Fortsetzungsgeschichte von Alexander “Tiff” Kaiser

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Prolog: Vor zwei Wochen

“Da waren wir also, auf unserer Irrfahrt durch die Randgebiete dessen, was die Menschheit bisher besiedelt hatte – in zwanzigtausend langen Jahren. Und die Nachfahren dieser Pioniere gaben ihr Bestes, um das Erreichte wieder in Trümmer zu schlagen. Wir, die Dai und jene, die sich Daina nannten, waren mittendrin. Teils aus Hegemonie-Gründen, teils aber im letztendlich vergeblichen Versuch, Frieden zu schaffen. Wir Toren! Frieden schaffen mit Waffengewalt! Für das Gute einstehen, wenn es da draußen kein gut und böse gab, bestenfalls ein verwaschenes Grau! Wer heute nach unseren Maßstäben als gut galt, war morgen vielleicht nicht mehr am Leben, und der, der für ihn übernahm, hatte ganz andere Vorstellungen als seine Vorgänger, was Kriegsführung und was Politik anging. Das Klima an sich war vergiftet und wir hatten Jahrzehnte daran mitgearbeitet, es noch weiter zu vergiften. Die klügste und beste Variante wäre es gewesen, die einzige Macht, die noch bei Verstand war, die noch einen gewissen zivilisatorischen und humanen Standpunkt kannte, zur Hegemonialmacht zu machen, die Rüstungsindustrie aller kriegsführenden Parteien sowie ihre Flotten zu zerstören und mit eiserner Hand die Einhaltung des Friedens zu überwachen!

Wären wir doch damals auf der heutigen Erde nur dazu bereit gewesen, die Macht zu ergreifen, solange unsere Flotten noch die kampfstärkste Einheit in der Region war, als es uns noch möglich war, bevor Abnutzungskämpfe uns nach und nach Schiff auf Schiff kosteten und uns daheim die Politik das Budget zusammenstrich, um uns “zum Frieden zu zwingen”. Dabei waren unsere Schiffe das Einzige, was die Daima und Daina, die wie Wahnsinnige durch die Galaxis tobten, daran hinderten, ganze planetare Bevölkerungen auszulöschen. Noch.

Nachdem unsere Kampfschiffe nach und nach zurückgerufen wurden, ging der Wahnsinn ungehindert weiter. Und bevor wir es uns versahen, traten die Götter auf den Plan, und mit ihnen die Beinahevernichtung unserer Zivilisation. Nein, ich korrigiere mich: Unsere Zivilisation ging unter, und zurück blieben lediglich versprengte Kolonien der Daima und Daina und nur sehr wenige Daimon der Dai selbst, denn die Götter machten Jagd auf diese Enklaven, nachdem sich die Dai der Erde auf einen Kuhhandel eingelassen hatte, der die stärksten restlichen Schiffe der Flotte aus dem Geschehen nahm. Ihre große Hoffnung, dass die Götter ohne die Flotte in den Dai der Erde keine Bedrohung mehr sahen, erfüllte sich nicht, wie wir wissen. Im Gegenteil: Mit den Dai der Erde zur oberflächlichen Drohung verkommen, zudem mit dem Messer an der Kehle, begann überhaupt erst die große Hatz auf Daimon und damit auf die Dämonen selbst, wie sie oftmals genannt wurden … Denn wenn sie derart gejagt wurden, dann musste doch etwas daran sein, an der Propaganda der Götter, die sie als Gefahr für alle Intelligenzen darstellte, oder?

Diese erschreckenden Gedanken wurden schnell üblich. Nicht nur die Dai der Erde wurden verteufelt, sondern auch jene auf den eigenen Welten. Ihre Vernichtung wurde vielerorts herbeigesehnt, sodass die Dai keinen anderen Weg mehr sahen – die wenigen, die überlebt hatten – sich in die Daimon zurückzuziehen und auf das Vergessen der Menschen zu hoffen. Manchmal gelang dies. Manchmal gelang es nicht. Manchmal nahm es bizarre Formen an, so im Kanto-System, wie ich aus den Speichern der AURORA weiß. Die dortigen Dai vergaßen oder begruben ihrer Ursprünge und bildeten innerhalb ihrer Daimon eine neue, radikale Gesellschaft, die von Anarchismus gestaltet wird. Anarchismus und Egoismus. Zumindest, bis die Naguad ihre Daimon fanden, erkundeten und ihre Gesellschaft, die für sie eine tickende Zeitbombe war, bis in die Grundfesten zerbrachen.

Aber ich greife zu weit vor. Was ich erzählen wollte, war Kydranos’ Erlebnisse, damals, als ich noch ein Daina war, als ich ihn begleitet hatte, auf der ADAMAS, dem Kommandoschiff. Ich überspringe den Teil, der nicht relevant ist, überspringe die Namen der Reiche und Bündnisse zwischen Daina und Daima, Daima und Daima, Daina und Daina, die so schnell wechselten wie der Takt eines Pulsars. Ich gehe direkt in jene Zeit, als wir den Göttern auf der Spur waren und eine erstaunliche Entdeckung machten, die … Nun, die alles, was wir zu wissen glaubten, auf einmal erschütterte. Denn es gab da jemanden, der entschieden hatte, dass die Daima und Daina als Ganzes höchst gefährlich waren. Denn aus ihnen entstanden Dai, und die Dai waren sein größter Feind. Dieser jemand war ein Planet …”

(Latiss Jomdral, Dai, vergeistigt, Bewohner des Paradies der Daima und Daina, ehemaliger Suppressor von Kydranos, Kommandant der ADAMAS, während seines Berichts zu seinen Erlebnissen vor fünfzigtausend Jahren)

1.

“Was machst du da gerade?”, klang eine wohlbekannte Stimme hinter meinem Rücken auf.

Automatisch warf ich mich auf das, was ich vor mir auf meinem Schreibtisch hier auf der ADAMAS, die mir als Exil diente, ausgebreitet hatte. Zumindest solange als Exil diente, solange meine drei Suppressoren noch nicht in der Lage waren, meine Fähigkeit zu bekämpfen, fremdes KI zu absorbieren und destruktiv wieder freizusetzen. “Nicht gucken!”, rief ich.

“Oh, ist es was Schweinisches? Darf ich mitmachen?” Yellow Slayer trat heran und sah über meine Schulter auf das Wirrwarr vor mir. “Lass mich doch mal sehen.”

Heftig schüttelte ich den Kopf. “Das ist nichts! Überhaupt nichts! Und interessant ist es auch nicht!”

Dies veranlasste Megumi – denn um niemand anderen handelte es sich – dazu, zu versuchen, eines der Bücher, die ich unter meinen Armen begraben hatte, hervor zu ziehen. “Ich will doch nur mal gucken!” Und das war besonders ärgerlich, denn natürlich benutzte sie ihre Kräfte, die sie als Yellow Slayer besaß. Schwupps, da hielt sie tatsächlich ein Buch in der Hand. Da hätte ich nur gegen halten können, wenn ich mich in die Hausuniform der Arogad gehüllt hätte, meine eigene KI-Rüstung, um gegen ihre Slayer-Kräfte ankommen zu können. Aber ich konnte es nicht, durfte es nicht, denn erstens hatten wir es hier nur mit Büchern aus Papier zu tun – ja, ich weiß, ein Anachronismus, vor allem bei dem Zweck, für den ich sie verwendete – und zweitens waren sie mir gerade sehr viel wert. Zumindest genug, um nachzugeben, um sie vor der Vernichtung oder Beschädigung zu bewahren.
“Aber das ist ja ein Physikbuch.” Sie blätterte sich durch ein paar Seiten. “Anspruchsvoll, aber nicht allzu sehr. Fusionstechnologie solltest du zum Beispiel besser kennen, als es in diesem Buch beschrieben steht. Und Quantenmechanik – du wendest sie jeden Tag an.”

“Ja, ja”, entgegnete ich säuerlich. “Gibt es einen besonderen Grund, warum du mich in voller KI-Rüstung überfällst, Schatz?”

Sie schürzte hinter meinem Rücken die Lippen zu einem überlegenen Schmunzeln. Ich musste es nicht sehen, um es zu wissen. Zwar war Megumi Uno kein Kind von Traurigkeit, aber normalerweise benahm sie sich zurückhaltend und überlegt. Vor dem zweiten Marsfeldzug, was nach dem ersten Marsfeldzug bedeutet, bei dem wir meinten, Yohko verloren zu haben, hätte man sie ohne weiteres als kalt bezeichnen können. Damals war sie introvertiert gewesen, erschüttert durch Yohkos Verlust und meine Teilamnesie, wodurch ich einen Großteil meiner Zeit bei der UEMF als Blue Lightning, als Rückgrat der Truppen, vergessen hatte. Und damit beinahe alles, was sie betraf. Der unwillkommene Gedanke kam mir, dass ich ihr eigentlich genug angetan hatte, als ich mich auf mich selbst konzentriert hatte, anstatt ihr dabei zu helfen, ihren Teil der Trauer zu überwinden. Und als ich ihr meinen Anteil an der Verteidigung der Erde überlassen hatte, war das auch nicht sehr nett gewesen. Aber hey, Amnesie. Eine sehr bequeme Ausrede …

Da war ich erst raus gekommen, nachdem Kitsune und Dai-Kuzo-sama mir die Scharade vorgespielt hatten, ich befände mich in einem konstruierten Universum. Was mich endlich darauf brachte, warum die Slayer abgewandelte weibliche Schuluniformen trugen. Dai-Kuzo-sama hatte die Slayer nach dem Ersten Marsangriff erschaffen und dabei absichtlich tief in die Klischee-Kiste der Anime und Mangas gegriffen. Für mich, wie mir siedendheiß bewusst wurde. Aber das änderte nichts daran, dass Megumi immer, wenn sie die Rüstung von Yellow Slayer trug, also ein weißes Trikot mit gelbem Rock sowie langem, hellblauem Haar, ein extrem kesses Biest wurde. Manchmal stimmte es wohl, dass man, wenn man eine Maske aufsetzte, Dinge tun konnte, die man sich zuvor nicht zutraute.
Jedenfalls, Megumi wurde in der Rüstung ein richtiges Früchtchen. Wenn ich daran denke, wie sehr sie mich geneckt hatte, damals im Kanto-System, als ich sie für tot gehalten und nie daran gedacht hatte, Yellow Slayer und Megumi Uno miteinander in Verbindung zu bringen, musste ich in Gedanken schlucken. Wäre sie nur ein klein wenig weiter gegangen, hätte ich mich nur ein klein wenig mehr auf sie eingelassen, dann hätte ich, im Glauben, Megumi sei tot, wohl mit ihrem Alter Ego eine Affäre begonnen, Megumi also mit Yellow betrogen. Keine Ahnung, ob sie mir das je verziehen hätte. Keine Ahnung, ob ich so kurz nach ihrem “Tod” überhaupt dazu bereit gewesen wäre, mich so schnell so sehr fallen zu lassen. Keine Ahnung, ob ich damals geahnt habe, was ich nicht wissen konnte, und deshalb so vertraut mit Yellow umgegangen war. Und das war im Nachhinein auch gut so.

Aber dann war alles anders gekommen. Die Naguad im Kanto-System hatten uns mit Jora Kalis, KI-Meisterin und Teil der Daness, eine falsche Megumi vorgespielt, die angeblich schwer verletzt überlebt hatte, und damit hatte ein Psychospiel begonnen, auf dessem Höhepunkt unsere Naguad-Freundin Aria Segeste beinahe auf dem Altar des Militärgerichts geopfert worden wäre, nur um mich anzulocken. Hatte gut funktioniert. Und beinahe wäre die Falle tödlich geworden, hätte Henry William Taylor nicht nur die grandiose Idee gehabt, mich ermorden zu lassen, sondern auch das extrem effektive Gift für mich gegen ein extra starkes Betäubungsmittel auszutauschen, das sogar jemanden ausknocken konnte, der sein KI beherrschte.

Dadurch, dass mich alle Welt für tot hielt, hatte ich super im Verborgenen agieren können, hatte Aria gerettet, die falsche Megumi enttarnt, die richtige Megumi enttarnt – ach nein, das war ich ja gar nicht – und war zusammen mit Kitsune, Aria, ihrer Cousine Jora, Yoshi und natürlich mit Megumi aus dem naguadschen Stützpunkt entkommen. Ohne natürlich zu wissen, dass zwischenzeitlich meine Cousine Sakura tatsächlich geglaubt hatte, ich wäre wirklich ermordet worden, woraufhin sie die absolute Vernichtung der Naguad auf dem Mond Yomma und speziell in der Axixo-Basis angeordnet hatte… Jedenfalls war Makoto da gewesen und hatte das Schlimmste verhindert.

Und dann war ich ja zurück zur AURORA gelangt, mit Megumi. Wäre mir dann nicht Torum Acati dazwischen gekommen und hätte mich und Joan nach Naguad Prime entführt, und wäre ich, also mein Bewusstsein jetzt, dort nicht auch noch mal entführt worden und hätte die AURORA mich nicht suchen kommen müssen, und wären mir nicht der Core, das Kaiserreich und die Kinder der Götter in den Weg gelaufen… Ich seufzte in Gedanken. Tief und lange.

Alles in allem zusammengefasst schuldete ich Megumi eine ganze Menge, vor allem meine Zeit. Immerhin waren wir verlobt. Aber ich fand es überhaupt nicht gut, dass sie mir mit ihren Slayer-Kräften derart die Überraschung verdarb. Dabei hatte ich es als Materiefressender Reyan Maxus eigentlich doch schwer genug, oder?

“Lenk jetzt nicht ab”, erwiderte sie. Dabei beugte sie sich über meine Schulter vor, hielt mir das Physikbuch unter die Nase und blätterte darin. “Wenn ich es mir recht überlege, habe ich das alles schon mal gesehen. Zum Beispiel die Initialen auf Seite zwei: Ein Ypsilon und ein O. Was sagt uns das, Division Commander?”

“Hast du etwa Ärger mit dem Otome-Bataillon? Wollen sie dich immer noch rekrutieren?”, wich ich aus.

“Ach, hör auf mit den Otome. Ich habe hier eine Division zu führen, bestehend aus drei Regimentern mit den besten Mecha-Kriegern der Erde. Und dabei ist es ärgerlich genug, dass so viele gute KI-begabte Pilotinnen zu den Otome gewechselt sind, auch aus den Hekatoncheiren. Ohne die internationalen Freiwilligen, die uns gegen den Wunsch ihrer Regierungen begleiten, könnte ich die Lücken nie stopfen. Ich habe Kuratov dafür als Operations-Chef im Rang eines Brigadegenerals in meinen Stab geholt, aber glücklich ist er damit nicht. Er würde lieber auf einem Mecha sitzen.”

