass dein Name dort steht!«
Ich blätterte weiter bis zur Aufstellung der von Vildskov und zeigte auf den ersten Namen auf der Seite.
Abermals beobachtete ich, wie ihre Augen über die Zeilen flogen.
Vorsichtig streckte sie eine Hand danach aus, hielt inne, blickte mich an und fragte, »Darf ich?«
Ich nickte und schob ihr das Buch herüber.
»Vorsichtig, es ist schon sehr beschädigt«, sagte ich leise und sie nickte.
Ich beobachtete, wie sie Zeile für Zeile dieses Buches las.
Vorsichtig und behutsam blätterte sie sich durch die Seiten der Liste und landete schließlich bei den Dingen, die wir mitnehmen konnten.
Hier hielt sie mehrfach inne und fragte nach.
Was für eine Reise das denn wäre, wie viel Zeit uns noch bliebe, das alles vorzubereiten und ob denn alle auf dieser Liste zu überzeugen wären.
Sie stellte so viele Fragen, sodass mir recht schnell bewusst war, dass sie uns begleiten würde. Auch Claudia wünschte sich Frieden, genau wie die anderen. Als Mediator würde sie nichts mehr taugen, denn sie stand auf meiner Seite. Wen sollte ich jetzt fragen, oder sollte ich versuchen, die Schlichtung trotzdem mit ihr zu vollziehen?
Es ging schließlich darum, meinen Vater dazu zu bringen, mir zu glauben. Ob er mir dabei verzeihen konnte oder gar Leila akzeptieren würde, spielte im Moment wirklich keine Rolle.
Durch die garstige Gräfin war zu viel Zeit vergangen, das hatte Onais-Tjelfort eindrücklich klargemacht. Es galt also so viele wie möglich zu überzeugen. Ich dachte, dass meine größte Herausforderung darin bestand, meinen Vater zu überzeugen. Immerhin war er der, der die Völker vereint hatte. Die Ugwadule und die Harmaapatra. Bei den Vildskov konnte ich keinen größeren Fuß in der Tür haben, als Claudia.

Jetzt ging es darum, mich mit meinem Vater auszusprechen und ihn davon zu überzeugen, dass er mir nach Katalis folgen sollte.
Wir waren jetzt über eine Woche auf der Erde und hatten gerade drei Menschen von unserem Vorhaben überzeugt. Ich hoffte so sehr auf seine Unterstützung, das würde es viel leichter machen.
Das Gespräch mit Claudia hatte unter vier Augen stattgefunden und es war beim Gespräch mit meinem Vater nicht vorgesehen, dass Leila mich begleitete. Ich hätte sie zwar gerne bei mir gehabt, um ihm zu zeigen, was für ein wundervoller Mensch sie war, aber das musste auf später verschoben werden. Ich bat Daria, sich um sie zu kümmern, während ich mich selbst auf eine mehrtägige Abwesenheit vorbereitete. Leila unterstützte mich in meinen Vorbereitungen, sie spornte mich an und wir bereiteten gemeinsam all die Argumente vor, die wir haben würden. Ich machte mir Notizen und Leila beobachtete mich dabei ganz genau. Sie wollte endlich schreiben können und so sah ich sie immer wieder mit einem Bleistift und einem Blatt Papier, auf dem sie die Buchstaben übte. Noch war ihre Schrift sehr ungelenk und kantig, aber mit diesem Ehrgeiz würde es nicht mehr lange dauern und sie entwickelte ihre eigene Handschrift.
Claudia hatte sich ebenfalls mehrfach bei uns blicken lassen und versuchte, die Distanz zu Leila aufzuweichen. Es gelang ein wenig, aber durch ihr erstes Verhalten hatte Claudia natürlich einiges an Vertrauensbonus verloren.

Ich packte ein paar Sachen zusammen und machte mich zusammen mit Claudia auf den Weg zum Anwesen meines Vaters.
Ich verabschiedete mich von Leila, wie ich mich von meiner Frau verabschiedet hätte und dachte nur kurz daran, dass ich sie noch immer nicht gefragt hatte, ob sie bei mir bleiben würde, bis zum Ende unserer Zeit.
Vielleicht wollte ich das erst aussprechen, wenn ich wusste, ob und wie ich meinen Vater überzeugen würde.
Jedenfalls überließ ich sie den wachsamen Augen von Christian und Daria.

Das Anwesen meines Vaters lag oberhalb des Dorfes, auf einem kleinen Hügel. Die von Lork lebten hier schon seit Generationen. Einst war es nur ein Gutshof, dann bildete sich darunter ein kleines Dorf. Ein friedliches Dorf, aus dem der Stamm der von Lork erwuchs. Irgendwann gehörten sie alle zusammen und arbeiteten Hand in Hand.
Nachdem, was ich auf Katalis erfahren hatte, war das immer so gewesen. Wir lebten alle friedlich miteinander. Wir hatten uns nur zu weit voneinander entfernt. Damals war es meinem Vater gelungen, alle an einen Tisch zu bekommen. Alle, bis auf die Galier. Deren Leben hatte sich zu weit von unserem entfernt.
In dem Moment, als ich vor meines Vaters Haustür stand, erinnerte ich mich daran. Sie hießen nicht Galier, sie waren die Galesen und sie lebten nicht als unsere Nachbarn, sondern an den Küsten des Landes und auch sie waren einst friedliche und sozial gut etablierte Gemeinschaften. Niemand konnte heute mehr sagen, was damals wirklich vorgefallen war, dass sich aus diesem Volk die Galier entwickelten. Um ehrlich zu sein, interessierte mich das auch nicht. Ich wollte nur noch meine Aufgabe erfüllen, die Menschen auf der Liste zusammensammeln und dann zurück nach Katalis.
So stand ich vor der Tür, nicht fähig, meine Hand zu erheben, um daran zu klopfen.
Claudia stand hinter mir und wartete geduldig. Gerade in dem Moment, als ich mich durch alle meine Zweifel gekämpft hatte, flog die Tür auf und ich blickte für einen winzigen Moment in das offene und freundliche Gesicht meines Vaters.
Er stand vor mir, in seiner Arbeitskleidung, bereit, seine Tiere zu füttern. Seit ich mich erinnern kann, tat er das selbst, sofern er zu Hause war.
Für einen Moment konnte ich das freundliche und gütige Wesen meines Vaters erkennen und dann versteinerten die Gesichtszüge.
»Was willst du hier?«, raunte er mich an.
»Mit dir reden«, antwortete ich kurz.
»Ich habe zu tun, das siehst du doch«, sagte er streng.
»Ich muss dennoch mit dir reden und es ist wichtig!«, sagte ich beharrlich.
»Ich habe keinen Bedarf und jetzt geh mir aus dem Weg!«, brachte er trocken hervor und blickte mich böse an.
Da ich nicht weichen wollte, schob er mich zur Seite und erblickte Claudia, die bislang nicht zur Kenntnis genommen hatte. Augenblicklich weichte sein Blick wieder auf und er fragte, »Was tust du denn hier?«
Der Klang seiner Stimme irritierte mich und gleichzeitig erinnerte er mich an die Stimmfarbe, die er meiner Mutter gegenüber immer an den Tag gelegt hatte.
Claudia lächelte ihn an und sagte,
»Er verlangt ein Meditationsverfahren und er wählte mich als seinen Mediator.«
»Das geht nicht!«, entgegnete er vehement.
»Du weißt, dass das geht, das sind deine Regeln, du hast sie von deinem Vater übernommen, der sie wiederum von seinem Vater hat. Als du in deinem Amt bestätigt wurdest, hast du ein Gelübde abgelegt, dass du diese Regeln beibehalten wirst«, sagte sie mit sanftem Nachdruck.
»Ich weiß das, das musst du mir nicht erklären, aber das geht nicht!«, sagte er laut.
»Das muss gehen«, erwiderte sie.
Er blickte sie an. Kein strenger, böser Blick, sanft, fast liebevoll und ich kannte diesen Blick. Was ging hier gerade vor sich? Hatten die beiden etwa etwas miteinander? Wie lange war meine Mutter nicht mehr am Leben? In mir wallte Empörung auf, die ich aber abschüttelte. Wer war ich, dass ich mir ein Urteil erlauben konnte? Meine Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als mein Vater sagte,
»Claudia, du bist befangen!«
Es entwich mir ein lautes Lachen, dachte ich nicht, dass sie schon von meiner Seite beeinflusst war und somit laut den Regeln als befangen galt.
Dieser gegenseitige Zustand, hob sich, laut Regel, wieder auf. Das hatte sie gewusst und sie hatte mich so lang darüber grübeln lassen, ohne eine Andeutung zu machen.
»Was grinst du so blöd!«, keifte mein Vater in meine Richtung.
Claudia drängte sich zwischen uns, gab meinem Vater einen Klaps und sagte streng,
»Lass uns hineingehen und reden!«
Dabei schob sie ihn von mir weg, zurück durch die Tür.
In der wohlig warmen Küche rutschte ich auf einen der Stühle, die um den geräumigen Tisch herumstanden und wartete, was die beiden tun würden.
Sie standen sich gegenüber und ich beobachtete jede Geste, jede Bewegung und vor allem lauschte ich jedem Wort, das da gesagt wurde.
Theobald von Lork, ein Bär von einem Mann. Sein Irokese war deutlich ergraut, wobei die Enden seiner Zöpfe noch das Braun seiner ursprünglichen Haarfarbe hatten.
Der gepflegte Bart war grauer, als sein Haupthaar und seine sonnengebräunte Haut wirkte unter den Augen wie gegerbtes Leder. Er war alt geworden, seit ich ihn das letzte Mal bewusst gesehen hatte. Dennoch hatte er nichts von der Macht verloren, die er ausstrahlte. Körperlich schien er fitter, als je zuvor. Zumindest spannte das Hemd, welches er trug, an den Oberarmen.
Ihm gegenüber stand diese rothaarige Frau, fast einen Kopf kleiner als er und blickte ihn aus grünen, funkelnden Augen intensiv an. Auch bei ihr konnte man sehen, dass das Leben seine Spuren hinterlassen hatte. Das intensive Rot ihrer Haare war mit feinen grauen Strähnen durchzogen. Die Falten in ihrem Gesicht ließen erahnen, wie schwer die letzten Jahre gewesen sein mussten. Dennoch sprach Stolz und Würde aus ihrer Körperhaltung.
Sie sprachen kein Wort und ich achtete auf jede Kleinigkeit. Es lag eine elektrisierende Spannung im Raum und genau zu diesem Zeitpunkt wünschte ich mir, Leila wäre hier.
Ein harsches »Setz dich«, durchbrach die knisternde Spannung.
Widerwillig setzte er sich und vermied dabei, mich anzusehen.
Ich konnte es weiterhin nicht verstehen, warum er so wütend auf mich war, sodass er überhaupt keine Gespräche zulassen wollte. Ich schwieg, wartete darauf, dass Claudia die Meditation eröffnete und sie tat das anders als erwartet.

»Gib mir das Buch«, sagte sie zu mir gewandt.
Ich blickte sie erstaunt an. Noch war es mir nicht erlaubt zu sprechen, also reichte ich ihr das Buch, ohne etwas dazu zu sagen.
Mein Vater schwieg ebenfalls und wartete darauf, dass sie endlich begann, die Meditation zu eröffnen.
Sie öffnete die Liste der von Lork, drehte das Buch in die Richtung meines Vaters und zeigte mit dem Finger auf seinen Namen.
»Dein Sohn hat mir ausführlich und plausibel erklärt, wo er die letzten Jahre war und warum es ihm nicht möglich war, eine Nachricht für uns zu hinterlassen. Auch wenn die Geschichte etwas seltsam klingen mag, wir sind ein aufgeklärtes Volk und wir wissen um die Planetensysteme aus unseren Lehrbüchern. Dieses Buch ist in unserer Sprache geschrieben und enthält die Prophezeiung einer Apokalypse und eine sorgfältig ausgearbeitete Liste an Menschen, Tieren und Dingen, die eine Reise antreten sollen, eine Reise zu einem anderen Planeten. Markus hat mir ausführlich erklärt, was vor zehn Jahren vorgefallen ist und ich habe die größte Hochachtung davor, dass er in seiner Einsamkeit nicht aufgegeben hat, im Gegenteil, als dieses Mädchen zu ihm kam, konnte er vergeben. Noch viel mehr, er konnte sie verstehen und das müssen wir jetzt auch tun, sonst sind wir verloren.«
Sie setzte einmal kurz ab und eröffnete dann, indem sie sagte,
»Markus, erzähle die Geschichte bitte nochmals, während dein Vater schweigen wird.
Dann gib ihm bitte die Gelegenheit, seine Beweggründe darzulegen. Danach werden wir uns der Liste widmen und darüber sprechen, wie wir vorgehen sollten.«

Ich nickte und begann meine Geschichte abermals, beginnend mit dem Angriff der Galier in der Steppe bis hin zu dem Tag, an dem wir das Portal erneut durchschritten hatten. Als ich mit meinen Erklärungen fertig war, bat mich Claudia zu schweigen und meinem Vater die Gelegenheit zu geben seine Geschichte zu erklären.
Natürlich machte es mich betroffen, als er erzählte, dass er kurze Zeit, nachdem ich verschwunden war, meine Mutter an eine unbekannte Krankheit verlor. Die Wut über sein Schicksal ließ ihn dann so ausrasten, als er mich bei der Feier das erste Mal wieder sah, so unversehrt, so als wäre nichts passiert.

»Für mich war es noch schlimmer, diese Frau zu sehen. Die Frau des Marquis, eindeutig zu erkennen an den beiden Farben ihrer Augen! Was bringt dich dazu, eine Beziehung zu ihr einzugehen? Auch wenn du gerade erzählt hast, dass du deine Gründe hast. Sie ist die Frau des Marquis und das wird für dich und uns alle Konsequenzen haben«, endete er seine Rede.

Claudia blickte ihn an und erwiderte,
»Deswegen werden wir uns jetzt gemeinsam um das Buch kümmern. Vielleicht wird dir dann bewusst, wie wichtig das Mädchen für uns alle ist.«

Das offene Buch lag schon die ganze Zeit in der Mitte des Tisches.
Claudia schubste es in Richtung meines Vaters, der es vorsichtig griff und fragte,
»Wo kommt das her?«
»Aus den Ruinen der Dulnae. Einer der Wächter hat es geschrieben«, erklärte ich.
»Dulnae?«, hakte er nach.
»So nannten sich die fünf Völker auf Katalis. Aber bitte, das steht dort alles geschrieben«, antwortete ich.
»Wer sind die Wächter?«, fragte er weiter.
»Onais und Tjelfort waren es, bevor der Unfall geschah, der Tjelfort seinen Körper kostete.« Ich versuchte so sachlich wie möglich zu bleiben.
»Wer ist das?«, hakte er nochmals nach.
»Der Zwerg, der mit uns kam, ist Onais, der den Geist seines Bruders beheimatet. Das Schicksal der beiden ist eng mit meinem langen, einsamen Aufenthalt verknüpft und Ursache ist diese Gräfin Kristina von Aldenhoven. Sie tötete Tjelfort und wäre das nicht geschehen, wäre ich schon viel früher zurückgekehrt, um euch alle zu holen!«
Ich spürte, wie sich die Anspannung löste und mein Vater immer offener für die Geschichte wurde.
Er hörte auf zu fragen und begann sich mit dem Buch zu beschäftigen.
Während er las, stand Claudia auf und begann in der Küche etwas zu Essen herzurichten.
Ich bat an, ihr zu helfen und wurde geschickt, um Wasser und Holz zu holen.
Ich lief ein paar Mal und konnte sehen, dass die beiden während meiner Abwesenheit darüber gesprochen hatten.

Die Körperhaltung, der Gesichtsausdruck und die Stimmfarbe meines Vaters, weichten immer mehr auf. Es machte mich glücklich ihn wieder so zu sehen, wie ich ihn kannte. Jetzt würden wir das gemeinsam stemmen, die Völker würden uns folgen, mit dem großen Theobald von Lork an meiner Seite. Nur die Galesen würden etwas schwieriger werden. Vor allem die anderen davon zu überzeugen, dass auch diese Menschen für uns wichtig waren.

Wollte ich zu Beginn eigentlich nichts von dieser Aufgabe wissen, so hatte sich jetzt etwas ganz anderes ergeben. Ich würde mit Leila hier auf der Erde niemals den Frieden finden, den wir auf Katalis hatten.
Wir mussten zurück, komme, was wolle und egal, wie viele Menschen auf der Liste uns folgen würden.

Ich verbrachte zwei Tage im Haus meines Vaters und sorgte mich jeden Tag um das Wohlergehen von Leila. Ich hoffte sehr, dass Daria und Christian sich ordentlich um sie kümmern würden. Sie befand sich in meinem Dorf, in meinem Haus und der größte Teil der Dorfbewohner war ihr nicht freundlich gesinnt.

Am zweiten Tag sprach ich meinen Vater darauf an.
»Auch wenn du das Buch nicht ganz gelesen hast und wir unsere Standpunkte nicht vollständig klären konnten, so muss ich zurück zu meinem Haus. Leila ist alleine hier und ich kann ihr das nicht mehr lange zumuten«, sagte ich.
»Dann hole sie doch her«, erwiderte Claudia.
Während mein Vater mich anblickte und sagte, »Ich würde sie gerne auf neutralem Grund kennenlernen. Nicht hier, in diesem Haus!«
Ich konnte das durchaus akzeptieren, wenn es mir dennoch etwas unfreundlich schien. Erst mal aus sicherer Entfernung betrachten und dann vielleicht …

Das war mir im Moment egal, ich wollte das auch nicht forcieren. Wichtig war mir, dass ich jetzt zu Leila zurückkehrte und ihr berichtete, was ich erreichen konnte.
Ich packte das Buch und meine Sachen und war eine halbe Stunde später wieder unten im Dorf.
Als ich zur Tür hereinkam, saß Leila am Tisch und ließ sich von Daria die Haare flechten.
Daria hatte bereits mehrere Strähnen zu feinen Zöpfen verflochten, die sie jetzt sorgsam in den großen Zopf einfließen ließ. Ich sah die metallenen Schließen, genauso wie es bei uns üblich war. Die Zierde stand ihr gut.
Leila lächelte mich an und ich registrierte die Bluse und den wallenden Rock an ihren Hüften. Das war wirklich hübsch, Leila wirkte damit nicht mehr so burschikos und mein Herz machte einen Sprung.
»Das sieht wirklich gut aus, gefällt es dir denn auch?«, fragte ich.
Ich sah, wie Leilas Augen strahlten, als sie erwiderte, »Ja, ich empfinde es als sehr bequem. Mir gefällt die Hose darunter und die Möglichkeit, den Rock mit einem einzigen Handgriff loszuwerden.«
Sie lachte.
»Wie lief dein Gespräch?«, fragte Daria.
»Besser als gedacht. Er glaubt uns und möchte mich unterstützen«, antwortete ich.
»Was ist mit mir?«, fragte Leila und blickte mich plötzlich ernst an.
»Er ist bereit, dich kennenzulernen, möchte aber einen neutralen Ort für das erste Treffen«, antwortete ich ihr wahrheitsgemäß.
»Er traut mir also nicht über den Weg«, merkte sie traurig an.
»Gib ihm Zeit, Leila. Nach so vielen Jahren ist es nicht leicht, neues Vertrauen aufzubauen. Du solltest das doch am besten wissen. Wie lange haben wir beide gebraucht, um uns zu finden?«, versuchte ich zu erklären.
»Du hast ja recht. Ich hab’ nur einen Heiden Respekt vor ihm, harmlos ist dein Vater nicht. Schon gleich gar nicht, wenn er seinen eigenen Sohn so verprügeln kann«, sagte sie.
Ich konnte ihre Skepsis absolut nachvollziehen. Ich hätte selbst nie damit gerechnet, dass er das tun würde.

