Story von Alexander “Tiff” Kaiser
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Es war ein sanfter Frühlingsmorgen, als ich aus dem Fond der Limousine stieg. Ich hatte Mutter tagelang bekniet, mir diese Peinlichkeit zu ersparen, wenigstens an der Oberstufe, die ich seit diesem April besuchte, aber sie hatte alle meine Einwände abgeschmettert mit dem Hinweis, das ich kein Junge war. Mein Gegenargument, dass ich seit der Kronosierinvasion als Kampfpilotin diente, als DIE Kampfpilotin, hatte sie nicht gelten lassen. Eiko Otomo hatte mir unverblümt gesagt: „Im Hawk trägst du ja auch einen Helm.“
Über derartige Augenwischerei empört ballte ich die Hände zu Fäusten und setzte eine grimmige Miene auf. Und es störte mich überhaupt nicht, dass Dutzende, ja hunderte Schüler der Fushida High diesen Gesichtsausdruck, diese Gestik mitbekamen. Denn immerhin war ich kein Modellmädchen, das sich mit der Schürze bewaffnet in die Schulküche stellte, um ihrem Schwarm Plätzchen zu backen. Überhaupt hatte ich es nicht mit kochen, und der Rest der Welt konnte mir gestohlen bleiben. Das Recht für diese arrogante Einstellung hatte ich mir in vier langen Jahren des Kampfes gegen die Kronosier erworben und dafür den militärischen Rang eines Colonels und den Ehrennamen Blue Lightning erhalten: Blauer Blitz. Ich trug ihn mit mehr Stolz als die Schuluniform, die ich gezwungen war zu tragen. Überhaupt gehörten Röcke nicht zu meinem Bekleidungsstil, wenngleich sogar ich zugeben musste, dass der schwarze Rock und der schwarze Blazer etwas militärisches hatten. Und er hatte den Vorteil, dass ich nach einigen wenigen Schritten mit der Masse der Mädchen verschmolzen war, dass ich Anonymität erreicht hatte. Solange ich an der Limousine stand war ich Akira Otomo, die Tochter von Eiko Otomo, der Direktorin der United Earth Mecha Force, aber drei Schritte weiter hatte ich meine Ruhe und meinen Frieden. Beides hatte ich mir mit dem Tod von dreihundert Gegnern erkauft und würde es mir nicht nehmen lassen. Und dabei fürchtete ich mich nicht wie meine überängstliche Mutter vor Entführern, Attentätern oder Männern mit dem merkwürdigen gedanklichen Fehler, ausgerechnet mich haben zu wollen, mich, das unattraktivste Mädchen unter dieser Sonne. Mein Crosstraining befähigte mich dazu, bis zu fünf Gegner zugleich zu stellen. Und ich redete hier von ausgebildeten Soldaten, nicht von kleinen Hinterhofschlägern, die sich für große Nummern auf dem Schulhof hielten.
Aber Mutter war nicht zu erweichen gewesen, und Vater konnte ich nicht manipulieren, solange er auf dem Mond war und die dortigen Entwicklungsfirmen anleitete, um neue Waffen gegen die Kronosier zu entwickeln. Helge Berger galt als Verwaltungsgenie und hervorragender Wissenschaftler, und ich konnte ihn jederzeit um den kleinen Finger wickeln. Falls er mal Zuhause war, hieß das, also fiel diese Option leider aus.
„Oneechan, darf ich aussteigen?“, hörte ich ein leises Flehen.
Sofort tadelte ich mich für meine Gedankenlosigkeit und trat hastig einen Schritt beiseite, um meinen kleinen Bruder Yuri aus dem Fond zu lassen. Wenn ich ihn schon zwang dieses Schaulaufen mitzumachen, dann musste ich es ihm nicht noch schwerer machen als ohnehin schon. Immerhin hatte er auch extra für mich sein letztes Schuljahr übersprungen, um mit mir, Kei und Makoto in einer Schule zu bleiben. Das war wichtig für unsere vielfältigen Einsätze gegen die Kronosier.
Als der große, schlanke Junge vor mir stand, tat ich etwas, wofür ich mich jedes Mal hasste: Ich richtete seinen Kragen, strich ihm die Haare glatt und besah mir sein hübsches, makelloses Gesicht von allen Seiten. Nichts wäre mir schlimmer erschienen, als wenn mein kleiner Bruder mit einem Mitesser oder gar Pickel im Gesicht in die Schule gegangen wäre. Er nahm es nicht gerade sehr genau mit seiner Gesichtspflege, und ich als große Schwester hatte diese Verantwortung so einfach übernommen, dass ich mich fragen musste, ob in der knallharten Elite-Soldatin nicht doch eine Frau steckte. Irgendwo. Irgendwie. Wenn ich sie fand würde ich sie jedenfalls töten, das stand fest.
„Gut siehst du aus“, sagte ich in jenem gutturalen Ton, den Mako-chan zu gerne von sich gab, wenn sie damit fertig war, ihren großen Bruder Sakura herzurichten.
Wieder einmal fragte ich mich, wen Yuri bestochen oder getötet haben musste, um die Erlaubnis zu bekommen, sein Haar weißblond zu färben. Aber es stand ihm ganz hervorragend, und nicht ohne Stolz fühlte ich, dass Dutzende Mädchenblicke auf ihm ruhten. Mein kleiner Bruder war mein ganzer Stolz, und das nicht nur, weil er mir schon in so manche Schlacht gefolgt war und zu den vier besten Piloten der Erde gehörte.
„Unterlass derartige Putzereien bitte bei mir“, sagte Kei, während er sich aus dem Wagen quälte. Der Gelenkigste war er nicht, aber definitiv ein schöner junger Mann, dessen Kühle so manches Mädchen verrückt machte. Aber diese Kühle war es auch, die den dunkelblonden Jungen so effektiv in seinem Hawk machte.
„Davon träumst du auch nur“, erwiderte ich spöttelnd.
Sein Kommentar war ein kurzes, bissiges Grinsen. Er reichte mir meine Schultasche. „Die brauchst du sicherlich noch.“
„Das ich das noch mal erleben würde, Captain, dass Sie mir die Tasche nachtragen“, säuselte ich.
Kei sah weg und murmelte: „Mache ich das nicht sowieso bei jedem Einsatz? Komm, Kleiner, die Schule ruft!“
„J-ja!“ Sofort war Yuri an der Seite des charismatischen Einserschülers und Kampfpiloten. Und ich war mir bewusst, dass meinen Freund aus Kindheitstagen nicht weniger bewundernde Blicke trafen als meinen kleinen Bruder. Manchmal fragte ich mich, warum Kei nicht auch so auf mich wirkte. Manchmal fragte ich mich das nicht.
Ein Klaps auf meinen Allerwertesten riss mich in die Realität zurück. „Yoshiko…“, tadelte ich meine beste Freundin, während ich mir das lädierte Körperteil rieb.
„Selbst Schuld, wenn du nicht auf deine Deckung achtest. Was musst du auch deinem Eisprinzen hinterher schmachten?“ Ihr Lächeln war wohl das Falscheste, das sie jemals aufgesetzt hatte, denn ich wusste ganz genau, dass meine allerbeste Freundin von meinem kleinen Bruder hin und weg war. Ich hatte keine Ahnung wann es passiert war, aber irgendwann, nach einem Einsatz, von dem Yoshiko natürlich nichts wusste, hatten sie sich in die Augen gesehen, und es war um sie geschehen gewesen. Seitdem betrachtete sie Yuri nicht länger als Sandkastenfreund, sondern… ganz anders. Ich war mir noch nicht ganz sicher, ob mich diese Entwicklung beruhigen sollte oder ob ich sie irritierend fand. Jedenfalls spürte ich einen leichten Anflug von Entsetzen, wenn ich mir vorstellte, ich würde die beiden eines Tages in Yuris Zimmer bei… Wer weiß was erwischen. Es ging eine gewisse Depression davon aus und war mit Sicherheit das Ende der Zeit, in der ich meinen kleinen Schatz bemuttern konnte. Ich hatte nie wirklich gelernt zu teilen. Im Austeilen hingegen war ich sehr gut. „Willst du ihn haben? Ich kann da was arrangieren. Jetzt wo er bei uns im Haus wohnt, komm uns doch einfach besuchen. Oder noch besser, zieh gleich mit ein. Ein Mädchen gegen zwei Jungen ist wirklich ungerecht.“
„Meinst du das ernst?“, fragte sie mit einem merkwürdigen Funkeln in den Augen.