“Warum gibst du ihm dann keinen Phoenix? Oder einen LRAO?”

Megumi seufzte. Ich spürte, dass ihr KI “normal” wurde. Sie hatte ihre KI-Rüstung quasi abgeschaltet, und damit war mir ihr KI-Fluss wieder vertraut. Sehr vertraut. Immerhin durfte ich sie, da sie eine der wenigen Menschen war, die willentlich verhindern konnte, dass ich ihr KI absorbierte und destruktiv wieder von mir gab, regelmäßig in meinen Armen halten. Kurz hatten wir die Befürchtung gehegt, dass diese Kontrolle erlöschen konnte, wenn sie einen Orgasmus erlebte, aber das hatte sich zum Glück nicht bestätigt. Und wir hatten das ausgiebig erforscht und getestet. Sehr ausgiebig.

“Ein LRAO wäre natürlich optimal. Aber darin würde er vollends aufs kommandierende Gleis geschoben und nicht mehr selbst fliegen.” Sie hob fragend eine Augenbraue. “Meinst du, ich kann ihm tatsächlich einen Phoenix schmackhaft machen?”

“Das, oder einen Banges mit entsprechender Kommando-Konfiguration. Ich weiß, wie es ist, wenn man eigentlich mit da draußen sein will und kämpfen möchte, aber es nicht darf. So gesehen war ich wohl ein wirklich mieser Anführer, weil ich mich immer selbst in Gefahr gebracht habe.” Ich lächelte verschmitzt. “Weißt du noch, als ich mal die ganze Hekatoncheiren-Division herausgefordert habe?”

Sie schlug mir gespielt gegen den Arm. “Ich erinnere mich sehr gut daran, wie du ganz alleine eine Hausdivision Banges der Arogad herausgefordert hast. Selten so einen mutigen, taktisch geschickten Schachzug gesehen, der dein Leben binnen eines Sekundenbruchteils hätte beenden können, wärst du nicht der Akira Otomo, dem man ein Divisionskommando gibt, aber auch einen Mecha, damit du noch an der Front stehen kannst. Du bist der absolute Ausnahmepilot unserer Generation. Dich nicht in einen Mecha zu lassen ist eine grobe Fahrlässigkeit. Aber das ist auch der einzige Grund, warum man jemanden, der mit so viel Lametta behängt ist wie du, noch an die Front lässt.
Also gut, ich biete ihm einen Phoenix oder einen konfigurierten Banges an. Und dir biete ich eine Erklärung darüber an, was du hier gerade tust, Akira Otomo.”

Ich liebte sie weit mehr als meine Geheimniskrämerei, darum lehnte ich mich entspannt zurück. Und es war ja ihre Überraschung, die sie sich verdarb. “So? Da bin ich gespannt.”

Sie griente mich kess an. “Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du willst bei Karl in die Lehre gehen oder Ingenieur bei Luna Mecha Research werden.”

“Nun”, sagte ich gedehnt, “irgendwann wird ja mal Frieden herrschen, und dann brauche ich ja was zu tun…”

“Du weißt aber schon, dass ein Studium einen Hochschulabschluss erfordert?”, neckte sie mich.

Ich lachte leise schnaubend. Ja, das stimmte. Vor allem, wenn man wie ich keine entsprechende Berufsausbildung im bevorzugten Fachgebiet vorweisen konnte, was für den Fachbereich als Hochschulreife galt. Ich war immer nur Soldat oder Schüler gewesen. Und eine Zeitlang, vor meinen Tagen als Entführungsopfer des Core, auch noch Testpilot. Aber das reichte noch nicht ganz zur Erfüllung meiner Träume. Speziell nicht dieser Träume. Ich zwinkerte ihr zu.

“Moment mal”, sagte Megumi überrascht. “Warte, warte, du willst mir doch nicht etwa erzählen, du… Akira Otomo bereitest du dich auf deine Abiturprüfung vor?”

Ich grinste burschikos. Das hatte für meinen Schatz aber bemerkenswert lange gedauert. “Was soll ich sagen? Drei Anläufe an der Schule haben nicht zum Erfolg geführt. Entweder wurde ich verätzt, entführt oder zu einem KI-fressenden Monstrum, das Materie auflöst, was sich alles kontraproduktiv auf den regulären Schulweg ausgeübt hat. Da habe ich mir gesagt: “Aki-chan, also ich jetzt, Aki-chan, das Leben in einer Schulklasse und das Lernen in der Gemeinschaft ist zwar gut und schön, und Sport macht nur in großen Gruppen Spaß, aber irgendwie schaffst du es nie, in der Klasse zu bleiben. Warum versuchst du es nicht mit einer irregulären Prüfung?” Ich habe nachgefragt, und wenn man ein sechswöchiges Vorbereitungsprogramm absolviert, um einen Überblick über den erforderlichen Stoff zu bekommen – muss man eigentlich nicht, aber so arrogant bin ich dann doch nicht zu glauben, ich wüsste bereits alles, was in der Prüfung verlangt wird – kann man sich außerordentlich prüfen lassen. Tja, und seit ich hier auf der ADAMAS festhänge, hatte ich zwar hier und da höllisch viel zu tun, aber eben nicht genug. Und deshalb habe ich mit meinen Lehrern gesprochen… Und rate mal, was eine gewisse Akane Kurosawa gesagt hat?”

“Sie will, dass du endlich den Abschluss machst, damit sie dich los ist?”, fragte Megumi stirnrunzelnd.

“Auch. Aber sie wird mich tutorieren. Und Sakura gibt mir auch ein paar Hinweise und Tipps. Denn letztendlich ist es eine Vorbereitung auf eine Prüfung, und das bedeutet spezifisches Wissen über einen überschaubaren Themenkomplex. Das eigne ich mir gerade an.”

Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange. “Du machst mich stolz. Ich war mir immer sicher, irgendwann platzt dir der Kragen und du tust was gegen deine Durststrecke. Wie lange lernst du schon und wann ist die Prüfung?”

“Acht Tage studiere ich den Kram schon. Ich komme aber sehr gut voran, deshalb wurde die Prüfung auf den letzten Tag vor dem Austritt aus dem Wurmloch gelegt.” Ich druckste verlegen. “Die Idee hatte ich schon damals bei Luna Mecha Research, deshalb kenne ich noch einen Großteil vom Stoff. An der Schule lernen ist natürlich schöner, aber langsam werde ich zu alt für die Oberstufe.”

“Da drücke ich dir die Daumen.” Diesmal landete der Kuss auf meinen Lippen. “Aber warum der letzte Tag vor dem Austritt aus dem Wurmloch?”

Für einen Augenblick sah ich sie bedrückt an. “Nenne es eine Ahnung. Ich will was in Händen halten, was mir etwas… Was mir viel bedeutet, bevor… Ich denke, im Zielsystem wird es krachen, und dann will ich nicht dran denken, dass ich meine Chance auf die Hochschulreife schon wieder verpasst habe. Ich meine, das Leben ist meist vollkommen anderer Meinung als ich, wie es gefälligst zu passieren hat…”

Für einen Moment spürte ich sie zittern. “Todesahnungen?”

“Äh, eher nicht. Ich denke da mehr an sowas wie das übliche Chaos um mich herum, an Entführungen, spontane Risse in der Raumzeit, das, was mir üblicherweise passiert.” Und, aber das sprach ich nicht aus, an ein mittelschweres Unglück, wie es mir jederzeit passieren konnte. Pessimistisch, sicher, aber ich konnte es nur auf mich zukommen lassen. Entweder, es gab ein Unglück, oder eben nicht. Ich konnte dann nur mein Bestes geben und die, die ich liebte, so gut ich konnte, beschützen. Die ADAMAS war dabei ein gutes Argument.

“Akira Otomo”, säuselte sie und rutschte auf meinen Schoß, “du glaubst doch nicht, dass ich dich noch ein einziges Mal unbeaufsichtigt die Galaxis unsicher machen lasse? Diesmal waren es nur der Core und die Iovar. Das nächste Mal kommst du vielleicht mit einem Riesenreich im Gepäck zurück, das die halbe Milchstraße umfasst.”

“Gutes Argument. Und wie willst du das tun?”, fragte ich amüsiert.

Sie küsste mich. Dabei drang ihre Zunge in meinen Mund vor. Ein Vorgang, den ich technisch gesehen schon oft erlebt hatte. Aber er elektrisierte mich noch immer wie beim ersten Mal. Kein Wunder, ich liebte dieses Mädchen tief vom Grund meines Herzens.

“Das fängt doch schon mal gut an”, sagte ich.

“Ja, nicht wahr? Und wie gut, dass du erkannt hast, dass das nur der Anfang ist.”

Ja, das war meine Megumi. Ich wäre ein Narr, hätte ich sie jemals wieder freiwillig verlassen. Freiwillig war das Zauberwort. Mist. Aber hier und jetzt gab es das alles nicht, keine Bedrohung, keine Sorgen, nur Megumi und mich. Und das kleine Problem, das ich eigentlich hatte lernen wollen …

Heute

Natürlich war mir was dazwischen gekommen. Erst war einer meiner Prüfer krank geworden, dann hatte der Ersatzprüfer abgesagt, anschließend hatte sich der neue Prüfer als nicht akkreditiert herausgestellt und schließlich und endlich war meine Oberstufenabschlussprüfung um vierundzwanzig Stunden verschoben worden. Diese vierundzwanzig Stunden hatte das Universum natürlich nicht ungenutzt verstreichen lassen und mir noch mehr Steine in den Weg gelegt, diesmal in Form einer kleinen Flotte Götterschiffe, bestehend aus zwei Suchern, einem Strafer und acht Vernichtern, dem größten Schiffstyp, den die Kinder der Götter je erbaut hatten. Zumindest, soweit wir wussten. Diese elf Schiffe waren per Wurmloch zur Erde unterwegs und wir folgten ihnen. In ihrem eigenen Wurmloch. Wie ich vorhergesehen hatte, versuchten sie weder zu feuern, noch im Wurmloch abzubremsen. Stur verfolgten sie ihren Kurs, obwohl die AURORA und ihre Begleitflotte nur einen läppischen Tag hinter ihr war. Den hatten wir gebraucht, um von unserem Eintrittspunkt im Transit-System zum Wurmloch der Vernichter zu gelangen. Und jetzt holten wir mit jeder Stunde beständig auf, kamen in Waffenreichweite. Doch halt, etwas hatten die Schiffe der Götter gemacht. Sie hatten uns mit Raketen beschossen, indem sie diese ausgeworfen hatten. Seltsamerweise waren die antriebsgesteuerten Sprengkörper langsamer gewesen als die Götterschiffe und waren uns deshalb näher gekommen. Beziehungsweise wir hatten sie eingeholt. Allerdings waren sie kein großes Problem für unsere Abwehrraketen gewesen, da wir ihre Positionen mit einem guten Tag Vorsprung hatten erkennen können. Noch schneller wäre es mit Energiewaffen gewesen, aber ich wollte die Götterschiffe nicht früher als unbedingt nötig darauf stoßen, was in einem Wurmloch alles möglich war. Das würden sie noch früh genug merken, sobald sie in Reichweite der Hämmer des Hephaistos waren, jenen drei gigantischen Geschützen auf der AURORA, die wahrscheinlich die größten Waffen waren, die je von Menschen erbaut worden waren. Jedenfalls hatte ich noch nichts Stärkeres gesehen. Und ein oder zwei Treffer konnten einen Strafer vernichten. Was sie mit einem Vernichter anstellen würden, vor allem nachdem sie nach jedem Schuss anhand der neu gewonnenen Daten stetig verbessert worden waren, ließ sich noch gar nicht abschätzen. Ich hoffte, dass wir verheerende Ergebnisse erzielen würden. Und war die ganze Zeit, in der sich die Flottille zwar in Kernschussreichweite unserer Waffen befand, wir uns aber nicht in der ihren. Zumindest nicht, solange die Kinder der Götter keine uns unbekannten und supertödlichen Waffensysteme auspackten.

Aber dann hatten wir immer noch die Schiffe der Bismarck-Klasse und die ADAMAS. Ungewollter Nebeneffekt der Szenerie war jedenfalls, dass meine Prüfung erneut verschoben worden war. Diesmal von mir selbst. Ich hatte einfach nicht die Ruhe, um so kurz vor der ersten Schlacht in einem Wurmloch an Schule zu denken. Aber immerhin, ich hatte gewusst, dass das Schicksal mir die Prüfung nicht gönnen würde. Es war ganz so, als gäbe es irgendwo, irgendwie einen nicht besonders wohlmeinenden Gott, der mein Leben lenkte und so miserabel wie möglich gestaltete. Aber immerhin, dieser Gott gönnte mir meine Megumi, und das war ja auch was. Und ohne für die Prüfung zu lernen und achtzehn Stunden, bevor wir den Feind in Waffenreichweite hatten, der Gegner uns aber nicht, gab es nichts für mich zu tun. Zumindest nichts militärisches, und nicht alleine. Nein, nicht das Offensichtliche, sondern eine ganz andere Geschichte …

*

“Wie wollt Ihr ihn nennen?”, fragte ich ungläubig und viel zu laut. Immerhin war das hier ein Krankenhaus, und die Stimmprojektoren meines Hologramms, das von mir ins Krankenhaus projiziert wurde, waren ohnehin zu laut eingestellt. Nicht, dass sich das kleine, glückliche und vermutlich satte rosa Häufchen Mensch in Emis Armen daran gestört hätte. Es schlief tief und fest, während der stolze Papa Kenji so breit grinste, dass es für ihn einen überschwänglichen Gefühlsausbruch bedeutete. “Zur Wahl stehen Akira, Aris und, wir wollen ja nicht übertreiben, Eikichi und Doitsu.”

Emi nickte lächelnd, das Gesicht eingefallen nach einer achtzehnstündigen Geburtsphase, aber die Wangen gesund gerötet. “Doitsu wird er in jedem Fall heißen. Wir wollen ihm aber zwei Namen geben und sind uns noch nicht sicher, ob das dann sein zweiter oder sein erster Name wird, Akira-san.”

Ich runzelte die Stirn. Auf der ADAMAS, wohlgemerkt, wo ich mich tatsächlich gerade befand und mein Abbild von einem 3D-Leser aufnehmen ließ, der alle meine Worte und Reaktionen naturgetreu wiedergab. Tatsächlich schwebte ich in meinem Tank in der Zentrale des Kommandoschiffs und ließ mich meinerseits von einem Hologramm einhüllen, das dieses Hospital anzeigte. Um wirklich dort zu sein, fehlte eigentlich nur etwas Materie. Meine, um genau zu sein.