Das gute Stück Fleisch, welches mein Vater mit besten Grüßen mitgeschickt hatte, legte ich auf den Tisch und sagte,
»Ich hole etwas Holz, damit wir uns einen schönen Braten zubereiten können. Ist noch etwas Gemüse da?«
Als ich mich abwenden wollte, um das Holz zu holen, griff Leila nach meiner Hand und zog mich zu sich.
Daria wich einen Schritt zurück und ich erhielt einen innigen Kuss.
Ich beugte mich tiefer und griff nach ihrem Kopf.
Bevor ich mich wieder aufrichtete, nahm ich diesen feinen Kräutergeruch wahr.
Einen winzigen Moment überlegte ich, sagte dann,
»Du warst beim Sjamaan in seiner Inipi!«
Leila und Daria nickten nur.
»Ihr beide wisst, dass man die Schwitzhütte nur besucht, um seine Bestimmung zu erfahren. Gab es hierfür einen Anlass?«
Irgendwie war ich jetzt sehr irritiert. Vielleicht dachte ich, dass Leila bisher nicht so weit wäre oder ich war ein wenig eifersüchtig, weil sie das zusammen mit Daria getan hatte und nicht mit mir. Ich fühlte mich ausgeschlossen. Später wurde mir erst klar, dass ich sie auch ausgeschlossen hatte.
Leila antwortete,
»Ich wollte wissen, wohin ich gehöre und der Sjamaan hat nachgeholt, was die Aufgabe meiner Eltern gewesen wäre. Er gab mir meine Identität in Form eines Wassertropfens.«
Sie warf den Zopf nach vorn und zeigte mir das Tattoo in ihrem Nacken.
»Du bist also wirklich eine von uns?«, fragte ich verwirrt.
»Nein, Markus. Ich bin Galese und direkter Nachfahre des fünften Volkes der Dulnae. Der Sjamaan hat Onais-Tjelforts Vermutung nur bestätigt und mir mein Geburtszeichen gegeben. Was ich daraus mache, wird die Wanderung sicherlich beeinflussen, aber das werden wir beide tun«, antwortete sie ganz ruhig.
»Du hast beim Schwitzen also keine Vision deiner Aufgabe gesehen? Du weißt schon, ich erzählte dir davon. Es gab da nichts, was sich dir eröffnet hat?«, fragte ich neugierig. Erinnerte ich mich doch zu genau an meine Erfahrungen in der Hütte, mit all den benebelnden Düften, dem Schwitzen und den intensivsten Empfindungen in meinem Leben. Danach hatte ich meine Aufgabe erhalten, die mich zum Erwachsenen werden ließ und den Grundstock meiner Dornenranke bildete.
»Doch, ich habe eine Aufgabe erhalten und es ist genau die Vision, die mich schon länger begleitet. Ich darf aber weder mit dir, noch mit Daria, oder jemand anderem darüber reden. Du kennst die Regeln, da muss ich alleine durch. Ich bin mir sicher, dass ich mit Erfüllung meiner Aufgabe nicht nur frei bin, sondern ebenbürtig«, erklärte sie.
Ich verstand. Das war definitiv eine Sache, durch die sie alleine hindurch musste und so widmete ich dem Ganzen keine weitere Aufmerksamkeit. Ich würde es schon merken, wenn es so weit war.
Wir brieten das Fleisch, kochten Gemüse und bereiteten ein herrlich duftendes Mahl. Daria holte Christian und gemeinsam speisten wir.
Lange saßen wir bei Kerzenschein und erzählten uns Geschichten. Die Geschichten unserer gemeinsamen Jugend und ich konnte sehen, dass Leila diese lange nicht so genossen hatte wie wir. Zum ersten Mal erzählte sie den anderen, wie ihre Kindheit ablief und schuf somit eine ganze Menge Verständnis für ihre Lage.
Ich hatte das Gefühl, sie würde endlich bei den Lafaree ankommen und wir würden sie langsam als liebenswerten Menschen akzeptieren.
Ich Dummkopf sah nichts von ihren inneren Kämpfen und brachte es weiterhin nicht fertig, sie zu fragen. Dabei war ich mir doch selbst so sicher, dass ich mit ihr das Ende meiner Tage erleben wollte.

Das Treffen mit meinem Vater fand in Christians Haus statt. Christian und ich waren auf der Jagd und brachten ein Kaninchen und einen Fasan mit. Claudia und Leila bereiteten alles vor und kümmerten sich um die Beilagen. Es war irgendwie ein seltsames Gefühl, als wir am gedeckten Tisch auf Theobald und Claudia warteten.
Dieses seltsame Gefühl änderte sich nicht, selbst als sie dann aßen und wir alle miteinander sprachen.
Es kam mir so vor, als wäre Leila gar nicht anwesend und es belastete mich.
Mein Vater schaffte es nicht, über seinen Schatten zu springen und sie ehrlich kennenzulernen. So redete er belangloses und ging in keinem Gespräch in die Tiefe.
Irgendwann flüsterte ich ihr ins Ohr, dass es mir leidtut. Sie nickte das nur ab und ich konnte spüren, dass sie sich nicht wohlfühlte.
Je länger dieses Schauspiel andauerte, desto besser schmeckte mir der Met.
Irgendwann drängte dann Leila zum Aufbruch und ich ließ mich von ihr nach Hause führen. Ich hatte mächtig einen sitzen und war so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass mir nicht bewusst war, wie sehr sie unter der Situation litt.
Stunden später kam ich verkatert wieder zu mir und die Stelle neben mir war leer. Ich stand auf und suchte sie im Haus. Nachdem ich sie nicht finden konnte, suchte ich vor dem Haus, aber auch hier war sie nicht. Ich ging zurück in die Küche, um etwas Wasser zu trinken und dann sah ich den Zettel.
Steif und ungelenk hatte sie ein paar Zeilen darauf gekritzelt:
Ich gehe nach Hause.
Mach dir keine Sorgen, meine Aufgabe muss ich ganz alleine bestehen.

Leila

Ich wurde fast wahnsinnig. Sie begab sich in die Höhle des Löwen und das völlig alleine? Ohne weiter nachzudenken, rannte ich zu Christians Haus. Wir mussten ihr folgen, auf keinen Fall durfte sie dort alleine hingehen.

***

Leila fühlte sich ausgeschlossen, als Markus das Mediationsverfahren mit seinem Vater durchführte. Daria hatte sich in den letzten Tagen wirklich um sie bemüht und genau deswegen hatte sie ihr vorgeschlagen, das Schwitzhüttenritual durchzuführen. Irgendwie fühlte sie sich seltsam, als sie bei dem Sjamaan ankamen. Dieser alte Mann hatte Ähnlichkeit mit Onais-Tjelfort, nur hatte er keine spitzen Ohren und war nicht so klein.
Nachdem Daria sie vorgestellt hatte, bat er sie, zu gehen und Leila sollte am Feuer Platz nehmen.
»Was führt dich zu mir?«, fragte er.
»Ich fühle mich verloren«, antwortete Leila.
»Willst du deine Bestimmung finden?«, fragte er weiter.
»Ich habe eine Vorahnung, wohin mich mein Weg führen wird. Ich möchte wissen, ob das Universum diesen Weg wirklich für mich vorsieht«, sagte sie.
Der Sjamaan goss ihr einen Tee in einen Becher und sagte,
»Trink.«
»Was ist das?«, fragte sie.
»Der Beginn des Rituals. Zuerst musst du deine Identität finden und dann wirst du in der Inipi deine Aufgabe erhalten. Habe keine Angst, das Universum hört dir zu und bietet dir die Antworten, die du suchst. Trink!«
Leila blickte ihn an und kostete von dem Tee. Der Geschmack konnte nicht definiert werden, bitter oder herb, es schienen sich alle Geschmacksknospen im Mund zusammenzuziehen. Und dann flimmerte es vor ihren Augen.
Das Holz im Feuer knackte, der Sjamaan schüttete etwas in die Flammen, sodass es aufloderte und eine stinkende Rauchwolke aufwallte. Die Gerüche wurden für Leila auf einmal so intensiv. Sie konnte sich kaum noch aufrecht halten.
Der Mann brummte in eintönigen Akkorden und so fiel sie in einen tranceähnlichen Zustand. Sie sah so viele Bilder vor ihrem inneren Auge, sie kamen in immer schnellerer Abfolge und wiederholten sich. Immer wieder Wasser, Tropfen, See, Meer. Der Schweiß rann ihr über die Stirn, den Nasenrücken entlang und sammelte sich an der Nasenspitze zu einem Tropfen. Sie zitterte und schwitzte und in dem Moment, indem sich der Schweißtropfen von ihrer Nasenspitze löste, öffnete der Sjamaan die Augen. Der Mann hatte aufgehört zu singen und sprach mit fremden Zungen.
Leila verstand jedes Wort, da sie den Universalübersetzer hatte.
»Geboren im Wasser, wirst du dein Leben im Wasser beenden. Es wird dich leiten und dir zu Diensten sein. Du bist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, so nutze deine Kräfte mit Bedacht«
Er schloss seine Augen und fing wieder an, seine Akkorde zu brummen.
Leila festigte sich wieder, die Bilder vor ihrem inneren Auge waren jetzt klar und deutlich. Sie sah die Halskette ihrer Mutter mit dem blauen Saphir in Form eines Wassertropfens.

Nachdem der Sjamaan gemerkt hatte, dass sie langsam wieder im Diesseits weilte, sagte er leise,
»Du hast deine Identität gefunden, habe ich recht?«
»Ja«, hauchte Leila.
»Bist du bereit, dieses Zeichen als Quelle deiner Macht zu erhalten?«
»Ja, ich bin bereit«, antwortete sie.
Er bat sie, sich bäuchlings auf die Decke zu legen und ihren Nacken von den Haaren zu befreien.
»Entspanne dich, ich werde dir nun das Zeichen geben, dass das Universum für dich vorgesehen hat. Der Wassertropfen wird dich fortan begleiten.«
Leila bekam also an diesem Tag ihr erstes Tattoo, ihre Identität, wie der Sjamaan sagte.
Wenig später hockte sie wieder vor dem Feuer und starrte in die Flammen.
Der Nacken brannte. Der Sjamaan war nicht gerade zimperlich gewesen und sie überlegte, ob man mit den Babys auch so hart umging.
Während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, richtete der Mann die Hütte.
Als man den Dampf bereits aus den Ritzen quellen sah, kam er zu ihr, reichte ihr ein Leinentuch und sagte,
»Lege bitte alles Weltliche ab, nur das Tuch wird dich umhüllen.«
»Werde ich dort alleine sein?«, fragte sie.
»Du musst sogar«, antwortete er und fuhr fort, »Ich zeige dir, was du tun musst und dann gehe ich auch.«
»Wie lange wird das dauern?«, fragte sie.
»Das kommt auf dich an. Eine Stunde, zwei oder auch den ganzen Tag. Du wirst merken, wenn es beendet ist.«
Mit diesen Worten schlüpfte er in die Hütte, hielt das Tuch vor dem Eingang auf und sagte, »Komm, die Götter warten auf dich.«
Leila blickte sich noch einmal unsicher um, folgte ihm aber ins Innere.
In der Mitte der Hütte lagen glühende Steine, die der Mann mit duftendem Wasser bespritzte und Kräuter darauf verbrannte.
»Setz dich dort«, sagte er und deutete auf ein Kissen.
»Links neben dir, findest du das Wasser, falls du Durst hast, rechts den Tee. Leite deine Reise mit einem Schluck Tee ein und lass dich fallen. Vertraue dem Universum und den Göttern, sie werden dir deinen Weg weisen. Ich bleibe in der Nähe und werde das Feuer nicht ausgehen lassen. Gib dir alle Zeit der Welt, um deine Aufgabe zu finden. Hast du sie gefunden, so kannst du sie nicht verweigern. Ich wünsche eine gute Reise«, endete er und verschwand durch den Vorhang.
Leila ließ das Tuch über die Schultern nach unten rutschen, es war jetzt schon unerträglich heiß in diesem stickigen Dunst.
Sie positionierte sich auf dem Kissen, griff nach dem Tee und blickte in die Tasse.
Die Spiegelung ihres verschwitzten Gesichts ließ sie für einen Moment innehalten, dann nahm sie einen großen Schluck. Sie schüttelte sich vor Ekel, verschluckte sich und musste husten.
Wie beim ersten Mal ging es recht schnell und der Tee entfaltete seine halluzinogene Wirkung. Das Tuch bedeckte nur noch ihren Schoß. Sie straffte und richtete sich auf. Schweißnass wiegte sie sich zu nicht hörbaren Klängen. Ein eiskalter Schauer verursachte eine Gänsehaut und ihre Brustwarzen standen abrupt. Der Schweiß rann daran herunter, sammelte sich und bildete wie auf ihrer Nase links und rechts einen Tropfen, der hör- und spürbar in das Leinentuch tropfte.
Ein weiterer Schauer durchlief sie und sie fühlte eine gewisse Erregung, mit der sie in einen deutlichen Tagtraum rutschte. Es waren Männerhände, die sie auf ihrem Körper spürte. Ihr Schoß brannte, sie wand sich auf dem Kissen und stöhnte laut.
Das war nicht ihre Aufgabe, das hatte bestimmt nichts damit zu tun. Sie zwang sich dazu, die Augen zu öffnen, die Haare klebten in ihrem verschwitzten Gesicht. Sie zwang sich zu einem Schluck Wasser und versuchte wieder Herr ihrer Gedanken zu werden.
Leila hatte es aber angefangen und jetzt musste sie es zu Ende bringen, also nahm sie abermals den Tee und sog einen großen Schluck in ihren Mund. Sie hatte Schwierigkeiten zu schlucken, so sehr ekelte es sie vor dem Geschmack. Dennoch zwang sie sich dazu.
Wieder spürte sie die Hände und wieder näherte sie sich einem Orgasmus, den sie diesmal nicht verhindern konnte. Sie bäumte sich stöhnend auf und sackte sogleich in sich zusammen und dann war sie direkt vor ihr. Die Vision, die sie gesucht hatte. Ihre Aufgabe, klar und deutlich und sie wusste jetzt genau, was das Universum von ihr verlangte. Es gab keinen anderen Weg, sie musste sich befreien, ihre Fesseln ablegen und so schrie sie all ihre Last aus sich heraus.
Danach sackte sie in sich zusammen und bekam nicht mehr mit, dass der Sjamaan hereinkam, sie zudeckte und nach draußen trug.
Er platzierte sie, warm eingepackt neben dem Feuer, hatte sie gewaschen und bekleidet und wartete geduldig, dass sie wieder zu sich kommen würde.
Es war mitten in der Nacht, als sie erwachte.
»Das hast du gut gemacht«, sagte er zu ihr und lächelte sie an.
Leila nickte nur.
»Geh jetzt nach Hause und bereite dich auf deine Aufgabe vor. Denke daran, es darf dir niemand helfen, am besten sollte es niemand wissen. Bestehst du diesen Test, wartet Markus auf dich, dann wird nichts mehr zwischen euch stehen.«
Leila nickte abermals und verneigte sich vor dem Sjamaan.
Er reichte ihr ein Lederband, an dem ein blauer Lapislazuli in Tropfenform hing.
Es wurden keine Worte mehr gewechselt.
Leila verschwand im Dunkeln und der Sjamaan stimmte wieder seine Akkorde ein.
Nur Daria wusste, dass sie sich diesem Ritual unterzogen hatte und sie hatte dies nicht mal Christian erzählt.
Als Markus endlich von seiner Mediation zurückkam, hatte Leila heimlich bereits alles hergerichtet. Sie würde nur den passenden Moment abwarten und gehen, um dann mit ihrem ersten Dorn zurückzukehren.
Natürlich war Markus nicht so dumm, dass er die Gerüche an ihr nicht wahrnahm und selbstverständlich wollte er wissen, was sie dort getan hatte.
Letztlich erzählte sie ihm von ihren Erfahrungen. Mehr nicht. Er wusste nichts von ihrer tatsächlichen Aufgabe und sie würde es ihm nicht erzählen.

Nachdem das Treffen mit seinem Vater dann unbefriedigend verlaufen war, fasste sie den Entschluss, ihre Aufgabe vorzuziehen.
Am nächsten Tag stand sie im Morgengrauen auf, holte die Sachen, die sie zusammengepackt hatte und verschwand.
Sie sah sich nicht einmal mehr um, als sie den Waldrand erreichte und leichten Schrittes darin verschwand.

Jean

Sie brauchte nicht lange, um sich zu orientieren, denn sie kannte diese Wälder. Hatte doch ihr Bruder immer mit ihr diese Ausflüge gemacht und sie an die schönsten Orte der Umgebung gebracht.
Ihr Plan war, zuerst im elterlichen Anwesen nach dem Rechten zu sehen.
Weder Vater noch Mutter standen auf der Liste und da sie bereits wusste, dass Markus Mutter nur nicht auf der Liste stand, weil sie nicht mehr am Leben war, machte sie sich Sorgen um die beiden.

Leila versuchte nicht zu oft die öffentlichen Wege zu nutzen, nur, wenn nicht zu viele Menschen unterwegs waren.
Sie trug zwar einen, aus grobem Sackleinen gefertigten Umhang mit Kapuze, aber darunter die lederne Kleidung eines Lafaree. Daria hatte ihr diese gegeben, eher unüblich für eine Frau. Lederne Hosen, ein Leinenhemd und einen ledernen Wams mit halben Ärmeln und silbernen Schließen. Ihr Zopf trug die üblichen Verzierungen der Lafaree, genau das, was in ihrer eigenen Kultur als gockelhafte Eitelkeit abgetan wurde.
Unter ihrer Kapuze, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte, wirkte sie wie ein ganz normaler Bürger der Unterschicht. Sie war ein Hybrid, eine Mischung aus Galier und Lafaree und das war sogar ihre Absicht. Sie würde sich bei diesem Ausflug ihre ersten Dornen verdienen und sie würde die Menschen, die auf der Liste standen, überzeugen, mit ihr zu gehen.
So zumindest ihre Absicht. Wie sich das auswirken würde, war ihr bisher nicht ganz klar. Zuerst wollte sie nach ihren Eltern sehen.
Auf dem Weg zum Anwesen fiel ihr auf, dass die Felder nicht bestellt waren. Überall wucherten Unkräuter und anderes Geäst. Das war sie nicht gewohnt. Sie wunderte sich, konnte aber nicht sagen, ob das schon vor ihrer Reise nach Katalis so gewesen war, oder bereits seit ihrer Hochzeit so aussah. Eher letzteres, nachdem recht viel überwuchert schien. Leila erschütterte dieser Anblick und sie fragte sich, was mit ihrem Vater wohl geschehen war, nachdem er sie in die Hände des Marquis gegeben hatte.
Mit jedem Schritt, den sie näher an das Anwesen ihrer Eltern kam, wurde ihr bewusst, wie wichtig ihre Aufgabe war.
Das Erbe ihrer Eltern war bereits zerstört, es gab nichts Materielles, das sie hier halten konnte. Mit jedem Schritt spürte sie, dass nur durch die Erfüllung dieser Aufgabe, die Menschen ihr folgen würden.

Nachdem sie über einen Tag gewandert war, erreichte sie endlich den Gutshof.
Hier wartete der nächste Schock auf sie, denn die Häuser und Stallungen waren in einem denkbar schlechten Zustand.
In den Stallungen befand sich kein Vieh, der Pferdestall war leer. Das Gesindehaus zeigte kein Leben und das Gutshaus bröckelte zusehends.
Leila stand inmitten dieser Gebäude und blickte sich um.
Sie setzte die Kapuze ab und drehte sich geschockt um die eigene Achse. Federvieh flatterte vom Giebel des Wohnhauses und verursachte eine Lawine von Ziegeln, die klirrend auf den Boden rauschten.