Ich erstarrte. Die Richtung, in die dieser Scherz driftete, gefiel mir gar nicht.
„Eventuell“, raunte ich und versuchte mich aus der Affäre zu ziehen. „Komm, wir müssen los. Sonst schließen sie das Tor.“
„Aber, aber. Akio-sama wird doch kaum seiner heiß geliebten Akira das Tor vor der Nase zuschlagen, oder?“, erwiderte sie und hob Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand zum Sieges-V.
Dieser Gedanke ernüchterte mich. Akio Kurosawa war ein echtes Problem. Nicht unbedingt wegen seiner, nun, sagen wir Sympathie, die er für mich empfand und sehr offen zeigte. Ich war das Problem, denn eigentlich mochte ich den charismatischen Blondschopf. Ein wenig. Irgendwie. Aber es fiel mir schwer ihn anzusehen, wenn ich ihn traf. Und das war lächerlich. Immerhin hatte ich vor nichts Angst. Ich hatte schon Fregatten und Zerstörer von innen vernichtet und nebenbei Daishis im Dutzend vom Himmel geholt. Menschen wie ich hatten keine Angst, sie produzierten sie.
„Was du wieder redest“, murrte ich und ging neben Yoshiko über die Trennlinie. Beinahe hätte ich befürchtet, dass eines der extrem eifersüchtigen Mädchen der Schülervertretung das Tor vor mir zu schob, einfach um mir eines auszuwischen. Ich hätte es sicherlich so gemacht, wenn ich in Akio-senpai verliebt gewesen wäre. Und mir wären sicherlich noch ganz andere Dinge eingefallen, um eine Konkurrenz wie mich auszuschalten. Aber anscheinend hatten sie zu viel Angst vor mir. Immerhin ging ja das Gerücht um, ich wäre der Bansho der Schule, der oberste Bandenboss. Und obwohl das nur die halbe Wahrheit war, fand ich diesen Ruf ab und an sehr nützlich.
Ich sagte ja sicherlich schon, dass mich nichts mehr überraschen konnte. Und das stimmte auch. Yoshiko hingegen war von Rechts wegen erschüttert, als ein einhundertsechzig Pfund schwerer Drittklässler knapp vor unserer Nase vorbei flog, hart auf dem Beton auf kam und sich dann noch mehre Meter überschlug, bevor er endlich liegen blieb. Ich seufzte zum Steine erweichen, denn das konnte nur eines bedeuten: Aki Shirai! Der blasse Junge mit den braunen Haaren und der schmächtigen Statur hatte wieder einmal zugeschlagen. Eigentlich wirkte er, als würde für ihn jederzeit ein Ärzteteam mit Defibrilator bereit stehen, aber wenn man bedachte, dass er ein Karate-Schwarzgurt war und in Judo den braunen Gürtel hatte, konnte einem Angst und Bange werden. Doch es war gerade diese Zerbrechlichkeit, die ihn auf Frauen wirken ließ. Eine Tatsache, der er sich übrigens nicht bewusst war.
Langsam setzte ich mich in Bewegung und zog die immer noch schreckensstarre Yoshiko hinter mir her.
Wie ich erwartet hatte, hatten hinter der nächsten Ecke fünf Burschen Aki eingekreist und lauerten auf ihre Chance, ihn zu erledigen. Aber gegen einen Schwarzgurt hatten sie nicht wirklich eine Chance. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, es immer wieder zu versuchen.
„Bist du schon wieder in Schwierigkeiten, Aki-kun?“, fragte ich mit einem weiteren tiefen Seufzer.
„Nicht ich, Klassensprecherin“, sagte er mit leiser, zerbrechlicher Stimme und deutete mit dem Daumen hinter sich. Dort hockte klein und blass Megumi Takahara am Boden gegen die Mauer gelehnt und sah angstvoll zu den Jungen hoch. Also entweder hatte sie die Jungs mit ihrem Fototick in den Wahnsinn getrieben, oder hier passierte etwas, was ich niemals tolerieren würde.
„Brauchst du Hilfe?“, fragte ich, stellte meine Tasche ab und begann meine Arme zu strecken.
„Das ist Akira-sama!“, rief einer der Burschen. „Lasst uns hier verschwinden!“
„Was denn? Das ist doch nur ein Mädchen!“
„Selbst wenn sie nur ein Mädchen wäre, es ist egal! Akira-sama verärgert man nicht! Akira-sama besiegt man nicht!“, blaffte der erste den zweiten an, griff in seinen Kragen und zwang ihn, sich mit ihm zu verbeugen. „Ein Versehen, nur ein Versehen, Akira-sama. Wir gehen schon wieder.“
Kurz darauf zogen die fünf Kerle tatsächlich ab. Was, keine Prügelei? Ich hatte mich auf ein wenig Bewegung gefreut.
„Danke, Aki-kun“, sagte die weißhaarige Megumi und ließ sich von ihm aufhelfen. „Und das alles nur wegen differenzierenden Preisvorstellungen.“
Ich schlug mir eine Hand vor’s Gesicht. „Megumi! Du hast doch nicht etwa schon wieder…?“
„Schon wieder was?“, fragte die Computerverrückte und lächelte ihr unschuldigstes Lächeln.
Fordernd streckte ich ihr meine Hand hin. „Gib sie her.“
„Ich weiß nicht, was du meinst, A-ki-ra-sa-ma.“
„Die Gesäuseltour kannst du dir sparen“, tadelte ich. „Gib… sie… her!“
Murrend griff sie in die linke Tasche ihres Uniformrocks und zog ein gutes Dutzend Fotos hervor. Ich brauchte nicht erst drauf zu schauen, um zu wissen was sie zeigten. Mich, Yoshiko und ein paar andere Mädchen in wirklich, nun, nicht gerade künstlerisch wertvollen Situationen und Posen.
„Diese Serie ist neu. Es sieht wirklich so aus als würden Kei und ich uns küssen.“ Ich lächelte mit fast geschlossenen Augen. „Deine Computerarbeiten werden immer besser, mein Schatz.“
„Oh, danke. Ich habe auch lange daran gefeilt und… Warum hältst du die Hand auf?“
„Den Datenträger. Bitte.“
Murrend legte sie eine Flashcard in meine ausgestreckte Hand. Ich zerbrach den Träger immer noch lächelnd in der Rechten. „Du löschst die Masterdatei auf deinem Rechner. Ich werde das kontrollieren.“
„Manchmal machst du mir wirklich Angst, Akira“, sagte sie mit einem Schaudern in der Stimme.
„So? Sehr gut. Übrigens, es ist kein Wunder, dass die Jungs auf dich sauer waren. Erstens nimmst du mich als Modell und zweitens willst du auch noch zehntausend Yen pro Bild. Das ist vollkommen übertriebener Wucher.“ Immer noch lächelnd wandte ich mich Aki zu. „Aki-kun, darf ich dich bitten, Megumi in unsere Klasse zu begleiten? Falls die Typen wiederkommen.“
Ich ergriff meine Tasche, wandte mich um, winkte noch einmal und setzte mich wieder in Bewegung. Dabei begann ich genüsslich die Bilder in kleine Fetzen zu zerreißen.
„Ist das dein Ernst? Sie glaubt es wirklich nicht?“, hörte ich Aki-kun hinter mir rufen. Aber das interessierte mich schon nicht mehr.
„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du manchmal nicht die Hand vor Augen siehst?“, tadelte mich Yoshiko ernst.
„Was? Bist du vielleicht der Meinung, wir sollten selbst in dieses Geschäft einsteigen, anstatt es zu unterbinden?“ Ich blieb stehen und beugte mich zu meiner Freundin herüber. „Willst du vielleicht mit ein paar Aufnahmen von uns beiden starten?“
Yoshiko errötete. „Wer will dich schon küssen.“
„Sag ich doch.“ Bestätigt und zufrieden mit der Welt betrat ich die Schuhhalle.
„Wo bist du so lange gewesen?“ Keiko Hazegawas Blick hätte einen Baum umwerfen können. Die große Frau konnte einen Menschen, der den Umgang mit ihr nicht gewohnt war, durchaus ängstigen. Immerhin war sie größer als die meisten Jungen an der Schule und übertraf selbst die Mädchen aus dem letzten Jahr bei weitem. Dennoch war sie, Hm, wenn ich als Frau das sagen durfte, einfach schön. Vor allem war bei ihr nicht nur die Körpergröße gewaltig. Ab und an fragte ich mich, ob die BHs, die sie trug, extra für sie hergestellt werden mussten, mit der sie ihre jugendliche Fülle bändigte.