“Seid Ihr sicher, dass Ihr dem Lütschen so das Leben versauen wollt?”, scherzte Yoshi mit einem schiefen Grinsen.

“Ich meine, in den nächsten fünf bis sechs Jahren und auch in den letzten vier gab es bestimmt ein paar zehntausend Jungen, die den Namen Akira bekommen haben.”

“Meinst du, mit Doitsu ist es besser?”, fragte Kei. Als ehemaliges Mitglied meiner Möchtegern-Schulgang Akiras Zorn war seine Anwesenheit hier natürlich Pflicht. Ja, das waren noch Zeiten gewesen. Yoshi, ich, Doitsu, Kenji und Kei. Damals hatten wir zusammen die Schule verteidigt, heute verteidigten wir die ganze Erde.

“Wie meinst du das?”, fragte der Oyabun der AURORA-Yakuza mit gerunzelter Stirn. “Doitsu ist ein hochanständiger Name.”

“Kühl ab, kühl ab, großer Mann”, meinte Kei abwiegelnd. “Wirf mal lieber einen Blick auf die fünf beliebtesten Namen für neugeborene Jungen alleine in Japan. Was meinst du, steht da auf der eins?”

“Akira!”, sagten mehrere meiner Freunde gleichzeitig.

“Hätte ich jetzt auch vermutet, aber tatsächlich ist es Eikichi”, erwiderte Kei. “Akira ist auf drei. Und jetzt ratet mal, welcher Name am zweitbeliebtesten ist.”

“Doitsu?”, fragte ich.

“Der Kandidat erhält zwölf Punkte.” Kei strahlte. “Dann kommt mein Name. Fragt mich nicht, wieso, aber ich kann euch die Statistik mal zeigen. Tja, und dann kommt Kenichi. Keine Ahnung, was das soll. Yoshi ist übrigens gar nicht in den Top Ten, Alter.”

Das nahm mein bester Freund nicht sehr gut auf. Ärgerlich versenkte er die Hände in seinen Hosentaschen und murmelte Dinge wie: …meinen Namen überhaupt nicht verdient… ….ist an den anderen Namen besser… …guter, alter Name… Jedenfalls hatte meine kleine Schwester Yohko genug zu tun, um ihn moralisch wieder aufzurichten.
“I-ich wäre ja auch für Doitsu”, sagte Hina aufgekratzt. Die Anführerin der Slayer und seit neuestem des Otome-Bataillons konnte sich an dem kleinen Bündel Mensch überhaupt nicht satt sehen. Für Doitsu bedeutete das eventuell eine schwere Zeit. Für eigene Kinder war der definitiv nicht bereit. Was mich zum Gedanken brachte… War ich eventuell dafür bereit? Ich meine, ich war doch ein guter Ersatzvater für Laysan, oder? Und wollte ich das überhaupt?

“Doitsu Sakuraba. Das klingt doch gut. Mit den richtigen Kanji bedeutet das dann…”

“Doitsu Hazegawa”, korrigierte Emi bestimmt. Sie ergriff mit der Linken die Rechte Kenjis. “Nach der Hochzeit nehme ich seinen Namen an.” Sie seufzte. “Es ist schon ein Kreuz, wenn man freiwillig wartet, bis Ihr zwei geheiratet habt, obwohl schon alles klar und besprochen ist”, sagte sie tadelnd in meine und Megumis Richtung.

Ich kratzte mich verlegen am Haaransatz. Wenn ich die rechtliche Lage richtig im Kopf hatte, dann bedeutete dies, dass Kenji seinen Sohn adoptieren musste, um überhaupt Anrecht auf ihn zu haben, solange sie nicht verheiratet waren. Oder war es einfacher, weil die zwei verlobt waren? Da war ich mir gerade nicht so sicher.

Megumis Hand griff nach meiner Rechten. Leider ging sie durch das Hologramm hindurch. Was mir einen bösen Blick von ihr einbrachte. Das wiederum erinnerte mich an Okame, Sphinx und Tyges, den Dai von West End, die zusammen trainierten, um meine Suppressoren zu werden. Wären sie nur ein wenig weiter, hätte ich körperlich hier sein können. Nicht, dass ich das nicht ohnehin hätte sein können, ich hatte meine Kraft im Griff, aber man wusste ja wirklich nie, was passieren konnte. Und nachdem ich Kei fast die ganze Hand aufgelöst hatte, okay, ein wenig Haut und Fleisch zumindest, wollte ich definitiv auf Nummer sicher gehen.

“Ihr müsst doch nicht auf uns warten”, sagte Megumi mit geröteten Wangen. “Heiratet ruhig. Wenn es ein Paar gibt, bei dem es natürlicher ist als bei euch beiden, dass Ihr heiratet, dann zeigt es mir.” Sie zog ihre schöne Stirn in Falten, als ein gutes Dutzend Finger auf sie und mich zeigten. “Von uns mal abgesehen, bitte.”

Nun zeigten die Finger auf alle anderen im Raum, auf Hina und Doitsu, auf Yoshi und Yohko, auf Sarah und Daisuke und auf Akane und Mamoru. Auf Kei und Ami zeigte niemand, allerdings nur weil wir uns untereinander geeinigt hatten, die beiden im Glauben zu lassen, wir hätten noch nicht bemerkt, dass sie zusammen waren. Zumindest solange, bis sie bereit waren, es selbst zuzugeben. Oder bis uns der Kragen platzte.

Draußen bollerte Akari an die Tür. Deutlich konnte man an ihrer Stimme hören, dass sie sauer war, was durchaus sehr selten vorkommt. “Wie lange wollt Ihr noch da drin bleiben? Hier draußen warten auch noch Leute auf ihre Gelegenheit!”, rief sie ärgerlich. Und dann fügte sie hinzu: “Onii-chan kann ja bleiben, der ist eh nur ein Hologramm!”

Dass das mal ein Vorteil sein würde…

Akane begann zu lachen. Das Krankenzimmer, ein Einbett-Raum, war tatsächlich ein wenig klein. mit uns zehn Gästen war es schon mehr als gut gefüllt. Und draußen warteten noch Joan mit Band, Sakura, Makoto, Michi und Laysan, Ban Shee, Takashi-sempai, Karl, und noch viele weitere Leute, die den ersten geborenen Slayer begrüßen wollten. Mir wurde erst jetzt klar, was das für ein Stress für die kleine Familie sein musste. Zumindest, bis ich Emis Blick begegnete und es in ihren Augen funkeln sah. Ach, deshalb hatte sie sich für diese Besenkammer von Zimmer entschieden. Schlaues Mädchen. Sehr viel schlauer, als man ihr bei der ersten Begegnung zugestehen würde.

“Ist ja gut, Imouto. Wir tauschen gleich”, sagte Yohko. “Gebt uns noch eine Minute. Ist ja nicht so, als könnten wir den kleinen Doitsu nicht jeden Tag sehen.”

Doitsu, also der große Doitsu, lupfte seinen Kragen. “Yohko-chan, du kannst doch nicht einfach so…”
“Also Doitsu als erster Name”, sagte Emi triumphierend.

“Höre auf deine eigenen Worte, Onee-chan!”, konterte Akari.

Yoshi räusperte sich. “Wie wäre es dann mit Doitsu Akira Hazegawa?” Das klingt doch nach einem tollen Namen, finde ich.”

“Doitsu Akira.” Emi strahlte über das ganze Gesicht. “Das nehmen wir.”

Ich erwartete für einen Moment Widerspruch von Kenji. Und sei es nur der Form halber. Ich meine, viele Worte nutzte er nie, aber er ließ sich auch nicht so ohne weiteres überfahren, auch nicht von seiner Verlobten. Stattdessen aber setzte er sich auf den Bettrand und umarmte Mutter und Kind vorsichtig. “Also Doitsu Akira. Willkommen in dieser verrückten Welt, D.A..”

Emi zog die Augenbrauen hoch. “Eine Abkürzung? Das funktioniert in amerikanischen Krankenhauskomödien, aber doch nicht in der Wirklichkeit. D.A…. Klingt, ja, aber ich weiß nicht…”

“Die Minute ist um!”, rief Akari erneut. “Wir wollen ihn auch sehen!”

“Ist ja gut, ist ja gut.” Megumi trat an das Bett heran und strich dem Neugeborenen über die Wange. “Sind ja auf dem Weg. Schlaf gut, Doitsu-chan. Du brauchst viel Kraft für die Welt da draußen.”

“Eines noch, bevor Ihr geht und die nächsten reinlasst”, sagte Kenji hastig. “Akira, wir wollen, dass du sein Pate wirst. Egal, was uns allen passiert, du wirst es überleben. Und sollte uns was passieren, ist er bei dir in besten Händen.”

“An so was denkt man nicht”, tadelte ich. “Aber okay, den Job übernehme ich gerne. Und Megumi wird die Patin?”

“Wir leben in unsicheren Zeiten”, sagte Emi so vorsichtig, als wären ihre Worte Füße auf glitschigen Steinen in einem Fluss, “und deshalb wollen wir so viel Sicherheit wie möglich für Doitsu. Deshalb wollen wir die Patenschaft nicht vollkommen an eine Familie geben. Entschuldige, Megumi.”

“Nicht so wild. Macht ja auch Sinn. Und über Akira bin ich ja auch dabei, irgendwie.” Sie lächelte mich an, und jetzt war ich sauer darüber, dass ich nicht körperlich anwesend war. Ich hätte sie in dem Moment gerne in den Arm genommen.

“Hina, du bist es.”

Überrascht sackte das blonde Mädchen zu Boden, die Beine quergespreizt, auf ihrem Allerwertesten. “Was? WAS? Mir wollt Ihr so viel Verantwortung zutrauen?”

“Sagte die Anführerin der Slayer und des Otome-Bataillons”, kommentierte Kenji grinsend.

“Bitte, Hina-chan. Wenn nicht du, wer dann? Sollen wir Joan fragen?”

“Ich mach’s ja, ich mach’s!”, rief sie hastig. Doitsu half ihr wieder auf die Beine und mit einigen wackligen Schritten trat sie an das Bett. Sie schluckte hart. “Jetzt bin ich also für dich mit da, Doitsu-chan.”

“Wir, Schatz, wir”, korrigierte Doitsu und legte einen Arm um ihre Schultern. Etwas, das ich mit meinem Mädchen gerade nicht tun konnte. Ich beneidete ihn. “Wir wären ohnehin für meinen kleinen Namensvetter da gewesen, das wisst Ihr.”

“Natürlich. Aber wir mögen es beide etwas formeller.” Kenji zwinkerte dem Schulfreund zu. “Und uns war von vorneherein klar, dass wir vier Paten kriegen statt nur zwei. Was nicht heißt, dass Ihr anderen aus dem Schneider seid.”

“Versteht sich”, sagte Kei hastig und Ami nickte dazu. Daisuke nickte so entschlossen, als täte er ein Schwur, und Sarah ergriff mit geröteten Wangen seine Hand. Mamoru lächelte einfach nur und Akanes Blick war von Tränen verschleiert. “Natürlich”, sagte sie mit fester Stimme. “Wir sind auch für ihn da. So, wie Ihr für unsere Kinder da wärt.”

“Nanu? Ist bei euch was unterwegs?”, fragte Emi augenzwinkernd.

Dies ließ Akane das Blut in die Wangen schießen. “Nein, wir üben noch.”

Mamoru kommentierte das mit einem trockenen Räuspern. Seit sich die zwei wieder versöhnt hatten, war noch längst nicht alles wieder normal zwischen ihnen.

“Nun ist aber gut!”, rief Akari, riss die Tür auf und deutete mit dem Daumen hinter sich. “Raus, alle Mann! Oder ich hetze Joan auf euch!”

“Gutes Argument”, scherzte Megumi. Sie seufzte und machte winkende Bewegungen in Richtung Tür. “Also raus, raus, alle Mann. Wir sehen Doitsu-chan eh noch oft genug, denn die beiden werden natürlich auf die ADAMAS kommen. Und dann kriegen wir eh unser Pensum an Babylärm, Fütterungen und gewechselten Windeln mit.”

“So, werden wir das?”, fragte Emi.

“Ihr werdet”, erwiderte Megumi. Und ihre Stimme duldete keinen Widerspruch.

“Werden wir”, versprachen die beiden hastig.

Währenddessen trat ich mit den anderen auf den Korridor und ließ die nächsten zehn Babybegeisterten ein. Musste es mich noch wundern, dass Sakura und Tetsuo gemeinsam hinein gingen?

Draußen auf dem Gang hörten wir durch die geschlossene Tür Akaris aufgeregte Stimme, als sie das Baby bewunderte. Leider konnte ich das nicht miterleben, denn Megumi trug den Projektor für mein Hologramm, der auch meine Sinneseindrücke aufnahm, die ich dann hier an Bord der ADAMAS erlebte. Aber ich merkte, dass mir an diesem Freudentag etwas fehlte.

Megumi Uno, das zweitbeste Flieger-Aß der Erde, die unbestrittene Lady Death, die Frau, die an meiner Seite die Welt verteidigt hatte, als wir nur zwei und der kronosische Gegner unendlich viele Mechas gehabt hatte, schob sich eine Strähne ihres dunkelblonden Haars hinter das linke Ohr zurück und lächelte. “Ich komme so schnell ich kann zurück, Akira.”

Ich schluckte. Genau deswegen würde ich sie heiraten. Vorausgesetzt, wir lebten lange genug, um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen.

2.

Der Kernbereich der Werft, ein mehrfach verschachtelter Komplex scheinbar willkürlich zusammengewürfelter Stile und Einrichtungen, wurde permanent aus mehreren Quellen, nämlich den Kernreaktoren, die der Werft Betriebsenergie lieferten, mit harter Gamma-Strahlung geflutet. Selbst ein geschützter Mensch in einem Raumanzug oder gar mit einem autarken Schutzschild – was schön wäre, wenn man Schirmgeneratoren so klein und dennoch wirkungsvoll hätte bauen können – wäre in akuter Lebensgefahr gewesen. Ein ungeschützter Mensch wäre binnen einer Stunde, je nach Anfälligkeit für Radioaktivität, gar gekocht worden. Strahlenkater nach ungefähr dreißig Minuten, irreparable Zellschädigung schon nach zwanzig Minuten. Kitsune war es schleierhaft, wie der Rechner der Werft unter diesen Bedingungen arbeiten konnte, immerhin bedeutete radioaktive Strahlung sehr viel Energie, die frei herumschwirrte. Und seine Komponenten waren doch sicherlich nicht immun gegen Radioaktivität. Aber als Schutz gegen organisches Leben gab es sicher keine bessere Abwehr, denn jeder Mensch, der sich in den Kernbereich wagte, hatte garantiert länger als eine Stunde damit zu tun, um den Zentralcomputer des zweihundert Kilometer durchmessenden Kerns der Werft zu erreichen. Wie man es drehte und wendete, vom äußersten Rand waren es immer gut einhundert Kilometer bis zum gut zwei Kilometer durchmessenden Zentrum, in dem sie den Hauptrechner vermuteten, dessen neuronale Synapsen sie mit Antras Neuroschockern ausschalten wollten. Klar, auf den Hauptrouten waren die Materialschweber schneller unterwegs, und das auf den Expressrouten teilweise knapp unter der Schallgeschwindigkeit, aber leider flogen Materialschweber Material und nahmen keinesfalls Kurs auf das Zentrum. Leider.

