Der Roman aus der Feder von Julius von Voß erschienen im Original im Jahre 1810, übertragen und Korrektur gelesen von Bernd “Göttrik” Labusch. Fortsetzung von: INI – Ein Roman aus dem 21. Jahrhundert, Drittes Büchlein, Kapitel 10

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Drittes Büchlein: Guido im Heere, Kapitel 11

Die Reise ging nun nach Frankreich. Es würde zu viele Zeit geraubt haben, noch länger in Deutschland zu weilen, ob gleich noch viel Sehenswertes übrig blieb, das sie in München, Stuttgart, Frankfurt u. s. w. hätten betrachten können, als besonders kluge Einrichtungen, Monumente alter trefflicher Fürsten, Volksfreuden. Doch sie mussten es, nach dem einmal gewählten Plan, bei den größten Städten bewenden lassen.

Unfreundliche Herbstwitterung störte die Reise etwas. Wenn sich der Luftwagen vom Posthaus aufschwang oder bei dem folgenden niedersenkte, hatten die Adler Mühe, gegen die Stürme anzukämpfen. Außerdem hielt man sich jedoch in der höheren Region, wo kein Wind mehr sauste, und die angespannten Tiere konnten bequem ihren Pfad verfolgen. Gegen die Kälte schirmten artige Öfen von dünnem Blech, mit Papier geheizt, und Pelzhüllen von Schwanen-Fell.

Am Rhein und in den Gegenden des ehemaligen Lothringens, freute sie der laute Winzerjubel der unter ihnen tönte, ebenso die überall noch dichter als in Germanien angebaute Landschaft. Ohne Unfälle erlebt zu haben, erblickten sie bald das weitläufige Paris, dessen Vorstädte jetzt mit Meaux, St. Denis, Versailles u. s. w. Zusammenhingen.

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Guido wunderte sich über eine dünne spitze Säule von nie gesehener Höhe, die eine seltsame Gestalt hatte und fragte seinen Lehrer, was er davon zu denken hätte? Dieser erklärte ihm, wie die Pariser schon lange damit unzufrieden gewesen wären, bei verregnetem Wetter ihre eng gebaute Stadt so unreinlich zu sehen. Der Erfindergeist hätte sich in mancherlei Mitteln gegen diesen Übelstand erschöpft. Es sei im Werke gewesen, nahende Regenwolken jedesmal durch Kanonaden von Luftbatterien zu zerstreuen und so die Atmosphäre der Stadt zu reinigen. Allein die Eigentümer der Gärten der Umgebung, hätten sich über diese Maßregeln mit Recht beklagt, weshalb man sie hatte einstellen müssen. Endlich aber sei ein Projektant aufgetreten, mit dem riesenhaften Entwurf eines Regenschirms für die eigentliche Stadt.

Die dünne Spitzsäule, fuhr er fort, ist es. Eine Gesellschaft von Aktieninhabern besorgte die Errichtung; eine kleine Abgabe aller Einwohner, für die trockne Reinlichkeit willig gezollt, trägt den Zins und die fortlaufenden Kosten. Die Säule steht genau in der Mitte von Paris. Zweitausend Schuh hoch, besteht sie aus starkem Granit, auf einer hinlänglich festen Grundlage. Dann folgen bis zur Spitze wohlfeil zusammengefügte Eichenstämme, um welche Eisenringe laufen. Eine Wendeltreppe von Außen führt vom Fuß bis zur Höhe.

Der ungeheure Schirm besteht aus einem von Hanffäden gewebten Tuch, mit wasserdichtem Firnis überzogen. Walfisch-Rippen, durch Klammern verbunden, spannen ihn bis zur Mitte, von da wird der gardinenartig aufgehobene Teil, mittelst gewaltiger Taue, die nach allen Seiten in Abständen von Hundert Klaftern, zur Erde gehen, niedergezogen und wieder empor gebracht. Die Erhebung der Walfisch-Rippen vollzieht ein ungemein kunstreicher Mechanismus.