Leila umfasste den Griff ihres Messers fest und suchte die Umgebung nach Menschen ab.
Das gesamte Anwesen wirkte ausgestorben, umso mehr erschrak sie, als sie eine Bewegung im Augenwinkel wahrnahm.
Sie wandte sich nach links und erkannte deutlich einen Menschen beim Tor des Pferdestalls.
»Wer seid ihr!«, rief sie und zog ihr Messer.
»Habt erbarmen, Herr!«, antwortete ihr Gegenüber.
Leila konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte. Gebeugt und in Lumpen gekleidet, fürchtete sich dieser Mensch vor dem, was er dachte zu sehen.
Natürlich, Leila wirkte ohne die Kapuze wie ein Lafaree. Allein der Zopf mit all den Zierden.
»Habt keine Angst, ich bin nicht hier, um euch zu schaden!«, rief sie der Person zu.
»Ihr seid der Feind«, brachte die Person ihr entgegen.
Die räumliche Distanz machte es beiden schwer, genau zu sehen, wer da vor ihnen stand. Im Grunde fürchteten sie sich gegenseitig voreinander.
»Das bin ich nicht, ich bin Leila«, entgegnete sie
Ihr Gegenüber richtete sich etwas auf und sagte,
»Laut den Gerüchten ist Prinzessin Leila gefallen. Beweist eure Behauptung!«
Leila ging in sich. Sie überlegte angestrengt, was ihre Identität beweisen könnte und vor allem, wem gegenüber sie diese jetzt beweisen musste. Immerhin wusste sie nicht, wer da stand. Die Entfernung machte es schier unmöglich, die Person zu erkennen. Anhand der Stimme vermutete sie eine Frau, sicher war sie nicht.
»Der Name meines Bruders war Christoph. Er starb bei einem Reitunfall während einer Treibjagd«, versuchte sie es.
»Das ist allgemein bekannt, wenn ihr wirklich Leila seid, dann wisst ihr Dinge, die nur Leila von Waddlock wissen kann!«, rief die Person.
Leila überlegte und dann fiel es ihr ein.
»Ihr wisst offensichtlich viel über meine Familie und wenn dem so ist, dann erinnert ihr euch sicherlich an einen bestimmten Vorfall. Ich war sieben, als ich in den Karpfenteich fiel und nicht ertrank, weil ich schwimmen konnte«, rief Leila.
Sie wusste nicht, ob das die Antwort war, die ihr Gegenüber erwartete, oder ob es ins Leere laufen würde. Ihr war weiterhin nicht bekannt, wem sie hier gegenüberstand.
Ein winziger Moment Stille, dann folgte ein tiefer Seufzer.
»Ich bin Bianca, falls ihr euch noch erinnert, Herrin.«
Leila ging das Herz auf. Bianca war die junge Frau, die von der Zofe ihrer Mutter als Nachfolgerin angelernt worden war, solange Leila noch hier lebte. Sie war kaum älter als sie, erlebte aber viel ihrer Kindheit mit und sie erhielt fast so viel mütterliche Liebe, wie Leila selbst. Sie jetzt so zerlumpt zu sehen, schmerzte. Umso mehr, je näher sie sich wagte.
Es dauerte eine Weile, da sie sich vorsichtig näherte und dann standen sie sich gegenüber.
Leila hatte das Messer zurück in die Scheide gesteckt und jetzt lockerte sie die Hand um den Griff.
Es schockierte sie der Anblick dieser vertrauten Person. Ihre Augen wirkten leer, das Gesicht war ausgemergelt. Sie hatten seit ihrer Abwesenheit wohl viel Leid erfahren.
Während sich Leila Gedanken darüber machte, was hier geschehen war, blickte Bianca sie an und die Tränen rannen ihr die Wangen hinunter.
»Ich hätte nun wirklich alles erwartet, unter diesem Panzer, aber nicht euch!«, sagte sie.
Leila blickte sie an und sagte,
»Das ist mir durchaus bewusst, weil ich weiß, dass Jean mich tot sehen wollte!«
»Lasst uns bitte in den Stall gehen und das alles besprechen, ich befürchte Spione, denn es gibt bereits länger Gerüchte!«, sagte sie, wandte sich ab und winkte Leila zu sich.
Leila warf sich die Kapuze über den Kopf und folgte Bianca in den Stall.
Leer und verwaist wirkten die Boxen und auf den ersten Blick war hier niemand zu sehen, bis sie merkte, dass man die letzten vier Boxen mit einer Bretterwand getrennt hatte, sodass der Stall leer wirkte, aber hinter der Bretterwand ein paar Menschen Zuflucht gefunden hatten.
Clever, dachte sie noch, denn es fiel kaum auf.
Nachdem Bianca sie durch die losen Bretter in den hinteren Teil geleitet hatte, stand sie in dem, was die fünf Menschen, die sich hier aufhielten, die letzten Monate als ihr Zuhause betrachteten.
Sie wurde mit einer Mischung aus Furcht und Neugier betrachtet und als sie ihre Kapuze ablegte, ging ein Raunen durch den Raum.
Natürlich sahen sie zuallererst den Feind in ihr und nicht das verlorene Kind, das sie so gerne wäre.
In diesem Moment wurde sie sich ihrer Aufgabe erst richtig bewusst. Sie musste sich dem stellen, was das Universum für sie vorgesehen hatte. Nicht für sich selbst, für all diese Menschen, die schon so lange unter den Zuständen litten.
Erst als sich die fünf sicher waren, dass keine Gefahr von ihr ausging, lockerte sich die Anspannung und Leila konnte Fragen stellen.
»Was ist hier passiert?«, fragte sie.
Bianca, die als erste Kontakt zu ihr hatte, antwortete,
»Das war der Marquis.«
»Wie? Ich dachte, meine Eltern würden sorgenfrei ihren Altenstand erleben, würde ich mit ihm den Ehebund eingehen?«, fragte Leila.
»Ja, das dachten wir auch«, sagte ein Mann, den Leila als Stallbursche ihres Vaters identifizierte.
»Dann war mein Opfer umsonst?«, fragte Leila entsetzt.
»Dein Opfer?«, entgegnete eine Frau, die sie nicht kannte, pikiert.
»Ja, mein Opfer, denn mir wurde erzählt, nach der Hochzeit wäret ihr alle in guten Händen und vor allem wären meine Eltern während ihres Lebens versorgt«, entgegnete Leila empört.
»Was ist denn bitte daran ein Opfer, wenn man den Silberlöffel gegen den Goldlöffel tauscht. Nur weil das liebe Prinzesschen lernen musste, was es heißt zu überleben, ist das noch lange kein Opfer!«, entgegnete ihr diese Frau, die offensichtlich kein gutes Haar an ihr lassen wollte. Hatte sie etwa recht mit dem, was sie sagte?
Leila straffte sich, fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht, so als wolle sie die schlechten Gedanken abstreifen und antwortete,
»Es bringt uns nichts, uns gegenseitig mit Vorwürfen zu überziehen. Ich bin hier, um eine Aufgabe zu erfüllen. Es liegt ganz bei euch, ob ihr mir hierbei beistehen wollt, oder ob ihr weiterhin euren eigenen Weg bevorzugt. Ich werde euch zu nichts zwingen, die Entscheidung überlasse ich euch. Ich werde mich dem Marquis entgegenstellen und wer mir zur Seite stehen will, sei willkommen. Ihr solltet nur akzeptieren, dass ich euch nicht mitteilen werde, was ich gedenke zu tun, denn das ist Teil der Aufgabe, die ich vom Universum erhalten habe und die ich alleine bewerkstelligen muss.«
Sie blickte in die Runde, die sich dazu nicht äußerte und fragte dann,
»Ich gebe euch natürlich Zeit, das alles zu überdenken, aber nun erzählt mir, was ist mit meinen Eltern geschehen und was für Gerüchte gibt es?«
Bianca lenkte ein und bat sie, sich doch zu setzen.
»Nimm bitte Platz und erkläre mir bitte zuerst, warum du aussiehst, als kämest du von den Lafaree.«
Leila setzte sich und antwortete,
»Ich komme von den Lafaree. Allerdings begegneten sie mir mit der gleichen Skepsis wie ihr, verständlich. Das ändert aber nichts an meiner Aufgabe.«
»Sei mir bitte nicht böse, aber was wollen die Lafaree von uns?«, fragte Bianca.
»Nichts, sie haben mit all dem hier nichts zu tun. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen und wenn diese erfüllt ist, werdet ihr merken, dass auch ihr eine Entscheidung treffen müsst. Gebt mir bitte die Zeit, das zu tun, was ich tun muss. Wenn es so weit ist, werdet ihr es merken und dann werdet ihr verstehen, warum ich jetzt weder Lafaree noch Galier bin. Ich möchte wissen, warum der Hof so verkommen ist und was mit meinen Eltern geschah«, entgegnete Leila.

Bianca ging in sich und begann letztlich zu erzählen.
Sie berichtete, dass die Hochzeit zwischen Leila und Jean noch riesig gefeiert wurde und dass die Herrschaften überzeugt waren, dass sie ab jetzt gut versorgt waren und sich wenig Sorgen machen mussten um ihren Alterssitz. Der Schwiegersohn bekam die Ländereien und die Senioren das lebenslange Wohnrecht im Gutshof. So war der Handel, den sie schlossen. Die ersten zwei Jahre nach der Eheschließung war es auch so. Die Eltern bewirtschafteten das Gut, wie zuvor, die Erträge wurden geteilt und den beiden Senioren ging es wirklich gut. Bis der Schwiegersohn zwei Jahre später erschien und die Familie für den ausbleibenden Nachwuchs verantwortlich machte.
Der Marquis begann, die von Waddlock wirtschaftlich zu ruinieren und daraufhin nahm sich Katharina von Waddlock, Leilas Mutter das Leben.

Die damals 17-jährige Leila wusste hiervon nichts und erfuhr nicht, dass das Geschlecht der von Waddlocks an ihrem 18. Geburtstag praktisch nicht mehr existierte. Jean hatte alles daran gesetzt, ihre Familie zu vernichten. Er hatte tatsächlich zwei weitere Jahre mit ihr ausgehalten, bevor er auf die Idee kam, sie völlig unvorbereitet an die Front zu schicken. Zu seinem großen Ärger hatte sie es geschafft, für weitere zwei Jahre nicht getötet zu werden. Aber nach der Schlacht in der Wüste galt sie als verschollen und wurde nur wenige Wochen später für tot erklärt. Niemand hätte je mit ihrer Rückkehr gerechnet.
Doch nun war sie hier aufgetaucht und sah aus, wie ein Lafaree.
Was war mit ihr geschehen? Hatte sie sich dem Feind zugewandt? Wurde sie gezwungen, das zu tun?

Leila hoffte, sie konnte die anderen beruhigen,
»Ich bin nicht der Feind, ich wurde von einem Lafaree gerettet. Er machte mir bewusst, wie wichtig es ist, zu vergeben und genau das werde ich tun. Ich werde all denen, die mich ohne Wissen in mein Schicksal zwängten, vergeben. Ich werde aber dennoch den Verantwortlichen suchen und zur Rechenschaft ziehen, so wie es meine Aufgabe verlangt«, antwortete sie und fügte an, »Wenn mein Vater noch lebt, wo ist er?«
»Im Haus, aber ich denke nicht, dass es gut ist, wenn ihr ihn so seht, Hoheit«, sagte eine Frau, die sich bisher nicht bemerkbar gemacht hatte.
»Warum nicht?«, fragte Leila.
»Weil ich denke, dass dieser Anblick für niemanden geeignet ist«, antwortete die Frau.
»Ich muss zu ihm«, behauptete sich Leila.
»Ich bringe dich zu ihm«, sagte Bianca und als Leila ihren Umhang gerichtet hatte und die Kapuze über den Kopf zog, hielt sie inne und sagte, »Wir nutzen aber den Geheimgang. Das Anwesen wird beobachtet, seit es diese Gerüchte gibt, dass ihr am Leben seid.«
»Es gibt solche Gerüchte?«, fragte Leila.
»Ja, es hat eigentlich niemand für bare Münze genommen, aber es gibt wohl einen Lafaree, der regelmäßig beim Marquis de Gaullier ein und aus geht«, sagte sie und klang besorgt. »Daher stammen auch die Gerüchte, ihr seid am Leben und nur zum Gegner übergelaufen«, fügte sie hinzu.
Leila atmete einmal tief ein und mit dem Ausatmen sagte sie, »Das ist meine Bestimmung, die Aufgabe, die das Universum mir erteilt hat. Ich muss mich dem stellen, versage ich, so versagt ein Teil der Menschheit.«
Sie verzog ihr Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Letztlich passte das exakt zu ihrem Gemütszustand. Jetzt wollte sie ihren Vater sehen. Vielleicht konnte sie etwas tun, sodass er noch auf der Liste landete.
Bianca geleitete sie durch die Gänge hinter den Kulissen, die extra für das Gesinde angelegt waren, zu den Räumlichkeiten ihres Vaters.
Als Leila die Räumlichkeiten ihrer Eltern betrat, erschrak sie vor dem desolaten Zustand.
Sie erkannte ihren Vater in dem gemütlichen Ohrensessel ihrer Mutter und erschrak ein weiteres Mal, als sie feststellen musste, dass er kaum Ähnlichkeit mit dem Mann aus ihrer Jugend hatte. Ein Häufchen Elend saß dort in dem Stuhl und klammerte sich an die Armlehnen.
Sie streifte ihren Umhang ab, eilte zu ihm und kniete sich vor ihm auf den Boden. Sie griff seine Hand und hauchte,
»Vater!«
Erschrocken zog er die Hand weg und stammelte,
»Was wollt ihr von mir, es gibt hier nichts mehr zu holen!«
Er blickte dabei förmlich durch sie hindurch.
»Vater, ich bin es, Leila«, sagte sie und griff erneut nach seiner Hand.
»Ihr lügt, Leila ist tot!«, schrie er und entzog ihr erneut die Hand.
»Vater, bitte, sieh mich an!«, sagte sie laut.
Der alte Mann wandte ihr den Blick zu und erstarrte.
Minutenlang blickte er ihr in die Augen und beide waren so sehr auf sich selbst konzentriert, dass niemandem auffiel, dass der Raum sich füllte.
Leila spürte den festen Griff, der ihren Zopf packte und ihren Kopf nach hinten riss.
Augenblicklich blickte sie in das Gesicht von Jean de Gaullier. Seine stechenden Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen, als er seine Klinge unter ihr Kinn hielt und sagte, »Ich wagte es nicht zu glauben, aber du bist tatsächlich am Leben. Was für ein hartnäckiges Geschöpf du doch bist und wenn ich dich so ansehe, kollaborierst du mit dem Feind, du Hure!«
Er ließ die Klinge ihren Hals nach unten gleiten und die Spitze hinterließ einen schmalen Schnitt, aus dem sofort das Blut quoll.
Im ersten Moment gefror Leila das Blut in den Adern, dann ergab sie sich in die Situation, genau wie die Vorsehung das mitgeteilt hatte. Sie musste ihm ganz nahe sein, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Das letzte Opfer, das sie erbringen musste, um ihr Volk und sich zu befreien. Danach würden sie ihr folgen und sie wäre endlich frei für Markus.

Er riss sie auf die Füße und stach ihr gleichzeitig ein tiefes Loch neben das Schlüsselbein.
Einer seiner Bediensteten eilte herbei und entledigte sie ihrer Waffen.
Als ihre Hände gefesselt waren, ließ er ihren Zopf los und befahl, sie in sein Haus zu bringen, er würde sich später mit ihr befassen.
Leila bekam gerade noch mit, dass er den Kopf ihres Vaters anhob, ihm das blutverschmierte Messer zeigte, etwas flüsterte und dem alten Mann das Messer in die Brust rammte.
Leila erstarrte einen Moment und ließ sich dann ohne Gegenwehr abführen.
Die nächsten Stunden verstrichen in einer qualvollen Langsamkeit.
Sie wurde betatscht, geschlagen und erniedrigt. Jean erlaubte seinen Männern fast alles, nur ihren Schoß durften sie nicht berühren. Immerhin war sie noch die Frau des Marquis. Sie taten vieles, demütigten sie, packten sie überall fest an und schlugen mehrfach zu. Auch wenn sie ihr den Wams vom Leib rissen, den Zopf öffneten und die Schließen und Perlen herausrissen, das breite lederne Armband entfernten sie nicht.
Letztlich sperrten sie Leila in eines der vielen Zimmer auf Jeans Anwesen. Sie wartete auf das, was kommen würde und sie hoffte, er würde sich so weit herablassen, dass er ihr wieder ganz nahe kommen würde.
Auf diesen einen Moment galt es zu warten.

***

Ich war so sehr außer mir, dass ich nur unverständliches Zeug brüllte.
Christian konnte mir in keiner Weise folgen, nur Daria ahnte, worum es ging.
Sie versuchte mich zu beschwichtigen und erklärte, dass Leila dabei war, ihre Aufgabe zu erfüllen. Meine Wut saß tief. Ich war wütend auf meine Leute, dass sie es zulassen konnten, dass Leila sich so verstoßen fühlte. Sie war blindlings drauflosgerannt, so dachte ich, weg von uns, um den Blicken hier zu entgehen und ich hatte nichts Besseres zu tun, als mich mit meiner gekränkten Eitelkeit zu beschäftigen.
Daria versuchte, mich zu beschwichtigen und Christian bot an, mich bei der Suche zu begleiten.
Ich eilte nach Hause und klaubte dort meine Sachen zusammen.
Als ich nicht ganz fertig damit war, stand Christian bereits vor der Tür. Ich beeilte mich, obwohl ich nicht wusste, wohin wir gehen mussten.
Nachdem ich endlich meine Ausrüstung zusammengesucht hatte und fertig zum Abmarsch war, stand plötzlich mein Vater vor mir.
Ich wollte mich jetzt nicht damit auseinandersetzen, gab ich ihm doch die Schuld an der aktuellen Situation.
»Ich habe keine Zeit!«, sagte ich harsch und beeilte mich, die Tür meines Hauses ordentlich zu verriegeln.
»Lass mich mit dir gehen«, entgegnete er kühl.
»Warum auf einmal?«, fragte ich.
»Weil es meine Schuld ist«, antwortete er.
Ich wandte mich ihm zu, blickte ihm tief in die Augen, wollte prüfen, ob er mich anlog, oder ob er mir diesmal die Wahrheit über seine Gefühle mitteilte. Ich konnte es nicht sehen.
Claudia brachte mich dann komplett aus dem Konzept, als sie auf einmal dastand und sagte,
»Nein, Theo, das ist nicht alleine deine Schuld, es ist ihre Aufgabe und wir haben sie dazu gebracht, diese früher als nötig anzutreten. Wir alle tragen die Verantwortung für das, was jetzt passiert und wir alle sollten Leila unterstützen und sie gesund zurückbringen. Sie bringt sich in große Gefahr. Für uns alle und das solltet ihr Männer endlich akzeptieren. Geht und helft ihr, zusammen!«
Ich blickte sie erstaunt an und sah, mit welch festem Blick sie meinen Vater ansah.
»Dann los«, sagte ich.
»Wo planst du mit der Suche zu beginnen?«, fragte Christian.
»Beim Anwesen ihrer Eltern. Ich vermute, sie wird sich als Erstes versichern, dass sie noch leben«, sagte ich und schulterte meinen Rucksack.
»Der Weg führt uns mitten durch die Ländereien des Marquis. Das sollten wir beachten«, brachte sich mein Vater ein.
»Was schlägst du vor?«, fragte ich und bevor einer von den anderen antworten konnte, stand da Daria, komplett ausgerüstet und überreichte mir und den anderen einen schlichten Umhang aus Sackleinen. Ich blickte sie erstaunt an und sie sagte,
»Ihr könnt vergessen, dass ihr das ohne mich tut. Sie ist ein Freund und wenn ein Freund Hilfe braucht, bin ich bereit.«
Wir blickten uns kurz an, nickten uns zu und warfen uns die Umhänge über die Schultern.

Wir wanderten über einen Tag, völlig unbehelligt durch die Ländereien des Marquis. Natürlich machte es uns misstrauisch, dass wir hier einfach herumlaufen konnten, ohne dass uns Truppen oder dergleichen begegneten. War es beabsichtigt, dass wir uns einem der größten Gegner in diesem Krieg näherten?
Ich persönlich wollte nur Leila da lebend herausholen und ihr endlich den Antrag machen, den sie verdient hatte. Sie fehlte mir und ich machte mir Vorwürfe, dass ich nicht aufmerksamer war.
Das Einzige, was mich beruhigte, zum allerersten Mal hatte ich meinen Vater an meiner Seite und seine Beweggründe, mir zu helfen, waren ehrlich und kamen von Herzen.

Als wir das Anwesen der von Waddlocks erreichten, rückten wir ganz nah zusammen.
Rücken an Rücken wagten wir uns vorsichtig voran. Jeder von uns beobachtete eine Himmelsrichtung, während die anderen den Rücken deckten.
Der Anblick des einst so stolzen Anwesens erschütterte mich und so wie es aussah, die anderen auch. Mit dem Verfall der Gebäude konnte man praktisch spüren, was hier geschehen war. Die Vorahnung wog schwer und wir zögerten einen Moment, bevor wir weiter vordrangen.
Das, was ich hier zu sehen bekam, wich völlig von dem ab, was ich erwartet hätte.
Ich schluckte und entdeckte ein paar Krähen auf dem Giebel des Gutshauses. Die Boten des Todes, so hatte man mir in der Jugend gesagt und ihr plötzliches schreiendes Auffliegen erschreckte mich. Gleichzeitig war ich gewarnt, hier war jemand und ich suchte meine Seite nach einer Bewegung oder einem Menschen ab. Daria stieß mir in die Rippen, als sie den Mensch entdeckte. Die beiden anderen deckten uns den Rücken, als Daria laut rief,
»Wir kommen in Frieden!«
»Das hat ihr nicht geholfen!«, erhielten wir zur Antwort.
»Wem hat das nicht geholfen?«, fragte ich.
»Der Frau, die vor euch kam! Geht, bevor er euch erwischt!«, antwortete eine weitere Stimme hinter der Person.
Jetzt sahen wir sie. Fünf Menschen, vermummt, fast mit ihrem Hintergrund verschmolzen.
»Wir suchen sie, wo ist sie?«, fragte ich und hoffte, sie könnten mir das sagen.
Wir erhielten keine Antwort, nur die Aufforderung,
»Wenn euch euer Leben lieb ist, dann geht!«
Und dann waren sie weg, wie vom Erdboden verschluckt.

Wir hatten keineswegs vor zu gehen, also tasteten wir uns vorsichtig im Gelände voran.
Die Stallungen waren wie leer gefegt und dort waren wohl kaum Menschen anzutreffen. Es war niemand da, als wir das Haus betraten und uns umsahen. Unten in der Halle teilten wir uns auf. Christian und ich gingen die Treppe hinauf, während mein Vater und Daria das untere Stockwerk durchsuchten.
Irgendwo mussten diese Menschen doch abgeblieben sein.
Schon im zweiten Zimmer im Obergeschoss fanden wir ihn dann. Den alten Mann in seinem Ohrensessel, die Hände krallten sich noch an die Lehnen, der Kopf war ihm auf die blutige Brust gesackt. Die Blutlache unter dem Stuhl war schon fast schwarz, glänzte aber immer noch etwas im Tageslicht. Einen Tag! Länger war er nicht tot. Wer war das? Leilas Vater etwa?
Christian rief die beiden anderen, die sofort heraufeilten.
Mein Vater blickte auf den Toten, seufzte schwer und wandte den Blick ab.
»Wer ist das?«, fragte ich.
»Das ist Klaus von Waddlock«, sagte eine Stimme hinter uns.
Erschrocken fuhren wir vier gleichzeitig herum, die Messer in der Hand.
Die Person hob beschwichtigend die Hände.
»Ich bin Bianca, die Zofe der Waddlocks. Ich habe sie gewarnt vor den Spionen auf eurer Seite. Sie wollte nicht hören«, sagte sie und ging einen Schritt zurück.
Ich zog die Augenbrauen zusammen und fragte,
»Spione auf unserer Seite?«
Mein Vater blickte sie ebenfalls erstaunt an und sagte ganz ruhig,
»Geht nicht weg, habt keine Angst, erzählt uns bitte mehr.«
Die Frau, die sich selbst Bianca nannte, straffte sich und sagte,
»Ich habe Leila von Waddlock vor dem Marquis gewarnt und ihr erzählt, dass er weiß, dass sie lebt und wieder im Land ist. Er hat Spione in euren Reihen, die er gut bezahlt, um immer genau zu wissen, was ihr plant und er weiß bestimmt, dass ihr hier seid.«
»Eigentlich kann das keiner wissen, denn wir haben niemanden darüber informiert. Unser Aufbruch war sehr spontan und überhaupt nicht geplant«, entgegnete ich.
Sie seufzte,
»Sie rechnen damit, dass ihr der Prinzessin folgt. Der Marquis hat sie mitgenommen und ihren Vater getötet. Er wird sie töten, denn niemand darf offiziell wissen, dass sie lebt. Er hat schon lange eine neue Frau, ein zartes, süßes Mädchen.«
»Maria«, sagte ich und knirschte mit den Zähnen.
»Woher wisst ihr das?«, fragte sie.
»Das ist eine lange Geschichte und dafür ist jetzt keine Zeit. Wie kommen wir in das Anwesen des Marquis?« fragte ich.
»Das ist zu gefährlich, ihr seid nur zu viert, er hat sein gesamtes Gesinde bei sich«, antwortete sie schnell.
»Ich muss dorthin und Leila herausholen. Daran führt kein Weg vorbei!«, entgegnete ich hart.
»Maria ebenfalls, sie steht auf der Liste«, warf mein Vater ein.
Ja, er hatte recht, Maria de Gaullier stand auf der Liste derer, die auf die Reise gehen sollten und unsere Aufgabe bestand darin, möglichst viele Menschen der Liste zu überzeugen und mitzunehmen.
»Das ist unmöglich«, beharrte Bianca auf ihrer Meinung.
»Es ist nicht unmöglich«, sagte plötzlich ein fremder Mann aus dem Hintergrund.
Genau wie Bianca war er plötzlich, wie aus dem Nichts erschienen. Er hatte uns wohl schon länger zugehört, denn er sagte,
»Das Anwesen des Marquis verfügt, genau wie dieses Haus hier, über Zugänge für das Gesinde. Niemand darf die Bediensteten zu Gesicht bekommen, aber dennoch müssen wir die Räume erreichen können. Es gibt geheime Treppen, Gänge und Türen, in denen wir uns bewegen. Ich kenne das Haus, ich kann euch den Weg weisen, mehr aber nicht.«
»Wie ist euer Name?«, fragte mein Vater.
»Johann, Herr«, antwortete er und verneigte sich.
»Herr ist nicht notwendig, Johann«, sagte mein Vater und zu mir gewandt, fragte er, »Steht er auf der Liste?«
»Das weiß ich nicht, ich habe das Buch bei Claudia gelassen. Was ist, wollen wir aufbrechen? Ich muss meine Frau da herausholen, komme, was wolle!«
Johann und Bianca blickten uns verwundert an.
»Was für eine Liste?«, fragte sie.
»Das ist eine lange Geschichte«, erklärte Daria und fügte an, »Wir werden sie euch erzählen, wenn wir das hinter uns gebracht haben.«
»Dann lasst uns aufbrechen«, sagte Johann, machte eine Kopfbewegung und fügte an, »Ihm können wir nicht mehr helfen, aber vielleicht der Prinzessin.«

Eine gute Stunde waren wir über Umwege unterwegs, als endlich das Anwesen des Marquis in Sichtweite kam. Von der Ferne konnte man schon erkennen, dass es diesmal nicht so einfach war, in das Haus zu gelangen. Es waren viele Menschen geschäftig auf dem Gelände unterwegs.
Wir beschlossen zu rasten und die Nacht im Wald zu verbringen. Im Morgengrauen, wenn alles noch schlief, wollte Johann uns zum Eingang der Gesindegänge bringen.
Er würde sich am Abend unter die Bediensteten mischen und wenn alles gut ging, würde er herausfinden, wo sich die Prinzessin befand.