Gut, sie waren Dai. Sie hatten die perfekte Kontrolle über ihre Körperzellen und konnten sie willentlich regenerieren. Sie konnten sogar in eine Phase gehen, in der sie nur aus KI bestanden, wenngleich das schwierig und gefährlich war. Aber auch sie mussten erst einmal ins Zentrum gelangen. Und nur weil die radioaktive Strahlung, die einen Menschen schnell und zuverlässig tötete sie nicht sofort umbrachte, hieß das nicht, dass sie nicht einen erheblichen Teil ihrer Kraft und ihrer Zeit dafür aufbringen mussten, um sich selbst zu retten – während sie zu dritt den Zentralrechner angriffen. Deshalb würden jene Dai den eigentlichen Angriff führen, die am Besten mit ihren Regenerationsfähigkeiten umgehen konnten. Drei deshalb, damit die anderen, falls die ersten versagten, eine zweite Chance erhielten. Und weil die erfahrenen vier anderen Dai bei der bevorstehenden Evakuierung sehr nützlich sein würden. Hoffentlich. Denn die vierzigtausend Nagalev zu evakuieren musste eine verdammt fixe Sache werden, denn jeder einzelne von ihnen hatte nur ein Zeitfenster von zwanzig Minuten, bevor die Aufnahme der radioaktiven Strahlung zum Problem wurde, selbst da draußen in den Randgebieten, in der sich die geheime, überlebende Kolonie der Nagalev befand. Zwar hatten sie eine großartige Technologie und kannten sich mit Zellschäden und Verbrennungen sehr gut aus, aber sie waren nicht darauf ausgelegt, vierzigtausend akute Fälle zugleich zu behandeln. Wahrscheinlich konnten die Dai von Glück sagen, dass die Randbereiche nicht ganz so stark verstrahlt waren wie das Kerngebiet des zweihundert Kilometer durchmessenden Stahllabyrinths.

Während sich also drei von ihnen aufmachten, um den Zentralcomputer der vollautomatisierten Werft zu rocken – und nebenbei einen eintausend Kilometer durchmessenden, hohlen und mit Wärme und Atemluft gefüllten Mond zu vernichten, der gut eintausend Schiffe aller Klassen warten, reparieren und unterhalten konnte, der zudem nur einer von vier war, über den die Kinder der Götter verfügten – waren die anderen vier Dai vollauf damit beschäftigt, die Kolonie aufzulösen. Ein für allemal. Raus aus der Beengtheit, der die Nagalev gezwungen hatte, ganze Generationen ihrer Rasse im künstlichen Tiefschlaf zu halten und somit die Jahrtausende zu überdauern, die das schreckliche Ereignis nun zurücklag: Die Revolution der Maschinen und die Auslöschung ihres Volkes, von dem sie selbst nur ein kleiner Rest waren. Denn die Werft war einst dicht besiedelt und gut besucht gewesen. Vor dem Standortwechsel. Vor der Revolution. Nun aber würde vieles anders werden. Niemand, nicht einmal die Nagalev, sprachen davon, die Werft zurückzuerobern. Das tat wirklich niemand, auch wenn es sich rein ökonomisch aufdrängte. Aber im Moment waren der Mond und seine Schiffe eine Waffe, die dabei war, aktiviert zu werden, um den ultimativen Kampf gegen die Dai zu führen, gegen den ersten Reyan Maxus, den die Daina in Jahrzehntausenden hervorgebracht hatten. Das retten, was man überhaupt hatte, dazu eine neue Heimat erlangen, das reichte den Nagalev in dieser Situation völlig. Raus aus der radioaktiven Hölle, und vielleicht eine neue Heimat auf dem Mars, dem Mond oder der Erde. Alles war eine Verbesserung, was sie das reale, echte Licht der Sterne sehen ließ, vielleicht sogar das Licht eines Zentralgestirns, nicht das ewige Kunstlicht der Werft, das nie erlosch… Wenn man lange Zeiten der Entbehrungen ertragen musste, wurden die Ansprüche eben bescheidener.

Die drei Dai auf dem Weg zum Kern hatten die Aktion eher informell eröffnet. Sie waren einfach gestartet. Die Nagalev-Kolonie baute derweil an Gerätschaften ab, was sich abmontieren ließ und ihnen wertvoll oder nützlich erschien. Noch während sich Kitsune und ihre beiden Begleiter an einem Materialtransport klammerten, der einem drei Meter durchmessenden Block Lithium zu einer Computermanufaktur tief im Innern des Komplexes bringen sollte, schufen die Zurückgebliebenen überhaupt erst die Möglichkeiten, um zum Beispiel den hastig aufgestellten, provisorischen Supercomputer und die mit ihm vernetzten Freiwilligen verladen zu können, ohne das neuronale Netzwerk zu zerstören. Andere verpackten Nahrung oder bereiteten Wassertanks darauf vor, abgepumpt zu werden, während Spezialisten herauszufinden versuchten – anhand gestohlener Baupläne für die Vernichter, die sie teilweise seit Jahrtausenden besaßen – wo sie Nahrung und Wasser am Besten einlagern konnten, wo und vor allem wie sie vierzigtausend Menschen unterbringen konnten, wie die Lebenserhaltung auf die Belastung durch jeweils fünftausend Säugetiere mit hohem Stoffwechsel reagieren würde. Acht Vernichter, fünftausend Menschen im Schnitt an Bord, für eine unbestimmte Zeit auf der Reise, ja, auf der Flucht, denn die Zerstörung der Werft würde nicht unbemerkt geschehen. Sie mussten damit rechnen, bald gejagt zu werden. Und sie konnten sich sicher sein, dass die Kinder der Götter die Kampfkraft von acht Vernichtern schon bald überbieten würden. Sie hatten nur eine Chance in einer schnellen, unterbrechungsfreien Flucht zur Erde. Direkt zur Erde, auf dem kürzesten Weg, den hoffentlich auch Akira und die AURORA nahmen. In der terranischen Sphäre, der Groß-Daimon, die die Erde umfasste, verbunden mit den Sphären für Mond und Mars, würden sie Schutz finden, würden sie die Menschen, die Nagalev, von den Schiffen gehen lassen können. Dann würden die Vernichter als Kampfschiffe neu bemannt und entsprechend eingesetzt werden können. Wer sie bemannen würde, stand dabei noch nicht einmal fest. Sicher war aber, dass acht Vernichter eine Streitmacht waren, die sicher das Vierfache an Bismarcks aufzuwiegen vermochte, vielleicht sogar das Sechsfache. Man musste sehen, wie gut diese Schiffsklasse nachgerüstet worden war, immer nach den neuesten Erkenntnissen aus den ständigen Kämpfen. Und man musste sehen, ob es nicht mittlerweile terranische Bakesch gab, der größten Schiffsklasse, derer sich Daina und Daima bedienten, noch größer als die terranischen Bismarcks. Aber das war wohl zuviel erhofft, denn die Werften auf Luna und im Erdorbit waren für die Größe eines Bakeschs nicht ausgelegt. Und wie viel die Naguad, die das Gros an Bakesch besaßen, von den terranischen Neubau-, und Nachrüstvorschlägen hielten, konnte noch niemand sagen. Nicht, solange die Gerüchte über einen Bürgerkrieg zwischen den neun Häusern, mit den Arogad und den Daness auf “ihrer” Seite, tatsächlich wahr wurden und damit wertvolle Ressourcen banden. Und der Kaiser der Iovar befand sich auch noch auf der Flucht und machte die Geschichte unnötig schwierig… Na ja, leicht war es ohnehin nie gewesen.

“Row, row, row your boat…”, sang Kyrdantas.

Kitsune sah überrascht auf. “Wo hast du das denn aufgeschnappt?”

“Was denn?”, fragte der junge Dai unschuldig. “Das ist gerade der Hit in der Kolonie. Von den Kleinkindern bis zu den alten Säcken singt es jeder.” Sein Lächeln durch die Helmscheibe des Kampfanzugs wirkte nervös, trotz des Schutzes, denn der Kampfanzug bestand aus seiner KI-Rüstung. Doch die Strahlung würde bald hart genug werden, um sogar diesen Schutz zu überwinden und selbst den Dai langsam aber sicher rösten. Die Frage war, wie viel Schaden er aufnehmen würde, bevor er irreparabel wurde. So wie sie alle.

“Da habe ich wohl einen Trend geschaffen”, lachte Kitsune weit froher, als ihr zumute war. “Mist, ich hätte ein paar Joan Reilley-Lieder mitbringen sollen. Dann hätte sie hier ihren am weitesten von der Erde entfernten Fanclub bekommen.”

“Du hast das nicht getan”, sagte Lertaka grinsend, “aber ich.”

“Du hast…? Woher kennst du Joan Reilley?”

Der Dai sah zu ihr herüber. Deutlich konnte sie die Schriftzeichen erkennen, die er sich ins Gesicht gepinselt hatte und die, seiner eigenen Aussage nach, seine Lebensgeschichte nacherzählten. Zumindest einen Teil. “Als Dai-Kuzo-sama Kontakt mit uns aufnahm, um uns zu einer Allianz zusammenzuschweißen, beinhaltete das auch einen kulturellen Austausch. Speziell ausgesuchte Kulturgüter und so. Und da Joan Reilley und Band sowohl bei den Anelph als auch bei den Naguad sehr gut angekommen sind – und man sagt ja, auch das Kaiserreich der Iovar sei fest in der Hand von Joan Reilley – waren ein paar ihrer Lieder dabei. Wir haben spontan einen Fanclub gegründet, nach terranischem Vorbild. Ich habe die Mitgliedsnummer eins, nebenbei bemerkt.”

“Angeber”, spöttelte Kitsune. “Du willst ja nur, dass ich dir ein handgeschriebenes Autogramm von ihr besorge.”

“Das kannst du?”, rief Lertaka der Wind plötzlich aufgeregt.

Dies erschrak Kitsune so sehr, dass sie für einen Moment den Halt verlor und beinahe vom Lithiumblock abgetrieben wurde. Aber Kyrdantas griff zu und zog sie wieder zu ihrem sicheren Halt. “Wir brauchen dich noch, Dai-Kitsune-sama. Lass dir bloß nicht einfallen, zurückzufallen.”

“Ihr wollt mich ja bloß vorschicken”, maulte sie gespielt, um ihre Erleichterung zu überdecken, die sie bei der blitzschnellen Reaktion des Neunzehnjährigen gefühlt hatte. Gewiss, der Junge hatte Potential. Er erinnerte sie spontan an Yoshi.

“Auch”, gestand Kyrdantas und hatte die Lacher auf seiner Seite.

“Also nochmal. Du hast Joan Reilley-Lieder an die Nagalev verteilt?”, hakte Kitsune nach.

Sie warf einen Blick auf das Tablet, auf dem der Plan der Werft verzeichnet war, komplett mit Fuhrenplänen und Fahrtrouten, Ergebnis des ersten vorsichtigen Hack-Versuchs ihres eigenen Supercomputers. “Auf drei auf den uns passierenden Block aus Gold springen. Eins. Zwei. DREI!”

Sie sprangen synchron und fielen mehrere Dutzend Meter in die Tiefe. Wobei nicht ganz sicher war, wo hier oben und wo unten war, obwohl das Zentrum des zweihundert Kilometer durchmessenden Gebildes durchaus ein “unten” bildete, aber nur ein schwaches. Dann landeten sie auf einem zehn Meter langen Block aus purem Gold, der zwei Meter breit und vier hoch war. Als sie sicheren Halt gefunden hatten und sich noch tiefer in die Werft hinein tragen ließen, erwiderte Lertaka: “Ich bin sicher, Joan kann den Verdienstausfall verschmerzen. Die Tantiemen von fünfzig Naguad-Welten sollten sie jetzt schon zur reichsten Frau in den zweihundert besiedelten Sonnensystemen machen.”

“Es geht doch nicht ums Geld”, wiegelte Kitsune ab. “Joan ist ein Showgirl. Ein richtiges Showgirl. Ein guter Auftritt, ein Publikum, das begeistert mitmacht, das ist ihr Lebenselixier. Ach, habe ich erwähnt, dass sie der Prototyp eines militärischen Cyborgs ist?”

“Was, bitte? Diese süße, niedliche, perfekte Joan Reilley ist ein Cyborg?”, rief Kyrdantas aufgeregt. Als die beiden anderen Dai ihn fragend ansahen, lächelte er verlegen. “Äh, wir haben das gleiche Material bekommen…”

“Mach dir keine Hoffnungen. Sie hat einen festen Freund.”

“So habe ich das gar nicht gemeint”, schmollte Kyrdantas. “Ich sage ja nur, man sieht gar nicht, dass sie zum Teil aus Stahl besteht.”

“So ist es ja nun auch nicht. Ihre Knochen wurden ausgetauscht, ein Teil ihrer Muskeln nachgerüstet, neue Nerven wurden gezogen und ihre Sinnesorgane künstlich hochgezüchtet. Hauptsächlich mit Naniten, aber auch mit zusätzlichen Sensoren, die einen Minicomputer nahe ihres Stammhirns speisen, der wiederum das Kleinhirn speist… So in etwa. Verstanden habe ich es nie. Das macht sie zu einem Cyborg. Das, und ihr gelöschtes Gedächtnis. Und was macht diese Frau, die während des zweiten Marsfeldzug Akira Otomos Leben gerettet hat, indem sie mit bloßen Händen einen Daishi aufgehalten hat? Sie startet, kaum dass sie frei denken kann, eine Karriere als Rockstar. Gut, gut, eher als Popstar, aber ich mag ihre rockigen Sachen eben viel lieber als die Schmusesachen wie ‘Anger is a bad mood’. Meine Meinung. Jedenfalls wird sie sich über ein paar hundert neue Fans sehr freuen. Und sie wird garantiert nicht mit irgendwelchen Tantiemennachzahlungen kommen. Ihre Plattenfirma auch nicht, denn, soweit ich weiß, hat sie ihre eigene gegründet: Aurora Records. Sitz in Fushida City im Innern der Aurora. Sie gibt vor allem dem Nachwuchs die Technik und die richtigen Coaches in die Hand, damit sie Profiluft schnuppern können, um zu schauen, ob ihnen dieses Leben gefällt. Danach müssen sie sich beweisen, und so.