Indem er noch sprach, verdunkelte sich der schon trübe Himmel noch mehr, die Gewölke nahmen gegen die Stadt ihren Lauf. Eine Fahne wehte plötzlich vom Gipfel der Pyramide, das Zeichen für sämtliche Arbeiter an ihr Werk zu gehen. Nun währte es kaum zwei Minuten und das weite Gezelt breitete sich über die Tempel und Häusermassen aus. Der Postillion trieb die Adler mächtig an, um auch bald den Schutz zu genießen, und in kurzem befand man sich unter der wohltätigen Decke, auf welche der Platzregen mit dumpf-hohlem Getöse niederschlug. Guido bewunderte am meisten die Röhren des Umkreises, die das abströmende Wasser auffingen, und in die verschiedenen, zu diesem Zweck gegrabenen, Teich-Bassins leiteten, die wieder einen Abfluss in der Seine fanden. Er beteuerte: unter allem Merkwürdigen, was er noch auf der Wanderung gesehen, stünde dieser Paraplu oben an. Es ist auch ein Erdenwunder von Kunst, sagte Gelino.

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Sie stiegen im Posthaus ab, übergaben Trägern ihr Gepäck, und eilten zu einem Wechsler, wo der Lehrer Summen, für ihren Aufenthalt nötig, in Empfang nehmen wollte. Unterwegs stellte sich ihnen ein sonderbarer Anblick dar.

Ein Mensch bettelte. Dies war so unerhört, dass das aufgeregte Mitleid keine Grenzen kannte. Aus allen Häusern eilte man hervor, den Unglücklichen mit Wohltaten zu überhäufen, der sich auch bald in Besitz so vielen Geldes sah, dass er flehend bitten musste, einzuhalten.

Guido reichte ebenfalls hin, was er bei sich trug, und fragte den Lehrer: wie so eine, die Menschheit entwürdigende, Erscheinung möglich sei? Dieser erkundigte sich näher, und erfuhr: der Mann wäre aus dem südlichen Amerika, und durch einen Schiffbruch um seine Habe gekommen.

Guido schauderte bei der Nachricht von einem Schiffbruch. Sie waren jetzt überaus selten, nur ein bedeutender Fehler des Piloten konnte es dazu kommen lassen. Denn bei den genauen Karten vom Meeresgrund, der schon seit mehr als einem Jahrhundert entdeckten Berechnung der Länge, den herrlichen Mitteln bei Nacht einen weiten Umkreis zu erleuchten, konnte man beliebig jeder Gefahr entfliehen, auch der dauerhaften Bauart der Schiffe und der Möglichkeit, fast überall vor Anker zu gehen, nicht einmal zu gedenken. Hier hatte inzwischen ein Schiffer strafbare Nachlässigkeit verschuldet.

Das Betteln aber musste darum so befremden, weil auch seit länger als einem Jahrhunderte es in Europa unerhört war. Denn Staatsordnung, Sitte, moralisches Gefühl hielten Jeden zur Tätigkeit an, und da Landbau und Handwerke, durch tiefere Naturkunde und viel erweiterte Technik, so leicht, so überflüssig die Lebensnotwendigkeiten hervorbrachten, so war es auch der Betriebsamkeit des Einzelnen, sie mochte bestehen worin sie wollte, nur ein Spiel, seinen Anteil zu erwerben. Die erhöhte Bevölkerung, statt diese Leichtigkeit zu stören; musste sie vielmehr, ihrer ganzen Natur nach, fördern, woran man, nur bei irriger Kenntnis der möglichen Fruchtbarkeit des Erdbodens, zweifeln kann.