Wir hatten uns im Wald versteckt und Johann begab sich zu den Bediensteten, um etwas in Erfahrung zu bringen.
Zwei Stunden später kam er zurück und berichtete von seinen Erkenntnissen.
Er hatte in der Küche ein Dienstmädchen ausgefragt und sie plauderte vertrauensvoll einiges aus.
So wusste Johann nicht nur, dass Leila im ersten Stock direkt an der westlichen Ecke des Hauses untergebracht war, sondern ebenso, dass man ihre Wunden bereits versorgt hatte, weil der Marquis wollte, dass sie wieder gut aussah. Seine Frau sei zurzeit nicht so belastbar, da sie hochschwanger sei und das Geheule ginge ihm mächtig auf die Nerven. Bis der Balg endlich aus ihr draußen war, würde er sich dieser Fremden ausgiebig widmen. Sie sei eine schöne, wehrhafte Frau, die seine ganz besondere Aufmerksamkeit brauche, auch wenn sie eine dreckige Lafaree war.
Dieses Dienstmädchen wusste nicht, dass es sich um die eigentliche Marquise de Gaullier handelte. Sie war überzeugt davon, dass die schon lange tot war.

Mir drehte sich der Magen um, bei dem Gedanken daran, dass sich dieser Mistkerl Leila ‘ausgiebig widmen’ wollte.
Ich wäre am liebsten losgerannt und hätte sie herausgeholt.
Zum ersten Mal war es mein Vater, der beruhigend auf mich einwirkte.
Wir mussten uns zusammenreißen, das würde keine einfache Aktion. Allein Leila da herauszubekommen, war gefährlich, aber beide Frauen aus dem Einfluss dieses Tyrannen zu retten, stellte uns vor ein schier unlösbares Unterfangen

Ich konnte kaum Ruhe finden, schlief aber dennoch ein paar Stunden.
Im Morgengrauen machten wir uns auf, den Nebeneingang des Hauses zu betreten. In den engen, düsteren Gängen schlichen wir voran, auf der Suche nach dem richtigen Zimmer. Als wir das besagte Zimmer gefunden hatten, war es leer. Leila war nicht mehr da und wir waren ratlos.
Johann stieß zu uns und wir teilten uns hinter den Kulissen auf. Während mein Vater und Daria zusammen nach dem Schlafzimmer von Maria de Gaullier suchten, suchte ich mit Christian und Johann den Aufenthaltsort des Marquis. Ich vermutete, dass Leila in seiner Gesellschaft zu finden sei.
Nach einer endlos scheinenden Suche fanden wir die beiden.
Der Marquis hockte in seinem großen Sessel und Leila stand leicht bekleidet vor ihm. Er hatte ihr eine Kette um den Hals gelegt, damit sie die Hände freihatte, ihm aber dennoch gehorchen musste. Jedes Mal, wenn er an der Kette zog, schnürte es ihr die Luft ab. Er selbst war ebenfalls leicht bekleidet, was darauf hindeutete, dass Leila ihm gefügig sein musste.
Die Tür zum anschließenden Raum stand offen und man konnte ein ausladendes Bett sehen. Das war wohl sein Schlafzimmer. Ob seine Frau dort schlief? Ich wusste es nicht, man konnte es nicht erkennen und ich wusste auch nicht, dass dort hinten Daria und mein Vater bereits den Raum betreten hatten.
Ich wollte jetzt Nägel mit Köpfen machen und stürzte aus meinem Versteck. Mit vielem hatte ich gerechnet, nur nicht mit einem Hinterhalt.
Dieser Kerl hatte wirklich damit gerechnet, dass ich kommen würde, um Leila zu holen. Das Messer des Soldaten saß präzise unter meinem Kinn und sowohl Christian als auch ich waren schnell entwaffnet.
Der Marquis lachte und sagte,
»Na, da sind sie ja endlich unsere Zuschauer! Es ist mir eine Ehre, den berüchtigten Markus von Lork mit eigenen Augen sterben zu sehen.« Er stand auf und strangulierte dabei Leila. »Ja, ich sollte dankbar sein, dass du mir dieses abtrünnige Weibsbild zurückgebracht hast, aber du hast sie versaut und genau deswegen werde ich mich noch mal ausgiebig mit ihr vergnügen. Solange bis mein Kind geboren ist und ich wieder zu meiner Frau ins Bett kann.«
Er stolzierte wie ein aufgeblasener Gockel durch den Raum und zerrte Leila hinter sich her.
»Dafür wirst du büßen«, brachte ich ihm entgegen, was zur Folge hatte, dass der Soldat das Messer fester gegen meinen Hals drückte.
»Ich werde gar nichts, du wirst jetzt zusehen, wie ich mir diese Frau nehme, dann siehst du zu, wie dein Freund stirbt und vielleicht lasse ich dich so lange am Leben, bis dieses Weib so zerrissen ist, dass sie nicht mehr laufen kann. Ich bin grad so richtig gut in Fahrt, das könnte mir tatsächlich sehr gefallen!« Er schloss mit einem hysterischen Lachen und griff Leila fest zwischen die Beine. Ich wusste nicht, was ich tun könnte, um diese Situation zu beenden. Ich hoffte so sehr, dass mein Vater eingreifen würde, aber da ich nichts von ihm sah oder hörte, fürchtete ich, dass er und Daria ebenfalls entdeckt worden waren.
War Johann etwa der Verräter gewesen? War es zu leichtsinnig von uns, einem Fremden so viel Vertrauen entgegenzubringen?
Jean ließ sich in den Sessel fallen und öffnete seine Hose. Angewidert dachte ich an das, was jetzt wohl kommen würde.
Er strangulierte Leila so, dass sie sich zu ihm begab und er ordnete an, dass sie sich auf seinen Schoß setzen sollte.
Sie fügte sich und mir entwich ein gequältes »Nein!«

Und dann passierte etwas, das hässliche Lachen des Marquis blieb ihm auf einmal im Halse stecken. Ich sah, wie er entsetzt seine Augen aufriss und sich in den Nacken fasste.
Leila erhob sich, drehte sich zu mir um und schleuderte etwas in Richtung des Soldaten, der das Messer an meinen Hals hielt. Augenblicklich hielt dieser sich den Kopf und bevor er kerzengerade nach hinten kippte, konnte ich den Stachel eines Flussmonsters erkennen, der da im Auge steckte.
Der andere Soldat war davon so geschockt, dass es für Christian ein Leichtes war, ihn zu überwältigen.
Erst jetzt wurde mir klar, dass Leila etwas getan hatte, womit ich niemals gerechnet hatte. In dem Lederband, das sie seit unserer Abreise von Katalis um das linke Handgelenk trug, hatte sie die Stacheln des Flussmonsters aufbewahrt, gefüllt mit dem schwarzen Gift des Egels. Solange hatte sie diese mit sich herumgetragen, bis sie die Gelegenheit bekam, ihrem Peiniger so nahezukommen, wie in diesem Moment. Sie hatte ihm den Stachel zwischen die Halswirbel gerammt und egal, was er jetzt noch tun würde, er würde nie wieder irgendeiner Frau etwas antun können.
Ich ging zu ihr, löste die Kette von ihrem Hals und küsste sie.
»Was hast du getan!«, lallte der Marquis und versuchte den Stachel aus dem Nacken zu ziehen. Die Lähmung setzte aber schon ein und er konnte nicht mehr richtig greifen.
»Ich habe dir nur gegeben, was du verdient hast, nicht mehr und nicht weniger. Das Gift wird dir nach und nach die Bewegungsfreiheit nehmen und du wirst ganz langsam sterben. Zuerst fühlst du deine Finger und Zehen nicht mehr, dann die Hände und Füße und irgendwann wirst du deinen Körper nicht mehr spüren. Bei allem bleibst du aber bei vollem Bewusstsein und wirst erleben, wie ich dein Königreich übernehme. Ich werde dir alles nehmen, was dir jemals gehört hat. Dein Volk wird mir gehorchen, denn du hast die Regeln gebrochen, indem du dir eine neue Frau genommen hast, ohne zu kontrollieren, ob ich wirklich tot bin.«
Ich hielt sie im Arm und fragte im Wissen, dass er mich gut verstehen konnte,
»So hart? War das notwendig?«
Leila lächelte mich an und sagte, »Lass ihn uns auf den Balkon schieben, sein Gefolge soll ihn so sehen, dann werden sie aufmerksamer zuhören!«
In dem Moment, als ich hinter den Sessel trat, um ihn zu schieben, stand mein Vater in der Tür zum Nebenraum. Seine Hände waren Blutverschmiert und er hielt ein kleines Bündel im Arm.
Mit einem unbeschreiblich glücklichen Gesichtsausdruck sagte er,
»Es ist ein Mädchen, ein gesundes, kleines Mädchen! Und ich konnte helfen, es auf die Welt zu holen!«
Diese überschwängliche Freude hatte ich noch nie bei ihm gesehen.
»Wie geht es Maria?«, fragte Leila laut.

Darias Stimme schallte aus dem Nebenraum,
»Es geht ihr gut, so ein tapferes junges Mädchen. Sie hat nicht mal gewagt zu schreien, sonst hätte er sie noch gehört!«
Der Mann dort auf dem Stuhl versuchte zu schreien, es entwich ihm aber nur ein gequältes Stöhnen.
Was für eine triumphale Situation, statt des erhofften Thronfolgers hatte er ein Mädchen bekommen. Ein, in seinen Augen, niederes Wesen. Maria und das Kind würden mitgehen, nach Katalis in ein neues Leben, ohne ihn.

Wir öffneten die großen Flügeltüren zum Balkon und schoben den sterbenden Marquis hinaus, damit alle seine Bediensteten und Soldaten sehen konnten, dass er erledigt war. Mittlerweile hatte er sich schon eingenässt, sodass es nicht mehr lange dauern würde, bis das Gift die Nerven des Herzens und der Lunge erreichen würde. Es war also ein wenig Eile geboten, seinen Anhängern nachdrücklich klarzumachen, wer ab jetzt das Sagen über die Ländereien haben wird.

Nachdem die ersten den Marquis durch das Balkongitter erkannt hatten, sammelten sich immer mehr von ihnen.
Leila erklärte ihnen, dass sie vorerst die Herrin über dieses Anwesen war. Aber nur so lange, bis die Vorbereitungen für eine große Reise abgeschlossen waren.
Es läge an ihnen, ob sie bei den Vorbereitungen helfen oder gar mitgehen würden.
Sie schloss mit den Worten,
»Ich bin die Marquise Leila de Gaullier, Herrin über das Erbe des Marquis. Ihr folgt mir, oder ihr geht.«
Ein Raunen ging durch die Menge vor dem Balkon. Einige wollten sich nichts von einer Frau sagen lassen und ich hatte das Bedürfnis, mich dazu zu äußern.
»Ich bin Markus von Lork und der Mann an der Seite dieser wundervollen Frau. Sie hat die Aufgabe bestanden, die ihr das Universum auferlegte und euch alle von dem Tyrannen befreit. Löst euch von den alten Regeln und wagt den Schritt in ein freies Leben.«
»Wir sollen auf die Weiber hören?«, rief einer nach oben.
»Ja, und das beginnt schon mit der Anrede. Eine Frau ist genauso wertvoll wie ein Mann, wenn nicht wertvoller, denn sie ist diejenige, die Leben erschaffen kann!«, rief mein Vater hinter mir.
Er hob das kleine Bündel in die Höhe und sagte,
»Der König ist tot, es lebe die Königin!«
Sie würden sicherlich noch eine Weile diskutieren, es würden wohl einige gehen, aber wir würden an dem Plan festhalten, alle Menschen zu überzeugen, die auf dieser Liste standen.

In dem Moment, als ich mich schon abwenden wollte, um wieder ins Innere des Hauses zu gehen, sah ich den alten Mann in der Menge. Onais-Tjelfort, der sich seit Tagen nicht hatte blicken lassen, stand da in der Menge und es schien, als sei nichts gewesen.
Er lächelte mir zu, hob seinen Stock und nickte. Wir hatten so einiges zu besprechen und viel zu tun.

Eine ganze Woche hielten wir uns in diesem Anwesen auf. Über die Hälfte des Gesindes und ebenso viele Soldaten stellten sich auf unsere Seite.
Leila brauchte eine Weile, um sich bei den Männern durchzusetzen, als sie einen der Generäle herausforderte und genau wie mich im Schwertkampf besiegte, war das ein Schlüsselmoment für die Männer und Frauen ihres Volkes.
Natürlich war es absurd zu denken, dass wir in einer Woche die komplette Denkweise verändern konnten, aber immerhin hatten wir einen Prozess in Gang gesetzt, der sich nicht mehr so leicht aufhalten ließ. Wir brauchten lediglich die Menschen, die auf der Liste standen.

Wir kehrten zurück in mein Dorf.
Daria und Christian blieben im Anwesen des Marquis, um weitere Einzelheiten mit den Reisewilligen zu klären.
Eine Handvoll Menschen folgte uns, unter ihnen Maria und ihre neugeborene Tochter.
Leila hatte versucht, die Menschen so gut wie möglich vorzubereiten. Ich versuchte im Gegenzug meine Leute auf den Wandel einzustimmen.
Wie sollte man den Menschen begreiflich machen, dass es keine Rettung für ihren Planeten geben würde?
Mein Vater war jetzt auf unserer Seite und wir konnten ein wenig aufatmen.
Er fungierte als Sprachrohr für die Lafaree, während der Tod des Marquis unserem Vorhaben einen deutlichen Vorteil verschaffte. Problematisch war hierbei nur, dass vorwiegend Frauen auf den Aufruf reagierten. Die Männer der Galier waren weiterhin nur schwer davon zu überzeugen, dass Frauen ihnen ebenbürtig waren.

Vorbereitungen

Onais-Tjelfort war zurück.
Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, wobei ich mit all den Ereignissen zugeben musste, dass ich gar keine Zeit hatte, mir über ihn Gedanken zu machen.
Er war jedenfalls wieder da, lobte Leila in höchsten Tönen und begann mich herumzukommandieren.
»Wo warst du?«, fuhr ich ihn an und er lächelte nur.
Das machte mich wütend und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.
»Er hat sich umgesehen«, antwortete Leila für ihn.
»Ich will nicht meckern, aber warum weißt du immer alles und mir erzählt er gar nichts?«, entgegnete ich ihr.
Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder ab.
»Onais!«, rief ich laut und begab mich in seine Richtung.
Wir hatten, seitdem er wieder hier war, ausschließlich mit Onais gesprochen, was ja immer ein schwieriges Unterfangen darstellte.
Ich hatte nicht einmal die Chance, mit Tjelfort zu reden und hätte doch so sehr seinen Rat gebraucht. Wie sollten wir das jetzt alles organisieren?
Und dann verselbständigte sich das gesamte Projekt.

Wir kehrten zusammen mit den ersten reisewilligen Galiern zurück in unser Dorf und wurden überraschenderweise herzlich begrüßt. Claudia hatte ganze Arbeit geleistet. Sie hatte das Buch genutzt, um ein paar Menschen zu überzeugen, die auf dieser Liste standen.
Sie hatten sogar noch mehr vorbereitet.
Einfache, einachsige Karren waren gebaut worden. Die Achsen und Räder komplett ohne Metall. Esel und Pferde waren dafür vorgesehen.
Man hatte Ziegen und Schafe bereits ausgesucht und wollte sie mitnehmen.
Leder, Stoffe, Keramik und viele nützliche Dinge aus Holz. Es war an Papier und Pinsel, genau wie an Tinte gedacht worden. Es gab jemanden, der an einer Alternative zu unserem Besteck zum Tätowieren arbeitete, eine andere Frau arbeitete an Glasperlen als Ersatz für unseren Schmuck.

Wir würden nicht lange bleiben können, Ugwadule war auf jeden Fall das letzte Ziel, da von dort der Weg zu den Stelen nicht mehr weit war. So besprachen wir, dass mein Vater mit Christian und mir in die Berge zu den Harmaapatra gehen würde, um die Menschen auf der Liste zu finden und zu überzeugen.
Wir standen jetzt vor der Schwierigkeit, dass wir das Buch mitnehmen mussten, um unsere Geschichte zumindest etwas untermauern zu können.
Das wiederum verhinderte, dass Claudia nach Vildskov gehen konnte, um dort ihr Volk zu überzeugen.
Wir suchten nach einem Kompromiss und einigten uns darauf, dass die Frauen ohne Buch versuchen sollten, die Menschen aus ihrem Volk zu überzeugen.
Claudia hatte schon die Liste mit den Namen abgeschrieben und die drei Frauen, in Begleitung von Onais-Tjelfort machten sich auf den Weg zu Claudias Heimatdorf.
Ich hoffte, sie würden das ohne männliche Unterstützung schaffen. Die Trennung von Leila beschäftigte mich mehr, als ich mir eingestehen wollte.
Onais-Tjelforts Erzählungen nach, sollten wir gemeinsam auftreten. Die Zeitnot machte das unmöglich. Wir hatten zu viel Zeit hier verbracht und mussten neben den Ugwadule noch einen kleinen Teil der Galesen zusammensammeln. Alina, die Zofe, die Leila damals das Leben rettete, war in den Ländereien des Marquis nicht anzufinden. Man hatte Leila erzählt, sie wäre in die Grafschaft der von Aldenhoven verkauft worden.
Mir ging das an die Nieren, diese Gräfin von Aldenhoven war die Frau, die Onais für mich auserkoren hatte und die letztlich seinen Bruder Tjelfort tötete. Leila erwähnte das mit keinem Wort. Wollte sie etwa dort auch ein Exempel statuieren?
Die Abmachung war, dass wir uns in den Ebenen von Lork sammeln wollten. Sollten die Frauen nicht vor uns oder gleichzeitig zurückkehren, so würden wir ihnen entgegen marschieren.
Erst wenn wir die Reisenden der anderen Völker zusammen hatten, wollten wir gemeinsam nach Ugwadule gehen. Alle zusammen.
Wir konnten dort rasten und das Wasser auffüllen, die Tiere versorgen und neben den Menschen vielleicht andere nützliche Dinge mit nach Katalis nehmen.
Gelegentlich machte ich mir Gedanken darüber, wie wir das organisieren konnten, so viele Menschen auf einmal durch das Tor zu schleusen.
In der Wüste hatten wir ausreichend Platz, aber im Wald, waren wir räumlich eingeschränkt. Es musste also in Etappen durchschritten werden und wer führte die Angekommenen dann zu den Ruinen. Die Limfie schieden aus, weil sie ohnehin niemand verstehen konnten. Ähnlich verhielt sich das mit Onais-Tjelfort. Leila und ich mussten das Portal offen halten, also konnte keiner von uns vorgehen, dann wäre das Tor wieder zu und es gäbe keine Möglichkeit, es wieder zu öffnen. Wir konnten das nur gemeinsam. Das war uns beiden bewusst.