„Es gab ein wenig Ärger. Megumi hat wieder Fotos verkauft. Aber Aki-kun hatte ihr bereits aus der Patsche geholfen“, sagte ich mit einem zufriedenen Lächeln.
„Aki-kun? Der kleine, schwächliche Aki?“ Erstaunt musterte sie mich.
„Der Schwarzgurt Aki“, erinnerte ich.
„Zugegeben. Aber warum hat Megumi sie nicht selbst fertig gemacht? Sie hat es schon mal gegen zehn zugleich aufgenommen.“
„Vielleicht wollte sie sich ausnahmsweise einmal retten lassen“, erwiderte ich.
Yoshiko erwiderte mein Zwinkern in ihre Richtung mit einem breiten Lächeln.
Als ich am Platz meines Bruders vorbei kam, fuhr ich ihm kurz durch die Haare. Er war ja so niedlich. Aber vor allem war er ein tödlicher, präziser Kämpfer, und das machte ihn erst so anbetungswürdig.
„Lass ihn doch wenigstens einmal in Ruhe“, tadelte Kei. „Es fehlt noch, dass du ihn morgens anzuziehen versuchst.“
Der Junge saß auf dem Schreibpult direkt hinter meinem und sah ernst zu mir herüber.
Ich musterte meinen Stellvertreter und besten Piloten mit einem schiefen Blick. „Ist es dir vielleicht lieber, wenn ich mich in Eifersucht ergehe, weil mein kleiner Bruder ein Jahr übersprungen hat und nun in meiner Klasse ist, was mich wie eine Idiotin wirken lässt?“
Kei verzog nicht eine Sekunde die Miene, antwortete aber auch nicht darauf.
„Außerdem hätte er es sicherlich gesagt, wenn es ihm unangenehm gewesen wäre, von Oneechan angefasst zu werden.“
„Es ist nicht das anfassen“, murmelte Kei und vermied es mich anzusehen.
„Was ist es dann?“
„Das wirst du schon selbst herausfinden müssen, Akira-chan.“
Ich hob die linke Augenbraue. „Was machst du eigentlich hier? Deine Klasse ist doch nebenan.“
„Ich besuche Freunde. Darf ich das nicht?“
Hinter Kei beugte sich Hiro Yamada hervor und winkte schüchtern. Das war typisch für den Blondschopf. Nie konnte er sich richtig durchsetzen, nicht einmal gegen Kei.
Aber als Dai-chan direkt hinter ihm aus dem Nichts auftauchte, erschrak Mr. Ice doch ein wenig. „Soll ich ihn erledigen, Boss?“, fragte Dai Ataka und schob ihre Brille die Nase hoch. Dabei entstand ein schimmernder Effekt, der über ihre Gläser perlte.
„Ich glaube, das erledigt Sakura schon für uns, wenn Kei lange genug wartet“, erwiderte ich mit einem dünnen Lächeln.
„Zugegeben“, erwiderte Dai-chan.
Keiko nahm schmunzelnd auf ihrem Sitz Platz und musterte die beiden. „Seht aber zu, dass ihr Hiro-chan nicht verletzt. Es gibt eine Menge Mädchen, die würden es euch übel nehmen, wenn er mit einem blauen Auge herumlaufen müsste.“
„Äh“, machte Hiro Yamada und errötete. Kräftig und dunkel.
„Habe schon verstanden“, brummte Kei belustigt. Er schob seine Hände tief in die Taschen seiner Hose, stieß sich ab und schlenderte auf den Gang hinaus.
„Stopp.“
„Was ist denn noch?“, fragte er ärgerlich.
Ich trat an ihn heran und hakte den Kragen neu ein. Anschließend fuhr ich ihm ein paar mal durchs Haar. „Dass du auch nie auf dein Äußeres achten kannst“, tadelte ich.
„Und das aus deinem Mund, Akira, das ist wohl das größere Paradoxon.“
Gegen meinen Willen musste ich lächeln. „In der Schule trage ich weder Helm noch Druckanzug.“
„Und das ist wirklich schade“, erwiderte Kei, zwinkerte mir zu und verließ die Klasse. Merkwürdig, für einen Moment, einen kleinen Moment war er mir wirklich unter die Haut gegangen.
Irgendwie wurde ich nicht schlau aus diesem Knaben.
Die Homeroom-Stunde begann mit unserem Klassenlehrer. Oh, ich wünschte wirklich, es wäre ein Heimspiel gewesen, ausgerechnet ihn als Klassenlehrer zu haben, immerhin war er mein Cousin. Aber leider nahm er mich – ausgerechnet mich – in seinen Unterrichtsfächern besonders hart ran. Er sagte immer, man müsse mein Talent stetig prüfen und feilen. Vielleicht was es dieses prüfen und feilen, das dafür sorgte, dass ich es im Landesvergleich regelmäßig in die Top Ten schaffte, ohne eines dieser makellosen Mega-Genies ohne Leben zu sein.
Als Sakura Ino eintrat, ging ein Raunen durch den Raum. Heute trug er seine goldblonde Haarflut mal offen. Der große, athletische und leicht gebräunte Mann mit den tiefblauen Augen winkte mit einem fröhlichen Lächeln in die Runde und erntete dafür Seufzer der Begeisterung. Zu meiner Irritation nicht nur von den Mädchen. Selbst Yoshiko schaltete ihre Körperzeichen auf „strahlende Bewunderung für den Sensei“.
Für eine Sekunde dachte ich darüber nach, was wohl erschreckender für mich wäre: Yoshiko als Frau meines Bruders oder als Frau meines Cousins zu begrüßen. Ich fand beides gleich fürchterlich. Nicht wegen Yoshiko, sondern weil keiner der Kerle meine süße Freundin überhaupt verdient hatte. Akio-senpai vielleicht, er war ernst, zuverlässig, aufrichtig und ein klitzeklein wenig verschlossen, was ihn schon interessant machte. Manche sagten auch, er sehe wirklich gut aus. Ich maßte mir nicht an das zu beurteilen, aber ich fand schon, dass der Blondschopf nicht hässlich war.
Sam Anderson wäre vielleicht auch eine gute Wahl. Der charismatische Austauschschüler hatte richtiges weltmännisches Flair, und wäre ein guter Kandidat gewesen, wenn nicht zwei Dinge dagegen gesprochen hätten. Einerseits Diana Honda, seine Leibwächterin, die quasi nie von seiner Seite wich, angeblich nicht einmal im Bad – und ich meine Leibwächterin – sowie die Tatsache, dass er ein Escaped war. Er war einer jener Glücklichen, die einst von Kronosiern entführt und in einen Biocomputer integriert worden war und nach seiner Befreiung einen großen Teil seines Wissens behalten hatte. Das machte mir ein wenig Angst, wenngleich ich diejenige gewesen war, die ihn aus seinem Tank geholt hatte. Okay, ich und Diana, die neue, aufstrebende Hawk-Pilotin der UEMF. Wenn ich nicht aufpasste, würde sie mich eines Tages ersetzen. Darauf freute ich mich schon.
„Akira-chan?“, klang die freundliche Stimme Sakuras auf.
Ich schreckte hoch. „Sensei?“
„Ich habe nur gefragt, ob meine Anwesenheit dich so sehr irritiert, dass du mich ignorierst“, fragte er mit einem engelsgleichen Lächeln.
Innerlich erstarrte ich zu Eis. Oh Gott, ich hatte ihn verärgert! „M-meine Gedanken sind nur gerade etwas abgeschweift. Es gi-gibt da doch diesen aufdringlichen Idioten, der mir nach dem Unterricht immer auflauert und… Ach, ich komme mit solchen Trotteln einfach nicht klar.“
Das Lächeln meines Cousins wurde ein klein wenig weniger strahlend. Das bedeutete, sein Zorn war vorerst verraucht. „Oh. Mit Idiot meinst du sicherlich James Reilley, den neuen Superstar, oder? Fünf Alben in den Top Ten, dreiundzwanzig Lieder in den Top One Hundred, und Junggeselle Nummer eins in ganz Japan?“
Ich runzelte irritiert die Stirn. Okay, für den Rest von Japan mochte er eine große Nummer sein, für mich war er nur eine Nervensäge.