Allein weise Anordnungen achteten auch auf Krankheitsfälle Unbemittelter, auf Verstümmelte, auf hohes entkräftetes Alter. Um nun in solchen Fällen ein Recht auf Unterstützung zu begründen, hatte jedes Kind, ohne Ausnahme, bei seiner Geburt, eine kleine Summe zu hinterlegen, oder vielmehr die Eltern statt seiner. Zudem jede einzelne Person, einen geringen monatlichen Beitrag. Die Summen wurden klüglich bewirtschaftet, wuchsen dann sehr natürlich hoch an, und konnten viel bestreiten. Um aber die monatliche Erhebung der Beiträge minder weitläufig zu machen, hatte man sie in eine, durch ganz Europa gleichmäßig aufgelegte, sſehr geringe Aktie, verwandelt. Nun mochte sich Jemand aber in Europa auch befinden, wo er wollte, seinen Aufenthalt ändern, so oft es ihm gefiel, immer zahlte er unmerklich und behielt sein Recht. Die Summe des allgemeinen Armenschatzes, den auch der ganze Erdteil — bei der vervollkommneten Arithmetik, wovon schon die Rede war, höchst bequem übersah — musste auch darum so größer werden, als Reiche oder Wohlhabende, bei der Geburt eines Kindes nicht den gewohnten Satz, sondern mehr beisteuerten.

Geriet nun Jemand in Not, meldete er sich bei der nächsten Stadtverwaltung. Diese untersuchte seinen Zustand genau. Einem gesunden Menschen ward nicht das Mindeste schenkend gereicht, sondern er empfing die Gelegenheit, durch diejenige Arbeit, welche er verrichten konnte, den Unterhalt zu erschwingen. Krank dagegen nahm ihn ein Spital auf. Das Alter von sechzig Jahren durfte auf eine angemessene Beihilfe zu der ihm noch möglichen Arbeit zählen, über siebzig Jährige verpflegte man dagegen als Greise und Greisinnen ganz, was auch bei Krüppeln und dergleichen geschah. Bei dem allen hielt ein zartes Ehrgefühl die Geschlechter ab, eines ihrer Glieder in die Notwendigkeit zu verletzen, die öffentliche Wohltätigkeit in Anspruch zu nehmen; wenn es irgend möglich schien, verheimlichten sie den Mangel in den einer der ihrigen gesunken war, machten es auch zum Gegenstand ihrer Religion, Kranke und Alte selbst zu pflegen.

Überlegt man hierbei, dass die meisten Ursachen, welche Armut hervorbringen, ja lange schon aus dem Wege geräumt waren, als Kriegsräubereien, unmäßige Auflagen, falsche Geldoperationen der Regierungen, Handelsverbindungen, in welchen ein Volk mit betrügerischer Schlauheit, das andere mit Unkunde seiner eigenen Kräfte auftritt, gehässige Immoralität des Einzelnen, die zu Verschwendungen verleitet, ehrlose Trägheit und Unempfindlichkeit gegen Achtung, die nicht erwerben mögen, auch Almosen spendende Klöster, den Müßiggang unterstützend; erwägt man noch, dass das furchtbare Heer der Krankheiten sich unendlich vermindert hatte, so geht ganz von selbst hervor, wie ein Reisender Europa durchwandeln konnte, ohne jemals das widrige unedle Schauspiel der Bettelei wahrzunehmen. Guidos Befremdung erklärt sich demnach so gut, als das mitleidige Zudrängen der Pariser.

Es währte aber nicht lange, so erschien ein Polizeibeamter und fragte den Armen zürnend: „Warum er nicht zur Stadtobrigkeit gekommen sei?“

Die Antwort hieß: „Weil ich kein Europäer bin, folglich nicht zu euren Wohltätigkeitsanstalten beigetragen habe, durfte ich auch nicht mit Recht auf ihre Milde bauen.“

Der Diener des Gesetzes entgegnete streng: „Es reisen viele Bürger anderer Erdteile in Europa, und die Akzise gewinnt an ihrer Zehrung. Wie unbillig würde es daher sein, wenn irgend Jemand darunter sich arm ankündigte, ihm Hilfe zu versagen. Du hast uns durch Mangel an Vertrauen beleidigt und ein öffentlich Ärgernis gegeben, dessen sich ohne Zweifel der älteste Greis nicht mehr entsinnt. Behalte was man Dir reichte, verzehre es jedoch im Kerker. Dann wollen wir Dir eine Summe geben, mit welcher Du Dein Vaterland wieder erreichen kannst. — Wider diesen Spruch gilt keine Einrede, denn er enthält den Geist der Gesetze.“