Wir verbrachten also die letzte Nacht in meinem Haus.
Claudia und mein Vater hatten Maria und das Baby mit in den Gutshof genommen, dort war ausreichend Platz. Es war dafür gesorgt worden, dass sie gut versorgt ist, wenn wir nicht mehr hier waren.
Es waren nicht alle im Dorf begeistert von den Galesen, aber sie konnten sich zusammenreißen, vor allem im Hinblick darauf, dass dieser Zustand nicht lange andauern würde.
Die Bürger von Lork, die mit uns gehen würden, versprachen, gut auf die anderen aufzupassen.
In den frühen Morgenstunden verpackten wir unseren Proviant, füllten die Wasserflaschen und begaben uns auf den Dorfplatz.
Dort stießen Daria und Christian zu uns und gemeinsam warteten wir auf Claudia und meinen Vater.
Es fiel mir schwer, Leila schon wieder alleine gehen zu lassen. Wir hatten die vergangenen Wochen so wenig Zeit füreinander gehabt. Das war alles so aufregend gewesen, dass wir wenig Zärtlichkeiten austauschen konnten.
Als Claudia und mein Vater zu uns kamen, drückte ich sie nochmals ganz fest an mich und küsste sie.
Sie blickte mir in die Augen und sagte,
»Mach dir keine Sorgen, das schaffen wir jetzt auch noch.«
»Du wirst mir fehlen«, sagte ich und drückte ihre Hand.
Sie zwinkerte mir zu und entgegnete,
»Du mir auch.«
»Lasst uns gehen!«, drängte Claudia und schulterte ihren Rucksack.
Daria tat es ihr gleich und Leila zog ihre Hand aus meiner.
Sie marschierten los in Richtung Wald.
Die Leute in Vildskov würden ihnen bestimmt zuhören. Claudia war schließlich bei ihnen, mit den Namen derer, die sie holen sollten.
Um unsere Aufgabe machte ich mir da mehr Sorgen.
Das Bergvolk war nicht so einfach zu überzeugen. Sie waren sehr misstrauisch und mein Vater hatte damals richtig lange mit guten Argumenten reden müssen, um sie zur Zusammenarbeit zu bringen.
Ich hoffte, es würde ihm diesmal wieder gelingen. Wir brauchten nur die Menschen auf der Liste.
Und so marschierten wir in Richtung Berge, um unsere Aufgabe zu erfüllen.

Wir wanderten zu dritt fast zwei Tage, bis wir am Fuße des Gebirges standen.
Mein Vater meinte, dass der Anstieg durchaus einen halben Tag dauern würde.
Also rasteten wir kurz, aßen und tranken von unserem Proviant.
Ich blickte den Berg hinauf und verstand nicht ganz, wohin uns der Weg führen würde.
Ich war zwar schon öfter zu Siedlungen der Harmaapatra gereist, diese lagen aber immer am Rand des Gebirges und waren leicht zugänglich.
Mein Vater hatte mir erklärt, dass die Hauptstadt in einem Talkessel lag und gut bewacht wurde. Sobald wir die Hälfte der Anhöhe passierten, wüssten sie, dass wir hier waren, weil sie von oben einen guten Überblick hatten.
Als wir dann diese Höhe erreicht hatten, wies er mich auf die versteckten Posten hin, indem er sich ihnen zuwandte und winkte.
Es begann zu dämmern, als wir den Kamm überschritten und in den düsteren Kessel blickten. Die Lichter ließen erahnen, wie viele Häuser sich dort unten befanden. Wir blieben einen Moment stehen und mein Vater erklärte,
»Dort oben, entlang des Kamms, sitzen mehrere Posten. Sie beobachten die drei Pässe und passen auf, dass kein Fremder hier hereinspaziert.«
Ich suchte den Kamm ab und entdeckte tatsächlich zwei Posten, aber nur, weil diese aufgestanden waren und uns begrüßten. Ein Horn erklang anschwellend und endete in einem höheren Ton.
»Sie begrüßen uns als Freunde«, erklärte mein Vater, während Christian und ich dem Ganzen aufmerksam lauschten.
»Gibt es einen Unterschied?«, fragte ich.
»Ja, sollte es einem ungebetenen Besucher gelingen, herzukommen, so ertönt ein einziges Horn mit einem langen durchgezogenen Klang. Das gibt den Menschen dort unten die Gelegenheit, sich zu verstecken.«
»Wohin?«, fragte Christian.
»Wart ab«, antwortete mein Vater.

Wir strafften uns und bewegten uns langsam auf dem Pfad bergab in den Kessel.
Obwohl über den Bergen die Sonne noch schien, war es dort unten schon dunkel.
Weniger als zwei Stunden später erreichten wir die ersten Häuser.
Ein Mann begrüßte meinen Vater herzlich und erklärte ihm, dass Otho und Aamu bereits zum großen Palaver gerufen hätten. Wenn der große Theobald von Lork höchstpersönlich hier erschien, würde es wohl etwas zu besprechen geben.
Mein Vater lächelte und nachdem Christian und ich ihn fragend angeblickt hatten, erklärte er,
»Otho von Harmaapatra, der Anführer dieses Volkes. Er veranstaltet immer ein großes Palaver, wenn andere Führer ihn besuchen. Das ist aber noch kein Grund zu feiern, ihn zu überzeugen ist wohl die härteste Aufgabe, die uns bevorsteht, denn er ist sehr misstrauisch.«
»Er und seine Frau stehen auf der Liste«, sagte ich leise.
»Ja, ich weiß und er ist zwar misstrauisch, aber ebenso wertvoll. Wenn sich das alles bewahrheitet, was in diesem Buch steht, so ist er der perfekte Anführer für alle Menschen, die in die Berge von Katalis gehen werden«, sagte er ruhig.
»Du bist nicht ganz überzeugt?«, hakte ich nach.
»Wie soll ich sagen, ich glaube dir schon und ich glaube Leila, weil sie sich so verändert hat, in der Zeit, in der ihr alleine wart. Aber du kennst das doch sicher. Es bleibt ein Funken Skepsis, bis man es mit eigenen Augen gesehen hat«, antwortete er.
»Wenn du selbst Zweifel hast, wie willst du Otho dann überzeugen?«, fragte ich.
Christian wechselte seinen Blick von einem zum anderen und ich konnte sein Erstaunen sehen. Er hatte wohl geglaubt, dass mein Vater völlig überzeugt war.
»Das wirst du tun«, antwortete er und mir entglitt mein Gesichtsausdruck.
»Sieh mich nicht so an, du bist mein Nachfolger und du führst die Stämme durch das Portal, also wirst du ihn überzeugen, mit dir zu gehen. Auf jeden Fall wird es ein paar Tage dauern, denn heute wird gesoffen und geschlemmt. Ich kann den Bergziegenbraten schon bis hier riechen. Ihr etwa nicht?«
Er wandte sich ab und marschierte einfach drauflos, ohne auf eine Antwort von mir zu warten. Ich blickte Christian etwas ratlos an, der nur mit den Schultern zuckte und murmelte,
»Das wirst du schon machen.«
Ich kannte Otho nicht mal persönlich, oder doch? Jedenfalls konnte ich mich nicht an ihn erinnern. Ich erinnerte mich nur an die Geschichten über ihn. Ein Bär von Mann, großartiger Taktiker, dem es immer wieder gelang, große Teile seines Volkes vor dem Zugriff der Galier zu schützen. Wie sollte ich diesen Mann davon überzeugen, mit uns zu gehen?
Ich straffte mich und versuchte mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, als ich durch die Tür des großen Ratshauses ging.
Ich blickte mich um. Die Tische waren bereits gefüllt, es duftete nach frischem Braten und Beilagen. Der Raum wirkte vertraut, so als wäre ich schon einmal hier gewesen, konnte mich aber nicht genau daran erinnern.

Vom großen Tisch, an der Stirnseite des Raumes, stand ein Mann auf.
Tatsächlich ein Bär von einem Mann, von der Statur ähnlich wie mein Vater. Der Bart war kürzer, nicht so lang und wallend wie derer von Lork. Auffallend war, dass im Bart keinerlei Schmuck zu sehen war.
Als der Mann auf uns zukam, meinen Vater begrüßte und freundschaftlich umarmte, fiel mir auf, dass er keinen Irokesen hatte. Lediglich die linke Seite war kahl geschoren und zeigte ein Dornentribal. Die üppige Lockenpracht seines Haupthaares trug er offen und das Dunkelbraun war, sowohl mit feinen grauen Strähnen durchzogen als auch mit feinen Zöpfen, die ein paar Verzierungen trugen. Es gab also Unterschiede innerhalb der Lafaree? Das hätte ich mir denken können, denn immerhin sprachen wir selbst immer von den Stämmen oder Völkern, die mein Vater geeint hatte.
Otho von Harmaapatra stand also vor mir und betrachtete mich mit seinen eisblauen Augen. Die Farbe erinnerte mich sofort an Leila und mein Herz wurde schwer.
»Sag bloß, Theobald, das ist der kleine Markus? Der Knabe, der kaum laufen konnte, als ihr zum ersten Mal bei uns wart?«, schmetterte er in den Raum, packte mich an der Schulter, drehte mich seinen Leuten zu und schmetterte ihnen entgegen,
»Leute, seht einmal kurz her. Das ist der kleine Markus von Lork, der Junge, der sich in unzähligen Schlachten einen Namen gemacht hat. Ich kenne ihn, seit er das Laufen lernte und nun seht, was für ein stattlicher Mann er geworden ist. Ich war sehr erschüttert, als ich die Nachricht erhielt, er sei gefallen und jetzt schaut ihn an, hier steht er, leibhaftig. Lasst uns die Rückkehr des Verschollenen gebührend feiern. Danach werden wir in einem großen Palaver sein Anliegen bereden.«
Ich fühlte mich grässlich, als alle Augen auf mich gerichtet waren.
Ein Raunen ging durch die Menge und dann hob einer der Männer seinen Krug und rief,
»Kippis!«
Die Menge grölte,
»Joo!«
Die Krüge krachten fast gleichzeitig auf die Tische, das Met schwappte und die Männer und Frauen tranken einen kräftigen Schluck.
Jetzt erst fiel mir auf, dass bei den Frauen, ebenso wie bei den Männern, die linke Kopfseite kahl geschoren war, sie besaßen ein Dornentribal und hatten somit ebenfalls an der Front gekämpft.«
Das überraschte mich, aber es machte durchaus Sinn. Auch unsere Frauen standen den meisten Männern in nichts nach. Ich hätte dennoch meine Anna ungern an der Front gesehen.
Otho machte eine einladende Handbewegung und wir begaben uns an den gedeckten Tisch.
Ich war hungrig und ich begrüßte dieses opulente Mahl, auch der Met war hervorragend und floss reichlich. Das hatte natürlich zur Folge, dass wir an diesem Abend rein gar keine wichtigen Gespräche führen konnten.
Geschichten über Heldentaten und andere Gegebenheiten aus der Vergangenheit kamen aber zuhauf auf den Tisch. Nebenher erfuhr ich, wie es den Bewohnern der Stadt immer wieder gelungen war, den Galiern zu entwischen. Die Berge, die selbst wie eine Mauer um die Stadt wirkten, waren mit Tunneln durchzogen, in die sich die Bevölkerung zurückziehen konnte, sobald die Posten auf dem Bergkamm ihr Horn ertönen ließen. Seit dem Krieg gab es zusätzliche Posten auf der anderen Seite der drei Zugänge, damit sie noch früher gewarnt waren.
Es war ihnen jedes Mal gelungen, die Angreifer zu überwältigen und zu vernichten.
Ich erschauderte bei dem Gedanken, dass sich unter den Angreifern bestimmt Frauen befanden, die von ihren Männern an die Front geschickt worden waren. Völlig unvorbereitet, völlig ahnungslos und hier einfach abgeschlachtet wurden.
Ich merkte, wie sehr Leila meine Sichtweise verändert hatte und sie fehlte mir. Vielleicht trank ich genau deswegen einen Krug Met zu viel. Oder weil ich das Gefühl hatte, die Aufgabe, diesen Männern mein Anliegen zu vermitteln, würde mir über den Kopf wachsen.
Leila, sie fehlte mir so sehr und ich fürchtete mich fast vor den Reaktionen der Anderen, wenn sie erfuhren, dass die Marquise de Gaullier ihre neue Anführerin werden würde.
Aber war das wirklich so vorgesehen? Ging es nie darum, sondern nur um die Wanderung?

Christian, der als einziger nicht gar so viel getrunken hatte, brachte erst meinen Vater in unsere Unterkunft, kehrte zurück und musste mich regelrecht ins Bett zwingen.

Am nächsten Morgen hatte ich kaum die Augen geöffnet, als mein Vater mir einen Eimer mit eisigem Bergwasser ins Gesicht schüttete.
»Steh auf, du Faulpelz, die Sonne steht schon über dem Berggrat. Wir haben hier eine Aufgabe zu erledigen!«
Klatschnass schreckte ich hoch und schnappte nach Luft.
Das war mein Vater, wie er leibt und lebt. Das Bergwasser war allerdings wirklich heftig. Bestimmt nur knapp über dem Gefrierpunkt, hatte es mich voll erwischt und in Ermangelung von Wechselkleidung musste ich nun den ganzen Tag darin verbringen.
Ich begab mich vor das Haus und blinzelte kurz in die Sonne.
Christian lachte und setzte an,
»Du siehst …«
»Spar dir deine Witze«, raunte ich ihn an.
Mein Vater fuhr dazwischen und sagte,
»Sieh zu, dass du in der nächsten halben Stunde deinen Verstand beisammen hast. Wir sind zum ersten Palaver geladen. Die Obersten sind bereit, dich anzuhören. Wähle deine Argumente weise und fall nicht gleich mit den Galiern in die Tür. Das hat Zeit für das zweite, wenn nicht für das dritte Gespräch.«
Ich richtete meine Kleidung, so gut es ging, schüttete mir noch einen Schwung dieses eiskalten Wassers ins Gesicht und folgte meinem Vater zum Ratshaus.
Sie waren nicht alle vollzählig, also waren wir nicht zu spät. Das ließ mich etwas entspannen, aber letztlich fühlte ich mich so unter Spannung, dass mir keine Argumente einfallen wollten.
Otho wies uns unsere Plätze und wir setzten uns, bis alle vollzählig erschienen waren.
Es handelte sich um die zwölf Räte, die Otho hilfreich zur Seite standen und gleichberechtigt ihre Meinungen abgeben durften. Ihre Stimmen wogen ebenso schwer wie Othos Stimme. Er war ihnen somit nicht übergeordnet, dennoch galt er als ihr Anführer.
Das war ebenfalls ein wenig anders als bei uns, denn das Volk wählte den Rat, der aus dreizehn Bürgern bestand und dieser Rat wiederum kürte einen zum Anführer des gesamten Volkes. Es war jederzeit möglich, einen der Räte zu entlassen, dazu bedurfte es jedoch einer Volksabstimmung, bei der mindestens die Hälfte der Bevölkerung gegen diesen Rat stimmte. Ähnlich verhielt es sich mit dem Anführer. Auch er konnte durch eine Abstimmung abgewählt werden.
Bei uns gestaltete sich das anders. Im Grunde war mein Vater vom Volk auf Lebenszeit gewählt worden, genau wie sein Vater davor und dessen Vater. Dennoch war es möglich ihn abzuwählen, nur machte das eben keinen Sinn, weil er dem Volk viel Gutes gebracht hatte.
Der Saal hatte sich gefüllt und nachdem das große zweiflügelige Tor geschlossen war, stand Otho auf, ging vor den Tisch und begann,
»Meine Lieben, unsere Gäste sind nicht ohne Grund gekommen. Sie haben uns etwas zu berichten und ich bin gespannt, worum es geht. Tut mir bitte einen Gefallen, lasst sie aussprechen und bringt eure Argumente erst, wenn sie ihre Ausführung beendet haben. Egal, worum es sich handelt. Die Höflichkeit verlangt das.«
»Joo«, raunte es durch die Reihen.
Jeder der zwölf Räte hatte Stift und Papier vor sich liegen, um sich Notizen zu machen. Es kam mir vor, als ahnten sie vielleicht schon, worum es mir ging. Aber gut, ich konnte zuerst sprechen, erst dann würde ich die Argumente brauchen, die mein Vater erwähnte. Ich atmete erleichtert auf und hoffte, dass sie meinen Vater zuerst bitten würden zu erzählen.
Otho wandte sich mir zu und sagte,
»Ich erteile das Wort an Markus von Lork. Soll er uns sein Verschwinden erklären und was dies mit seinem Begehren zu tun hat!«
Er beugte sich zu mir hinunter und flüsterte, »Theo hat mir eine wirklich wilde Geschichte erzählt, jetzt möchte ich das aus deinem Mund erfahren. Leg los, Junge!«
Er schlug mir so fest auf die Schulter, dass ich mich verschluckte und husten musste.
Ich räusperte mich und begann zaghaft,
»Ich bin General Markus von Lork, der Mann, der in der Schlacht um Ugwadule 700 Kämpfer erfolgreich gegen die Galier führte. Wir siegten und vertrieben die Galier ein Stück weiter die Wüstenlinie entlang nach Westen. Mit einem kleinen Trupp folgte ich dem Feind und geriet in einen Hinterhalt. Sie trieben uns in die Wüste. Wir suchten Schutz in einer seltsamen Steinformation und als ich mich gegen eine große Stele lehnte, war ich unvermittelt weg. Ich erwachte in einem Wald, völlig allein und ich habe in diesem Wald die vergangenen zehn Jahre verbracht. Ich bin fast wahnsinnig geworden und dachte, ich würde euch alle nie wiedersehen, aber dann fand ich eine Frau. Sie lag an derselben Stelle, an der ich erwachte und war verletzt.«
Ich holte tief Luft und erzählte Ihnen die ganze Geschichte ausführlich, ab dem Zeitpunkt, ab dem Onais-Tjelfort zu uns stieß und uns die Geschichte über die Apokalypse erzählte. Ich erzählte ihnen, dass ich skeptisch war, aber mir dieses Versprechen, zurückkehren zu können, nicht mehr aus dem Kopf ging.
Die Geschichte, wie er uns in die Ruinen brachte und wir sie herrichteten, ließ ich natürlich nicht aus. Ganz besonders viel Wert legte ich auf die Beschreibung des Portals, durch welches wir hindurchsehen konnten, direkt in die Wüste, den Ort, an dem unsere Reise begann. Ich endete, indem ich das Buch hochhielt und sagte,
»In diesem Buch stehen die Gründe der Apokalypse und all die Namen derer, die das Universum für würdig erachtet, auf Katalis einen Neuanfang zu gestalten. Uns wurde gesagt, wir hätten einen Spielraum und könnten durchaus den einen oder anderen mehr mitnehmen, aber wir kämpfen mit der Zeit.«
Ich atmete tief durch, blickte zu meinem Vater, der mir aufmunternd zunickte und setzte mich auf meinen Stuhl.
Wenig später wurden wir mit Fragen überschüttet. Wir waren abwechselnd in der Lage, die Fragen zu beantworten. Jeder von uns, auch Christian, trug seinen Teil zur Aufklärung bei. Bis die Frage kam, die wir alle am liebsten nie gehört hätten.
»Wer ist diese Frau?«, rief jemand von der hintersten Reihe.
Ich fasste mir in die Mundwinkel und strich meinen Bart glatt. Mir fiel keine passende Antwort ein, so sagte mein Vater,
»Ihr Name ist Leila.«
»Kennen wir sie?«, kam sogleich die nächste Frage.
Mein Herz klopfte bis in meinen Hals und ich wurde mir bewusst, dass ich endlich uneingeschränkt zu ihr stehen musste.
»Ja, ihr kennt sie alle, sie ist Leila de Gaullier, die Frau des Marquis de Gaullier.«
Ich hielt die Luft an und prüfte die Gesichter.
Bei einigen konnte man sehen, dass ihnen der Schock tief in die Glieder fuhr.
Einige abfällige Gesten und Geräusche konnte man wahrnehmen.
»Was will so eine bei so diesem Unterfangen? Ich dachte, es sollen nur ausgewählte Menschen die Reise antreten. Galier sind keine Menschen, sie sind Schweine!«, brachte einer hervor.
Mein Vater blickte mich an und flüsterte,
»Ich sagte dir doch, nicht gleich!«
Ich schüttelte den Kopf.
»Jetzt ist es raus. Zeit, Farbe zu bekennen!«
Ich wandte mich wieder dem Rat zu und sagte,
»Ich habe selbst einige Zeit gebraucht, um zu akzeptieren, dass sie ein Mensch ist und ebenso ein Recht auf Leben hat wie wir. Sie ist genauso Opfer, wie wir und wenn ich in den letzten Monaten eines gelernt habe, dann ist es, zu vergeben.«
»Was sollten wir ihnen vergeben, sie töteten unsere Frauen und Kinder!«, rief ein weiterer.
»Leilas Mann schickte sie zum Sterben in den Krieg. Diese Frau wusste nicht, was auf sie zukommen würde. Sie hatte keine Ausbildung, sie hatte keinen blassen Schimmer von Taktik oder gar wie man kämpft. Sie ist nicht mal weggelaufen, nachdem ich sie in meine Höhle gebracht hatte. Galische Frauen können nicht lesen, es ist ihnen verboten. Sie haben zu dienen und zu gefallen. Das ist ihre Aufgabe!«, rief ich verärgert in die Runde.
»Sie muss ja hübsch sein, wenn du dich so sehr für sie ins Zeug legst!«, kam schnippisch von der Seite.
Ich öffnete meinen Mund, um zu antworten, als von Christian kam,
»Sie ist wunderhübsch, aber darauf kommt es nicht an. Sie hat etwas an sich, das einen beeindruckt. Sie tötete den Marquis mit einem vergifteten Dorn. Leila stach ihm diesen direkt in den Nacken und er ist wirklich elendig langsam verreckt. In ein paar Wochen hatte sie das gesamte Anwesen unter ihre Kontrolle gebracht und sich mit einem ihrer Generäle einen Zweikampf geliefert, der absolute Anerkennung verlangt. Sie ist auf unserer Seite und sie hat viele ihres Volkes überzeugt. Nun seid ihr an der Reihe!«
Bevor jemand anderer etwas dazu sagen konnte, hakte Otho nach,
»Der Marquis ist tot?«
Mein Vater nickte und ich sagte,
»Ja, es stimmt, was Christian erzählt hat.«
»Wenn der Marquis nicht mehr am Leben ist, dann ist das wohl der Grund, warum die Gefechte immer mehr zurückgehen. Wir haben die letzten Wochen viel Land gutgemacht«, er setzte kurz ab und fügte an, »das erklärt einiges!«
Otho strich sich über seinen kurzen Bart und überlegte.
»Aber sag, sollen wir wirklich zusammen mit den Galiern diese Reise antreten? Was, wenn sie uns wieder in den Rücken fallen?«, fragte einer.
»Leila selbst wird uns nicht in den Rücken fallen und ich bin sicher, dass ihre Leute das auch nicht werden. Das Universum hat nicht ohne Grund bestimmte Menschen ausgewählt«, erklärte ich und ohne eine weitere Frage zuzulassen, fuhr ich fort, »Auf Katalis haben schon einmal Menschen gelebt. Sie nannten sich Dulnae und bestanden aus fünf Völkern. Die Dulnae des Waldes, die der Ebene, die der Berge, die der Wüste und die der Meere. Nach allem, was ich in den Ruinen finden konnte, waren das recht fortschrittliche Menschen, mit Verstand und Gerechtigkeitssinn. Auf Katalis passierte allerdings vor Jahrtausenden etwas Ähnliches, was hier passieren wird. Der Planet starb. Um nicht all das Leben zu verlieren, hatte das Universum vorgesorgt und eine ausgewählte Menge an Menschen aus allen Völkern durch das Portal auf die Erde geschickt. Wir haben uns zerstritten und nichts aus unseren Fehlern gelernt und trotzdem bekommen wir eine neue Chance. Es scheint, als hätten wir etwas an uns, was das Universum bewahren will!«
Ich holte Luft und blickte in die Runde.
»Wie soll das laufen?«, kam die erste interessierte Frage.
Ich hob das Buch an und sagte,
»In diesem Buch stehen die Listen derer, die vom Universum vorgesehen sind, mit uns zu gehen. Natürlich dürfen auch andere mit uns gehen, diese Befugnis haben wir. Was wir alles mitnehmen können und sollten, steht ebenfalls in diesem Buch. In der Ebene von Lork haben die Reisewilligen bereits angefangen, die Utensilien herzurichten. Wir haben ein Problem, auf Katalis gibt es kein Metall und beim Durchschreiten des Portals verschwindet jedes noch so kleine Metallteil in der Unendlichkeit. Das heißt improvisieren.«
Mein Vater ließ sich das Buch reichen und gab es an Otho weiter, der einmal oberflächlich über die Seiten flog. Sein Name und der Name seiner Frau standen gleich zuoberst. Das ließ ihn nachdenklich werden und er reichte das Buch an den nächsten Rat weiter.
Es dauerte eine Weile, bis alle wenigstens einen Blick hineingeworfen hatten, dann schickten sie uns vor die Tür und berieten.
Nach einer halben Stunde trat Otho vor die Tür und sagte,
»Da habt ihr mir was eingebrockt. Allem Anschein nach wird es eine Weile dauern, ich würde euch bitten, solange in meinem Haus zu warten. Aamu wird euch sicherlich anständig versorgen, dessen seid gewiss.«
Mein Vater nickte, klopfte mir auf die Schulter und sagte,
»Gehen wir!«
In Othos Haus bekamen wir süßes Brot und etwas Obst. Aamu war nett zu uns allen, fragte überraschenderweise nicht nach dem Palaver. Sie wusste, sie würde es früh genug erfahren. Als die Sonne hinter dem Grat verschwand, schickte sie uns in unsere Unterkunft, ausgestattet mit Brot und etwas Fleisch zum Abendessen.
Eine Entscheidung dürfte wohl noch etwas auf sich warten lassen. Nun, mein Vater hatte gemeint, dass das Palaver alleine zwei bis drei Tage andauern würde und nun waren wir schon entlassen. Ich hoffte, sie würde sich einigen und nicht streiten. Alle hatten einen Blick in das Buch geworfen, alle konnten sich auf den alten, vergilbten und aufgequollenen Seiten darüber informieren, was zu tun sei. Sie mussten nur eine Entscheidung treffen.
Als ich auf meinem, immer noch feuchten, Schlafplatz saß, fühlte ich mich völlig verloren, ohne Leila. Wie würde es ihr bei den von Vildskov ergehen? Würde sie die gleiche Ablehnung erfahren wie hier überall? Ich wusste, wir beide mussten auf jeden Fall zurück nach Katalis. Nach dem Essen versuchten wir etwas Ruhe zu finden und ich fiel in einen unruhigen Schlaf. Ich träumte von Katalis, dem Quellteich und der Höhle und ich sah mich dort allein. Immer wieder sah ich verschiedene Orte auf Katalis und stets war ich allein. Am Fluss, in den Ruinen, an der Stele, auf dem Berg.
Schweißgebadet wachte ich auf und konnte mich nicht beruhigen. War ihr womöglich etwas passiert? Wie konnte ich sie nur alleine gehen lassen, so viel Zeit hätten wir uns nehmen müssen! Und dann fiel mir ein, dass ich sie bis jetzt nicht gefragt hatte, ob sie bei mir bleiben wollte. Wo hatte ich nur dauernd meinen Kopf?
Ich seufzte, strich mir durchs Gesicht und legte mich wieder ins Bett. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich an die Decke gestarrt hatte und ständig dieses wunderschöne Gesicht mit den zwei verschiedenen Augenfarben vor mir hatte. Letztlich musste ich wohl doch eingeschlafen sein. Als mein Vater mich abermals mit einem Eimer voller Eiswasser wecken wollte, war ich schon auf. Ich war unruhig und wollte das Thema endlich erledigt wissen. Die Reisenden vorbereiten und zurück in die Ebenen. Wir wollten uns dort treffen und wenn nicht, würde ich nach Vildskov gehen, um Leila beizustehen.
Nachdem mich mein Vater auf meine Unruhe angesprochen hatte, teilte ich ihm meine Sorge mit.
»Wir müssen warten, bis sie so weit sind. Da bleibt uns nichts anderes übrig. Hab Geduld, sie ist ein großes Mädchen und sie hat dir doch bewiesen, dass sie gut auf sich aufpassen kann. Du hast ihr viel beigebracht, jetzt lass sie machen und du machst das hier. Wir stehen euch bei.«
Er hatte recht und so kam es, dass wir wenige Stunden später zum Ratshaus gerufen wurden.
Die Gespräche waren für uns erfolgreich verlaufen, wir würden die nächsten Tage damit beginnen, die entsprechenden Bürger zu informieren und jeder der anwesenden Reisewilligen, würde bereits beginnen, die Karren zu bauen und Materialien zusammenzutragen. Tontöpfe, Stoffe, Leder und hölzerne Werkzeuge. Sie ließen sich wirklich viel einfallen.
Wir kamen also gut voran und würden in der Lage sein, uns in weniger als zwei Wochen wieder auf den Heimweg zu machen.