„Ich kann dich beruhigen. Er wird dir sicherlich nicht nach der Schule auflauern“, sagte Sakura mit Vorfreude in der Stimme.
Meine Stirnfalten vertieften sich und taten damit genau das, was meine Mutter mir ständig verbot, denn ein junges Mädchen hatte gefälligst eine tadellos glatte Stirn zu haben, und keinen Grand Canyon. „Heißt das, man hat ihn ausgewiesen? Wurde auch Zeit“, murmelte ich und erntete dafür protestierendes Gemurmel einiger meiner Klassenkameraden.
„Nein, tut mir Leid, er ist immer noch in Japan. Genauer gesagt, er ist hier.“
Entsetzt starrte ich meinen Cousin an. Das wurde doch nicht etwa die alte Transfer-Student-Nummer, der in die Klasse seiner Liebsten wechselte?
„Komm doch bitte rein, James-kun, und stell dich vor“, sagte Sakura, diesmal ohne eine Spur von Lächeln.
Die vordere Tür öffnete sich, und der schlanke, mittelgroße Rotschopf trat ein. Dabei strich er sich affektiert mit der Linken durch die Haare und löste damit bei einigen Mädchen einen kollektiven Seufzer aus. Nun, jedenfalls nicht bei mir.
„James-kun ist seit zwei Jahren beinahe permanent auf der Bühne und hat viel Schulzeit verpasst. Da er gerade zwischen zwei großen Projekten steckt, hat er sich dazu entschlossen, ein wenig die Schulbank zu drücken. Bitte, James-kun.“
Der Rotschopf lächelte charismatisch. „Danke, Sensei. Hallo, mein Name ist James Reilley. Der eine oder andere kennt mich vielleicht schon, aber für alle anderen möchte ich kurz etwas über mich erzählen. Ich bin Sänger und Schauspieler und habe gerade erst eine große Tour durch Japan beendet. In drei Monaten werde ich einen Spielfilm drehen, und bis dahin kann ich genügend Freizeit erübrigen, um wieder ein wenig zu lernen. Außerdem ermöglicht es mir, die hübschen japanischen Mädchen etwas näher kennen zu lernen.“
Bei diesen Worten zwinkerte er mir zu. Ich zuckte mit den Schultern. Ob es Voraussetzung dafür war blind zu sein, um Superstar zu werden? Jedenfalls, wenn dieser Trottel versuchen würde, meine Freundinnen zu belästigen, hätte ich eine erstklassige Gelegenheit, um ihm die Bedeutung des Wortes „Nein“ explizit nahe zu bringen. So gesehen versprach die Sache wieder spaßig zu werden.
„Willkommen, James-kun“, nahm nun Sakura wieder das Wort auf. „Ich freue mich über jeden Schüler, der eine schnelle Auffassungsgabe hat. Aber ich denke, selbst wenn man nicht darüber verfügt, sollte Lernwilligkeit vieles ersetzen.“ Sakura beugte sich zu James hinab und sah ihn bitterböse an. Der Showstar schrumpfte merklich zusammen. „Du bist doch sicherlich niemand, der sich während des Unterrichts ablenken lässt, oder?“
Abwehrend hob er beide Arme. „N-natürlich nicht, Sensei.“
Sakuras Miene wurde wieder freundlicher. „Neben Akio Shirai ist noch ein Platz. Bitte, er gehört dir.“
„Danke, Sensei.“ James kam den Gang hinab und hatte für alle die er passierte ein freundliches Wort oder ein Nicken. Widerstrebend musste ich zugeben, dass ihm die schwarze Schuluniform mit dem Stehkragen sehr gut stand. Wenngleich er etwas zu kurz geraten war, der Arme.
„Hallo, Akira-chan“, sagte er lächelnd, als er an mir vorbei ging.
„Geh sterben“, murmelte ich zurück. Wäre ich ein Mann gewesen und er die Frau, hätte ich so ein Wort sicher nicht mal in den Mund nehmen dürfen, ohne als brutaler Frauenhasser zu gelten. Aber Frauen verzieh man so viel, auch ein wenig unflätiges Benehmen, sobald Emotionen im Spiel waren. Es war geradezu befreiend. Manchmal.
„Oh. Du brichst mir das Herz“, flüsterte er zurück und zwinkerte mir zu.
„Fangen wir mit einem Arm an und arbeiten wir uns langsam vor.“ Ich verschränkte die Finger ineinander und drückte sie nach außen.
„KEIN GEREDE WÄHREND DER HOMEROOM!“, blaffte Sakura wütend.
Unwillkürlich duckten wir uns. „Ja, Sensei!“
*
In der großen Pause nahmen wir immer das Dach in Besitz. Wir, das waren Yoshiko, Megumi, Keiko, Dai und ich. Meistens gesellten sich auch noch Yuri und Kei dazu, manchmal fand sogar Hiro den Weg bis aufs Dach.
Normalerweise wagte es niemand, uneingeladen den Bansho, den Bandenchef der Fushida High – also mich, obwohl ich nicht sagen konnte, wie ich zu diesem Ruf gekommen war – hier oben zu belästigen, aber heute war es ärgerlicherweise anders. Natürlich war James ebenfalls auf das Dach gekommen. Und ich weiß nicht was es war, vielleicht der flehentliche Blick, vielleicht der erbärmliche Anblick eines Schokoriegels und eines kleinen Energy-Drinks, ich hatte mich seiner erbarmt und ließ ihn vom mehrstöckigen Bento mit essen, das ich eigentlich für Kei und meinen niedlichen kleinen Bruder gemacht hatte.
„Das ist wirklich lecker. Du wirst mal für jemanden eine wundervolle Braut werden, Akira-chan“, sagte er nach einer eingehenden Kostprobe quer durch das Angebot.
„Hast du bei diesem Jemand einen bestimmten Menschen im Auge?“, fragte ich.
„Nun, wenn du mich so direkt fragst, wie wäre es mit mir?“
Ich hatte schon eine harsche Erwiderung auf der Zunge, als Kei aufstand und sich vor ihm aufbaute. „Ich bezweifle doch ernsthaft, das jemand wie du die Kragenweite hat, um ausgerechnet zu Akira zu passen“, sagte er von oben herab. „Sie interessiert sich nicht für kleine Kinder, merk dir das.“
Zugegeben, ich wusste nicht ob ich irritiert, geschockt oder besser gleich beides sein sollte. Wie lange war es her, dass Kei mich verteidigt hatte? Seit dem Sandkasten jedenfalls nicht mehr. Umso gerührter war ich über seinen starken emotionalen Ausbruch. Stark emotional, wenn man sein normales Verhalten als Maßstab setzte.
„Und ich bezweifle, dass sie mit einem kleinen Streber besser bedient ist, egal wie toll seine ach so blauen Augen sind“, konterte James.
Dai Ataka schob langsam ihre Brille die Nase hoch und richtete sich in einer eleganten Bewegung auf. „Ein Wort von dir, Boss, und ich knöpfe mir beide vor.“
Für eine Sekunde wog ich die Chancen der schwarzhaarigen Schönheit gegen den Elite-Piloten Kei Uno ab und kam ernsthaft in Zweifel. Dai war gut, verdammt gut sogar, aber würde sie auch Kei schaffen? Dieser Mann war schon auf dem Mars gewesen, hatte über einhundert Kronosier abgeschossen und wurde als Death God noch immer von den New Yorkern wie ein Heiliger verehrt. Ich übrigens auch, beziehungsweise meine Geheimidentität als Blue Lightning, aber das nur am Rande. Beide konnte Dai auf keinen Fall schaffen, und mir stand nicht der Sinn danach, einem der beiden Verstand einzuprügeln. Oder beiden. Deshalb begnügte ich mich mit einem abwertenden Laut und wandte mich ab. Dai deutete die Geste korrekt, nickte und ließ sich wieder gegen den Maschendrahtzaun sinken. Merkwürdig, wenn ich sie so betrachtete, dann stellte ich sie mir im Kimono vor, ein Katana in der Hand, und mit aufwändig hochgeknotetem Haar, ein Samurai durch und durch.
„Da siehst du was du angerichtet hast. Deine Anwesenheit beleidigt Akira. Wenn ich du wäre, würde ich hier schnell verschwinden“, sagte Kei ruhig, aber mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme.