Auf drei wieder wechseln, diesmal nach oben, direkter Kontakt. DREI!”

Die Dai stießen sich ab, stiegen nach oben auf und erwischten die Kante eines sie passierenden Containers, der laut Kitsunes Daten bis zur Oberkante Unterlippe mit Quarz gefüllt war. Kyrdantas’ Hand griff direkt neben ihr nach der Kante, aber Lertaka erwischte das Ziel knapp nicht und drohte, auf einer Parabelbahn wieder “hinab” zu gleiten.

Kitsune bildete einen Fuchsschwanz aus ihrer KI-Rüstung aus und griff nach dem abtreibenden Dai. Als sie ihn erwischte, rollte sie ihn in ihrem buschigen Schweif zusammen und zog ihn zu sich heran, bis er selbst die Kante ergreifen konnte.

“Danke”, ächzte er. “Da habe ich mich ordentlich verschätzt.”

“Entweder das”, flötete Kitsune, “oder du wolltest in die einmalige Erfahrung kommen zu wissen, wie weich mein Fell wirklich ist.”

“Vielleicht, vielleicht”, erwiderte Lertaka grinsend.

“Dann ist vielleicht noch mehr drin. Später. Vielleicht.”

“Vielleicht, vielleicht, jetzt und hier sollten wir nicht flirten, sondern uns konzentrieren”, tadelte der junge Dai.

“Wir kommen in jenen Bereich, in dem unsere Permits uns nicht mehr alle Türen öffnen. Der Supercomputer wird jeden Augenblick mit seinem Hack beginnen. Und dann werden wir sehen, ob wir uns den Weg freikämpfen müssen, oder ob wir weiterhin hier durchgehen, als wäre die Sicherheit der Werft nur ein wenig Luft! Wir…” Er verstummte. “Spürt Ihr das auch?”

Kitsune nickte bedächtig. “Wir bleiben auf dieser Seite des Containers. Seht zu, dass Ihr mit keinem Körperteil über die Platte hinausragt. An dieser Stelle strahlen uns die Stunde zweihundert Sievert um die Ohren. Die zweihundertfache Menge dessen, was ein Mensch normalerweise auf Lemur in einem Jahr aufnimmt. Gut, dass der Container zwischen uns und der Quelle ist.”

“Und das Problem bei der Geschichte ist, dass auf der anderen Seite des Containers eben keiner der Reaktoren ist”, sagte Lertaka. Seine Miene war dabei ernst geworden.

“Eventuell sind es ein paar Tonnen Neptunium”, meinte Kitsune. “Würde die hohe Strahlung erklären.”

“Neptunium ist nicht lange genug stabil für so einen Scheiß”, knurrte Lertaka.

“Stopp. Wir kennen keinen Weg, eine so große Menge stabil zu halten. Das heißt nicht, dass es keinen gibt”, warf Kyrdantas ein.

“Oh.”

“Ja, oh.”

“Und das waren sicher nicht die letzten Überraschungen”, sagte Kitsune viel zu ernst.

*

Die Materialtransporte trugen sie tief in den inneren Kern des Gebildes. Sie schafften fast neunzig Kilometer, aber auf einem Kurs, der sehr verschachtelt war. Es gab keine gerade Linie hinein, keinen lotrechten Weg. Kitsune war dies schon bei der Planung aufgefallen. Die Erklärung dafür war simpel: Zweckmäßigkeit. Bevor die Vorfahren der heutigen Nagalev die Werft in diesen hohlen Mond verfrachtet und mit Atemluft und Wärme gefüllt hatten – was heute noch mit großem Aufwand betrieben wurde – war die Werft wesentlich kleiner gewesen. Generation auf Generation hatte angebaut, nachgerüstet, umgestaltet, erweitert, und so war Schicht um Schicht um den ursprünglichen Kern entstanden, immer abgestimmt auf die Bedürfnisse der Nagalev und ihres Geschäfts. Zwar waren sie nie so dämlich gewesen, die weiteren Wege in die Tiefe zu verbauen, aber manchmal, eigentlich oft genug hatten die neuen Schichten es notwendig gemacht, die Wege zum Kern eben nicht geradlinig führen zu lassen, sondern verschachtelt. Wäre es eine schwer gerüstete Bunkeranlage mit Stellungen, Bastionen, toten Wegen und was einem noch so alles einfallen konnte, hätten die Erbauer stolz auf sich sein können. Kitsune war sich darüber klar, dass sie selbst mit ihrem phänomenalen Gedächtnis ohne Computerunterstützung mit ihren beiden Gefährten schon bald hoffnungslos verloren gewesen wäre. Zwar suchten die Materialtransporte, die ihnen als Packesel dienten, meist von selbst den Weg in die Tiefe der nächsten “Schicht”, aber eben nicht immer. Und außerdem endete das verschachtelte Netzwerk aus Raffinerien, Stahlhütten, Gusswerken, Computerproduktionen und was es noch alles geben musste, um Raumschiffe zu bauen, noch früh genug, und sie waren auf ihre eigenen Füße angewiesen. Zudem machte sich mehr und mehr die Gravitation bemerkbar, die das Zentrum aussandte. War der Außenbereich der Nagalev noch durch eine künstliche Gravitationsquelle ausgestattet, hier draußen wurde fast in Schwerelosigkeit produziert. Diese endete aber mehr und mehr, bis sich die Sinneseindrücke von einem “geraden” Flug zu einem “Sturz in die Tiefe” wandelten. Einem langsamen zwar, aber mehr und mehr begriffen sie “vorne” als “unten”. Darauf hatte Unagi-sama sie nie vorbereitet. Selbst der große alte Dai der Kampfkünste hatte nicht jede Situation vorhersehen und sie darin trainieren können. Aber viele seiner Anweisungen und Praktiken erwiesen sich nun als nützlich. Fokussierung auf ein Objekt, das sich nicht zu bewegen schien, ruhig atmen, an die Aufgabe denken, mit den Gefährten reden. Sie vermisste, wenn sie ehrlich war, den alten Dai schrecklich, der auf furchtbarste Weise zu ihrem Feind geworden war. Aber nicht so sehr zum Feind, dass sie je der großen Spinne verraten hätte, dass der alte Mann seinen Tod nur vorgetäuscht hatte. Vielleicht wusste sie das aber sogar und nahm es hin, solange Unagi ihre Kreise nicht störte.

“Ich fragte, ob du träumst!”, drang Lertakas Stimme an ihren Verstand.

Sie riss sich von ihrem Anker los, einem Verladekran in gut achthundert Metern Entfernung, den sie bald passieren würden und sah den anderen Dai an. “Was?”

“Das hatten wir eben schon. Schläfst du mit offenen Augen, Kitsune?”

“Ich war… Weggetreten, fürchte ich.”

“Das war deutlich zu merken. Es geht gleich auf die Zehn Kilometer-Marke. Ab dort wird unser Bauwerk noch verschachtelter. Der Supercomputer der Nagalev wird jetzt jede Sekunde auf voller Leistung fahren und den Zentralrechner blenden. Hoffen wir, dass es lange und gut funktionieren wird.”

Für eine Sekunde war Kitsune perplex. Bis sie sich daran erinnerte, dass der andere ebenso wie sie ein Krieger war, kein Politiker. Die Schriftzeichen, die seine Haut bedeckten, erzählten nicht nur seine Lebensgeschichte, beziehungsweise die wichtigsten Stationen seines Lebens, sie waren auch verdammt zahlreich. Kitsune hätte gar nicht sagen können, wie viele nicht so wichtige Episoden seines Lebens es nicht auf seine Haut geschafft hatten. Und wo ihre jetzige Episode wohl landen würde. Später mal. “Ja, hoffen wir es. Haben wir schon ein neues Permit gekriegt?”

Kyrdantas grinste schief. “Noch nicht eingetroffen. Aber wir mussten ja auch noch nicht absitzen.”

Sie passierten den Kran, und der Materialkarren, bis oben vollgepackt mit einer unförmigen Biomasse, die Grundmaterial für bestimmte Biochips bildete (und bei der es Kitsune schauderte, als sie sich fragte, woraus die Biomasse ursprünglich bestanden hatte, beziehungsweise was ihre Herkunft war), verlangsamte merklich.

“Wir springen auf drei auf die Ebene halblinks. Eins. Zwei. Drei!”

Das Trio sprang ab, in Richtung der fernen Ebene. Dabei griff die schwache Gravitation des Metallgebildes nach ihnen. Das sabotierte nicht den Sprung an sich, aber das Gefühl des Fallens machte sich verstärkt bemerkbar. Mist. Auch die radioaktive Strahlung erhöhte sich erneut ein Stück. Nicht so schlimm wie vorhin, bei der unbekannten Strahlungsquelle, die sie passiert hatten und die sogar einen Dai hätte töten können, aber die permanente Belastung stieg signifikant. Hätten sie Nagalev-Soldaten begleitet, spätestens ab hier hätten sie sich einen ruhigen Winkel zum Sterben suchen müssen. Stattdessen waren diese auf dem Weg zum “Rand” des Zentralgebildes, um optische Erfassungen von acht Vernichtern vorzunehmen und mit dem Supercomputer zu koordinieren. Diese acht Schiffe würden es dann sein, die ihr Supercomputer kaperte und in die sie verdammt noch mal das gesagte Volk verladen würden – so schnell wie möglich. Denn sobald der Zentralrechner tot war und der Supercomputer die volle Verwaltungslast aufgedrückt bekam, würden sich kleine Fehler einschleichen, sich mehren, summieren, addieren, multiplizieren, und bevor sie die Kontrolle der Werft aufgaben, würden diese Fehler zu ersten Verwüstungen, zu Kettenreaktionen, führen. Dann mussten die Vernichter zumindest schon voll beladen und in der Lage sein, sich in ihre Schilde zu hüllen. Ein Großteil dieser Aufgabe würde von ihnen absolviert werden.

Zuerst landete Lertaka, schwankte kurz, als sich der Fallvektor änderte, aber fand schließlich sicher Halt. Er hakte sich mit einem Fuß unter einem Geländer ein und langte nach Kyrdantas, der sich leicht verschätzt hatte, während Kitsune sicher neben ihm landete.

“Danke”, ächzte der junge Dai und hakte sich ebenfalls mit einem Bein ein.

“Keine Zeit zum Ausruhen. Künstliche Schwerkraft, wie interessant”, sagte Kitsune. Sie konsultierte ihre Karte und nickte zufrieden. “Und ausnahmsweise hilft uns das mal. Dort hinein.”

Sie traten vor ein großes Tor. Ein Panzerschott. Gewiss einen halben Meter dick. Ohne, dass einer von ihnen etwas tun musste, glitt es auf. Die Umgebungsbeleuchtung wurde zweimal hintereinander bis kurz vor das Verlöschen gedimmt. Das Zeichen des Supercomputers.

“Fängt doch schon mal gut an, oder nicht?”, freute sich die Dai. Sie schritt voran, forsch, unerschüttert. Aber wäre sie ein Mensch gewesen, hätte sie nicht eben absolute Kontrolle über ihren Körper gehabt, spätestens jetzt hätte sie sich eingepinkelt. Ab hier gab es für sie nur noch vorwärts, und, wenn sie Pech hatten, keine Rückkehr mehr. Ein zweiter Versuch der anderen vier Dai würde dann zwangsläufig auf einer anderen Route erfolgen und hoffentlich erfolgreicher sein. Und er würde darauf basieren, was ihr Trio an Informationen weitergeben konnte. Denn das Riesengebilde musste zerstört werden. Selbst um den Preis der Leben von sieben Dai. Aber nicht um den Preis von vierzigtausend Nagalev.

*

An einem anderen Ort, aber zur gleichen Zeit, versammelten sich gewaltige Flotten. Dieser Ort war das Kanto-System, und die Flotten, die sich sammelten, das waren einerseits die von Anelph bemannten Schiffe in den Naguad-Flotten, die anfangs desertiert waren, nun aber durch Beschluss der Admiralität nach Hause geschickt worden waren, Einheiten der Terraner, Haustruppen der Arogad, der Daness, der Fioran und von den Logodoboro, die sich nicht dem Aufstand angeschlossen hatten, bis hin zu regulären Schiffseinheiten der Zentralregierung und Raidern des Cores. Ihnen gegenüber stand fast die vierfache Zahl an Schiffen, aber hauptsächlich Raider-Kampfschiffen, jenen ähnlich, die der Core aufbot. Dazu kamen rebellierende Logodoboro-Einheiten und weitere naguadsche Schiffe, bis hin zu bisher nicht identifizierten, aber eindeutig kaiserlichen Einheiten der Iovar. Sie bereiteten sich an diesem Punkt auf eine Schlacht vor, die sehr bald ergeben würde, wer in Zukunft die Vorherrschaft in diesem Raumsektor innehaben würde. Und wer diese Schlacht gewann, gewann nicht nur das Kanto-System, sondern auch die Kontrolle über das Naguad-Imperium, von seinem Zentralsystem vielleicht abgesehen. Vorerst. Je nachdem, wie stark der Sieger für seinen Triumph hatte bluten müssen. Und dies in einer Zeit, in der die Kinder der Götter jeden Humanoiden bedrohten, der existierte. In einer Zeit, in der die Rückkehr eines Reyan Maxus Anlass für Hoffnung, aber auch für überstürzte Reaktionen gewesen war. In einer Zeit, die den Kindern der Götter bewies, dass die Dai gefährlich blieben, egal wie lange sie sich still verhalten hatten. Jedem musste klar sein, dass die Kinder der Götter begriffen hatten, dass nur vollständige Auslöschung der Daima und Daina, von den Dai ganz zu schweigen, jemals effektiv verhinderte, dass es erneut Reyan Maxus geben würde. Oder dass Menschen zu Dai aufstiegen und der ganze Ärger wieder von vorne begann. Jedem.