***

Daria, Claudia und Leila waren gemeinsam in Vildskov erschienen und wurden anfangs herzlich begrüßt.
Leila war zum ersten Mal in ihrem Leben in diesem Wald und konnte es kaum fassen.
Auf dem Waldboden standen einige wenige Häuser, aber die meisten waren kunstvoll in die Baumkronen der alten Eichen integriert. Man konnte sie über Strickleitern erreichen und sie waren mit Hängebrücken untereinander verbunden.
Erst auf den zweiten Blick fiel Leila auf, dass die unteren Häuser nur Viehställe und Lagerhäuser waren. Die Menschen lebten oben in den Bäumen. Zumindest hier.
Claudia erklärte ihr, dass nicht alle Dörfer so aufgebaut waren. Sie hatten auch ganz normale Gutshöfe, um die herum ein Dorf entstanden war.
Das Zusammentreffen war zu Beginn gut und entspannt, bis die Identität von Leila zur Sprache kam. Leider stieß sie abermals auf Ablehnung und es kostete Claudia eine Menge Überzeugungsarbeit, die Vorurteile zu beseitigen.
Sie kämpften hart und Leila musste sich erneut durchsetzen.
Ihr war das mittlerweile egal, denn sie würde auf jeden Fall mit Markus zurück nach Katalis gehen, das hatte er ihr versprochen. Dann würde dieser ganze Mist hier überhaupt keine Rolle mehr spielen. Sollten die anderen in den Ruinen ihr neues Leben aufbauen, sie würde mit Markus zurück in die Höhle gehen und von dort aus beobachten, wie es sich entwickelte. Er fehlte ihr und sie wünschte sich immer mehr, ihn bei sich zu haben.

Und dann kam der Tag, an dem die Bürger von Vildskov erkannten, was sie mit der Tötung von Jean de Gaullier für die Lafaree getan hatte. Der größte Kriegstreiber der Galier war nicht mehr am Leben und die Gefechte an den Grenzen flauten ab. Die Lafarenischen Truppen machten stetig Land gut und kamen zügig voran.
Als diese Nachrichten die Runde machten, kamen sie zusammen, um Leila zu danken.
Sie baten um die Vollendung des Rituals, welches sie in der Schwitzhütte begonnen hatte. Neugierig willigte Leila ein.
Mit der Dämmerung begaben sie sich auf eine Lichtung und entzündeten in deren Mitte ein großes Feuer.
Leila sollte sich im Schneidersitz vor das Feuer setzen, damit die erste Frau sich um ihre Haare kümmern konnte. Sie zog mit einem Kamm eine exakte Linie über Leilas Ohr und steckte mit ein paar Haarnadeln den Rest fest auf die rechte Seite. Sie packte die langen braunen Haare und schnitt sie ab. Sie seifte die Kopfhaut sorgfältig ein und setzte das Rasiermesser an. Behutsam und sorgfältig schabte die Frau jedes einzelne Haar auf dieser Seite ab. Als sie mit der Seite fertig war, dachte Leila, sie würde jetzt die andere scheren, damit sie einen Irokesen bekam, aber sie war eine Frau und sie war nicht eine von ihnen, also musste etwas Eigenes für sie geschaffen werden.
Nur die linke Seite, wie die Harmaapatra. Aber das war längst nicht alles. Die vier Frauen hatten sich etwas Besonderes einfallen lassen.
Sie würden jetzt gemeinsam arbeiten und während die eine begann, das Dornentribal zu stechen, begann die andere, ihr feine Zöpfe diagonal von links nach rechts entlang der Kopfhaut zu flechten. Eine weitere Frau reichte ihr Tee, der augenblicklich seine beruhigende Wirkung tat. Leila hoffte, nicht wieder halluzinogene Kräuter zu trinken. Letztlich war der Tee aber wohlschmeckend und die Nadel, mit der sie bearbeitet wurde, schmerzte nicht mehr so. Als die Zöpfe fertig geflochten waren, begann die vierte Frau ein paar Strähnen zu filzen und mit Schmuck zu versehen.
Sie nutzte ausschließlich Schmuckstücke aus Glas oder Holz, da ihr bereits bekannt war, dass man nach Katalis kein Metall mitnehmen konnte.
Nach stundenlanger Arbeit legten sich die Frauen hin und schliefen erschöpft ein.
Am nächsten Morgen begaben sie sich zurück ins Dorf.
Als Leila sich im Spiegel sah, war sie erstaunt, was da geleistet worden war.
Die Tätowierung an ihrem Schädel war kein normales Tribal, denn die Spitze, die bis zu ihrer Schläfe reichte, war eindeutig der Stachel des Flussmonsters, voll Blut und gefüllt mit dem schwarzen Gift des Egels.
Als Claudia sie sah, war sie ebenfalls sehr überrascht, denn die Frauen hatten die Besonderheiten ihrer Traditionen geschickt miteinander verbunden.
Sicher, die Lork und die Vildskov unterschieden sich in ihrer Haarpracht eher nicht. Die von Vildskov bevorzugten nur Zöpfe, keine gefilzten Strähnen. Ansonsten war der Irokese ähnlich. Anders bei den Harmaapatra. Bei diesem Stamm war nur die linke Seite geschoren und auch sonst befanden sich nicht viele Zöpfe im Haar. Die Ugwadule, gekennzeichnet durch ihr schwarzes krauses Haar, hatten ihre Zöpfe immer dicht an der Kopfhaut geflochten und trugen die langen feinen Zöpfe zu einem großen Bündel gebunden.
Die Ugwadule benutzten außerdem viele Glasperlen als Schmuck.
Leila vereinte also die Stämme mit ihrer Frisur und das machte sie endlich zum Galesen, der gleichermaßen die Achtung bekommen musste, wie alle anderen.
Das Eis war gebrochen, nun hieß es, die Vorbereitungen voranzutreiben.

Eifrig arbeiteten sie zusammen.
Es wurden einachsige Karren gefertigt. Stoffe zusammengepackt, Saatgut, Keramik, Tontöpfe und Werkzeuge aus Holz. Dazu wurden natürlich Nutztiere ausgewählt, die man mitnehmen wollte.
Ohne es zu wissen, liefen die Vorbereitungen in Vildskov ebenso gut, wie in Harmaapatra, bis sich ein junges Mädchen nach Vildskov verlief.
Der Kleidung nach handelte es sich um eine galische Magd. Sehr jung und sehr verängstigt suchte sie nach Hilfe und anstatt sich ihren eigenen Leuten anzuvertrauen, wagte sie es, nach Vildskov zu kommen.
Nachdem Leila informiert wurde, sorgte sie sofort dafür, dass dieses arme Kind eine kräftige Brühe bekam und sich ausruhen konnte. Als es ihr besser ging und sie in der Lage war, ein paar Fragen zu beantworten, begab sich Leila zu ihr.
Das Mädchen saß in eine Decke gehüllt und nippte an einem heißen Tee.
Man konnte ihr ansehen, dass sie Angst hatte. Immerhin wurden der normalen Bevölkerung einige Schauergeschichten über die Lafaree erzählt und jetzt saß sie inmitten einer Siedlung voller dieser “Wilden”.
Leila betrachtete das Mädchen, das kaum älter als sechzehn war, angelte sich einen Stuhl und setzte sich direkt ihr gegenüber.
Das Kind starrte stur in die Teetasse und würdigte sie keines Blickes.
»Was ist los, Kleines?«, fragte Leila sanft.
Das Mädchen blickte auf und ihr direkt in die Augen.
Die zwei Farben von Leilas Augen, war über die Grenzen der verschiedenen Galischen Gutshöfe bekannt und so stand der Kleinen der Mund offen.
»Ihr seid …«, hauchte sie,
»Ja«, antwortete Leila.
»Ihr … seht so verändert aus. Seid ihr jetzt gar keine Edelfrau meines Volkes mehr?«
Leila lächelte und sagte,
»Vielleicht war ich das nie. Aber wir sind nicht hier, um das zu diskutieren. Warum bist du weggelaufen und was erhoffst du dir von den Lafaree?«
Die Kleine räusperte sich und sagte,
»Es hat sich herumgesprochen, dass die Prinzessin den Marquise getötet und seinen ersten Hauptmann so verprügelt hat, dass ihr die Soldaten freiwillig folgen. Meine Herrin will das unterbinden und euch herausfordern. Ich habe Angst, dass dieses Morden weitergeht. Ich möchte frei sein, einen Wert besitzen …«
»Wer ist deine Herrin?«, fragte Claudia und das Mädchen verkroch sich sofort wieder in ihr Schneckenhaus.
Leila berührte sie an der Hand, um sie zu beruhigen, und fragte,
»Eine Herrin in einem Galischen Gut tritt selten auf. Es muss Kristina von Aldenhoven sein. Sie ist die einzige Frau, die mir einfällt, die bei den Galiern überhaupt etwas zu sagen hat.«
»Ja, sie übt einen Aufstand gegen Euch und …«, das Mädchen blickte sich schüchtern um, »gegen Eure Freunde.«
Das Mädchen blickte Leila nur an und sprach kein Wort mehr.
»Das heißt, diese Frau ist der nächste ernst zu nehmende Gegner? Die Frontberichte sagen, dass es aktuell sehr ruhig ist und es scheint, als würden sich die Comte und Viscomte nicht mehr einig sein. Der Duc de Pranier ist so alt, dass er keine Ahnung hat, was seine Marquise alles so treiben«, erklärte Claudia.
»Wir wissen bisher nicht, wer die Spitzel in unseren Reihen sind«, entgegnete Leila und begann zu grübeln. Was hatte die Gräfin von Aldenhoven wohl im Sinn?
Wie wäre es, wenn sie das herausfinden würden?
Claudia blickte in Leilas nachdenkliches Gesicht.
»Was hast du vor?«, fragte sie.
»Alina, meine ehemalige Zofe, befindet sich im Anwesen der Gräfin.«
Leila verzog den Mund und biss sich auf die Unterlippe.
»Eine Goldmünze für deine Gedanken«, sagte Claudia und lachte.
»Wir holen sie da raus!«, brach aus ihr heraus.
Claudias Mund blieb offen, das Lachen war ihr vergangen und das Mädchen warf ein kräftiges, »Nein!«, in den Raum.
Leila wandte sich ihr zu, neigte den Kopf leicht, um dem Kind besser in die Augen sehen zu können und fragte, »Warum?«
»Weil sie das will. Das ist eine Falle.«
Claudia machte eine zustimmende Handbewegung und sagte, »Hör auf das Kind, wir können uns so einen eigenmächtigen Vorstoß nicht leisten. Die Reise muss vorbereitet werden und ich möchte mittlerweile schneller hier weg, als ich dachte.«
Leila musste unweigerlich lachen, hatte sie doch vor ein paar Wochen nicht im Traum daran gedacht, dass Claudia sie begleiten würde.
»Wir müssen sie da herausholen. Alina steht auf der Liste und das hat mit Sicherheit einen Grund.«
Das Mädchen blickte Leila mit offenem Mund an, »Alina ist jetzt die persönliche Zofe der Gräfin. Es ist unmöglich, an sie heranzukommen!«
Leila lächelte sie an und sagte ganz sanft, »Lass das meine Sorge sein. Du bist hier in Sicherheit. Die Leute von Vildskov werden dir kein Leid zufügen, im Gegenteil und wenn du bereit bist und verstanden hast, dann bist du eingeladen, uns auf unserer Reise zu begleiten.«
Claudia legte ihre Hand auf Leilas Schulter,
»Wir sollten hier nichts übereilen. Lass uns auf die Männer warten.«
Leila griff nach der Hand und drückte sie und ohne Claudia zu antworten, fragte sie das Mädchen, »Wie heißt du?«
»Nadja«, antwortete sie.
»Ruh dich aus, schlaf ein wenig. Ich werde einen Plan zurechtlegen und dazu brauche ich ein paar Informationen von dir. Selbst wenn dies abermals eine Falle sein sollte, so will ich diesmal vorbereitet sein.«
Leila wandte sich so ruckartig ab, dass die Glasperlen ihrer Zöpfe aneinanderschlugen und einen melodischen Klang von sich gaben.
Claudia blickte ihr sorgenvoll hinterher, ordnete dann aber an, dass man sich ordentlich um das Mädchen kümmern sollte.
Leila begann bereits ihre Pläne zu schmieden. Sie würde auf das Anwesen der von Aldenhoven gehen, sich ihrer schärfsten Gegnerin stellen und ihre Alina mit sich nehmen.
Wie, wusste sie selbst nicht genau. Jedenfalls wollte sie nicht so lange warten, bis die Männer in Harmaapatra fertig waren und ihnen entgegenkamen.
In langen Gesprächen fragte sie Nadja nach Besonderheiten des Anwesens aus. Onais-Tjelfort, der bei der gesamten Aktion keine sonderlich große Hilfe gewesen war, hatte sich eines Nachts aufgemacht, um sich das Anwesen genauer anzusehen.
Natürlich machte sich Leila Sorgen, dass ihm etwas geschehen könnte, aber immerhin war er bereits kurz nach ihrer Ankunft verschwunden. Er würde schon wieder auftauchen, dessen war sie sich sicher.

***

In den letzten zwei Wochen hatten wir nicht nur die Liste abgearbeitet, sondern wirklich viele Dinge zusammengestellt, die ebenfalls ausführlich in dem Buch beschrieben waren. Ich machte mir täglich Gedanken, ob es den Frauen ebenso gelungen war, die Bürger von Vildskov zu überzeugen. Jeden Abend legte ich mich auf mein Lager und vermisste Leila. Jeden Morgen wachte ich auf und war enttäuscht, sie nicht neben mir zu finden. Wir mussten hier endlich fertig werden und unsere Reise antreten, dann würden wir hoffentlich etwas Ruhe füreinander finden.
Als sich abzeichnete, dass wir unsere Aufgabe erfüllt hatten, drängte ich zum Aufbruch.
Ich hoffte, die Frauen wären bereits zurück in den Ebenen von Lork und legte jetzt alles daran, so bald wie möglich dort zu erscheinen.
Der Marsch zurück gestaltete sich allerdings langwieriger, als mir lieb war.
Diese einfachen Karren waren langsam und wir mussten aufpassen, sie nicht gleich beim ersten Gebrauch zu verschleißen. Immerhin sollten sie die Reise vom Portal zu den Ruinen noch schaffen. Dann war es zudem recht anstrengend, all die Tiere mitzuführen. All das verzögerte unsere Ankunft in Lork.

Und dann trafen wir endlich in meinem Heimatdorf ein.
Es herrschte ein geschäftiges Treiben, was aber einige nicht davon abhielt, die Neuankömmlinge herzlich willkommen zu heißen. Wie es bei meinem Volk üblich war, musste so etwas gebührend gefeiert werden. Es wurde groß aufgetischt, gegessen und getrunken.
Ich hielt mich zurück, wollte ich doch im Morgengrauen direkt nach Vildskov aufbrechen, um den Frauen entgegenzukommen.