„Denkst du nicht, dass es eher so ist, dass sie von dir gelangweilt ist, Mister Ice?“
Die beiden Männer lächelten sich grimmig an. James kam auf die Beine, und bald hätte man kein Blatt Papier mehr zwischen sie schieben können. Die zwei wollten sich doch nicht etwa prügeln? Und dann auch noch um mich? Männer! Wenn es wenigstens um Yoshiko oder um Dai gegangen wäre, aber um mich?
Als James ein paar hastige, ungeschickte Schritte nach hinten ging, sah ich interessiert auf. Hinter ihm stand Makoto, eine Hand in seinen Gürtel vergraben, und zog ihn näher zu sich heran. Meine Cousine lächelte ein wirklich falsches Lächeln. „Okay, der Spaß ist vorbei. Alle Leute, die hier nichts zu suchen haben, sind in genau einer Minute verschwunden.“
„Kannst du nicht etwas zärtlicher zu mir sein?“, beschwerte sich James und wand sich aus ihrem Griff. „Und mit welchem Recht schickst du uns hier fort?“
Ihr Blick wurde böse, sie griff sich den Kragen und zog sein Gesicht auf ihre Augenhöhe. „Mit dem Recht des Stärkeren!“
„Ich würde auf sie hören. Makoto-chan ist Judomeisterin der Schule“, bemerkte Kei spöttisch.
Ich ignorierte die Szene, denn etwas an Makotos Worten hatte mich alarmiert. „Einsatz?“, fragte ich knapp.
„Der Heli ist unterwegs. Nur die Hekatoncheiren.“
Ich nickte ernst und sah in die Runde. Nacheinander nickten meine Freunde und erhoben sich. Yoshiko tätschelte meinen Kopf. „Komm gesund wieder, Schatz. Und wenn du etwas Zeit hast, passe doch auf Yuri und Kei auf, ja?“
„Wenn ich Zeit habe“, erwiderte ich lächelnd.
Yoshiko lächelte mir zu, griff in James´ Kragen und zog ihn hinter sich her. „Was jetzt kommt ist nichts für Kinderaugen. Komm mit, Superstar.“
Dai kam an seine andere Seite und zog ihn ebenfalls fort. Den Abschluss bildeten Megumi und Keiko, eine unüberwindbare Mauer. Leise protestierend ließ er sich mit ziehen. Warum meckerte er überhaupt, wenn sich vier der schönsten Mädchen der Schule um ihn kümmerten?
Kurz darauf lag das Knattern des Hubschraubers in der Luft. Er schien es eilig zu haben.
*
„Geht es wieder los, Akira-sama?“, wisperte eine fröhliche Stimme neben mir. Erschrocken fuhr ich zusammen, bis mir klar wurde, dass es Akiyama war, mein persönlicher Oni.
„Erschrecke mich nicht immer so!“, blaffte ich ihn an. Oh, ich hasste es, wenn er so plötzlich aus dem Nichts auftauchte. Andererseits war er wirklich nützlich. Der ehemalige zum Oni mutierte Geist eines Samurais war eine meiner stärksten Waffen, und in letzter Zeit eine Überraschung für die Kronosier, die zufälligerweise auch mit einer Kampfkraftsteigerung aufgewartet hatten. Mit ihm und den anderen Six Stars stand mir eine Kraftquelle zur Verfügung, die sogar einen Kreuzer vernichten konnte. Ich hatte es ausprobiert und war zufrieden gewesen.
„Ob es losgeht weiß ich nicht. Mako-chan sagt ja nichts“, fügte ich ärgerlich hinzu.
Makoto verzog die Miene zu einem spöttischen Lächeln. „Kampfeinsatz. Massiver Angriff auf den OLYMP. Der Gegner setzt eine neuartige Waffe ein, die bisher fünf reguläre Hawks zerstört hat, bevor es überhaupt zu Kampfhandlungen kommen konnte. Sie werden in einer Stunde im Orbit sein. Das bedeutet, die Hekatoncheiren werden eine geschlagene halbe Stunde kämpfen müssen, ohne dass wir vier dabei sind. Das wird verdammt hart.“
Ich nickte verstehend. „Akiyama, was machen die Six Stars?“
Der Samurai-Oni lächelte mich freundlich an. Das gefiel mir wesentlich besser als diese hässliche Oni-Maske, die er sonst zu tragen pflegte. Die war so unästhetisch. So aber war Aki-chan eigentlich ein schmucker Kerl. Wenn er nicht tot und ein Dämon gewesen wäre. Allerdings war er mein Dämon.
„Sie sind bereit. Blue Star hat mich informiert, dass der Kreis, der mich und damit dich, Akira-sama, mit Energie versorgen wird, in zehn Minuten stehen wird.“
Ich winkte ab. Die Six Stars waren eine Gruppe ominöser Männer, die in auffälligen Uniformen durch die Gegend hüpften und Menschen davor retteten, Youmas zu werden. Sie wurden von entartetem KI befallen, verwandelten sich in etwas schreckliches und wüteten, bis sie entweder getötet oder vom KI befreit wurden. Da kamen Blue Star und die Six Stars ins Spiel. Die aufregend uniformierten jungen Männer trennten das KI von den Opfern und vernichteten es.
Zur Zeit hatten sie noch eine zweite Aufgabe. Sie konnten einen der ihren, namentlich Akiyama – weiß der Henker, wie ausgerechnet ein Oni zu so einer Gruppe hatte stoßen können – mit ihrer Energie aufladen. Diese stand dann mir zu Verfügung. Und ich wusste, wie man sie benutzte.
„Sie brauchen nicht zusammen treten, bevor ich in meinem Hawk sitze“, wiegelte ich ab.
„Titanen-Station kommt in Sicht!“, klang die Stimme des Kommandanten auf. Junge, Junge, der Bursche musste ja wirklich aufs Gaspedal getreten haben, wenn wir schon so weit draußen über dem Pazifischen Ozean waren.
Langsam begannen mich diese neuen Waffensysteme zu interessieren, wenn selbst einem UEMF-Kampfpiloten der Arsch genügend auf Grundeis ging, um sich derart zu beeilen.
Der Einschleusevorgang, der kurze Kontakt mit Commander Sikorsky und Colonel Beauchamp und das hastige Umkleiden in unsere Druckanzüge flog an mir vorbei, wenngleich ich dankbar die letzten Informationen der beiden erfahrenen Frauen aufnahm wie ein trockener Schwamm Wasser. Ich tat es etwas ungläubig, denn wer hatte schon je von Torpedos aus Licht gehört, die ihren Zielen hinterher jagten. Andererseits war ich einiges gewöhnt, was die Kronosier anging. Das Meiste war negativ.
Auf dem OLYMP erwartete uns Charlotte, die Cheftechnikerin. Die grauhaarige Deutsche saß auf einem Elektrowagen und winkte uns, damit wir schnell aufsaßen. „Die Hekatoncheiren sind bereits draußen, ebenso beide Titanen-Bataillone. Sie halten sich gut, aber gegen einen solchen Ansturm und die neuen Waffen ziehen sie nach und nach den Kürzeren. Wir halten die Kreuzer auf Abstand, aber es ist abzusehen, wann wir keine Mechas mehr haben.“
„Verstehe. Also habt ihr uns gerufen, damit wir den Kronosiern mal wieder in den Arsch treten?“
„Das siehst du richtig, Mädchen“, rief Charlotte beinahe fröhlich. Wir fuhren in den Hangar ein und sprangen vom Wagen. An den Boarding Bays waren bereits unsere Mechas aufgefahren. Blue Lightning! Death God! Thunderstrike! Zeus!
„Akira! Yuri!“
Wir wandten uns der Stimme zu und sahen Mutter auf einem Balkon stehen. Wie immer trug sie ein strenges Geschäftskostüm, ihr Gesicht von Sorge gezeichnet, wie jedes mal wenn sie uns in den Einsatz schicken musste. „Kommt gesund zurück.“
Ich salutierte in ihre Richtung. „Befehl wird ausgeführt, Ma´am.“
Sie schmunzelte, bedachte mich aber mit einem Tadel. Ich quittierte mit einem Lächeln.
„Los geht’s, Leute!“, rief ich und stürmte auf meinen Mecha zu.
„Schön, dich wieder an Bord zu wissen, Mädchen. Was machen die Quartalstests?“
„Schön, wieder hier zu sein, Blue. Sie laufen ganz okay. Aber ich würde den Tag gerne mit ein paar Abschüssen krönen. Kriegen wir das hin?“
„An mir soll es nicht scheitern, Mädchen“, erwiderte Blue und lachte.