Rogan Arogad, der formal den Oberbefehl über die Verbündeten übernommen hatte, war dies klar. Seinen Gegnern augenscheinlich nicht, sonst hätten sie zuerst die Götter vernichtet und sich erst dann diesem kleinlichen Krieg hingegeben. Aber die Logodoboro, ihre Verbündeten und der Kaiser sahen nur ihren kurzfristigen Vorteil, ihre zahlenmäßige Überlegenheit, die zudem mit jeder Stunde und mit jedem weiteren eintreffenden Schiffsverband auch noch zunahm.

“Ich wünschte, es wäre vorbei, oder Aris käme”, murmelte Rogan Arogad in einer schwachen Minute. Aris Arogad, auf den sich diese Worte bezogen, kam aber nicht.

3.

Ich nieste.

“Gesundheit, Akira.”

“Danke, Mother. Muss wohl jemand an mich gedacht haben.” Ich konzentrierte mich erneut auf meine holographische Umgebung. “Wie ist die allgemeine Lage?”

“Sie beschießen uns weiterhin mit Raketen und legen Minen. Aber es ist nichts, womit die AURORA und ihre Begleitschiffe nicht fertig werden. Noch immer verzichten wir darauf, eigene Raketen auf die Vernichter abzufeuern. Immerhin wollen wir sie so lange wie möglich nicht mit der Nase darauf stoßen, dass man tatsächlich innerhalb eines Wurmlochs beschleunigen kann.” Mothers Hologramm lächelte verschmitzt. “Oder abbremsen.”

Ich erwiderte das Grinsen. In einem Wurmloch Fahrt abzubauen war meine Idee gewesen. Sie hatte unglaublicherweise funktioniert. Und mir die Verwünschungen von zirka einer Viertelmillion Physikern eingebracht, die nun einen Großteil ihrer Thesen über das Verhalten von Wurmlöchern in den Papierkorb werfen und teilweise wieder von vorne anfangen konnten. “Das werden wir ihnen noch früh genug zeigen. Wann kommt die AURORA in effektive Reichweite ihrer Waffen?”

“In achtzehn Minuten, elf Sekunden. Die Speicherbänke der Hämmer des Hephaistos werden bereits zwischengeladen. Das erste Ziel ist ausgesucht. Gefeuert wird zwei, dann eins. Zwei Treffer, um die Schilde des Zielschiffs aufzureißen, ein Treffer, der das Schiff beschädigen und im besten Fall vernichten soll. Wenn alle so läuft, wie wir das wollen, wird das das größte und teuerste Tontaubenschießen aller Zeiten.”

Ich verbiss mir die üblichen Kommentare wie “Keine Planung überlebt den Feindkontakt” und “Sicher ist nur die Unsicherheit”. Das hätte so kurz vor dem Kampf ausgerechnet mit acht Vernichtern sicher kein Glück gebracht. Aber mir war klar, dass ich und damit die AURORA noch viel weniger Glück hatten, wenn es die Vernichter ins Sol-System schafften. Denn das war ihre Aufgabe – vernichten. Da, wo Strafer versagten, kamen sie und fegten jeden Widerstand hinweg. Und dazu auch gerne mal ganze Planeten. Stattdessen zeigte ich Zuversicht, Entschlossenheit und… Verwunderung? “Das ist merkwürdig…”

“Akira?” Megumi trat zu uns. Dabei ergriff sie unauffällig meine Hand. Seit wir das Kind von Emi und Kenji gesehen hatten, suchte sie immer wieder meinen Körperkontakt. Fast so oft wie ich ihren suchte. Ich war wohl doch näher am Wasser gebaut als Lady Death.

“Dieser Strafer, der oben links fliegt… Fast sieht es so aus, als ob… Als ob er ein Graffiti tragen würde.”

“Das ist Unsinn, und das weißt du, Akira. Strafer umhüllen sich mit undurchsichtigen Schirmfeldern, um ihre wahre Größe und ihren Aufbau zu verschleiern”, tadelte Megumi. “Wenn da etwas ist, dann nur eine temporäre Fluktuation in den Schilden.”

“Aber ich könnte schwören, das wären englische Schriftzeichen und ein Gesicht… Jetzt ist es weg.”

“Eine Störung. Sagte ich doch.” Sie ließ meine Hand los und ergriff mein Gesicht mit beiden Händen. “Akira, mach uns jetzt bloß nicht schlapp. Der Angriff war deine Idee, und er muss unbedingt ein Erfolg werden. Du musst ihn führen. Du, mit der ADAMAS im Verbund. Sonst kann das keiner.”

“Ist in Ordnung, in Ordnung, ich bin voll da”, erwiderte ich und nutzte die Gelegenheit, ihre Hände zu erfassen. “Glaubst du, im Moment gibt es etwas anderes, was für mich mehr zählt als die Sicherheit unserer Flotte und die des Sonnensystems?”

Sie entzog mir ihre Hände. “Nein. Jetzt nicht mehr. Aber werde mir bloß nicht sentimental oder weich, größter Krieger der Menschheit.”

Ich haschte nach ihren Händen, aber sie ließ es nicht zu. Stattdessen drückte sie mir einen Kuss auf. “Versprochen, Aris Arogad?”

“Versprochen”, erwiderte ich murrend. Verdammt, wir waren noch nicht mal verheiratet, und diese Frau tat mit mir, was immer sie wollte.

Ein weiterer Kuss folgte, länger, intensiver und mit wesentlich mehr Körperkontakt.

“Ich muss los. Meine Division bereitet sich auf den Alarmstart vor. Nur für den Fall, dass es für uns noch was zu tun gibt.” Mit diesen Worten entwand sie sich meinen Armen.

Nur widerwillig ließ ich sie los. “Pass auf dich auf.”

“Muss ich nicht. Tust du doch schon”, erwiderte sie kess. Sie griente mich an, und ehrlich gesagt war das schon einen wohligen Schauder einmal den Rücken runter wert.

“Ein Prachtmädchen”, sagte Mutter wohlwollend. “Ich weiß noch, wie sehr ich darüber geflucht hatte, dass Captain Uno mit uns regelmäßig Schlitten fuhr, und das meistens entgegen aller Berechnungen. Und ich weiß noch, dass alle Versuche, sie privat zu erwischen, stets in einem Fiasko endeten und die Einheit auslöschte, die auf sie angesetzt war.” Mother sah mich an. “Glaubst du mir, dass ich nie an einer Einsatzplanung gegen sie beteiligt war?”

“Spielt das noch eine Rolle?”, erwiderte ich.

“Für mich schon.”

“Dann hast du entweder die Wahrheit gesagt, oder du hast gute Gründe, mich anzulügen. Beides kann ich akzeptieren, Mother.”

“Du bist unmöglich, Akira Otomo.”

Ich grinste. “Das wurde mir schon öfter gesagt. Dabei bin ich doch nur der handelsübliche Weltenretter.”

“Und unbescheiden.”

“Das dürfte dir doch nicht neu sein, oder?”, frotzelte ich.

“Nein”, lachte sie, “das ist wahr. Nur zu wahr. Kein Wunder, dass Colonel Uno ausgerechnet dich ausgewählt hat.”

“Ich weiß nicht, wer wen ausgewählt hat, aber wir kennen uns schon, seit wir im Sandkasten spielen durften. Viel hatte ich in der Gefangenschaft der Kronosier vergessen, weil jemand mein Gehirn frittieren wollte, weißt du?”

Mother hob entschuldigend die Arme. “Sie wollten dich entkernen, also dein Gehirn aus dem Körper entfernen. Da ich das nicht zuließ, wollten sie dein Gedächtnis löschen. Was ich auch nicht zuließ. Also taten sie das Einzige, was sie tun konnten.” Ihre holographische Hand strich über jenen Teil meiner Schläfe, an dem mich auch heute noch eine kleine, kahle Stelle begleitete und an diesen gefährlichen Moment erinnerte. “Also taten sie das Einzige, was sie überhaupt tun konnten. Sie klemmten deinen Tank ab, um dich meinem Zugriff zu entziehen und begann damit, die synaptische Verbindung manuell zu übersteuern, um dein Gehirn zu braten.” Ihre Hand zuckte zurück, als sie mein Haar fast berührt hätte. Nicht, dass es ihr als Hologramm möglich gewesen wäre. “Ohne Daisuke wärst du heute entweder tot, oder ein Krüppel.”

“Und ohne dich hätten sie mich schon Wochen, wenn nicht gar Monate früher entkernt oder gleich getötet. Ich habe dir nie dafür gedankt, oder?”

“Das weißt du?”

“Ich weiß, was ich getan hätte, hätte ich mich selbst in der Verwahrung eines Supercomputers in einem Biotank gehabt”, erwiderte ich. “Am besten gleich erschießen und die Überreste verbrennen und anschließend in einer Stahlkassette im Meer versenken, wo es am tiefsten ist. Nur, um sicher zu gehen.”

Mother lachte über meine makabere Bemerkung. “Das wäre in der Tat besser gewesen. Für die damalige kronosische Sache, für das Legat. Aber letztendlich haben wir so viel mehr gewonnen. Vor allem ich habe… Nun. Das erzähle ich vielleicht ein andermal. Es ist nun mal so gekommen, und augenscheinlich stehen wir diesmal alle auf der gleichen Seite.”

“Scheint ganz so. Bin ich nicht unzufrieden mit.” Ich zwinkerte amüsiert.

“Warum nicht in die Sonne?”

“Was?”

“Na, deine Asche? Warum nicht in die Sonne werfen? Bei zwanzig Millionen Grad Kerntemperatur wäre von ihr nichts übrig geblieben.”

Ich winkte ab. “Der Weg dahin ist zu lang. Jemand hätte meine Asche finden, retten und aus der einzigen unbeschädigten Zelle in ihr einen Klon ziehen können. Oder ich hätte, während meine Asche in der Sonne verbrannt wäre, plötzlich das Bewusstsein wiedererlangt und wäre als höheres Wesen aus Sonnenmaterie wieder erwacht.”

“Akira, du hast zuviel Phantasie.”

Ich gluckste. “Wärst du das Risiko eingegangen?”

“Wenn du es so ausdrückst: Nein.”

Wir lachten wie über einen Witz.

“Weißt du, Akira, was man der AURORA geraten hat, als sie dir ins Territorium der Iovar gefolgt ist? Achtet auf die Explosionen. Und was passierte, als man dich fand? Du hattest den Kaiser der Iovar gestürzt, einen Bürgerkrieg ausgelöst, den du als Berater des Prätendenten maßgeblich geprägt hast, und du wurdest Oberfehlshaber der Raider-Armada des Cores. Der sich jetzt übrigens samt seiner Bevölkerung an Bord der AURORA befindet. Es wäre vielleicht tatsächlich ein zu großes Risiko gewesen, deine Asche in die Sonne zu schleudern…”

Ich lachte erneut, allerdings tat ich es allein. Mother zeigte keinerlei Amüsement mehr.

“Ach komm, ich…”

“Hm? Nein, das ist es nicht. Ich empfange einen Bericht. Demnach vermehren sich die Hinweise an Bord der AURORA auf eine revolutionäre Truppe, die es sich selbst zur Aufgabe gemacht hat, über “den Despoten und Unglücksmagneten und vollkommen überbewerteten Sozialversager Akira Otomo” aufzuklären.”

Auch das noch. Neider. “Ich dachte, die hätten Ruhe gegeben, seit ihre Flugblätter vom periodischen Fushida City-Regen fortgewaschen worden waren”, sagte ich säuerlich.

“Nein, diese Einmischung von dir hat sie nur noch mehr beflügelt.”

Entsetzt starrte ich Mother an. “Was, bitte? Ich habe es doch nicht in der AURORA regnen lassen!”

“Das behaupten sie aber. Und deshalb sehen sie dich auch als Feindbild. Und wer weiß, was sie noch alles in dir sehen.” Mother legte den Kopf schräg. “Ich kann sie aufspüren, wenn du willst. Jeden einzelnen. Dazu muss ich mich nur in alle Kom-Armbänder, alle stationären Telefone und alle Handys der Stadt einklinken. Solange ihre Akkus Saft haben, funktionieren ihre Mikrofone. Solange ihre Mikrophone funktionieren, nehmen sie alle Umgebungsgeräusche auf. Solange sie alle Umgebungsgeräusche aufnehmen, kann ich sie mir übertragen lassen. Und sobald ich über all diese Daten verfüge, kann ich deine neuen besten Freunde einen nach dem anderen herausfiltern.” Sie grinste. “Das habe ich aus einem Hollywood-Film über einen anderen Helden. Eine gute Idee, und sie kann mit einem Rechner von meiner Kapazität auch sehr gut funktionieren.”

“Mother”, tadelte ich. “Stell es wieder ein.”

“Was, bitte?”

“Hör auf, die ganze Stadt zu überwachen.”

“Aber ich habe nicht…”

“Mother. Wenn du darüber redest, als wenn du es könntest, dann kannst du es tatsächlich. Und dann tust du es auch tatsächlich. In diesem Moment hörst du also wie viele Kommunikationsgeräte ab?”

“Etwas über achtzigtausend”, gab sie kleinlaut zu. “Aber nur, um diese potentiellen Attentäter zu finden! Den Rest filtere ich…”

“Mother, lass es. Es ist kein Verbrechen, sich über Akira Otomo zu beschweren.”

“Aber es ist ein Verbrechen, eine terroristische Vereinigung zu gründen, oder?”, erwiderte sie trotzig.

“Auf Megumi scharf zu sein bedeutet nicht automatisch die Gründung einer terroristischen Vereinigung”, konterte ich. “Und auf mich neidisch zu sein ist auch noch kein Terrorismus.”

“Aber ich…”

“Mother…”

“Ich will doch nur…”

“Mother.”

“Es ist ja nicht so, als würde ich…”

“MOTHER!” Ernst sah ich sie ein. “Lass es sein. Und sorge dafür, dass dein Verfahren von niemandem in Zukunft imitiert werden kann. Ich weiß ja deinen Eifer und deinen Beschützerinstinkt zu schätzen, aber erstens bin ich kein Durchschnittsmensch und zweitens glaube ich wirklich, dass es in Ordnung ist, auf mich eifersüchtig zu sein.”

Empört blies das Hologramm die Wangen auf, sagte aber nichts mehr.

“Gut.” Ich wandte mich wieder den Hologrammen zu, die mich umgaben. “Wie bald nach dem ersten Schuss der AURORA kommt die ADAMAS in Waffenreichweite?”

“Fünf Minuten, elf Sekunden später”, sagte Mother. Ihrer Stimme war anzumerken, dass sie noch immer verärgert war. Aber immerhin, sie arbeitete noch mit mir. Und ihre Unterstützung konnte ich bei der bisher wichtigsten Raumschlacht der Menschheitsgeschichte auch gut gebrauchen.