Gesagt, getan.
In den frühen Morgenstunden schulterte ich meinen Proviant und machte mich zusammen mit meinem Vater und Christian auf nach Vildskov.
Dort angekommen, stellten wir fest, dass sich auch hier fleißig für die Reise vorbereitet wurde, aber die Frauen und auch Onais-Tjelfort waren nirgends anzutreffen.
Mein Vater machte sich auf die Suche und kam wenig später zu uns zurück.
Er sagte,
»Diese sturen Weibsbilder sind allen Ernstes alleine zum Gut der Gräfin von Aldenhoven, um Alina und weitere Galier zu holen.«
»Nicht alleine«, ließ ein junger Mann, der hinter meinem Vater stand, verlauten.
»Was heißt, nicht alleine?«, fragte ich.
»Nun, ja. Sie haben drei unserer besten Männer mitgenommen und diesen verrückten Knilch«, antwortete er.
»Onais-Tjelfort«, entwich mir genervt, »War er wenigstens einigermaßen bei Sinnen?«, fügte ich hinzu.
»Er wirkte ganz normal. Wobei ich das nicht beurteilen kann, ich weiß ja nicht, was er da so spricht. Sein Kauderwelsch klingt schon sehr seltsam«, sagte der junge Mann.
»Onais-Tjelfort kommt nicht von hier. Er spricht die Sprache seines Volkes«, erklärte ich.
»Warum kannst du ihn verstehen?«, fragte der Junge.
»Das ist eine lange Geschichte und ich werde sie sicherlich eines Tages erzählen, aber nicht jetzt. Wir müssen die drei Frauen finden, bevor noch etwas Schreckliches passiert. Dieser Gräfin traue ich nicht. Immerhin ist sie schuld an dem, was Tjelfort zugestoßen ist.«
»Was ist ihm eigentlich zugestoßen?«, fragte der junge Mann weiter.
Ich musste unweigerlich lachen, denn auch dies war eine lange Geschichte.
»Diese Frau ist der Grund, warum er sich so sonderbar benimmt«, antwortete ich schließlich.
»Willst du damit sagen, sie hat ihn verrückt gemacht?«, fragte er weiter.
Dieser junge Bursche war wirklich neugierig. Gerne hätte ich ihm weitere Fragen beantwortet, aber mir brannte die Zeit unter den Nägeln.
»Mein lieber Junge, könnten wir diese Diskussionen auf später verlagern? Ich erzähle dir gerne, worum es hier geht, aber zuerst müssen wir auf dieses Anwesen und nach den Frauen sehen. Nicht, dass diese garstige Gräfin abermals Unheil angerichtet hat.«
Ich gab das Zeichen zum Aufbruch.

Nach etwa zwei Stunden Wanderung erreichten wir die ersten Gebäude des Anwesens.
Nach außen wirkte es ruhig, fast zu ruhig und das machte mich misstrauisch.
Um meine Vorahnung zu bestätigen, blickte ich kurz in Christians Gesicht und das meines Vaters.
Mein Vater nickte mir zu und wir wussten augenblicklich, dass hier etwas nicht stimmte. Nur was?
Christian hatte schnell den Zugang zu den Geheimgängen des Gesindes ausfindig gemacht. Das war die geschickteste Möglichkeit, in das Hauptgebäude einzudringen, ohne einen großen Aufstand zu verursachen.
Wir brauchten eine Weile, um den Ort zu finden, an dem sich die Auseinandersetzung abspielte, aber als wir in die Gemächer der Gräfin und ihres Gemahls eindrangen, zog Leila Kristina von Aldenhoven an ihren Haaren, entblößte ihren Hals und setzte ein Messer an.
Ich sprang vor und rief,
»Nein, Leila! Das ist sie nicht wert!«
Leila hielt inne und ließ das Messer sinken.
Ich streckte meine Hand aus und versuchte sie zu beschwichtigen.
»Merkst du nicht, wie unterlegen diese Frau dir ist? Bitte, kein weiteres Blutvergießen, das haben wir zur Genüge hinter uns. Sie wird ihre gerechte Strafe erhalten, aber …«, ich setzte kurz ab und betrachtete die Gräfin,» … sieh sie dir doch an, sie kann nicht im Geringsten mit dir mithalten.«
Ich weiß nicht, warum ich sie in diese Richtung lenkte, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, Leila sei eifersüchtig und ich müsse ihr darlegen, dass diese Frau niemals eine Option für mich dargestellt hätte.
Leila steckte das Messer ein und zog die Gräfin fest an den Haaren, sodass sie rücklings auf den Boden fiel. Sie straffte sich und kam mir entgegen.
Ihr Blick war so intensiv, die Farbe ihrer Augen so klar wie sonst nie und ich konnte spüren, wie entschlossen sie war. Sie packte mich und küsste mich innig.
Ich spürte deutlich, warum ich für diese Frau alles tun würde. Sie hatte mich, mit Haut und Haaren und das würde sich von meiner Seite aus nicht ändern.
»Lass sie, Leila«, sagte ich und fügte an, »Sie hat vor zehn Jahren eine einmalige Chance gehabt und diese verwirkt. Schönheit ist nicht alles, vor allem wenn man innen so hässlich ist, wie diese Frau.«
»Was fällt euch niederem Volk ein, so abfällig über mich zu reden!«, polterte die Gräfin und richtete sich wieder auf.
»Und sogleich muss sie das unter Beweis stellen«, entgegnete Leila schnippisch und lachte.
Empört stampfte die Dame mit dem Fuß auf. Sie versuchte ihren Rock zu richten und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
»Wir sollten uns nicht länger mit diesen Kinderspielchen aufhalten«, sagte ich und deutete auf die zerzauste Frau.
Leila blickte mich fragend an.
Ich hielt das Buch in die Höhe, deutete auf den verschüchterten Ehemann der Gräfin, »Wir könnten mit ihm anfangen.«
»Ihm?«, fragte Leila und ich nickte.
»Er steht in dem Buch«, sagte ich.
Die Gräfin begann zu kreischen, »Was?«
Sie setzte kurz ab, nur um sogleich noch lauter zu schreien, »Ihr ekelhaften Wilden, was habt ihr vor? Was wollt ihr mit diesem Buch? Ich bin die Herrin in diesem Haus, ich habe hier das Sagen.« Ihr Gesichtsausdruck entglitt, im gleichen Maße, wie ihre Stimme sich überschlug.
»Dieses Buch«
Ich stutzte und dann fiel mir ein, dass Galische Frauen nicht lesen konnten. Möglicherweise traf dies ebenfalls auf die Gräfin zu.
In dem Moment, in dem mir dieser Gedanke durch den Kopf ging, verneigte sich Leila vor dem Grafen und sagte,
»Es wäre mir eine Ehre, Mylord, wenn Ihr uns auf unserer Reise begleiten würdet.«
Graf Richard von Aldenhoven huschte ein Lächeln über das Gesicht, welches sofort gefror, als er in das Gesicht seiner Frau blickte.
»Du gehst nirgendwo hin!«, schrie sie.
Der arme Mann zuckte erschrocken und fiel förmlich in sich zusammen.
Was um alles in der Welt hatte dieses Biest mit ihm angestellt. Er wirkte nicht, als wäre er zu schwach, um sich zu wehren, dennoch kuschte er vor diesem Weib.
»Mylord, gehen wir«, sagte Leila ganz ruhig und reichte ihm die Hand.
»Ohne mich, gehst du nirgendwo hin!«, keifte die Gräfin.
»Frau von Aldenhoven, Sie können sicherlich jetzt schon über das gesamte Vermögen ihres Mannes verfügen. Sie bleiben hier, ihr Mann geht mit uns. So einfach ist das. Für Sie wird sich nichts ändern, für ihren Mann durchaus. Es könnte sogar sehr spannend werden für ihn«, sagte ich ganz ruhig.
Einen winzigen Moment war sie sprachlos, stemmte dann ihre Hände in die geschnürte Taille und schnaubte wütend,
»Dann gehe ich mit ihm!«
»Nur über meine Leiche«, entgegnete Leila fest.
Die Dame wollte etwas erwidern und machte dabei einen festen Schritt in Richtung Leila.
Ihr Mann ging in Deckung und ich dazwischen.
»My Lady, ich denke nicht, dass Sie das jetzt wirklich umreißen, was Sie da vorhaben. Die Marquise de Gaullier ist ausgebildeter Soldat. Ihr würdet sterben, bevor ihr auch nur eine Hand an sie legen könntet«, sagte ich.
Sie blickte mich böse an, raffte ihre Röcke und versuchte, sich an mir vorbei zu drängen.
»Lassen Sie mich durch!«, fauchte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich muss zu meinem Mann! Diese Wilde hat ihm den Kopf verdreht!«, rief sie laut.
»Ihr müsst gar nichts. Ihr könnt es Euch ohne Euren Mann bequem machen und, wenn ihr es etwas geschickt anstellt, das Anwesen des Marquis beanspruchen. Das ist im Moment herrenlos, denn der Marquis ist tot und seine beiden Frauen werden auf eine lange Reise gehen«, sagte ich, während ich mich ihr entgegenstellte. »Und jetzt ist endlich Ruhe. Sagt mir nur eines, wo ist Eure Zofe?«
»Alina?«, fragte sie.
»Ja, Alina. Wo ist sie?«, hakte ich nach.
»Dieses dumme Weib ist schuld an all dem hier«, sagte sie erstaunlich ruhig.
Ich blickte sie fragend an.
»Na, sie hat die Wilden mit hierher gebracht«, keifte sie.
Unweigerlich musste ich lachen, wandte mich ab und ließ die verdutzte Gräfin stehen. Insgeheim hoffte ich, dass sie uns nicht folgen würde und wir unseren Auftrag hier einfach abarbeiten konnten. Seltsamerweise folgte sie mir nicht. Nicht sofort.
Ich verließ das Haus und machte mich auf die Suche nach Leila.
Ich fand sie im Gesindehaus, in völlig entspannter Atmosphäre.
Sie saßen in der geräumigen Küche um den Tisch herum und plauderten locker.
Mein Vater saß ganz dicht neben Claudia und ich muss zugeben, das irritierte mich immer noch. Die Vorstellung, dass meine Schwiegermutter und mein Vater eine Beziehung führten, sorgte für Chaos in meinem Kopf. Ich musste mir eingestehen, dass beide ein Recht auf Glück hatten. Claudia fast noch mehr als mein Vater, denn immerhin war ich zurückgekehrt, während Anna vor Jahren starb.
Leila wirkte müde und abgekämpft. Ich betrachtete sie und war fasziniert von dem Dornentribal und ihren Haaren. In Vildskov war wohl einiges geschehen und ich war neugierig, ob sie mir davon erzählen würde. Ich versuchte, meine Gefühle einzuordnen. In meinem Volk hatten die Frauen keinen Irokesen, aber diese Frisur vereinte die Gepflogenheiten aller Stämme. War das die Geschichte, die Onais-Tjelfort erzählt hatte? Stimmte es, dass die Galier das fünfte Volk waren? Das Volk des Wassers?
Ich fühlte mich davon wirklich angezogen und konnte es in diesem Rahmen noch gar nicht zum Ausdruck bringen.
Ich suchte einen Stuhl, griff ihn mir und drängte mich zwischen Leila und eine Frau.
Erst später wurde mir bewusst, dass es sich bei der Frau um Alina handelte.
Ich drückte ihr einen Kuss auf die Wange und flüsterte,
»Ich bin so froh, dass es dir gut geht.«
Sie blickte mich an, ihre Augen wirken noch müder als ihr Gesicht und flüsterte,
»Ich auch.«
Sie hauchte mir einen Kuss auf die Lippen und fügte an, »darf ich dir Alina vorstellen?«
Dabei deutete sie auf die Frau zu meiner Linken.
Tatsächlich überraschte mich das, denn ich hätte mit einer weitaus älteren Frau gerechnet. Alina war kaum älter als Leila und dieser Frau hatte ich zu verdanken, dass Leila noch lebte?
Ich saß dort, schwieg und beobachtete nur.
Sie waren alle bereit zu gehen, niemanden hielt es hier nur einen Moment länger. Die Aussicht auf etwas Neues, etwas Schönes und auf Frieden, beflügelte die Fantasie.
Ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit machte sich in mir breit.
Sollte es wirklich möglich sein, diese Aufgabe des Universums zu erfüllen und ein Leben voller Liebe und Frieden zu erreichen?
Ich traute dem bisher nicht so ganz, denn wir mussten immer noch die Ugwadule auf unsere Seite ziehen. Dieses Unterfangen war umso schwieriger, da wir mit all den anderen Reisewilligen bei ihnen erscheinen würden.
Die Ugwadule waren ein wehrhafter Stamm von Eigenbrötlern und sie lebten abgeschieden in den ausgedehnten Steppen vor der großen Wüste.
So kam es, dass die nächsten Tage einfach an mir vorbei rauschten, ohne dass ich große Gedanken darauf verschwendete. Die meiste Überzeugungsarbeit verrichteten die Frauen und das musste selbst mein Vater neidlos anerkennen.
Sosehr ich dachte, dass die Gräfin noch einmal einen großen Aufstand proben würde, so sehr irrte ich mich. Es blieb leise um diese Frau. Vielleicht hatte sie die Aussicht auf das Anwesen des Marquis verstummen lassen, oder die Freude auf ein Leben ohne ihren Mann.
Wir würden nie wieder von ihr hören und von vielen anderen ebenso wenig und das war mir noch überhaupt nicht bewusst.

Reise nach Katalis

Bepackt mit neuen Vorräten und Gerätschaften, wanderten wir zurück nach Vildskov.
Wir ließen keine Zeit verstreichen und machten uns zügig auf nach Ugwadule.
Lange hatte es sich herumgesprochen, dass wir unsere Freunde besuchen wollten und so war es nicht verwunderlich, dass wir bereits erwartet wurden.
Mich überraschte allerdings, dass Leila diejenige war, der die meiste Ehre zuteil wurde.
Tatsächlich waren einige der Menschen, die eigentlich nicht auf der Liste standen, nach Ugwadule gewandert und hatten unsere Geschichte verbreitet.
Inkusi Enkulu, der große Häuptling der Ugwadule, begrüßte Leila, als wäre sie eine Göttin. Er nannte sie die Göttin Amanzi Ukuzala, was so viel wie Göttin des Wassers und der Fruchtbarkeit bedeutete. Ich war baff und nach all den Ritualen, die einzig Leila betrafen, sogar ein wenig eifersüchtig.
Diese Frau managte dies großartig und der Häuptling Inkusi Enkulu war schneller überzeugt, als ich mir das zu erträumen wagte. Sogar mein Vater war sprachlos und er kannte den Häuptling weit länger.

Die Galier in unserer Begleitung waren verunsichert. Die Männer und Frauen von Ugwadule unterschieden sich mit ihrer dunklen Haut und den krausen, schwarzen Haaren, die zu Zöpfen geflochten und gefilzt waren, doch sehr von uns allen. All die Schauermärchen, die man den Menschen erzählt hatte, konnte man nicht in ein paar Monaten ausmerzen.
Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis man sich wieder vertraute, aber die ersten Schritte waren getan und wie es bei den Lafaree üblich war, wurde am ersten Abend der Besuch mit einem Fest gebührend begangen.
Noch bevor sich die Sonne hinter den Sanddünen verabschiedete, hatten wir bereits die ersten Pläne geschmiedet.
Beim Abendgrauen waren die Tiere gut versorgt worden und jeder hatte einen Schlafplatz zugewiesen bekommen. Es würde eng werden in dieser Nacht, aber jeder hier war bereit zu teilen und sich zurückzunehmen, damit der andere ebenfalls seine wohlverdiente Ruhe bekam.
Das große Feuer in der Mitte des Dorfplatzes war entfacht und Inkusi Enkulu gab das Zeichen für die Trommeln.
Einige der Galier zuckten erschrocken zusammen, weil sie die Klänge mit einem drohenden Angriff verknüpften.
Erst als die Tänzer mit ihren Glockenbändern an den Knöcheln ihre rhythmische Show vorführten, trauten sich einige, mit den Trommelschlägen mitzugehen.
Obstteller wurden gereicht und gingen durch die Runde, bis der letzte etwas bekam. Wasser und Met wurden ebenfalls verteilt und nachdem die Lämmer, die schon eine Weile im Feuer schmorten, gar waren, wurde sie fleißig verteilt.
Die Stimmung lockerte immer mehr auf und die Gespräche liefen nicht nur über die bevorstehende Reise. Viele erzählten von ihrem Leben und wie sehr sie sich wünschten, dieser ewige Krieg würde enden.
Sie saßen so friedlich zusammen, so als hätte es niemals Meinungsverschiedenheiten gegeben. Die Galischen Frauen ebenso frei, wie die Männer. Ich beobachtete dieses Schauspiel mit Genugtuung. Nur Leila fehlte mir, denn sie wurde von Inkusi Enkulu völlig in Beschlag genommen.
»Die Geister sind mit ihr«, hatte er gesagt und auf ihre zweifarbigen Augen verwiesen.
»Sie sei der Schlüssel zum Glück der Menschheit«, hatte er angefügt.
Sie war aber auch mein Schlüssel zum Glück und wir hatten über Wochen keine Gelegenheit, uns nahe zu sein.
Sie blickte zu mir und ich vermisste sie gleich noch mehr.

***

Leila fühlte sich im ersten Moment überfordert.
Dieser weise Mann sprach von ihr, als wäre sie eine Göttin. So etwas hatte sie nie gesehen. Sie hatte es Markus zu verdanken, dass sie sich jetzt so gut behaupten konnte und im Moment war er so weit weg, auch wenn er fast neben ihr saß.
Die Trommeln pulsierten bis in die letzte Faser ihres Körpers und hatten etwas Hypnotisches an sich. Das Obst war frisch, das Gemüse gut gewürzt und das Fleisch köstlich. Leila begnügte sich mit Wasser, denn sie wollte einen klaren Kopf für die anstehende Wanderung durch die Wüste haben.
»Wie habt ihr euch das vorgestellt? Wie wollt ihr all die Menschen und Tiere durch das Portal schleusen?«, fragte er.
»Ich habe mir lange Gedanken darüber gemacht, aber wir werden sie wohl in Gruppen auf die andere Seite schicken. Anders kann das nicht funktionieren. Markus und ich müssten sonst stundenlang das Portal offen halten und nach meiner letzten Erfahrung ist dies sehr anstrengend«, erklärte sie.
»Können wir etwas tun, um es euch zu erleichtern?«, fragte Inkusi.
Onais-Tjelfort flüsterte ihr zu,
»Ich muss jemanden auswählen, dem ich die letzten Übersetzer gebe. Zwei habe ich noch.«
»Was hat er gesagt?«, bemerkte Inkusi nebenher und ließ seinen Blick über den Platz gleiten.
»Nun, wir brauchen jemanden, am allerbesten ein Paar, welches sich als Erstes auf die andere Seite begibt und zusammen mit den Limfie die Verteilung der Ankömmlinge organisiert«, sagte Leila ganz ruhig.
»Wer sind die Limfie?«, fragte er.
»Oh, kuschelige kleine, sehr intelligente Ureinwohner. Sie werden uns behilflich sein«, antwortete Leila.
»Einheimische? Das würde ja bedeuten, dass wir sie nicht verstehen können, wie diesen Zwerg.« Er deutete auf Onais-Tjelfort.
»Ich kann sie verstehen, Markus sogar ohne Übersetzer und Onais-Tjelfort versteht sie auch.« Erklärte Leila.
»Nun, du und Markus, ihr müsst das Portal offen halten. Wenn ihr zuerst geht und uns dann den Übergang öffnet, wäre das möglich?«, fragte Inkusi.
»Immer nur auf eine Seite … immer nur auf eine Seite … immer nur auf eine Seite«, summte Onais-Tjelfort im Rhythmus der Trommeln.
Leila umriss schnell, dass der Weg immer nur auf eine Seite möglich war. Markus und sie mussten daher so lange hierbleiben, bis alle das Portal durchschritten hatten.
Sie zermarterte sich den Kopf, wie man das bewerkstelligen könnte und während sie nach einer Lösung dieses Problems suchte, zeigte ihr Onais-Tjelfort zwei Finger und deutete hinter sein Ohr.
Leila verstand nicht sofort. Sie konnte es nicht miteinander verbinden, bis dann Theobald aufstand, Claudias Hand griff und sie nach oben zog. Er ging vor ihr in die Knie und die Trommeln veranstalteten einen regelrechten Wirbel um die beiden.
Claudia lachte und versuchte so, ihre Unsicherheit zu überspielen.
In dem Moment, als die Trommeln verstummten, sagte er,
»Claudia von Vildskov, möchtest du zulassen, dass ich Teil deines Lebens werde und du Teil meines?«
Claudia blickte in die Runde und jeder konnte sehen, dass ihr die Tränen in den Augen standen, als sie sagte,
»Liebend gerne, Theo. Liebend gerne werde ich zu einer von Lork!«, rief sie, gegen die Tränen der Rührung ankämpfend.