Der Hawk wurde auf das Startkatapult gestellt.
„Akira Otomo auf Blue Lightning, bereit zum Start!“
Sekunden darauf befand ich mich im Weltall, und stürzte mitten in ein Gefecht.
Es klingt wie eine Abfolge von Plattitüden, und das war es auch. Jedes Gefecht, egal ob im Weltall oder auf der Erde, war nichts weiter als eine stumpfsinnige Folge von Aktion und Reaktion… Wenn man mal vom kochenden Blut, dem pulsierenden Adrenalin und der Angst zu sterben absah.
„Blue Lightning, hier Blue Lightning! Bericht!“
„Gut, dass Sie kommen, Colonel! Wegen dieser verdammten Lichttorpedos sind schon drei von uns drauf gegangen! Nicht durch die Torpedos, aber weil die Dinger einen so in Beschlag nehmen, dass man manchmal die Übersicht verliert und…“
„Ruhig bleiben, Colt. Das haben neue Waffen so an sich. Räumt die Front, ich wiederhole, räumt die Front!“ Düster lächelnd besah ich mir das Szenario. „Ich kümmere mich um die Angelegenheit.“
„Ihr habt den Boss gehört! Platz! Platz!“
Mein Blick ging zu Akiyama. Der Geist eines toten Samurais schien erfreut auf den Kampf zu sein. Aber ich kannte ihn zu gut. Ich wusste, dass er nur für mich an dieser Schlacht teilnahm. Töten war ihm zuwider, seit damals sein Herr verraten worden war und er sich für ihn geopfert hatte… Nur um später zum Oni zu werden, weil er dann doch von seinen Feinden arglistig und gegen alle Ehre dreckig zu Tode gebracht worden war. Akiyama hatte seinen Anteil getötet, wie er manchmal zu sagen pflegte, aber er liebte mich zu sehr, um mich alleine gehen zu lassen. Platonisch, meine ich.
„Sind wir soweit?“
„Jederzeit, Akira-sama. Wir können die Torpedos auslöschen, wann immer du willst.“
Ich lächelte dünn, auf eine Weise, die sogar einem Mann ohne Körper wie Aki-chan einen Schauder über den Rücken jagte. „Auslöschen? Im Gegenteil. Ich will sie zu mir locken.“
Akiyama setzte zu einem Protest an, aber da hatte ich die Schubpedale bereits durchgetreten. „Sobald die Torpedos auf mich fokussiert sind, greift an, Kei!“, befahl ich.
Schweigen antwortete mir. Dann antwortete eine reichlich raue Stimme: „Ich hoffe du weißt auch heute was du tust, Akira.“
Was erwartete er nur für eine Antwort auf so eine dumme Frage?
„Errichte ein KI-Feld. Groß, gesättigt, und unübersehbar“, wies ich den Oni an.
Er nickte blass, konzentrierte sich und wurde teilweise durchscheinend. Nun durchtobten ihn die Energien der anderen fünf Stars, seine eigene dazu, und obendrauf kam jene Kraft von mir, die all sein Tun in Form lenkte. Dadurch entstand eine Kugel aus reiner KI-Energie, die für die Torpedos wie ein Leuchtfeuer wirkte.
„Zehn“, zählte Blues K.I. herunter. „Zwanzig. Dreißig. Fünfunddreißig! Vierzig!“
Alle ließen von ihren Zielen ab, rasten auf mich zu. Ich lächelte nur. Als die ersten Torpedos mein KI-Feld erreichten, versank meine Welt im Licht…
Übergangslos schälte sich ein Wald vor mir aus dem Licht. Ich kannte diesen Wald nur zu gut. Und ich kannte seinen störrischen, manipulativen Herrn und einige seiner Bewohner.
„Akira-chan“, hauchte eine Stimme direkt hinter mir. Ein warmer Atem, der angenehm nach frischer Minze duftete, strich mir über den Nacken. „Was machst du immer nur für Sachen mit mir, Akira-chan? Musst du dich immer so weit vorwagen, dass mich fast ein Herzinfarkt trifft?“
Langsam wandte ich mich um. Ich kannte den Gusto meines Gastgebers mittlerweile gut genug um zu wissen, dass ich nicht länger die enge Pilotenkombi trug. Stattdessen steckte ich sicherlich wieder in einem viel zu engen Trikot, das keines meiner vielen Speckpölsterchen verheimlichte. Manche Männer hatten wirklich verrückte Interessen.
„Ich wusste, du würdest eingreifen, Dai-Kuzo-sama.“
„Natürlich rette ich dich.“ Der große, athletische Mann mit der langen schwarzen Haarflut sah mich aufmunternd an. „Wenn du deinem weißen Ritter nicht mehr vertrauen kannst, wem dann?“
„Weißer Ritter!“, stieß ich amüsiert hervor. „Du hast hier keinen naiven kleinen Jungen vor dir, den du nach Herzenslust manipulieren kannst, indem du mal mit den Augen klimperst. Bursche, ich spiele in einer anderen Liga, und ich denke nicht im Traum daran, dir auch nur eine Sekunde mehr zu vertrauen als du dir verdient hast.“
Dai-Kuzo griff sich ans Herz und verzog sein Gesicht wie vor Schmerz verzerrt. „Ah, Akira-chan! Es tut weh, so etwas zu hören! Du brichst mir das Herz, zerbröselst es und dann trittst du noch mal auf die Reste! Wie kannst du nur eine Sekunde glauben, meine Taten wären etwas anderes als Selbstlosigkeit für meine Muse?“
„Spare dir die Sprüche“, erwiderte ich. „Vor allem, wenn du mich ins Dämonenland holst und schon wieder so einen Fummel tragen lässt. Man sagt ja, Alter macht lustig. Aber was du tust, ist selbst mit fünftausend Jahren nicht zu entschuldigen.“
Seufzend sah der Dämonenkönig zu Boden. „Ich gebe es auf. Okay, ich sehe, dass du nicht gerettet werden musstest, aber mit mir reden wolltest. Was kann ich für mein wunderschönes Mädchen tun?“
Wunderschönes Mädchen, wenn ich das schon hörte… „Nicht mehr als sonst auch. Du brauchst mich, das hast du mehr als einmal gezeigt. Und ich bin gerne bereit, dir zur Hand zu gehen, solange das meine Fähigkeiten verbessert und mich voran bringt. Ich verlange nicht mehr von dir als einen adäquaten Ausgleich für das, was ich dir gebe.“
„Ich wusste immer, dass du die Geschäftstüchtigkeit deiner Mutter geerbt hast, aber ich wusste nicht, dass du sie übertreffen könntest. Kannst du deinem kleinen Bruder überhaupt noch in die Augen sehen?“
„Kuzo!“, mahnte ich.
„Also gut, mein Schatz. Was kann Onkel Dai-Kuzo für sein Engelchen tun?“
„Die Torpedos…“
Dai-Kuzo winkte ab. „Ach, die. Du schaffst sie mit links.“
„Das ist es nicht. Sie werden von freiem, beseelten KI aufgeladen und gelenkt. Ich… Ich will nicht, dass dieses KI unnütz vergeht. Ich… Ich will es retten. Kennst du einen Trick dafür?“
Die Miene des Spinnendämons wechselte von finster auf tiefe Bewunderung. „Oh, ich hätte es wissen müssen. Für die einen bist du sicherlich die tödliche, effektive Killermaschine, aber für mich bist und wirst du immer das Mädchen mit dem Herzen aus Gold sein. Das KI retten, welches die bösen Kronosier in den Torpedos verbaut haben, auf so etwas naheliegendes und Riskantes kannst nur du kommen.“
Ich streckte eine Hand aus und hielt den Dämonenkönig auf Abstand, bevor er mich umarmen konnte. „Wie auch immer. Kannst du mir helfen?“
Deprimiert hielt er den Abstand ein, den ich erzwang. „Du schaffst das sicher nicht, auf diesem Stand der Übung. Aber… Hm, ja, das könnte gehen.“ Halb wandte sich der große Dämon um. „He, Kitsune, Okami, es gibt was zu tun!“
Die Büsche spalteten sich, als ein vorwitziger Fuchs direkt vor meine Füße sprang. Von dort ging es geradewegs in meine Arme. „Akira-chan ist da! Akira-chan ist da!“ Übereifrig leckte der Bursche mein Gesicht ab.