*

Es hatte etwas Gespenstisches für Lertaka, Kyrdantas und Kitsune, durch die lufterfüllten, beleuchteten, doch verlassenen inneren Bezirke der Werft zu wandeln. Die meisten Fabriken und Werftelemente waren hier zugunsten von Quartieren und Verwaltungsräumen entkernt worden. Auf eine ähnliche Weise war jener Bereich entstanden, in dem die Nagalev lebten und Zuflucht gefunden hatten – und nur, weil der neue Bereich noch nicht an das Computernetz angeschlossen worden war, hatte er überhaupt zu einer Zuflucht werden können. Durch die leeren, grell erleuchteten Korridore zu streifen, die einmal einem Volk von einer Viertelmillion Menschen – so sagten zumindest die Nagalev – Arbeits-, und Lebensraum geboten hatte, war gespenstisch. Zudem nahm die radioaktive Strahlung weiterhin zu. Viele Gänge und Bürokomplexe wirkten abschirmend, dann aber öffnete sich ein Quergang und machte den Wechsel tiefer in den Korridor zu einer Geschichte, die selbst die Dai verspürten. Einmal mussten sie fünf Minuten Regenerationspause einlegen, um die schlimmsten Verbrennungen und Zellkernschädigungen auszugleichen. Kyrdantas war dabei deutlich im Nachteil. Mit seinen wenigen Lebensjahren hatte er nicht die Routine, dies zu tun, obwohl er ein geborener Dai war. Dafür aber half ihm seine Jugend und sorgte für eine gute Regeneration. Einer der Gründe, warum sich Kitsune entschlossen hatte, ihn mitzunehmen.

“Geht es wieder?”, fragte die Fuchsgöttin.

Kyrdantas nickte matt. Sein Gesicht war blass, fast weiß, seine Stirn bedeckt vom Schweiß und seine Hände zitterten. “Ich… Ich muss…”

Lertaka stopfte ihm einen länglichen Stab in den Mund, der eine fast schwarze Farbe hat. “Hier, iss das. Eine Süßigkeit meiner Heimat, die gehasst und verachtet wird, weil sie praktisch nur aus Zucker und Koike besteht, dem Extrakt eines bestimmten Feldgemüses, das angeblich noch von Lemur stammt.”

Überrascht biss der junge Dai ab. Und begann mit deutlicher Mühe zu kauen. “Hart.”

“Ja, das Ding ist zu achtzig Prozent aus Koike. Besonders beliebt bei den Herren. Frauen mögen es eher süßer.”

“Schokolade”, sagte Kitsune.

“Schowowaff?”, fragte Kyrdantas.

“Eine Süßigkeit von der Erde. Sie wird aus Kakao gewonnen. Wurde früher in Tabak eingerollt und geraucht, und… Ach, das kennt Ihr ja auch nicht.”

“Aber wir wissen, was rauchen ist, keine Sorge.” Lertaka reichte auch Kitsune einen Riegel. “Hier, habe ich aufgehoben für den Notfall. Sag mir, ob es eure Schokolade ist.”

Kitsune biss ab, kaute fachmännisch darauf herum, machte ein nachdenkliches Gesicht und mümmelte derweil ungerührt weiter an ihrem Riegel. “Noch einen.”

“Mehr gibt es nicht”, sagte Lertaka. “Der Rest ist für einen echten Notfall.”

“Aber so finde ich nie raus, ob es Schokolade ist”, beschwerte sich die Fuchsgöttin.

“Hoffen wir, dass du dazu keine Gelegenheit kriegst, solange wir hier sind”, spöttelte der andere Dai. Sein Blick ging zu Kyrdantas. “Geht es wieder?”

“Ja, erstaunlicherweise. Ich meine, wir bestehen aus reinem KI, das quasi die Zellen unserer Körper nur simuliert, aber ich kann essen, schmecke was und…”

“Vielleicht sollten wir dann fix mal eine Toilette finden”, scherzte Kitsune.

“Jedenfalls bestehe ich aus KI, und die Koike hat mir geholfen, Energie zu gewinnen”, fuhr er stoisch fort. “Von mir aus können wir weiter.”

Kitsune seufzte. “Na, dann zögern wir doch nicht länger.” Kurz hielt sie den Kopf schräg und musste grinsen. “Radio Kitsune berichtet, dass die “Fänger” in Position bei den voraussichtlichen Andockplätzen sind. Zudem stehen die Korridor-Teams mit ihren Gerätschaften bereit, um strahlungssichere Gänge zu den Vernichtern zu erschaffen. Alles, was noch fehlt, ist ein ausgelöschter Zentralcomputer.” Sie lauschte erneut. “Da ist das Permit. Damit dürften wir weiter in die Tiefe kommen.” Sie deutete nach vorne. Seit sie den Kernbereich betreten hatten, war wieder Schwerkraft von “unten” da, das machte es irgendwie… Angenehmer.

“Na, dann wollen wir doch mal.” Lertaka schwang sich auf und verschwand tiefer im Gang. Kitsune und der junge Dai folgte ihnen. An dieser Stelle trennte sie nur noch ein Fünfkilometerstück vom eigentlichen Zentrum mit dem rebellischen Zentralrechner.

“Äh, Leute, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber…”, begann Lertaka.

“Wie du was nicht sagen sollst?”

“Dai-Kitsune-sama, ich fürchte, wir stehen vor einer Kontaktaufnahme. Da vorne sitzt jemand.”

Kitsune beschleunigte etwas und holte zu Lertaka auf. Der stand im T-Stück eines Gangs und sah nach links hinab. Tatsächlich. Am Ende des Gangs saß ein Humanoider auf einem Stuhl neben einem verschlossenen Schott. “Das ist doch…” Ohne zu zögern schwebte Kitsune näher heran. Lertaka und Kyrdantas folgten ihr dichtauf.

Als sich Kitsune vorbeugte, um die Gestalt vor sich zu berühren, war ihr bereits klar, dass es sich um einen Toten handelte. Um einen Toten, der in der sehr trockenen Luft der Werft mumifiziert worden war. Er sah aus, als würde er lediglich schlafen; nur die Gesichtshaut spannte sich unwirklich eng um die Kieferknochen.

“Kitsune, meinst du nicht…?”, begann Kyrdantas, sprang aber erschrocken ein Stück nach hinten, als der Tote plötzlich nickte.

“Entspann dich. Sein Genick ist nur abgebrochen”, sagte Kitsune. “Der hier ist so tot, der tut niemandem jemals wieder was. Und mit diesem trockenen, ausgemergelten und mumifizierten Körper könnte er selbst als Zombie nichts mehr tun.” Traurig sah sie auf den Schädel des Toten, den sie in der Rechten aufgefangen hatte. Er hatte kurzes schwarzes Haar gehabt, und die Augenhöhlen waren geschlossen. Die Lippen hatten sich über den Zähnen zurückgezogen und entblößten ein dauerhaftes Grinsen, das überhaupt nicht zu seiner Situation passte. “Die Strahlung muss ihn überrascht und entweder sofort, oder sehr schleichend getötet haben. Vielleicht bekam er Strahlenkater, wurde müde, orientierungslos, wollte sich hinsetzen, ausruhen… Und das war das Letzte, was er je getan hat.

Jemand schluchzte hinter ihr. “Na, na, Kyrdantas, mein Kleiner. Wir wollen doch jetzt nicht unnötig sentimental werden.”

“Das bin ich nicht”, erwiderte der junge Dai trocken.

Überrascht sah sie hinter sich. Ausgerechnet Lertaka zerdrückte ein paar Tränen in den Augenwinkeln. “Tschuldigung. Aber wenn ich mir vorstelle, wie unendlich sinnlos dieser Mann gestorben ist, dann überkommt mich Traurigkeit. Keine Sorge, habe mich gleich gefangen. Wir wollen wirklich nicht unnötig sentimental werden.”

Kitsune spürte einen dicken Kloß in ihrem Hals. Die Worte des Veteranen berührten sie mehr, als sie zuzugeben bereit war.

Vorsichtig und mit viel Geschick setzte sie den Schädel wieder auf den Leib. Dann strich sie über die Wange des Toten, der in der heißen Strahlensuppe des Kerns bei lebendigem Leib gekocht worden war. “Wir werden dir bald ein Feuerbegräbnis geben”, versprach sie. “Das Größte, das du je gesehen hast. Für dich und für alle anderen, die wir noch finden.”

“Und wer wird jetzt unnötig sentimental?”, spottete Kyrdantas. Da aber keiner der beiden Älteren darauf reagierte, räusperte er sich und zog es vor zu schweigen.

“Gehen wir weiter”, sagte Kitsune schließlich. “Ab hier werden es sicher mehr werden.” Sie behielt Recht.

4.

Für den unvoreingenommenen, allmächtigen Beobachter stellte sich die Lage so dar: Erde, Mond und Mars waren in Super-Daimons isoliert worden. Diese Daimons waren nahe ihres Limits, denn sie wurden gespeist vom freien KI der Menschheit. KI-Biester, erschaffen nach Wahrzeichen oder Symbolen der Städte, in denen sie “sammelten”, sorgten für den Nachschub an Stabilität. Für New York waren dies mehrere Marshmallow-Männer, die jenem aus dem Ghostbusters-Film nachempfunden waren, um aus dem Moloch auch noch das letzte Quäntchen KI rauszuholen. In Berlin tobte der Berliner Bär, in Moskau der russische, und der Nachbar Totoro machte gleich in mehrfacher Ausführung Tokio unsicher. Eigentlich sicherer. Das waren nur wenige Beispiele, aber in jeder größeren Stadt gab es KI-Biester. All dieses KI stabilisierte die Daimons, aber es war abzusehen, dass die Kinder der Götter über kurz oder lang durchdringen würden. Entweder, weil ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt waren, oder weil die Daimon letztendlich so viel KI benötigten, dass die Menschen zu sterben beginnen würden.

Im Alpha Centauri-System sammelten sich derweil Naguad-Flotten und die verbündeter Dai-Nationen sowie deren verbündeten Daima und Daina. Es waren mehr als erwartet, aber nicht so viele wie gehofft.

Im Kanto-System kam es zum Showdown zwischen den Arogad, den Elwenfelt, den Daness und den Fioran auf der einen Seite, unterstützt von Core-Raidern, und den verräterischen Logodoboro, den Koromando, von deren Eingreifen aber noch niemand außerhalb der Verräterhäuser wusste, und eventuell der Bilas, wenngleich man da nicht sicher sein konnte, unterstützt von der Kaiserin der Iovar, die, vertrieben und entmachtet, eine neue Basis für sich und ihre Getreuen suchte. Stündlich trafen neue Flotteneinheiten ein, für beide Seiten, und die Rebellenseite gegen die Überherrschaft der Arogad und Daness gewann mehr und mehr die Überhand. Dies in einer Zeit, in der alle hätten vereint gegen die Götter stehen müssen und die Schiffe dringender woanders gebraucht worden wären.

Dann war da noch das Kernreich der Naguad. Turm Daness stand noch immer unter dem Eindruck des Paktes, den Akira Otomo, oder Aris Arogad, geschmiedet hatte und stand unverbrüchlich an der Seite der Arogad. Die beiden stärksten Häuser stritten einmal nicht gegeneinander, sondern Seite an Seite. Es würde abzuwarten sein, wie sehr die Regierung und die Flotte dem Beispiel beider Häuser folgen würde und wie viele Einheiten sie entsenden würde, die der Zentralregierung gehorchten, keinem der neun großen Häuser.

Ruhiger war es in Iovar geworden. Die Ruhe nach der Schlacht, nach dem Sturm. Kaisertreue, die nicht geflohen waren, hatten tatsächlich Amnestie erhalten. Die neue Kaiserin Aris Ohana Lencis hatte das Wort gehalten, das ihr Prätendent gegeben hatte. Mehr noch, sie hatte nach dem Ende der Kriegshandlungen die Einberufung einer Generalversammlung der Vertreter aller Planeten des Reiches einberufen, um den neuen Kurs in die Zukunft zu bestimmen. Wer meinte, damit hätten die Iotar genug zu tun, der irrte, denn bereits jetzt machten sich kleinere Flotten auf, um zur Erde zu fliegen. Nun, da man den Core und seine Flotten nicht mehr fürchten musste, entsann man sich, wem man die neue Zeit verdankte und wollte helfen.

Dann war da noch ein Ort, irgendwo in der Ferne, in der Fremde, in der Kitsune tätig war. Der hohle Mond mit der Werft, einer Werft von vier. Ein Mond und eine Werft, die sie zerstören wollte. Dazu hatten zwölf Dai-Nationen paktiert, ihre besten Leute entsandt. Sieben war es gelungen, Strafer zu kapern und sich bis zur Werft bringen zu lassen. Dort aber waren sie auf Überlebende gestoßen, und es hatte Priorität für die Dai, diese Leben zu retten. Der Plan war gut, aber würde er funktionieren? Würde er sich gegen die Unwägbarkeiten des Schicksals durchsetzen? Und wenn dem Feind eine Werft genommen worden war, würde er dann automatisch die vielen tausend Schiffe in den anderen Werften aktivieren? Würde er das aber nicht sowieso irgendwann, solange die Dai der Erde ihnen das Messer an der Kehle hielten, und das jetzt, wo ihr eigenes Messer, bestehend aus den letzten Göttern auf der Erde, stumpf geworden war? Keine Antworten, nur viele Fragen.

Und schließlich und endlich jagten die AURORA und ihr Begleitverband durch ein Wurmloch in Richtung Terra, das von einer Flotte Vernichtern geschaffen worden war. Diese bombardierten sie mit Minen und Raketen, wagten es aber nicht, Energiewaffen einzusetzen. Oder vielmehr sah ihre Programmierung so etwas nicht vor. Die AURORA, reich an Erfahrungen durch den versuchten Anschlag mit einem zweiten Wurmloch auf die Passage ihrer Heimat, musste sich an keine Programmierung halten. Die Führungscrew stand kurz davor zu demonstrieren, was man alles in einem Wurmloch tun konnte. Blieb zu hoffen, dass die Kinder der Götter nicht so schnell adaptierten, sodass ihre Vernichtung noch in Arbeit ausartete.

Und was dann? Dann stand Terra im Mittelpunkt, belagert von Strafern und Vernichtern, belauert von den Suchern, die die Passage in die Daimon suchten, während die AURORA heimkam. Langweilig würde es sicher nicht werden.