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Gelino und sein Zögling drängten sich mühevoll durch das Volksgewimmel der Straßen, und um so mehr, da, wenn gleich am hohen Mittage, der Regenschirm Dunkel verbreitete. Doch eben da sie auf einem großen Markt angekommen waren, hatte das Unwetter geendet und die Bedeckung wurde wieder eingelegt. Man verrichtete dies schnell, und neu, überraschend, blendend war die Wirkung des plötzlich nieder scheinenden Sonnenlichts.

Sie gelangten im Hause des Wechslers an. Gelino übergab ein Schreiben; der Mann war sehr höflich und rief einige Träger, welche schwere Goldsäcke auf einen Wagen luden. Der Lehrer sah alles nach, gab ihm Empfangsscheine, und nahm dann mit seinem Zögling Platz auf dem Wagen.

Dieser hatte befremdet und nachdenkend zugesehen. Nun fragte er: „Woher die großen Summen, und wozu?“

Gelino antwortete: „Wir behalfen uns bisher mit geringen Kosten, doch in Paris und London wollen wir einigen Aufwand machen, damit Du auch mit dem Leben in Reichtum vertraut wirst.“

„Da empfange ich nur eine Auskunft“, rief Guido. „Woher, frage ich abermals, die großen Summen?“

„Von dem nämlichen Wohltäter, der Dich bisher in den Stand setzte, die Welt reisend zu betrachten.“

„Oh! Dieser Wohltäter muss reich, sehr reich sein. Mein leichter Sinn fragte noch wenig darum. Was gilt‘s aber, es ist der Kaiser selbst, dem ich so viele Zeichen der Milde verdanke?“

„Ja mein junger Freund, es ist der Kaiser. Was er von Dir hörte, besonders von Deinen Taten im Heere, erwärmte sein Herz noch mehr für Dich. Frage nicht weiter, genieße, und vor allen Dingen, lerne, begreife, mache Dich der Güte ferner wert.“

Guidos Nachsinnen ward ernster. Einige Minuten darauf brach er aus: „Oh. dass ich keine Eltern kenne, und so süße Gefühle, wie die kindlichen, mir versagt wurden! Erst bei den Findlingen erzogen, hernach unter Deiner Leitung, die mich allerdings keinen Vater missen ließ, ahnte ich tiefere Empfindungen nicht. Allein, nachdem ich auf der Reise so oft das entzückende Schauspiel eines engen Familienbandes sah, beweinte ich im Stillen mein hartes Los.“

Gelino drückte ihm gerührt die Hand. „Geduld mein Sohn, vielleicht findest Du einst Deinen Vater.“

Stürmische Ungeduld entbrannte in dem Jüngling. Von süßen Hoffnungen wogte sein Busen. Er drang feurig in den Lehrer, ihm das Geheimnis seiner Geburt aufzuklären, wenn er anders den Schlüssel dazu hätte, oder wenn er nichts genau wisse, ihm seine Vermutungen zu nennen. Der Lehrer brach aber gemessen ab, empfahl ihm ruhiges Erwarten der Lösung seines Schicksals. Es war Guido bekannt, dass er, wenn der Lehrer schweigen wollte, umsonst bat, er musste sich also mit Geduld wappnen, obgleich die Neugier über seine Herkunft jetzt heißer als je erwachte, und manche sonderbare Ahnung in ihm aufstieg. Er tröstete sich wohl über den Mangel an Kindesliebe, weil ihn Inis Liebe beseelte, und sein Herz so warm an den edlen Lehrer hing, doch meinte er immer wieder, dies Herz sei weit genug noch mehr Liebe glühend zu umfassen.

Fortsetzung: INI – Ein Roman aus dem 21. Jahrhundert, Drittes Büchlein, Kapitel 12

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