Ihm folgte eine große, breit gebaute Frau, die ein Profi-Promoter vom Fleck weg fürs Damencatchen engagiert hätte. Sie hatte… eine gewisse herbe Schönheit unter all den Muskeln. Und jeder der sie sah hätte niemals gedacht, dass Dai-Okami-sama die beste Heilerin der Dämonenwelt war, während der vorlaute Fuchs in meinen Armen, den nur ein brandroter Haarschopf von Yuri unterschied, wenn er sich in einen Menschen verwandelte, der beste und erfahrenste Krieger dieses Reichs war.
„Nimm die beiden mit dir. Sie werden dir helfen, das KI zu purifieren.“
„Ich danke dir, Kuzo.“
Der Dämonenkönig trat nahe an mich heran. „Dankst du mir genug für einen Kuss?“
Wütend schob ich die Augenbrauen auf meiner Stirn zusammen, und mit erhobenen Händen trat der Dämon einen Schritt nach hinten. „War den Versuch wert, oder?“
Oh, es war nicht so als würde ich ihn nicht mögen. Er versaute eben immer alles mit seiner überzogenen „wie schön du bist, Akira-chan“-Masche. Aber es reichte immer noch um ihn weiterhin zu mögen. Nur zeigte ich ihm das nicht.
„Dann können wir ja gehen“, sagte ich ernst, und befand mich übergangslos wieder in der Raumschlacht.
Die Torpedos flogen in das KI-Feld ein, angelockt wie die Motten vom Licht. Neben mir im Cockpit schwebten Okami und Kitsune, bereit für das, was nun kommen würde.
Ich griff nach den Torpedos, in meinen Gedanken, mit meinen mentalen Händen, und dann drückte ich zu! In endlos erscheinender Folge explodierten die mechanischen Torpedos. Doch das war nicht das Ende, denn nun wurde das KI, das in ihnen gesteckt hatte, befreit. Freies KI konnte eine schlimme Sache sein, und hatte schon so manchen Geisterjäger auf den Plan gerufen, aber wenn man es hütete und zusammentrieb, konnte es nützlich sein.
Es war Kitsunes Aufgabe, das KI zusammen zu treiben und auf engem Raum zu begrenzen. Danach war Okami an der Reihe. Mit sanfter, liebkosender Stimme sprach sie auf die KI-Fragmente ein. Schattenhafte Erinnerungen mochten erwachen, Erinnerungen, die ihnen aufgeprägt worden waren, als sie noch im Kreislauf eines Menschen existiert hatten. Vielleicht Erinnerungen der falschen aufgeprägten Intelligenz, die sie zu solch gefährlichen Waffen gemacht hatten. Gehorsam sammelten sie sich um Okami, und während sie das taten und ihr lauschten, verloren sie jede Farbe, jeden Glanz, bis sie waren wie frisches Glas, rein und klar. In diesem Zustand konnte Okami das KI in das allgegenwärtige Magnetfeld der Erde führen. Ich war zufrieden.
Dann ließ ich das Feld erlöschen.
Kitsune, mittlerweile ein Mensch, gab mir einen frechen Kuss auf die Wange, mitten durch meinen Schutzhelm hindurch. „Ruf uns einfach, wenn du wieder Hilfe brauchst, ja, Akira-chan?“
„Was, bleibt ihr nicht auf einen Kaffee?“, erwiderte ich. Kitsune hatte bei mir eine Menge Kredit. Jedenfalls mehr als Kuzo oder ein anderer Mann.
„Ein andernmal vielleicht“, tröstete Kitsune. Zusammen mit Okami verblasste er und war schließlich ganz fort.
Mit einem wilden Grinsen sah ich Akiyama an. „Wie sieht es aus, hast du noch Energie?“
„Natürlich, Akira-sama.“
„Sehr gut. Da sind immer noch diese Kreuzer, die diese Torpedos abgeschossen haben.“ Meine Augen wurden zu Schlitzen. „Zeit für eine kleine Revanche, Hekatoncheiren!“
Vielstimmiger grimmiger Jubel antwortete mir.
*
Wenn es vorbei war, wieder mal vorbei war, setzte bei mir schlagartig tiefe Ruhe ein. Dann wollte ich so schnell wie möglich zurück zur Erde, in meinem Zimmer irgendwelche bequemen Sachen anziehen und dann nur noch verschwinden, mich zurückziehen und darüber nachdenken, wie viele Lebewesen ich erneut getötet hatte. Zeit für mich, nannte ich das, und jedesmal entkam ich dafür meinen UEMF-Aufpassern. Die meinten es sicherlich gut, aber sie hatten von der Bedeutung der Worte „allein sein“ keine Ahnung.
Normalerweise suchte ich mir immer einen neuen Ort aus, um kronosischen Agenten keinen Angriffspunkt zu geben. Denn wenngleich nur eine Kronosierin wirklich wusste, wer hinter Blue Lightning steckte, so gab es doch genügend Legaten, die Akira Otomo, die Tochter der Direktorin der UEMF, zu gerne in die Hand bekommen hätten.
In letzter Zeit zog es mich immer wieder zum Tokyo Tower. Und ich schwor mir, dass dies das letzte mal sein würde, um keine Gewohnheit daraus zu machen. Gewohnheiten machten nur angreifbar. Dennoch hatte ich schnell einen Lieblingsplatz auf der oberen Plattform. Und genau an diesem Platz stand ich und starrte ins vom Nachtleben erfüllte Tokyo hinaus.
Als sich zwei warme, weiche Arme um mich schlangen und gegen etwas großes – genauer gesagt zwei große – drückten, hätte ich beinahe geflucht. Es war schon Gewohnheit geworden. Deshalb hatte sie mich auch gefunden. Sie, Henrietta Wilhelmine Schneider, meine liebste Legatin.
„Da hast du ja ganze Arbeit geleistet, Spatz“, säuselte sie mir ins Ohr und schmiegte sich an mich. „Legat Rockstone ist außer sich, denn diese Niederlage bedeutet vielleicht, dass die anderen Legaten ihn aus dem Haus abwählen. Das wäre das Ende der KI-Experimente.“
„Und?“, fragte ich die Legatin und tätschelte ihre Arme. „Das wäre doch für uns beide erfreulich.“
„Natürlich wäre es das.“ So wie wir da standen genoss ich ihre Wärme und Nähe, obwohl wir eigentlich Todfeindinnen sein müssten. Aber wir waren Freunde, wirklich gute Freunde. Vielleicht hatten wir die beste Freundschaft, die zwei Feinde wie wir überhaupt haben konnten. Sie war seit meinem Marsangriff irgendwie zur großen Schwester für mich geworden.
Damals, als ich zwanzig Hawks und acht Kampfschiffe auf den Roten Planeten zu unserem ersten Sieg geführt hatte, waren wir für eine halbe Stunde vom Kampf getrennt worden. Und wir hatten diese Zeit für ein vernünftiges Gespräch von Frau zu Frau genutzt. Männer hätten sich an unserer Stelle gegenseitig die Köpfe eingeschlagen und wären sich auch noch toll dabei vorgekommen.
Ich drehte mich in ihrer Umarmung und umschlang sie meinerseits. Bei ihr konnte ich mich sacken lassen und ein wenig fallen. Und das tat mir gut.
„So schlimm?“, fragte sie besorgt und führte mich zu einer nahen Bank. „Vergiss nicht, alles was wir tun, tun wir nicht nur für die Erde, sondern auch für den Mars. Wenn wir beide nicht zwei Welten retten können, wenn nicht wir, wer dann?“
Ich lächelte bei ihren Worten, brachte aber selber keinen Ton hervor. Es tat weh zu wissen, wenn man etwas zerstörte, wenn man Leben auslöschte. Und ich war verteufelt gut darin. Das musste ein harmloses junges Mädchen ja irgendwann zerbrechen. Dass es noch nicht geschehen war, schrieb ich dem Glück zu.
„Henrietta-sama…“, sagte eine leise Stimme hinter uns. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass es Amida Yamagata war, der junge, schüchtern wirkende Japaner, der sich zu Henriettas rechter Hand hoch gearbeitet hatte. Der arme Junge. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was ich vermutete, dann schwelgte er die Hälfte seine Zeit mit ihr im siebten Himmel, und die andere Hälfte im verzwicktesten Komplott seines Lebens.