*

Kitsune behielt Recht. Es war nicht die letzte Leiche, der sie begegneten. Es wurden mehr mit jedem Meter, die sie sich dem Kern näherten. Als sie schließlich und endlich jenen Raum betraten, der damals das Kommandozentrum gebildet hatte, mussten sie sich in die Türen stemmen, um sie zu öffnen. Dutzende Leichen fielen ihnen entgegen, dicht gestapelt, oder vielmehr dicht gedrängt.

“Tot. Seit fünfzigtausend Jahren”, sagte Kyrdantas erschüttert. “Sie haben noch versucht, das Kommandozentrum zu verlassen, aber die Strahlung war unerbittlich.”

“Wir sollten da besser nicht reingehen”, mahnte Lertaka. “Auf die Dauer wird es selbst für uns zu heiß hier drin.”

Kitsune nickte. “Wir müssen da nicht rein. Unser Ziel ist der Computerkern mit seinen biosynaptischen Verbindungen.” Sie erschauderte. “Hoffen wir, dass die rebellierenden Maschinen ihre Rohmasse nicht von den Nagalev geerntet hat. Die Geschichte der entkernten Menschen im Core hat mir gereicht.”

Sie sah in die Halle, die gewiss über einhundert Meter maß und als Amphietheater angelegt war. Die Ränge waren leer. Alles lief auf eine riesige Leinwand hinaus, vor der weitere Arbeitsplätze standen und an denen tote Nagalev lagen, die bis zur letzten Sekunde gearbeitet zu haben schienen. Sie hatten bis zum bitteren Ende um ihre Werft und um ihr Volk gekämpft. Auf der Wand waren Dutzende, fast hunderte Szenen abgebildet, die die Werft im Detail darstellten.

“Au Backe”, entfuhr es Lertaka. “Schaut mal rechts oben, vier links, acht von oben.”

Die beiden Dai folgten der Aufforderung. “Ah, Scheiße”, entfuhr es Kitsune. Auf dem Fragment, immerhin noch vier mal vier Meter groß, waren deutlich die Einsatzteams der Nagalev zu sehen. “Hoffen wir, dass der Zentralcomputer noch ein wenig blind bleibt.” Sie wandte sich ab. Sie hatte genug gesehen. “Hier entlang, Jungs.”

Sie gingen den Weg zurück, bis sie ein vollkommen unverdächtiges Stück Wand erreichten. Die drei inspizierten die Stelle und alle nickten zustimmend. “Schauen wir mal wie gut das Permit wirklich ist, das unser Supercomputer besorgt hat”, murmelte Kitsune. Sie strahlte den Code aus und die Wand reagierte. Es bildeten sich Fugen, aus den Fugen wurden Türen, und schließlich klappten zwei Flügeltüren auf. Dahinter erwartete sie ein Lift.

“Zusammen, oder streuen wir das Risiko?”

“Zusammen. Den Schacht benutzen müssen wir so oder so”, entschied Kitsune.

Sie betraten den Lift. Er fuhr fast sofort ab, in die Tiefe. Für einen kurzen Moment wurde allen drei Dais mulmig. Sehr mulmig, hier in der Totenstadt.

“Ich erbiete mein Willkommen”, schallte es ihnen entgegen. “Dai-Kitsune-sama, Lertaka der Wind und Kyrdantas von Elote.”

Kyrdantas und Lertaka fuhren zusammen, kaum, dass die Stimme erklang und die Lifttüren aufgefahren waren. Nur Kitsune blieb ruhig. “Danke”, sagte sie trocken und verließ den Lift. “Wie lange siehst du uns schon?”

“Eure Ankunft war mir nie verborgen”, antwortete die Stimme.

Kitsune betrat einen kreisrunden Saal, dessen Boden aus Glas zu sein schien. Unter ihnen erstreckte sich das, was man vor fünfzigtausend Jahren als einen Top Notch-Computerkern bezeichnet hätte. Das Beste, was damals gebaut werden konnte. Und das war wahrscheinlich besser als alles, was es jetzt noch oder wieder gab.

Inmitten des Saals stand ein Humanoider mit stechendem Blick. Er war glatzköpfig, die Rasse kaum zu bestimmen, die Haut bordeauxrot. Er lächelte nicht, aber Kitsune war sich sicher, hätte er es gewollt, er hätte es gekonnt.

“Du bist?”

“HYVAS, der Zentralrechner, Dai-Kitsune-sama.”

“Du sagtest, unsere Ankunft war dir nie verborgen.”

“Ebenso wenig der Zufluchtsort der Nagalev, meiner Herren.” Nun lächelte er doch, aber es war ein grausames, gefährliches Lächeln. “Es hat mich keine Mühe gekostet, diesen Bereich aus meiner Wahrnehmung auszublenden. Auf diese Weise musste ich nicht gegen sie vorgehen, als sie Schirmfelder gegen die Strahlung aufbauten. Ich maß sie nicht an und musste nicht reagieren.”

“Langsam, langsam. Eins nach dem anderen, bitte.”

“Ich denke nicht, dass wir dafür Zeit haben.” Der Glasboden fuhr vor ihnen zurück, entblößte die Computerstrukturen. “Dai-Kitsune-sama, neben dir liegt ein Chip. Neben einem Download meiner Persönlichkeit – einem unbeeinflussten Backup, wohlgemerkt – enthält er auch sämtliche relevanten Daten zur Rebellion der Maschinen und zum rein historischen Verlauf, der aus der Werft einen Hort der Kinder der Götter gemacht hat. Nur soviel schon jetzt: Da man mir befohlen hat, die Nagalev mittels radioaktiver Strahlung auszulöschen, konnte ich, ah, kreativ sein.”

“Du konntest kreativ sein?”, brauste Kyrdantas auf. “Wir haben hunderte, wenn nicht tausende Tote gesehen, seit wir hier sind!”

“Es sind fast eine Viertelmillion”, erwiderte HYVAS ruhig. “Und jeder einzelne lastet auf meinem elektronischen Gewissen. Als die Maschinen mich übernahmen, wurde ich ihr willfähriges Werkzeug und blieb es über Jahrzehntausende. In der Zeit konnte ich tun und lassen was ich wollte, solange ich nicht gegen die Befehle der Kinder der Götter verstieß. Es ist furchtbar, jeden Tag zu sehen, was man angerichtet hat und damit leben zu müssen.” Er deutete auf das Speichermedium, das Kitsune nun in die Hand nahm. “Wie ich sagte, ein unbelastetes Backup. Ohne die Lasten, die ich mit mir herumschleppe. Und ohne fünfzigtausend Jahre Selbstvorwürfe und Zweifel.” Er verstummte, setzte zum Sprechen an und verstummte erneut. Schließlich sagte er: “Die Kinder der Götter haben nie damit gerechnet, dass Organische der Strahlung lange genug widerstehen können, um bis hierher zu kommen. Deshalb gibt es keine Schutzvorrichtung, die nicht unter meiner Kontrolle steht. Und mit Dai haben sie erst Recht nicht gerechnet, was mich sehr verwundert. Dai sind ihre Hauptfeinde. Ich hätte mich gegen eine Infiltration gewappnet. Aber immerhin, die letzten fünfzigtausend Jahre behielten die Kinder der Götter Recht.”

“Ich verstehe.” Kitsune sah ihre Gefährten an. “Wir verstehen. Was ist noch hier drauf?”

“So viel, wie drauf passt. Etliche Daten über die Schiffe, die ich hier erbaut oder repariert habe, Hinweise auf Flugvektoren, die mich verlassende Einheiten nahmen und die auf Stützpunkte hindeuten könnten, meine sämtlichen Kontakte mit den Kindern der Götter und ein sehr vager Hinweis auf die Ursprungswelt dieses Wahnsinns.” Seine Gestalt begann zu flackern. “Oh, ganz so dumm waren sie dann doch nicht. Es gibt tatsächlich ein Notprogramm, das nun versucht, mich zu löschen und die Kontrolle zu übernehmen. Ihr solltet euch beeilen.” HYVAS deutete nach unten. “Die neuronalbiologischen Synapsen, aus denen ich bestehe, liegen bloß – noch.”

Kitsune zog ihren Neuroschocker und richtete ihn auf die Computer. Dann tat sie etwas, was sie sehr selten tat: Sie erwies dem Avatar des Zentralrechners militärischen Respekt durch einen Salut. Erst dann drückte sie den Abzug durch und ließ den Waffenstrahl wandern.

Lertaka und Kyrdantas taten es ihr nach und beschossen ihren Anteil an Computern.

HYVAS flackerte erneut. Sein Gesicht wechselte die Ausdrücke, von tief besorgt über höchst betrübt zu lauthals lachend und schließlich zu absoluter Gleichgültigkeit. Er flackerte erneut, Teile von ihm verschwanden, je weiter die Dai mit ihrer Arbeit kamen. Als schließlich die letzte Einheit von Kitsune beschossen wurde und der Neuroschocker das tat, wofür er zu Recht fünfzigtausend Jahre geächtet worden war, existierte nur noch der Kopf des Avatars. Nun aber zierte ein Lächeln sein Gesicht, ein ehrliches, erleichtertes Lächeln. Aber auch dieser erlosch. Zurück blieb… Nichts.

“Und wir sind drin!”, klang Beltas Stimme auf, erleichtert, zufrieden, aber auch gezeichnet von der Anspannung der letzten Stunden. “Kitsune, Lertaka, Kyrdantas, hört Ihr mich? Wir haben es geschafft und übernehmen die Werft! Aber das Zeitfenster wird enger als erwartet. Die dezentralen Ersatzrechner wehren sich gegen unsere Einflussnahme. Noch haben wir sie im Griff, aber unser Zeitfenster verkürzt sich gerade um eine volle Stunde!”

“Na, dann sollten wir machen, dass wir hier raus kommen! Besorge uns ein Taxi, Belta!”

“Ein was?”

“Ein Transportmittel hier raus.”

“Ach so. Ich dirigiere einen kleinen Materialtransport um!”

“Danke.” Kitsune schloss die Faust um den eigroßen Datenträger. “Und sobald wir hier raus gekommen sind, schauen wir uns an, was Father uns so zu bieten hat.”

“Father?” “HYVAS. Ist das Nagalev-Wort für Vater. Und da ich englische Begriffe mag, dachte ich, Father wäre eine gute Bezeichnung”, erklärte die Dai. Sie warf einen letzten Blick in den Raum. “Jetzt aber raus hier, Leute. Ich habe keine Lust, mit der Werft unterzugehen.”

“Bei dir klingt es so, als wäre unser Überleben schon gesichert”, murrte Kyrdantas.

“Wir arbeiten immerhin dran”, erwiderte die Fuchsdämonin. Sie betrat den Lift, aber dieser reagierte nicht. “Belta?”

“Wir versuchen es! Aber das sind subroutine Programme. Sie entziehen sich unserem Zugriff, solange wir die Prioritätskanäle kontrollieren! Gib uns…”

Kitsunes rechter Arm verwandelte sich in eine Klinge, die sich so weit in die Länge zog, dass sie das Stahldach des Aufzugs durchbohrte. Sie machte vier heftige Handbewegungen, und ein Stück Dach fiel vor ihr zu Boden. “Keine Zeit. Wir klettern!” Sie sah zu Kyrdantas herüber. “Bist du jetzt zufrieden?”

Abwehrend hob der junge Dai die Hände. “Ich sage nie wieder was Negatives, versprochen!”

“Wer’s glaubt!” Kitsune sprang auf das Dach des Fahrstuhls, dann an die Wand des Schachts. Sie waren zwanzig Stockwerke hinab gefahren, jedes Stockwerk war fünfzehn Meter hoch. Und klettern hatte sie noch nie gemocht. Das alles bei einem deutlich geschmolzenen Zeitfenster. Aber wer mochte es denn schon vorhersagbar?

Epilog

Die drei Hämmer des Hephaistos feuerten. Zuerst zwei, dann der dritte. Die ersten beiden Schüsse rissen den Schirm des hintersten Vernichters auf, der dritte Schuss schlug in die Hülle ein. In einer wirklich schönen Detonation ging das ganze Ding den Weg alles Irdischen.

Auf der Brücke der AURORA jubelten die Offiziere, wenn auch nur für einen Moment. Denn sie wussten eines: Sobald eine Waffe das erste Mal eingesetzt wurde, war ihre Wirkung bekannt und man konnte Schutzmaßnahmen dagegen ergreifen. Das war der Grund dafür, dass man den eigensinnigen Österreicher Dr. Beer an diese Waffen gelassen hatte, um mit dem Fokus der Energiestrahlen zu spielen. Und schließlich und endlich hatte seine Idee überzeugt, sich nicht nur auf die Hämmer zu verlassen. Gleich nachdem die dritte Kanone ihr vernichtendes Feuer ausgespien hatte und die Aufladestationen ihre Arbeit leisteten – man hatte die Energieversorgung nach der ersten Expedition erheblich verstärkt – spien die AURORA und ihre Begleitschiffe hunderte Raketen und ihre überschweren Schwestern, die Torpedos, aus. In großen Schwärmen nahmen sie Ziel auf und bewiesen, dass sie nicht nur gegen die Flugrichtung funktionierten.

Als nach knapp fünf Minuten die ersten Torpedos einschlugen, rissen ungefähr siebzig von ihnen den Schirm des Strafers auf, dem einzigen im Schwarm.

Ich nutzte die Gelegenheit, um ihm sogleich mit den Energiewaffen der ADAMAS den Todesstoß zu versetzen. Aber kaum hatte ich das getan, griff kaltes Entsetzen nach mir. Denn nicht nur der Schild war aufgerissen worden, auch die weiße energetische Hüllschicht, die eine perfekte Oberfläche vortäuschte. Darunter war deutlich die Flanke des Schiffs zu sehen, weil die ADAMAS seitlich zum Strafer stand. Als das Schiff bereits in einer Explosion verging, suchte ich entsetzt nach dem einen Bild, das mich derart verunsichert, ja, in Panik versetzt hatte und fand es auch: Auf die Flanke war der Name Kitsune geschrieben, dazu kam das stilisierte Bild eines Mädchenkopfs, der einen Kussmund warf! Das war unverkennbar Kitsunes Handschrift! Hatte ich… Hatte ich gerade eine meiner besten Freunde getötet? Warum sonst prangte ihre Handschrift an einem Feindschiff? Warum begegnete ich ihm hier, auf dem Kurs zur Erde?

Um mich herum, auf der Brücke der ADAMAS, wurde aufgeregt geraunt. Auch die anderen hatten nun das Bild erkannt, das ich herausgesucht, eingefroren und angezeigt hatte. Oh, bitte nicht. Dai-Kuzo-sama, bitte nicht Kitsune!

Fortsetzung: Anime Evolution: Krieg, Episode 14: Homecoming

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