***

Fassungslos starrte ich auf dieses Paar, das eng umschlungen stand und sich küsste. Mein Vater hatte es gewagt, er hatte Claudia gefragt, ob sie seine Frau werden wollte und sie hatte sich darauf eingelassen. Was zur Hölle war nur mit mir los, dass ich es nicht schaffte, den gleichen Schritt auf Leila zuzugehen.
Ehe ich mich aber mit dem Thema befassen konnte, kam jemand und wollte mit mir den Ablauf des nächsten Tages durchsprechen. Ich hatte einfach keine Chance, dieser Frau nahezukommen. Sie war von sämtlichen Oberhäuptern der fünf Stämme in Beschlag genommen worden. Wenigstens Onais-Tjelfort half ihr aus dem Hintergrund. Ich wurde nicht mal in ihre Nähe gelassen.
Als ich sie dann am Abend in den Armen hielt, schlief sie völlig erschöpft sofort ein. Während ich mich schon zum Schlafen hingelegt hatte, setzte sich mein Vater neben mich und sagte,
»Sie hat viel zu tun, sieh ihr das nach.«
Ich wandte nur meinen Kopf so weit in seine Richtung, dass ich ihn sehen konnte.
»Was soll ich ihr nachsehen?«, fragte ich.
»Dass sie keine Zeit für dich hat. Du hattest recht, diese Frau ist viel wertvoller für unser Volk, als ich dachte. Sie hat einen ganz besonderen Draht zu Inkusi und ich dachte, er würde unser schwerster Brocken werden«, sagte er leise.
»Meinst du?«, entgegnete ich.
»Ja, die nächsten Tage werden nicht leicht für uns alle. Die meisten Menschen hier sind bereit zu gehen und etwas Neues zu versuchen. Einige haben aber Zweifel. Was wird geschehen, wenn wir das Portal durchschritten haben?«, fragte er.
»Seit Tagen mache ich mir Gedanken darüber«, antwortete ich ihm.
»Hast du eine Lösung gefunden?«, fragte mein Vater.
Ich wollte antworten, als Onais-Tjelfort sich zu uns setzte und zu mir sagte,
»Ich weiß, dass du keine Lösung hast, aber ich habe eine.«
Ich setzte mich auf und blickte ihn fragend an. Der Gesichtsausdruck meines Vaters war wohl ebenso fragend, denn Onais-Tjelfort sagte,
»Ich habe noch zwei Universalübersetzer. Ich hab’ sie aufgehoben, für den Fall, wir würden sie irgendwann brauchen und ich glaube, der Zeitpunkt ist jetzt.«
Ich öffnete meinen Mund, um etwas zu entgegnen, als ich sah, wie Onais seinen Finger auf den Mund legte und verschwand, als er wieder erschien, fasste sich mein Vater in den Nacken und Claudia, die sich bereits hingelegt hatte, ebenfalls. Onais-Tjelfort drückte abermals den Finger auf die Lippen und flüsterte,
»Jetzt müsste es gehen.«
»Hat er jetzt wirklich was gesagt?«, fragte mein Vater.
»Ja, natürlich habe ich gesprochen! Ich bin doch kein Idiot«, entgegnete Onais-Tjelfort mit der Stimme von Onais.
Mein Vater blickte mich an.
»Was ist das?«, fragte er.
»Er hat euch gerade einen Universalübersetzer verpasst«, antwortete ich.
»Was?«
Mein Vater war sichtlich verwirrt.
»Ich habe auch einen und trage ihn seit meiner ersten Begegnung mit Onais-Tjelfort. Der kleine Knopf hinter deinem Ohr wird schon bald verschwinden. Übrig bleibt eine kleine Erhebung an deiner Schädelbasis und die Fähigkeit, alle Sprachen zu verstehen«, erklärte ich.
»Alle?«, fragte er.
»Alle«, sagte ich.
»Das ist gar nicht so dumm«, sagte mein Vater.
Ich überlegte und ja, das war wirklich gar nicht dumm.
Wir würden meinen Vater und Claudia mit der ersten Gruppe durch das Portal schicken können und sie wären in der Lage, sowohl Onais-Tjelfort als auch die Limfie zu verstehen. Das würde die Koordination auf der anderen Seite erleichtern. Immerhin hatten wir vor, mehrere Hundert Menschen hindurchzuschleusen. Wie stand es in dem Buch? Die höchstmögliche genetische Vielfalt sollte sich auf diese Reise machen, um in vielen weiteren Dekaden eine neue Bevölkerung auf Katalis zu bilden.

Am nächsten Morgen war ich früh auf den Beinen, wie einige andere auch.
Diesmal saßen wir gemeinsam beim Häuptling und besprachen unser Vorgehen.
Wir brauchten einen halben Tag, um die Stele zu erreichen. Da wir so viele waren, mussten wir uns einen Plan zurechtlegen.
Sicher war hier in der Wüste viel Platz, aber auf Katalis?
Die Stele auf Katalis lag mitten im Wald und wir mussten zusehen, dass sich alle Menschen und Tiere dort sammeln konnten, bevor wir sie zu den Ruinen geleiteten.
Nach langen Überlegungen einigten wir uns.
Claudia und mein Vater würden zusammen mit Onais-Tjelfort die erste Gruppe durch das Portal führen und sie dann im Wald verteilen.
Wir sprachen von etwa hundert Menschen zusammen mit ihrem Vieh und ihren Vorräten auf den Wagen.
Nach diesen ersten hundert würden wir eine Pause einlegen, um unsere Kräfte zu schonen.
Wir setzten eine halbe Stunde an, um unsere Kräfte zu sammeln. Danach würden wir weitere hundert durch das Portal senden.
Soweit war alles geklärt, nun mussten wir uns auf den Weg dorthin machen.
Viele waren mit Vorbereitungen beschäftigt und wir schliefen jeder nur ein paar Momente, bevor wir gegen Mitternacht von Ugwadule aufbrachen, um etwa vier Stunden später die Stelen zu erreichen.

Ich kam nicht zur Ruhe, die Gedanken kreisten darum, ob es uns möglich sein würde, das Portal lange genug offenzuhalten, dass alle Menschen die andere Seite erreichten.
Leila schlief friedlich neben mir, war aber genauso schnell auf den Füßen, als mein Vater uns weckte. Wir wollten aufbrechen, die kühle Nacht nutzen und vor dem Morgengrauen an der Stele eintreffen.
Die Tiere sollten mit den ersten beiden Gruppen hinüber wechseln, das sparte Wasser, so hofften wir. Es würde nur eine Herausforderung werden, die Herden auf der anderen Seite zu kontrollieren. Vor allem, da wir vorhatten, uns zügig im Wald zu verteilen.

Um Mitternacht brachen wir auf und eine lange Karawane bahnte sich ihren Weg durch eine unwirtliche Umgebung.
Wie geplant, erreichten wir beim Morgengrauen die Stelen.
Leila suchte sofort die größte und ich folgte ihr.
Etwas unschlüssig blieb sie davor stehen.
»Was ist?«, fragte ich.
Sie blickte mich an und antwortete,
»Ich kann es kaum erwarten. Allein das tolle Gefühl, das sich beim Öffnen des Portals einstellt. Ich überlege nur. Wir sollten uns vielleicht hinter die Stele stellen, damit wir den Durchgang nicht blockieren.«
Ich zog die Stirn in Falten und überlegte,
»Du hast recht, immerhin ist es nur stabil, wenn wir uns an der Hand halten.«
Je mehr ich überlegte, desto aufgeregter wurde ich. Als hätte sie mich angesteckt, konnte ich der Öffnung des Portals kaum noch widerstehen.
Die Aufgabe würde endlich ein Ende finden und wir würden uns wieder um uns kümmern können. Wie sehr sehnte ich mich nach einem erfrischenden Bad im Quellteich, nach einem ausgiebigen Mittagsschlaf in der kühlen Höhle. Ein leckerer Ziegenbraten mit Ulkoknollen oder eine kräftige Gemüsebrühe. All die winzigen Dinge, die das Leben auf Katalis erträglich gemacht hatten. All dies wünschte ich mir sehnsüchtig wieder.
Wir suchten meinen Vater und Claudia, vertrauten ihnen Onais-Tjelfort an und bestimmten, welche Gruppe sich zuerst auf den Weg machen sollte.
Angeführt von meinem Vater, versammelten sich alle vor der Stele.
Ich griff nach Leilas rechter Hand und sie drückte fest zu. Ein kurzer Blick, mit dem ich mich versicherte, dass sie bereit war und wir pressten gleichzeitig unsere freie Hand an die Stele.
Nach den Gesichtern derer zu urteilen, die sich ganz vorn befanden, verursachte das Öffnen eine Faszination, die meiner sicherlich ähnlich war.
Mein Vater straffte sich, griff nach Claudias Hand, die wiederum Onais-Tjelforts Hand fest in der anderen hielt.
Sie gingen einen Schritt voran und verschwanden vor aller Augen.
Die erste Herde folgte, getrieben durch die Hirten, danach kamen Pferde- und Eselskarren, bepackt mit allem, was uns das Portal nicht rauben würde.
Es dauerte fast eine Stunde, bis die erste Gruppe die Wüste verlassen hatte. Leila hatte mit ihrem Verdacht absolut recht gehabt. Das Portal offenzuhalten, kostete uns Kraft und ich hoffte inständig, dass wir diese Menge an Menschen hindurchschleusen konnten.
Stunden später schleusten wir die letzte Gruppe durch das Portal und gönnten uns in brütender Hitze die letzte Pause, bevor wir uns hindurch begeben würden.
Es war nur noch eine Handvoll Männer bei uns, als einer plötzlich rief!
»Da kommt jemand!«
Aufmerksam blickten wir in die Richtung, in die er wies und erkannten eine Staubwolke. Ob hier wohl jemand noch mit wollte?
Zu siebt starrten wir auf die Wolke, die sich langsam auf uns zubewegte, bis einer rief, »Die kommen nicht in Freundschaft!«
Und richtig, da kam eine bewaffnete Truppe.
Es galt jetzt eine Wahl zu treffen. Warteten wir, bis sie uns erreichten und mitteilten, was sie wollten, oder öffneten wir das Portal und verschwanden?
Leila packte mich fest am Arm und sagte,
»Die sehen aus wie die Leute der Gräfin. Lasst uns hier abhauen, die meinen es nicht gut mit uns!«
Die Männer blickten sie erstaunt an und nachdem der Erste zugestimmt hatte, waren die anderen bereit.

Wir öffneten das Portal und schleusten die fünf Männer hindurch. Danach waren wir dran. Gleichzeitig machten wir den großen Schritt in unser neues Zuhause. Einen kurzen, wehmütigen Blick sandte ich zurück, bevor sich das Portal schloss und wir auf der anderen Seite unversehrt ankamen.

Wir hatten es geschafft. Wir hatten fast alle Menschen auf der Liste überzeugen können, mit uns zu gehen.

Auf Katalis angekommen, konnte man die Spuren der vielen Menschen deutlich sehen.
Dieser Fleck, auf dem Leila und ich vor langer Zeit angekommen waren, war jetzt voller Leben.
Ich machte mich auf die Suche nach meinem Vater und Leila suchte Onais-Tjelfort.

Als ich so durch die Menge ging, fiel mir dieses flauschige, blau-weiße Wesen von hinten an. Zzila quietschte vor Freude, mich endlich wiederzusehen.

***

Die Aufgabe war so weit erfüllt, als dass die beiden die Menschen von der Erde nach Katalis geholt hatten.
Die Aufteilung auf die ehemaligen Siedlungen mussten sie alleine entscheiden.
Onais-Tjelfort berichtete über die Siedlungen, von denen die der Waldmenschen schon so weit hergerichtet war, dass einige sofort dort einziehen konnten.
Sie waren überrascht, dass es auch hier Siedlungen in den Bergen, in den Tälern, am Meer und in der Steppe gab.
Gemeinsam beschlossen sie, sich aufzuteilen. Eine große Gruppe sollte von Markus Vater mit Unterstützung der Limfie zu den Ruinen im Wald geleitet werden.
Gut die Hälfte sollte in die Berge ziehen.
Markus und Leila würden zusammen mit Onais-Tjelfort die restlichen Menschen in ihre Dörfer bringen. Onais-Tjelfort würde sie zu der Siedlung im Tal, von dort zum Meer und in die Steppe. Leila und Markus würden mit ihm zusammen zurück zur Stele gehen.
Es würde jeder seinen Platz haben und sie würden alle genug zum Leben haben. Katalis war groß genug.
Dank des fehlenden Metalls hatten die Menschen einiges zu tun, sich umzustellen. Das förderte die Kreativität und einige hatten bahnbrechende Ideen.
Markus und Leila zogen sich aus dem allgemeinen Trubel zurück. Sie bewohnten zusammen mit Onais-Tjelfort die Höhle und genossen die ungestörte Zeit, die immer wieder durch freundlichen Besuch unterbrochen wurde.
Markus hatte Leila den lang erwarteten Antrag gemacht und gemäß den Bräuchen der Lafaree heiratete er eine Galierin mitsamt ihrer galesischen Traditionen. Wie zu guten Zeiten, feierten sie ein riesiges Fest, zu dem einige Besucher der anderen Stämme geladen waren.
Theobald von Lork heiratete ebenfalls mit einem rauschenden Fest, die Witwe von Vildskov.
Die fünfzehnjährige Maria de Gaullier fand bei Theo und Claudia ein neues Zuhause.
Die beiden kümmerten sich fortan um das Mädchen mit ihrem Kind.
Der Säugling bekam den Vornamen der Gräfin von Waddlock, Katharina. Bei der Namensgebungszeremonie erhielt das Kind, wie bei den Lafaree üblich, ihr erstes Tattoo. Eine spitze Nadel, die symbolisch eine dunkle Wolke teilte.

Die Siedlungen der Dulnae wurden nun zu den Siedlungen der Menschen.
So entstand Vildskov, Lork, Harmaapatra, Ugwadule und natürlich Galien.
Die Menschen hatten eine neue Chance bekommen und erst die Jahre würden wirklich zeigen, ob sie diesmal in der Lage waren, diese zu nutzen.
Ob es mit der Erde in der Abwärtsspirale tatsächlich so weiterging, wusste niemand auf Katalis, denn immerhin wollte niemand einen Blick zurück wagen.

Fünf Jahre gingen ins Land.
Die ersten katalanischen Kinder wurden geboren. Die Menschen passten sich langsam an den Planeten an.
Onais-Tjelfort, der von Leila und Markus seinen eigenen, abgegrenzten Bereich in der großen Höhle bekommen hatte, wachte eines Morgens nicht mehr auf.
Er war friedlich eingeschlafen, ohne großes Leid und ohne dass man ihm das angesehen hätte.
Markus nahm das sehr mit und Leila war von dieser feinfühligen Seite ihres Mannes sehr überrascht.
Sie suchten eine Weile und fanden zwanzig Meter neben ihrer Höhle eine weitere kleine Kammer. Beide wollten ihn nicht in der Erde verscharren und da er ihnen erzählt hatte, dass man die Toten in seiner Heimat in eine Gruft legte, beschlossen sie, diese Höhle für ihn und seinen Bruder herzurichten.
Auf einer, mit Fellen ausgepolsterten Schlafstätte bahrten sie ihn auf und platzierten die Gebeine seines Bruders sorgfältig neben ihm.
Sie deckten ihn zu, als würde er schlafen und Leila schmückte alles mit frischen Blumen.
Den Eingang verschlossen sie, so dass keine wilden Tiere hineingelangen konnten.

Das Rätsel

Etwa zwei Wochen, nachdem wir Onais-Tjelfort zu Grabe getragen hatten, fiel es mir wieder leichter, ohne Trauer an ihn zu denken.

Leila und ich waren gerade dabei, uns auf ein erfrischendes Bad in unserem Teich vorzubereiten. Ich war verschwitzt vom Holz schlagen und freute mich auf die Abkühlung.

Sie wollte an mir vorbeihuschen und zum Teich. Ich hielt sie fest und zog sie zu mir, um sie innig zu küssen. Einen winzigen Moment genoss ich dieses Gefühl, dann blickte ich in ihre Augen. Diese zwei Farben hatten nach all der Zeit nichts von ihrer Faszination eingebüßt.

Ich hielt sie ganz fest und dann fühlte es sich so an, als würden wir nach oben katapultiert.
Den entsetzen Ausdruck in ihren Augen werde ich nicht so schnell vergessen. Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit riss es uns in die Höhe. Meine Ohren surrten, der Atem stockte und ich blickte mit Sicherheit genauso entsetzt in ihr Gesicht, wie sie in meins.
Ich klammerte mich an ihr fest, genau wie sie sich an mir. Auf keinen Fall wollte ich sie in diesem rasanten Flug verlieren. Ja, und wir flogen. Kilometerweit in die Höhe, hinauf in das Dunkel des Alls.
Je dunkler es um uns herum wurde, desto langsamer wurden wir. Nach und nach konnte ich etwas erkennen.
Ein grober Tisch aus Holz, die Oberfläche abgenutzt, mit Kerben übersät. Das Bild wurde klarer und es wirkte, als schwebten wir über einer Szenerie in einem alten Gasthaus.
Zwei Männer saßen an dem Tisch, zwei alte Männer.
Der eine trug eine Nickelbrille, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht war. Die langen weißen Haare bedeckten seine Schultern und an einigen Stellen spitzte die aufwendige goldene Stickerei seiner Tunika hindurch. Der weiße Bart war so lang wie seine Haare und im Mundwinkel steckte eine Meerschaumpfeife.
Der andere trug einen großen Schlapphut, unter dessen geschwungenem Rand ein dicker brauner Zopf den Rücken herabbaumelte. Ich konnte ihn nicht richtig sehen, denn er saß mit dem Rücken zu uns.
»Ach, da sind unsere beiden Helden ja«, donnerte der, mit der Nickelbrille.
Das war so laut, dass sich Leila die Ohren zuhalten musste. Ich griff fester zu, weil ich Angst hatte, sie könnte mir aus den Händen gleiten.
»Nun, das sind ja wohl deine Helden. Meine haben leider versagt!«, sagte der andere etwas ruhiger und nicht so laut.
Ich verstand noch nicht, was das hier alles sollte.
»Gib es zu, ich habe gewonnen!«, sagte der mit der Brille und lachte, dass die Luft vibrierte.
»Das Universum hat gewonnen und das betrifft uns beide«, antwortete der mit dem Hut.
»Dennoch ist das Ende der Erde besiegelt. Walte deines Amtes, Esus!«, befahl der mit der Brille.
Ein dritter alter Mann kam an den Tisch und stellte zwei Becher mit schäumenden Met darauf. Er ähnelte Onais, denn auf seinem Haupt trug er eine Krone aus Ästen und Moos und genau wie Onais Krone, schien diese zu leben.
»Trinkt meine Brüder und startet ein neues Spiel. Ich setze zwei Münzen auf deine neuen Helden, Taranis«, sagte er und legte zwei goldene Münzen in der Größe eines Wagenrades auf den Tisch.
»Misch dich nicht immer in unser Spiel ein, Teutanes«, sagte der, der soeben als Esus bezeichnet worden war.
Spiel? Was war das hier? Träumten wir etwa?
Ich sah, wie sich Esus, der mit dem Schlapphut, zu uns wandte. Er zog die Augen zu schmalen Schlitzen und hob den Finger. Ich dachte schon, er wolle uns anstupsen, aber er berührte eine Kugel in einem Modell, welches wohl das Sonnensystem darstellen sollte.
Entsetzt sah ich, wie diese Kugel Feuer fing. Es breitete sich in Windeseile aus und bedeckte schnell die gesamte Oberfläche. Ein Sinnbild für die Erde, oder war das jetzt wirklich das Inferno? Das würde bedeuten, dass alle, die wir dort zurückgelassen hatten, jetzt tot waren.
Mir gingen tausend Sachen durch den Kopf. Was wäre passiert, wenn ich mich gegen die Rückkehr nach Katalis entschieden hätte? Wären wir dann alle tot?
Ich blickte einen Moment in Leilas Gesicht, die ebenso entsetzt auf den brennenden Erdball blickte, wie ich. Es dauerte wenige Minuten, dann war es schon vorbei. Zurück blieb ein schwarzer Klumpen, der etwas Rauch absonderte.
»Meint ihr, sie wird abermals wie Phönix aus der Asche steigen, die Erde?«, fragte Teutanes und pustete etwas Asche von der Oberfläche. Taranis zuckte mit den Achseln, während Esus, »Und nun?«, fragte.
»Gehen wir in die nächste Runde«, antwortete Taranis. Er schob seine Nickelbrille etwas weiter nach oben, steckte sich die Meerschaumpfeife in den Mundwinkel, griff die zwei riesigen Würfel, die auf dem Tisch lagen und steckte sie in einen Würfelbecher.
Er hielt die Hand darauf und fing an zu schütteln. Gleichzeitig begann das Modell, sich zu drehen, immer schneller. Je schneller es sich drehte, desto mehr schien etwas an uns zu zerren. Ich hörte noch das Geräusch der Würfel, als sie auf dem Tisch zum Liegen kamen, dann riss es uns auseinander.
Das Modell hielt abrupt an und ich wurde mit voller Wucht auf eine dieser Kugeln geschleudert. Ich sah viele verschiedene Farben und bevor ich das Bewusstsein verlor, dachte ich, dass ich jeden Moment hart auf der Oberfläche aufschlagen musste.

Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich dort lag. Mir brummte der Kopf und im ersten Moment dachte ich, ich hätte Halluzinationen. Ich richtete mich auf und stützte mich an einen Stein. Ich öffnete die Augen und augenblicklich begann mein Herz zu rasen. Meine Hand ruhte auf einer Stele. Wie die Stele von Katalis, wie die von der Erde, nur war das hier weder Katalis noch die Erde. Ich blickte an der Stele nach oben in einen hellblauen Himmel, an dem sich violettfarbene Wolken auftürmten, bedrohlich, als würde ein Gewitter anstehen. Das Laub der Bäume war so türkis, wie die heißen Quellen der Harmaapatra. Ein krasser Gegensatz war der schwefelgelbe, steinige Boden, auf dem ich stand. Ein schwarzer Vogel flog kreischend auf und ich blickte mich erschrocken um. Hatte ich doch so sehr gehofft, Leila würde auftauchen, aber hier war niemand.
Ich hatte sie verloren!
Ich sackte auf die Knie und brüllte so laut und lang, wie meine Lungen es hergaben.
Danach senkte ich meinen Kopf zu Boden und bedeckte ihn mit meinen Händen.
»Warum ich?« schoss mir durch den Kopf und ich fing an zu weinen.
Abermals hörte ich den Flügelschlag des schwarzen Vogels.
»Krah Krah – Krah Krah« schallte es. Das einzige Geräusch, das in diesen Minuten wahrzunehmen war.
Und dann hörte ich ein Geräusch, wie Papier im Wind.
Ich blickte auf und direkt vor mir schwebte ein Blatt zu Boden.

»Finde Leila!«

ENDE

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