„Henrietta-sama. Agenten haben den Tower betreten. Wir müssen weg.“
Ihr Blick ging zu mir. Wurden wir von den falschen Leuten zusammen gesehen, gefährdete es nicht nur unseren Plan, sondern auch ihr Leben.
„Geh ruhig“, antwortete ich auf ihre unausgesprochene Frage. „Ich komme klar.“
Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange, sie umarmte mich kurz wie eine Ertrinkende mit all der Liebe, die sie für mich empfand, dann war ich wieder alleine.
Kurz inspizierte ich meine Ausrüstung. Gut, dieses eine Mal hatte ich mich für einen Rock entschieden, und das erhöhte meine Bewegungsfreiheit enorm. Ich hatte eine Heckler&Koch Halbautomatik dabei, das neueste Modell, sehr flach, sehr klein, sehr effektiv, dazu siebzehn Schuss. Ein Mädchen sollte nie ungeschützt das Haus verlassen. Und ich hatte die Stahlverstärkten Rahmen meiner Stiefel. Ein Tritt mit diesen Dingern konnte einen Mann zum beten bringen.
Meine Bluse war von außen gelb, aber von innen schwarz, deshalb wendete ich sie, um weniger Angriffsfläche zu bieten. Dann suchte ich mir eine gute Position, um die Angreifer zu erwarten.
Lange Zeit geschah nichts. Dann endlich fuhr ein Fahrstuhl auf, und zwei maskierte Männer taumelten in den Raum. Drei Schritte weit schafften sie es, dann fielen sie zu Boden.
Hinter ihnen taumelte ein sichtlich erschöpfter James Reilley heran. „Hallo, Akira-chan“, murmelte er, bevor auch er zu Boden ging. Also, auf die Erklärung war ich gespannt.
*
„Also nochmal für die langsamen Jahrgänge unter uns“, murmelte ich, während ich die Polizei- und Geheimdienstaktion am Tokyo Tower beobachtete und während James mit seinem Kopf auf meinem Schoß ruhte. „Du bist ein Cyborg?“
„Ein Kampfcyborg, um genau zu sein. Gebaut von den Kronosiern, um ausgerechnet dich zu töten. Leider ging wohl beim programmieren etwas schief, und statt dich zu hassen habe ich mich verliebt. So sehr verliebt, dass ich mich gegen meine Herren gewendet habe und sie vernichte wo ich sie antreffe… So wie heute.“ Abwehrend hob er einen Arm, aber heftiger Kopfschmerz quittierte die Geste für ihn. „Ich weiß, du hättest meine Hilfe nicht gebraucht, aber…“
„Nein, das ist es nicht. Mich wundert, dass du Cyborg nicht mehr als siebzig Kilo wiegst. Warst du ein Sparprojekt?“
James versuchte zu lachen und bezahlte es mit einem erneuten Kopfschmerzschub. „Nein, aber das Meiste, was sie in mir „verbaut“ haben, sind genmanipulierte Organe, die sie aus meiner Eigenmasse gezüchtet und mir dann eingesetzt haben. Hier und da sind ein paar Dinge, die mir lustige Zeiten beim Zoll verschaffen, aber generell mit ich nichtrostend.“
Ich schmunzelte über den Scherz. „Und du bist Rockstar geworden, damit du eine Erklärung für deine Reisen in die Welt hast?“
„Ich bin Rockstar geworden, weil es Menschen gibt, die mir zuhören. Der Rest ist das nützliche mit dem angenehmen zu verbinden.“ Er sah mich aus großen Augen an. „Kann ich dir nicht auch nützlich sein, Akira-chan?“
Ich strich ihm sanft über seine roten Haare. „Wir werden sehen, James. Wir werden sehen.“
„Damit gebe ich mich zufrieden“, murmelte er und schloss die Augen für einige Zeit.
*
Leise trat ich ins Haus ein. Es war bereits spät, und ich wollte niemanden mehr wecken. Ohnehin war wohl niemand mehr auf – dachte ich.
Bis Kei direkt vor mir aus dem Boden zu wachsen schien, meinen linken Arm mit der Kraft eines Schraubstocks umschloss und mich mit sich zog. „Deine Freundin ist heute eingezogen. Es war deine Idee, sagte sie“, murmelte er wie beiläufig, während er mich durch den Flur zerrte, und deutete auf die Tür eines unbenutzten Zimmers, wo nun der Name Yoshiko prangte. Die Gute. Nahm mich immer beim Wort. Es war beruhigend, sie hier zu wissen, aber auch genauso irritierend. Wer weiß was sie mit Yuri anstellte? Und was wollte Kei mit mir anstellen? Wieso zerrte er mich ins Bad?
„Ausziehen“, befahl er, als wir mitten im gekachelten Raum standen.
„Ausziehen? Moment Mal, das geht mir etwas zu schnell. Ich bin noch nicht bereit für…“
„Für eine Untersuchung auf Verletzungen musst du immer bereit sein“, brummte er wütend und griff nach dem ständig ausgeschlachteten Erste Hilfe-Kasten. „Es reicht wenn du den Rock und die Bluse ausziehst, denke ich.“
„Du hast also von der Schießerei am Tokyo Tower gehört“, sagte ich und zog gehorsam die Bluse aus.
„Sagen wir ich habe gehört, dass ein junges Mädchen in Begleitung eine Rotschopfs kurz vor Eintreffen der Polizei vor einem Schießwütigen flüchtete und man annimmt, dass die beiden getroffen wurden.“ Seine Miene war streng auf mich gerichtet, während ich den Rock auszog. Er umrundete mich ein paarmal, und dann legte er seine Hand auf meine Taille. Ich japste vor Schmerz auf.
„Streifschuss, Taille. Akira, du verdammter Idiot! Trage wenigstens eine Weste! Was, wenn das Ding deinen hübschen Kopf getroffen hätte?“ Er strich Jod auf die Wunde und klebte sie ab. Langsam ging er hinter mir in die Hocke. „Noch ein Streifschuss am linken Wadenbein. Das ist mit Jod nicht mehr getan. Das sollten wir morgen nähen lassen“, murmelte er und begann die Wunde zu säubern. „Wir wollen ja nicht, dass…“
„Wenn du irgendetwas sagst wie: Damit auf deinem hübschen Körper keine Narbe bleibt, kratze ich dir die Augen aus. Ich bin nicht schön, und ich kann das nicht mehr hören!“
Langsam legte er einen Verband an und zog ihn fest. Danach inspizierte er mein Gesicht und meinen Haarschopf. „Mir ist egal ob du schön oder hässlich bist. Mir ist auch egal, was du selbst von dir denkst, Akira.“ Er bewegte mein Gesicht mit einem Griff um mein Kinn wie den Steuerknüppel eines Hawks. „Ich liebe dich auch so.“
Ich erstarrte und sah Kei aus großen Augen an. Hatte er gerade… Hatte er wirklich?
„So, Inspektion beendet. Trink noch ne warme Milch und gehe danach schlafen. Morgen fahren wir dann zuerst zum Arzt.“
„Kei!“, rief ich ihm nach, als er das Bad verlassen wollte. „Hast du… Hast du gerade…“
Er sah über seine Schulter zurück und lächelte. „Wer weiß. Finde es doch heraus, wenn du willst. Gute Nacht, Akira.“
„Gute Nacht“, murmelte ich als Antwort und zog meine Sachen wieder an. Mist, in der Bluse war ein Loch. Ich bezweifelte ernsthaft, dass ich in dieser Nacht Schlaf finden würde. Interessierte ich mich ernsthaft für meinen Sandkastenfreund? Ich spürte, wie mein Herz heftiger pochte. Verdammter Mist, wenn ich die Frau in mir fand, würde ich sie erst foltern, und dann töten, und nur um auf Nummer sicher zu gehen mit meinem Hawk drüber weg laufen, bevor dieses Biest mich zur dauerlächelnden Anziehpuppe machte, die den Männern hinterher kicherte.
Aber irgendwie spürte ich, dass diese Akira Männer wie Kei und James eher enttäuscht hätte… Ein beruhigender und irritierender Gedanke zugleich. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, ich sah es im Spiegel, und für einen Moment dachte ich auch, ich könnte wirklich schön sein. Nun, vielleicht für einen Mann. Eventuell. Vielleicht. Wenn er so wie Kei war, eventuell. Oh, ich hasste die Frau in mir…